Alf Mintzel beim Lithografieren in der Druckwerkstatt des Kulturmodells Passau, Bräugasse 9.

Bei der Arbeit an seinem "Khao Lak Zyklus", 2005

Neueste Plastiken 2019-2020

(Aus Anlass meiner aktiven Teilnahme an zwei Kunst-Werk-Wochen im Rottal, Juli und September 2019: Modellieren, Abformen, Gießen)


Das Geheimnis der Artemis, 2019
von links hinten – von vorne – von rechts
Foto: Alf Mintzel

Naturform – Artefakt

Fundstücke aus der Natur, die ich wegen ihrer Schönheit in Artefakte verwandelt habe, erinnern an von Menschen geschaffene prähistorische Figurine und zugleich an Kunstschöpfungen der Moderne, wie zum Beispiel von Tony Cragg oder auch Hans Arp (Beispiel: Menschliche Konkretionen, 1936; Der Wolkenhirt, 1953), E. Chillida (Beispiel: Forma, 1948) und Henry Moore. Sie haben mich herausgefordert, darüber nachzudenken, was passiert, wenn ich Gebilde der Natur in Kontexte menschlicher Kultur überführe und sie so möglicherweise zu Kunstobjekten mache. Hierzu ein paar problemumkreisende Überlegungen und vorläufige Antworten.

Naturfund, unbearbeitet; die körnige Sandsteinstruktur des Lößbodens ist noch deutlich zu sehen. Später die Kleinplastik „Torso der verschwundenen Venus”, 2019,
22,5 cm x 13,5 cm x 6 cm
Foto: Alf Mintzel

 

Übernahme eines Produkts der Natur in die Welt menschlicher Artefakte

Das menschliche Auge sieht in der Gestalt eines Naturgegenstandes (Stein, Holzklotz, Erdklumpen, Wolke etc.) und in seinen Oberflächenstrukturen bildhafte Erscheinungen. Was die Natur durch blinden Zufall an Gebilden hervorgebracht hat, wird durch das ikonografische Gedächtnis und Sehen des Menschen bildhaft in etwas anderes umgesetzt. Ein zu einem Klumpen gebackener Erdkloß wird durch das bildhafte Sehen zu einem weiblichen Torso, oder allgemein, zu einer anthropomorphen Figurine. Ein runder Kieselstein wird mit seinen kleinen ausgewaschenen Höhlungen als menschlicher Kopf mit Gesicht wahrgenommen. Der Umriss eines Steines wird zur Silhouette eines Tieres. Und da, wo eine Lücke besteht, wo etwas zu fehlen scheint, ergänzt das menschliche Auge das Fehlende zu einem möglichen Ganzen.

Ähnlichkeiten ermöglichen verschiedene Deutungen. Das bildhafte Sehen des Menschen ist somit eine Voraussetzung für die Übersetzung einer Naturform/-gestalt in seine Bildwelten. Ein Stein, ein Holzstück, ein Klumpen Erde wird übersetzt in ein Idol, Votiv, in einen Torso oder in ein anderes Artefakt. Die Ähnlichkeit zufälliger Naturformen und naturhafter Gestaltungen mit bildlichen Vorstellungen des Menschen bewirkt einen Verwandlungsprozess. Unser bildhaftes Denken und Sehen ist die Voraussetzung dafür, dass ein zufälliges Naturgebilde durch die menschliche bildhafte Sehweise zu einer anthropomorphen Kleinplastik wird. Ohne diese geistige Fähigkeit zur Umdeutung einer Naturform/-gestalt bliebe das Gebilde eben nur das, was es eigentlich ist, nämlich ein bedeutungsloses Ding der Natur. Das zufällige Naturprodukt, wird zu einem Artefakt (kulturellem Bestandteil), indem es aus seinem natürlichen Kontext entnommen und in einen kulturellen Kontext transferiert wird. Ist er aber durch diesen Transfer schon ein Kunstprodukt geworden? Das ist die Frage.

Die menschenähnlich gestalteten Osteokollen, die ich gefunden habe (zu Begriff und Gegenstand siehe unten), bleiben, so könnte eingewandt werden, auch nach ihrer Umsetzung in einen kulturellen Kontext zunächst von der Natur hervorgebrachte und gestaltete Gebilde. Erst dadurch, dass ich ihnen eine ästhetische Bedeutung verleihe und in ihnen zum Beispiel anthropomorphe Figurinen sehe, mache ich die Osteokollen zu möglichen Kandidaten für das Kunstschaffen. Ich muss sie erst zu einem Gegenstand der Kunst erheben.

Was alles kann Kunst sein?

Es wird viel über Kunst geredet, doch ist es schwer, ihre Eigenart präzise zu erfassen. Im Laufe der Zeit hat der Mensch verschiedene ästhetische Lehren entwickelt und kontroverse Positionen über die Frage bezogen, welche menschlichen Artefakte als Kunst gelten dürfen und welche nicht. Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? Die Unsicherheit ist mit der Ausdifferenzierung zahlreicher Macharten und Stile gewachsen. Künstler wie berufliche Kunsterklärer haben im 20. Jahrhundert unterschiedliche Positionen bezogen, darunter auch Extrempositionen. Für eine hinlängliche Klärung des Verhältnisses von Natur und Kunst werden verschiedene Aspekte in Betracht gezogen: Die Natur als künstlerische Inspirationsquelle, die Natur als Künstlerin,  die Erfindung der Natur, Natur als Kunst, die Synthese von Natur und Kunst, Naturmaterialien in der zeitgenössischen Kunst - das sind Stichworte der aktuellen ästhetisch-theoretischen Diskussionen und kunstphilosophischer Klärungsversuche. Wir kommen nicht um eine Ästhetik und Kategorisierung herum. Was ist Kunst? Welche Materialien benutzt Kunst? Bedarf es eines erweiterten Kunstbegriffes à la Joseph Beuys, um zufällig gefundene Naturgebilde unter bestimmten Bedingungen als Kunstobjekte bezeichnen zu können?

Exemplare naturgeformter plastischer Gebilde


Ensemble von fünf Beispielen
Foto: Alf Mintzel

 

Naturschönheit – Kunstschönheit

Die Bezeichnung Osteokolle (im Plural Osteokollen) ist aus den altgriechischen Wörtern „osteon“ und „kolla“ zusammengesetzt. Osteon heißt der Knochen, „kolla“ der Leim. Der Theologe Thomas Erasmus berichtet 1590 über verkalkte Wurzeln, die er „lapis sabulosus“ nennt. Mit dieser Bezeichnung kam Thomas Erasmus dem Entstehungsprozess im sandigen Boden nahe.

Geographisch und geologisch haben sich Osteokollen in postglazialen Lößgebieten im Umfeld der vereisten Gebiete gebildet. Löß besteht aus angewehten und abgelagerten Sanden der Inter- und Postglazialzeit. In diesen Sanden sind alle Gesteinsanteile der glazialen Gesteinsabtragungen enthalten, darunter ein hoher Anteil Kalk. Durch Sickerwasser gelangt der Kalkanteil in tiefergelegene Sandschichten und lagert sich dort ab. Diese Kalkauswaschungen sammeln sich an Baum- und Strauchwurzeln, die in den angewehten und angelagerten Sanden stehengeblieben waren, verfestigen sich und wachsen allmählich um die Wurzel herum, je nach Wurzelwerk und Kalkzufuhr, zu verschiedenen Gebilden heran. Je nach organischen Entstehungsbedingungen, ob kleine oder große, ob verzweigte oder dicke Wurzeln, und je nach der Menge der Kalkzufuhr entstehen in diesem Prozess vielgestaltige mineralische Aggregate, Konkretionen genannt. Die Größe von Osteokollen variiert von wenigen Zentimetern bis zu einer Größe von dreißig und mehr Zentimetern.  Der Formenreichtum dieser Gebilde reicht von bizarren kleinen „Würstchen“ und „Wichtelfiguren“ (im Volksmund Lößkindl, Lößpuppen und Steinmännle genannt) bis zu größeren, anthropomorph anmutenden Gebilden, die prähistorische und moderne Künstler geschaffen haben könnten. Manche Exemplare sind so schön gestaltet und ästhetisch perfekt geformt, dass man ohne das Wissen von Entstehung und Herkunft dieser Gebilde meinen könnte, es handle sich tatsächlich um künstlerische Werkstücke des Menschen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Osteokolle, abgerufen 01.06.2019; https://www.bgr.bund,de/DE/Themen/Sammugen-Grungla...abgerufen 01.06.2019)

Meine Fundstücke erinnern mich an aufrechtstehende und liegende Frauenkörper, an archaische Göttinnen und an abstrahierend figürliche Plastiken der klassischen und zeitgenössischen Moderne. Ich bin fasziniert von ihrer Schönheit. Doch blieben sie, was immer ich in sie hineindeute, so könnte mir entgegengehalten werden, Naturprodukte, keine von menschlicher Hand geformte ästhetische Gebilde. Noch einmal zurück zur Frage, was ist Kunst?

Alf Mintzel bei der Einbettung eines Naturmodells in Ton – erster Arbeitsschritt, Juli 2019


Extreme kunsttheoretische Positionen

Theodor W. Adorno hat der Kunst eine kritisch-utopische Funktion zugewiesen. „Angesichts dessen, wozu sich die Realität auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S.10). Nach den Massenvernichtungslagern und bestialischen Katastrophen jedweder Art des 20. Jahrhunderts stünde gerade auch die Kunst in deren Zeichen. „Nach den realen Katastrophen und im Angesicht kommender“ habe die Kunst ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Es komme nicht nur auf die Qualität der ästhetischen Formalien an, sondern auf die inhaltlichen Aussagen zum Weltgeschehen. Kunst müsse, um ihrer humanen Aufgabe zu genügen, die Schrecken und inhumanen Widersprüche aufzeigen und auf utopische Möglichkeiten hinweisen. In diesem Sinne sind meine im Blog-Kapitel 58 abgebildeten Lithografien zu Themen wie „Schrecken des Krieges“ und „Folter“ humane Anklagen.

Joseph Beuys proklamierte den vielzitierten „erweiterten Kunstbegriff“. Jeder Mensch besitze allgemein schöpferische Fähigkeiten, die, so sein künstlerisches Programm, erkannt, ausgebildet und in allen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Sektoren zur Geltung gebracht werden sollten. Beuys setzt Kunst mit Kreativität gleich. Jeder Mensch sei im Grunde ein Künstler, wie überhaupt das Leben ein Kunstwerk sei. Zumindest habe jeder Mensch das Zeug dazu. Diese Erweiterung des Kunstbegriffs scheint mir höchst problematisch zu sein. Sie führt, so denke ich, ins Nebulose und in eine grenzenlose Beliebigkeit. Ästhetische und handwerklich-technische Standards werden zugunsten einer willkürlichen Definition und aktionistischen Praxis aufgegeben (siehe hierzu die hervorragende Analyse von Sandro Bocola „Die Kunst der Moderne, S. 503–540). Alles kann möglicherweise als künstlerische Äußerung und Leistung angesehen werden, also auch ein Transfer von Naturgebilden in menschliche Artefakte.

Unter einem solchermaßen ausgeweiteten Kunstbegriff ließen sich meine abgeformten Naturgebilde leicht subsummieren. Es genügte, sie gefunden, ausgewählt, handwerklich-technisch abgeformt, gegossen und mit einer anderen Bedeutung belegt zu haben. Nach diesem Konzept wären Entdeckung und Bearbeitung zweifellos kreative künstlerische Akte und deren Ergebnis ein Kunstobjekt. So gesehen bedürfte es keiner weiteren ästhetisch-theoretischen Anstrengung mehr.

Venusfigurine, Rückseite: Modell auf Tonbett gelegt, Außenlinie des Modells festgelegt; unten Einguss- und Entlüftungstülle gesetzt
Foto: Alf Mintzel

Naturmodell „Das Geheimnis der Artemis“ in Ton eingebettet; links unten Tülle für den Betonguss
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Das Geheimnis der Artemis“ in Ton (ocker) / Silikon (rosa)
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso aus früher Zeit“; Einbettung auf Ton, Außenlinie des Naturmodells festgelegt, links Einguss- und Entlüftungstülle
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso der Verschwundenen Venus“, 2. Arbeitsschritt
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso der verschwundenen Venus“, 3. Arbeitsschritt: Abdeckung mit Silikonschicht
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Postglaziales Idol“
Foto: Alf Mintzel

Gipskapseln mit Negativformen
Foto: Alf Mintzel

 

Readymade, Objet trouvé oder doch nur handwerklich-technische Reproduktion einer Naturschönheit?

Das Readymade ist nach geläufiger Definition ein handwerklich-technischer oder industriell vorgefertigter Gegenstand, den ein Künstler auswählt, kauft und durch Platzierung in einen Kontext mit seiner Signierung zu einem Kunstwerk erklärt. Der Künstler löst den Gegenstand aus seiner ursprünglichen Funktion und verleiht ihm in einem individuellen Akt eine ästhetische Funktion. Bekannte Beispiele: Marcel Duchamps Signierung eines Urinals und Umbenennung in „Fountaine“. Oder Duchamps „Flaschentrockner“, wie sie damals in französischen Gasthäusern in Gebrauch waren. Duchamp sammelte vorgefertigte Alltagsgegenstände, gab ihnen einen anderen Namen, signierte sie, erklärte sie zu Kunstgegenständen und reichte sie bei Kunstausstellungen ein. Er schildert diese Umwandlung so:
„Ob Mr. Mutt [sein Pseudonym] die Fontaine mit seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. Er hat sie AUSGEWÄHLT. Er nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des täglichen Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand – schuf einen neuen Gedanken für das Objekt." (zit. n. Partsch, S. 54)

Überträgt man dieses Konzept auf meine Objekte, dann könnte man sagen: Ich habe von der Natur geformte, vorgefertigte Gebilde aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, sie mit einem Titel versehen, ihnen damit eine neue Bedeutung unterlegt, signiert und ihnen einen Platz in der Kunstwelt eingeräumt. (Ich platziere allerdings meine Objekte nicht, wie Duchamp, im ästhetischen Sinn einer Anti-Kunst, sondern im Kanon klassischer Positionen). Auch bei meinen Kleinplastiken käme es also nicht darauf an, ob ich sie mit eigenen Händen gemacht oder nur AUSGEWÄHLT habe. Entscheidend ist darüber hinaus, den Osteokollen eine neue Bedeutung gegeben und sie in die Welt der Künste gestellt zu haben.

Das Objet trouvé  hingegen, der gefundene Gegenstand, kann, muss aber nicht handwerklich-technisch oder industriell vorgefertigt sein. Es kann sich ebenso um ein Stück Holz, um Wurzelwerk, um einen Stein oder um andere anorganische oder organische Materialien handeln. Auch gefundene Gegenstände werden wie Readymades durch die Erfindung von Titeln mit neuer Bedeutung aufgeladen, die sie vorher nicht hatten. Pablo Picasso macht aus einer Lenkgabel und dem Sattel eines Fahrrades einen Stierkopf.

Ohne Zweifel: Osteokollen sind Fundstücke, die mir wegen ihrer Schönheit ins Auge gefallen sind. Ich habe sie aufgehoben und jene, die mir besonders schön erschienen, mit Titeln aus dem kulturellen Arsenal des Menschen versehen. In diesem Sinne sind es objet trouvés. Doch bin ich nicht ihr Schöpfer, nicht ihr künstlerischer Gestalter. Es sind von der Natur hervorgebrachte Gebilde, die in einem langen zeitlichen Prozess zufällig Formen angenommen haben, als wären sie von menschlicher Künstlerhand geschaffen worden. Das Naturschöne entsteht aus einem natürlichen Grund, sei es ein physikalischer, geologischer oder anderer bewusstseinsloser Vorgang. Kunstwerke sind hingegen per definitionem Produkte bewusster menschlicher Tätigkeit. Ich bin durch die Akte der kulturellen Aneignung, des Auffindens, der Abformung, des Gießens und der Bedeutungszuweisung zu einem „Mitschöpfer“ geworden. Ich habe die Naturgebilde kraft meiner „ikonografischen“ Anschauung entdeckt und ihre schöne Gestaltung für kunstwürdig erklärt. Die Gebilde sind, so besehen, beides, primär Hervorbringungen der Natur und sekundär meine Schöpfungen. Ich schreibe dem Akt meiner ästhetischen Entdeckung eine Art Transsubstantiationskraft (siehe Willi Baumeister, S. 46) zu.

Die Natur als Künstlerin?

Natur kennt nicht, so sehe ich die Sachlage, die Kategorien der Schönheit und des Hässlichen. Die Natur bringt ihre Formen, Gebilde, Farben und sonstige Eigenschaften evolutiv hervor. Das Formen- und Farbenspiele, auch das weniger auffällige und schöne, dient der Paarung, Bestäubung und Fortpflanzung, hat also eine biologische Funktion. Ist die „Venus von Willendorf“ in der Evolution des Menschen ein Naturprodukt? Oder schon „kunstverdächtig“?
Die Natur ist an sich ästhetisch völlig indifferent. Die evolutiven Vorgänge ereignen sich ohne ästhetische Absicht und Maßstäbe. Das gilt übrigens auch für geophysikalische Vorgänge, für erodierende Felsformationen, glazial geschliffene Steine, Sandrosen und viele andere physikalischen Gebilde. Die Natur ist sich ihrer Schönheit nicht bewusst. Schönheit als solche zu erleben, zu sehen und zu bezeichnen, ist eine menschliche Fähigkeit. Wir Menschen sind es, die etwas als schön oder unschön werten und eine Ästhetik entwickeln. Eine in einem Fluss angeschwemmte Holzwurzel mag noch so beeindruckend schöne Formen aufweisen, schön wird sie erst durch die ästhetische Zuschreibung des Menschen. Nicht die Wurzel empfindet sich als schön, sondern der Mensch schreibt der Wurzel Schönheit zu. Nicht die in Jahrhunderttausenden im Lößboden durch Auswaschungen gebildeten Osteokollen sehen sich als schönes Naturprodukt, sondern der Finder ist von ihrer schönen Gestaltung fasziniert.

Alf Mintzel prüft den Stand eines Naturmodells auf einem Sockel, Juli 2019
Foto: Franziska Lankes

Alf Mintzel gibt dem Abguss „Torso aus früher Zeit“ den letzten Schliff, September 2019
Foto: Franziska Lankes

Alf Mintzel in der Werkstatt, letzter Arbeitsgang: Behandlung der Sockel, November 2019
Foto: Franziska Lankes

 

Pure Nature Art

Im Jahre 2017 wurde auf die internationale Ausstellung „Pure Nature Art“ Naturmateriealien in der zeitgenössischen Kunst“ mit folgendem Text aufmerksam gemacht:
„Respektvolle Aneignung des von der Natur Hervorgebrachten
Für die Ausstellung wurden sechs internationale Positionen ausgewählt. Die über 20 Installationen, Objekte, Wandarbeiten und Skulpturen aus Materialien wie Muscheln, Federn, Sepiaschalen, Blättern, Kork, Pferdehaare oder Rosenblüten lenken den Blick auf die Schönheit, Leichtigkeit und Fragilität der in der Natur aufzufindenden Materialien. Sie verweisen aber auch auf die faszinierende Systematik und gestaltende Kraft, die der Natur innewohnt. Bei dem Erforschen, Sammeln und Ordnen des Vorgefundenen, bei dem Erschaffen neuer Formen und Kontexte handelt es sich um eine respektvolle Aneignung des von der Natur Hervorgebrachten. Die Ausstellung liefert überraschende und nachdenklich stimmende Anregungen, dem vielschichtigen Verhältnis von Kunst und Natur nachzuspüren.“
(https://www.mkdw.de/de/ausstellung/pure-nature-art-naturm...28.08.2019)

Die hier bezogenen Positionen stellen den Vorgang der Aneignung als Kunstschaffen in den Vordergrund, das Erforschen, Sammeln und Ordnen des von der Natur Hervorgebrachten und Vorgefundenen. Der gestaltenden Kraft wird nachgespürt, ihren Formen und Gebilden. Der Kunstbegriff wird offengehalten und nicht auf die schöpferische Tätigkeit des Menschen beschränkt. Zwischen der „Lehrmeisterin Natur“ und der schöpferischen Arbeit des Menschen besteht ein vielfältiges Wechselverhältnis, in dem immer neue Formen und Gebilde hervorgebracht werden. Doch auch in diesen Statements bleibt fraglich, was eigentlich welche Formen und Gebilde der Lehrmeisterin kunstwürdig macht und was die genuine kreative Leistung des Menschen ausmacht, der sich respektvoll von der Natur Hervorgebrachtes aneignet. Solche Formulierungen lassen vieles offen. Ich habe mir die Osteokollen respektvoll angeeignet und bewundere ihre Schönheit. Nicht die „Lehrmeisterin Natur“ hat aus einigen ihrer vielgestaltigen Gebilde eine Aphrodite, Artemis, einen weiblichen Torso oder sonst eine anthropomorphe Gestalt gemacht (siehe Abbildungen), sondern ich. Ich sehe diese ikonografischen Gestaltungen in die von Natur aus blinden, das heißt a-kulturellen, Formen der Natur hinein. Die Antwort auf die Frage, ob sie hierdurch den Anspruch erfüllen, kunstwürdig zu sein, hängt von der jeweiligen kunsttheoretischen Position ab.
Der Kunsthistoriker Hans Holländer (1932–2017) sagt hierzu Folgendes:
„Die Abenteuer der Ermittlung von Bildern in den Verstecken der Gesteine und die Wege des Zufalls bei der Anwendung von Prozeduren, deren Resultate anschließend weiterbearbeitet werden, sind überaus mannigfaltig und nicht reglementierbar. Artistisches Material ist die Gesamtheit aller Dinge und ihrer Strukturen. Jede von ihnen kann auch ein Bild von etwas anderem sein, das wiederum seine Struktur hat, die der arbeitenden und bildenden Phantasie gewisse Deutungen nahelegt. Die Frage, welche dieser Bilder ,Kunst‘ sind oder nicht, die einst so rigorose Antworten erzwang, ist dabei ziemlich gleichgültig, weil der Tätigkeitsbereich der Phantasien ohnehin nicht mit den Geltungsrevieren von Kunstbegriffen identisch ist. Kunstfertigkeit aber gerade dann vonnöten ist, wenn aus dem Meer von Assoziationen die Entscheidung für ein bestimmtes Bild getroffen und dies dann auch hergestellt werden soll. Leonardos Exempel von der Vieldeutigkeit der Strukturen einer Mauer bleibt  der beste und am meisten einleuchtende  Text zu diesem Problem, weil es sich nicht um einen kunsttheoretischen Text handelt“
(Hans Holländer, 1997: Das Irreguläre, der Zufall und die sich selbst erfindende Natur, in: Edward Quinn: Max Ernst, S. 119).
Holländer hat bei seinen Betrachtungen zwar vor allem die Malerei und Grafik der Surrealisten im Blick, doch lassen sich diese auch auf plastische Gebilde übertragen.

Fazit meiner problemumkreisenden Überlegungen

In meinem konkreten Fall begegnen sich zufällig naturgeformte Schönheit und von Menschenhand geschaffene „Kunstschönheit“ auf eine verblüffende Weise. Sie scheinen eine Synthese eingegangen zu sein. In der Natur vorgefundene natürliche Werkstücke und die künstlerischen Werkstücke des Menschen können sich in einem so hohen Maße ähneln, ja gleichen, dass eine strikte kategorische Trennung fraglich wird. Ich habe durch meine Aneignung neue Geschöpfe kreiert, ich bin der Schöpfer der Figurinen. Aus den Naturgebilden sind kulturelle Gegenstände geworden. Der Akt des Hineinsehens und der schöpferischen Aneignung macht sie zu kulturellen Artefakten und – nach Machart und ästhetischen Regeln – möglicherweise zu Kunstprodukten.

Werkstattatmosphäre, November 2019
Auf dem Tisch meine Turbo-Beton-Abgüsse, zurechtgelegt für die Aufstellung auf Metallsockel

Danksagung
Dem Künstler und Kollegen Oswald Miedl (Linz), der bis 2005 den Lehrstuhl für Kunstpädagogik und ästhetische Erziehung innehatte, danke ich für seine anregenden Kommentare und Hinweise. Dank schulde ich auch den Künstlerinnen Franziska Lankes und Maya Franzen-Westermayer, den Leiterinnen der Kunst-Werk-Wochen im Rottal, für ihre Anleitungen und Hilfen bei der Durchführung meines Arbeitsprojektes. Die Gespräche mit ihnen über Arbeit und Sinn meines künstlerischen Vorhabens haben meine Selbstreflexionen geschärft. Besonders danke ich auch André Hasberg, der handwerklich exzellent die Sockel für meine Kleinplastiken angefertigt hat, und Georg Thuringer für die Bearbeitung der Fotodokumentation.

Zu Rate gezogene Literatur (kleine Auswahl)
Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum. Rombach 1994
Edward Quinn: Max Ernst. Beiträge von Max Ernst, U M. Schneede, Patrick Waldberg, Diane Waldmann, Zürich und Freiburg i, B. 1976
Sandro Bocola: Die Kunst der Moderne. Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung. Von Goya bis Beuys, München, New York 1997
Michael Hauskeller, 2000: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, München beck’sche reihe
Susanne Partsch, 2005: Die 101 wichtigsten Fragen. Moderne Kunst. München beck’sche reihe
Dieter Rahn, 1993: Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst. Rombach Verlag Freiburg
Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst Verlag M. DuMont Schauberg Köln 1960.