7. Am US-Militärtribunal in Nürnberg (1947–1949) – „Kurierdienste“ für die Verteidigung

Zur Rolle meines Vaters als Verteidiger

Einmal im Leben stand mein Vater auf dem Podium der politischen Weltbühne. Im Oktober 1947 bot sich ihm die Chance, am US-amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg in Prozessen gegen Kriegsverbrecher als Verteidiger mitzuwirken. In seinem bisherigen Berufsleben als Jurist war dies die größte Herausforderung und interessanteste Aufgabe, die er je hatte. Ich erinnere mich noch lebhaft an einzelne Ereignisse, weil mein Vater mich dann und wann im Rahmen seiner Arbeit mit Sonderaufgaben bedachte. Obwohl ich in dieser Zeit meinen Vater so gut wie nie am Tage antraf und ihn nur nachts in seinem Arbeitszimmer beim Aktenstudium sah, gab es Momente, in denen ich wiederum zu einem kleinen Zeitzeugen wurde. Ab und zu kamen Entlastungzeugen zu uns nach Hause und führten mit meinem Vater nächtelange Gespräche. Es war dann von „Kreuzverhören“ die Rede, die aber, so viel ich mithören konnte, freundlich waren und manchmal in einem Besäufnis endeten. Einmal nächtigte ein betrunkener Zeuge in unserer Badewanne. Ich erinnere mich noch an den Namen. Meine Mutter sagte am nächsten Morgen amüsiert zu mir: „Herr von Lepel ist heute Nacht in die Badewanne gefallen“. Gunther Carl Wilhelm Freiherr von Lepel, ein Militär und späterer Filmproduzent, war während des Zweiten Weltkrieges Hauptmann der Nachrichtentruppe gewesen.

Blick in den Gerichtssaal des Wilhelmstraßen-Prozesses; Walter Schellenberg in der zweiten Reihe, zweiter von rechts; Bild: USHMM, courtesy of Robert Kempner, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2039209

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (20.11.1945–14.04.1949) umfassten den Prozess des Internationalen Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher und die so genannten zwölf Nachfolgeprozesse (Fall I–XII) vor dem US-amerikanischen Militärgerichtshof. In den Folgeprozessen wurden Angehörige verschiedener Institutionen des Dritten Reiches vor Gericht gestellt, die sich an NS-Verbrechen beteiligt hatten: Diplomaten, Industrielle, Generäle, Ärzte, SS-angehörige Juristen und andere Gruppen. Allen Angeklagten standen Verteidiger zur Seite. Mein Vater war im Fall IX, dem sogenannten „Einsatzgruppen-Prozess“ (15.09. 1947-10.04.1948) an der Verteidigung von Otto Ohlendorf und Martin Sandberger sowie im Fall XI, dem „Wilhelmstraßen-Prozess“ (04.11.1947-14.04.1949), an der Verteidigung Walter Schellenbergs beteiligt. Jede Anstellung von Verteidigern und Hilfsverteidigern bedurfte der offiziellen Zustimmung des amerikanischen „Chief of Counsel for War Crimes“. Allerdings konnten die Verteidiger, allesamt deutsche Juristen, bei der Auswahl ihrer Hilfsverteidiger personelle Vorschläge unterbreiten. Wie kam mein Vater, der ein begeisterter Nazi gewesen war und auch nach dem Untergang des Dritten Reiches noch an die deutsche Volksgemeinschaft und an die guten Seiten des Führers geglaubt hatte, zu seiner Rolle als Hilfsverteidiger in den Nürnberger Prozessen? Warum ließ das amerikanische Gericht Verteidiger zu, von denen es gewusst haben muss, dass sie Anhänger des NS-Regimes gewesen waren?

Zulassung meines Vaters zu den US-Militärgerichtshöfen in Nürnberg; Dokument aus dem Prozess-Nachlass meines Vaters

Es waren Juristen-Netzwerke und glückliche Umstände, die den Weg ins Militärtribunal zugänglich machten. Mein Vater hatte unter Nürnberger Kollegen, die nach dem Krieg als Anwälte praktizieren und in ihren Kanzleien juristische Hilfskräfte einstellen durften, Helfer und Fürsprecher. So entwickelte sich aus seiner Bewerbung auf eine juristische Aushilfsstelle bei einem Rechtsanwalt über dessen Kontakte der Eintritt in einige der größten Mordprozesse der Weltgeschichte. Der Verteidiger des Angeklagten Otto Ohlendorf, Dr. Karl Gick, benötigte einen Assistenten und schlug kurz entschlossen beim Chief of Counsel meinen Vater als Hilfsverteidiger vor. Der Angeklagte Ohlendorf war der ehemalige Leiter der Staatssicherheits-Organisation im Reichssicherheitshauptamt und der Einsatzgruppe in Südrussland (1941/42). Er war für die Ermordung von rund 90.000 Zivilisten verantwortlich. Er wurde 1948 zum Tode verurteilt und am 7. Juni 1951 hingerichtet. Noch bevor die endgültige Zustimmung der zuständigen US-Instanz am 16.10.1947 eintraf, nahm mein Vater die Arbeit auf. So wurde also ein ehemaliges NSDAP-Mitglied und Bekenner der nationalsozialistischen Weltanschauung binnen zwei Wochen am Militärtribunal zugelassen.

Visitor’s Pass für Kurt O. Mintzel vom 20.10.1947, der ihm den Zugang zum Justizpalast erlaubte, um die Gespräche über seine Zulassung als Verteidiger zu führen.

Mit dem Verteidiger Dr. Karl Gick arbeitete mein Vater allerdings nur kurze Zeit zusammen. Schon am 15.12.1947 wechselte er zu Bolko von Stein über, der die Angeklagten Eduard Strauch und Martin Sandberger vertrat. Zwei Monate später trat mein Vater bei Dr. Fritz Riedinger unter Vertrag, der im Fall XI den Angeklagten Walter Schellenberg verteidigte. Die Gründe für den zweifachen Wechsel blieben mir unbekannt. Dr. Riedinger schloss mit meinem Vater am 20. Februar 1948 einen internen Arbeitsvertrag, in dem sie ihre Zusammenarbeit paritätisch regelten und die Bezüge und Honorare zu gleichen Teilen festsetzten. Jeder sollte monatlich 1.750,00 Reichsmark erhalten. Beide wollten im Fall XI im Vollstatus eines Verteidigers gleichberechtigt vor dem Gericht auftreten. Der Chief of Counsel stimmte zwar dem Personalwechsel zu, akzeptierte aber nicht die paritätischen Vereinbarungen. Mein Vater fungierte weiterhin offiziell als Hilfsverteidiger, obschon er Schellenberg gleichberechtigt im Sinne des mit Riedinger geschlossenen Untervertrages verteidigte. Der Fall XI nahm ihn über ein Jahr lang Tag und Nacht in Beschlag.

Der Angeklagte Walter Schellenberg (1910-1952), von Beruf Jurist, hatte nach dem zweiten Staatsexamen rasch eine steile NS-Karriere durchlaufen. Der SS-Führer war im engsten Umfeld des NS-Machtzentrums des Dritten Reiches, im Reichshauptsicherheitsamt, tätig gewesen. Er war in den Jahren 1939 bis 1944 vom SS-Standartenführer zum SS-Brigadeführer (1941) und danach zum Generalmajor der Geheimen Staatspolizei aufgestiegen. In den Jahren von 1939 bis 1941 war er für die polizeiliche Spionageabwehr im Inland zuständig und 1941 an der Zerschlagung der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ beteiligt. Nach dem Attentat auf Hitler vom 20.07.1944 war er zu Hitlers Geheimdienstchef avanciert. Bis zum Kriegsende hatte er dem Auslandsnachrichtendienst vorgestanden, einer NS-Institution, die ein Netz von Agenten unterhalten und mit ausländischen faschistischen Gruppen kooperiert hatte.

Mitwirkung von Verteidigern mit NS-Vergangenheit

Die Zulassung meines Vaters als Hilfsverteidiger zu einem Zeitpunkt, an der noch nicht einmal durch ein Entnazifizierungsverfahren gegangen war, stellte keine ungewöhnliche Besonderheit dar, sondern passte zu den US-amerikanischen Verfahrensregeln eines fair trial und due process.  Die Mitwirkung von Verteidigern mit NS-Vergangenheit war sogar ein vom Tribunal erwünschtes Kriterium für die Anstellung, solange sie im Sinne des Entnazifizierungsgesetzes von 1946 nur als „Mitläufer“ eingestuft worden waren. Der Anteil von ehemaligen NSDAP–Mitgliedern unter den Verteidigern betrug bis zu zwei Dritteln. (NMT = Nürnberger Militärtribunal 1950, 50) Unter den zugelassenen Verteidigern gab es sogar ehemalige Mitglieder der SA und SS. Die auffällige Häufigkeit von Parteizugehörigkeit hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen war der deutsche Justiz- und Verwaltungsapparat eng mit dem NS-Regime verflochten gewesen, so dass Parteimitgliedschaft die Regel gewesen war. (NMT 1950, 50f, 609; Doerries 2009, 251). Zum anderen wollten die Ankläger den Vorwurf entkräften, es handle sich bei den Prozessen um Siegerjustiz und Schauprozesse (NMT 1950, 18, 58, 607). Diesem Generalvorwurf, der in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit und in Juristenkreisen virulent war, wollten die US-amerikanischen Ankläger mit Prinzipien eines fair trial und due process entgegentreten. Sie verfolgten deshalb penibel Verfahrensregeln, die den Verteidigern im Prozessverlauf einen großen Freiraum zugestanden.

Die meisten Verteidiger waren folglich keine politisch neutralen Rechtsbeistände, sondern mit der Sache ihrer Mandanten verbunden. Unabhängig vom Einzelfall und von der Anklage bestand die Aufgabe eines Strafverteidigers im Sinne eines fair trial darin, alles anzuführen, was zu einer Entlastung seines Mandanten führen konnte, und alles zu unterlassen, was dem Angeklagten angelastet werden könnte. Die Rolle eines Verteidigers ließ sich ohne eine gewisse Parteilichkeit also nicht ausfüllen. Als Gegenspieler des Anklägers entwickelten die deutschen Anwälte Verteidigungsstrategien, die dem „Siegertribunal“ nicht nur die Legitimation absprachen, sondern auch die Anklagepunkte in Frage stellten und zu widerlegen versuchten. Diese Rolle brachte die Verteidiger somit nicht zwingend in einen inneren Konflikt mit ihrer NS-Vergangenheit. Allerdings schwelte unausgesprochen und unterschwellig die Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Vergangenheit. Ich weiß sicher, dass mein Vater noch bis in die 1950er Jahre hinein die ehemaligen Alliierten allgemein und die Amerikaner in der US-amerikanischen Besatzungszone als Feinde und Okkupanten betrachtete. Seine Rolle als Verteidiger vertrug sich also mit seinen politischen Ansichten und seiner Gesinnung. Er kam, soweit ich es beurteilen kann, anscheinend in keinen grundsätzlichen Konflikt mit seiner politischen Weltanschauung. Er musste seine vom Nationalsozialismus geprägten Anschauungen nicht generell verraten oder ihnen abschwören. Zu den Angeklagten, die er vertrat, pflegte er ein verständnisvolles und im Falle Walter Schellenbergs ein fast freundschaftliches Verhältnis. Er wollte als Verteidiger die Siegerjustiz mit den ihm zugestandenen Rechtsmitteln unterlaufen und seine Mandanten, wie es in der Sprache schlagender Studentenverbindungen heißt, „herauspauken“.

Die ungeschriebenen „Gedanken und Notizen“

Bis heute kann ich mich nicht wirklich mit seinem Schweigen abfinden. Viel Frust macht sich darüber breit, dass mein Vater niemals Grundsätzliches und Biografisches über seine Rolle und Erlebnisse in diesem Jahrhundertprozess niederschrieb. Er, der trotz anstrengender Berufsarbeit und schwieriger Familienverhältnisse bis in die späten Nachtstunden hinein Geschichtswerke und historische Romane verschlungen hatte, blieb stumm. Man könnte den ungeschriebenen persönlichen Bericht für symptomatisch halten für das Schweigen und Verschweigen dieser Generation. Mein Vater äußerte sich später nur mehr in Gesprächen im kleinen Kreis über die Prozesse, und dies auch nur sporadisch und wenig tiefgründig. Dabei hätte er so viel berichten, dokumentieren und zeitgeschichtlich Bedeutendes, ja weltgeschichtlich Wichtiges mitteilen können. Warum hat ihn sein reges Interesse an historischen Vorgängen nicht dazu motiviert? Er hätte zu einem bedeutenden Zeitzeugen werden können. Ich habe es ihm später, als ich mich als Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker mit der Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und mit Bayerns Weg in die Moderne befasst habe, fast übelgenommen, seine Riesenchance nicht ergriffen zu haben.

Passierschein für Medizinalrat Felix Kersten und Begleitperson vom 19. April 1945, ausgestellt von SS-Brigadeführer, Generalmajor der Waffen-SS und Polizei Walter Schellenberg; Dokument aus dem Prozess-Nachlass meines Vaters

Mein Vater hatte als Verteidiger tiefe Einblicke in die NS-Todesmaschinerie erhalten. Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen waren zu ungeheuerlich und abscheulich, um seine vom Nationalsozialismus geprägte politische Ideologie ungebrochen aufrechterhalten zu können. Seine inneren ideologischen Bindungen begannen sich zu lockern und abzuschwächen. Am Ende schien er sich mit der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland versöhnt zu haben. Seine veränderte politische Einstellung führte in den 1960er Jahren zum Bruch mit Bundesbrüdern der schlagenden Burschenschaft „Frankonia“, die stark rechts ausgerichtet und zum Teil noch der NS-Ideologie hörig war. Die „Frankonia“ geriet auch später wiederholt ins Visier des Verfassungsschutzes (SZ Nr. 268, 20.11.2015, S. 49). Wahrscheinlich war die bittere Erkenntnis, sich in der Jugend und in frühen Mannesjahren politisch-ideologisch verrannt und falsche Opfer gebracht zu haben, der Grund dafür, dass er nie zu einem persönlichen Rechenschaftsbericht ansetzte.

Mein Vater war nicht der einzige unter den fast zweihundert Verteidigern und ihren Assistenten, der sich nicht mehr aufraffte, über seine Rolle und Arbeit zu berichten. Nur wenige bemühten sich später darüber zu schreiben. Unter ihnen waren der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920-2015) und Alfred Seidl (1911-1993). Letzterer wurde 1958 Mitglied des Bayerischen Landtags, avancierte 1974 zum Staatssekretär im bayerischen Justizministerium und 1977 zum bayerischen Staatsminister des Inneren. Seidl, eine politisch rechtsstehende Persönlichkeit, rollte nach seiner Pensionierung als ehemaliger Verteidiger den Fall Rudolf Heß aus seiner persönlichen Perspektive in Dokumentationen auf (Seidl, 1986, 1988). Richard von Weizsäcker beteiligte sich wie mein Vater als Hilfsverteidiger im Prozess gegen seinen Vater Ernst von Weizsäcker. Der „Diplomat des Teufels“, wie sein Vater genannte wurde, war wegen seiner aktiven Mitwirkung bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz angeklagt worden. Im Gegensatz zu meinem Vater nahm der vierzehn Jahre jüngere Richard von Weizsäcker später in Wort und Schrift zum Prozess und zu seiner Rolle öffentlich Stellung (Richard v. Weizsäcker, 1997; Spiegel online. Einestages; FAZ Nr. 54, 05.03.2005,S. 39). Er hielt die Anklage gegen seinen Vater für „ungerecht und unmoralisch“ und wollte die Familienehre wiederherstellen.

„Kurierdienste“ für die Verteidigung

Als ich 1978 im Rahmen des deutsch-amerikanischen OMGUS-Projektes in den USA in den National Archives arbeitete, wollte der damalige Archivar John Mendelsohn, der den Fall IX dokumentiert und mir Akten meines Vaters gezeigt hatte, nicht glauben, dass mit Personen, die zur Entlastung Schellenbergs Wichtiges beitragen konnten, abseits der amerikanischen Kontrollen Kontakte hergestellt worden waren. Mendelsohn war sich sicher, dass den strengen Kontrollen nichts entgangen sein konnte. Er war erstaunt, als ich ihm erzählte, dass mein Vater mich in solchen Fällen ab und zu als „Kurier“ eingesetzt hatte. Ich erinnere mich noch gut an den Ort und die Umstände.

Walter Schellenberg, so wie ich ihn von meinen „Kurierdiensten“ in Erinnerung habe; Bearbeitetes Bild, Grundlage: US Army photographers on behalf of the OUSCCPAC or its successor organisation, the OCCWC [Public domain], via Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Walter_Schellenberg.jpg

Schellenberg war sterbenskrank. Aus diesem Grund war er nicht wie die anderen Angeklagten im Gefängnis des Nürnberger Justizpalastes in Gewahrsam, sondern unter strenger Bewachung in einem Gebäude der Innenstadt in medizinischer Behandlung. Vor dem Krankenzimmer saßen zwei schwarze amerikanische Bewacher, jeder mit einem Maschinengewehr bewaffnet. Sie kontrollierten jeden Vorgang. Selbstverständlich hatten nur autorisierte Personen wie die Verteidiger Zutritt zu den Gefangenen. Wie es meinem Vater gelungen war, mir freien Zugang zu verschaffen, weiß ich bis heute nicht. Er hatte mich mehrmals zu seinen Unterredungen mit Schellenberg mitgenommen, so dass ich den Bewachern als son of the attorney bekannt war. Ich habe meinen Vater leider niemals danach gefragt, wie mein Zugang zu Schellenberg möglich wurde. Jedenfalls konnte ich ohne besondere Umstände oder Formalien den Raum betreten und mich mit Schellenberg unterhalten.

Schellenberg residierte wie ein Monarch auf seinem Bett. Er war, wenn ich ihn besuchte, immer gut gestimmt, so schien es mir wenigstens. Ich trat an sein Bett und übergab ihm etwas. Er fragte nach meinen Interessen, wollte wissen, was ich gerade lese, und zeigte sich neugierig zu wissen, was ich so treibe. Als ich ihm erzählte, dass ich gerade die Bücher der Afrikaforscher Livingsten und Stanlay lese und gern einmal nach Afrika fahren würde, versprach er mir für den Fall, dass er freikommen werde, eine Reise nach Afrika. War es eine bloße Nettigkeit? Aus der Afrikareise ist nichts geworden. Schellenberg wurde 1950 begnadigt und starb 1952 in Trient (Paehler 2015, 29-56).

Mein Vater hatte mich ohne viele Worte zu einem „Kurier“ gemacht. Ich trug, wie das damals üblich war, eine kurze Lederhose, die an ihren Beinenden umgeschlagen war. Der Umschlag war so breit, dass man dahinter etwas Unauffällig verstecken konnte. Mein Vater benutzte meine freie Zugangsmöglichkeit für allerlei Botschaften an den Angeklagten. Er beauftragte mich, die auf kleinen Papierröllchen oder Zettelchen geschriebenen Informationen im Umschlag der Lederhose ins Krankenzimmer zu schmuggeln. Die schwarzen Bewacher ließen mich immer freundlich eintreten. Ich wusste selbstverständlich nichts über den Inhalt dieser „Kassiber“. Ein Schreiben meines Vaters vom 19.04.1948 lässt erahnen, um welche Botschaften es sich gehandelt haben könnte. Es bestätigt und dokumentiert einen der inoffiziellen Schleichwege und womöglich einen meiner „Kurierdienste“.

Nürnberg, den 19.04.1948. (Schreiben an Herrn Felix Kersten, Medicinalrad, Stockholm, Lennegatan 8)

„Sehr geehrter Herr Kersten,
ich komme heute im Auftrag unseres Freundes Schellenberg mit einer ganz besonderen Bitte zu Ihnen. Nach der Venlo-Affäre im November 1939 ist nach unserer Kenntnis der Chef des Informationsdienstes im niederländischen Generalstab Generalmajor van Oorchot seines Amtes enthoben worden. Für diese Tatsache benötigen wir nun möglichst umgehend ein Beweisstück in Gestalt eines Dokuments oder der Bekundung einer von diesem Vorgang unterrichteten Person.
Da wir selbstverständlich große Schwierigkeiten haben werden, ein solches Beweisstück irgendwie auf offiziellem Weg zu beschaffen, wende ich mich an Sie, mit der Bitte, in dieser Sache zu helfen. Denn Ihnen dürfte es ja wohl nicht so schwer sein, aus den Niederlanden das entsprechende zu beschaffen. Sie verstehen sicher, dass bei der Bedeutung der Aufhellung des Sachverhaltes im Zusammenhang mit dem Zwischenfall Venlo für das Schicksal Schellenbergs irgendwelche politischen oder sonstigen Gründe gegenüber der Gestaltung seines Schicksals zurückgestellt werden müssen. Die Beschaffung dieses Beweisstückes würde allerdings eilen und ich vertraue darauf, dass Sie dieser Situation Rechnung tragen werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung.
Ihr sehr ergebener gez. Kurt O. Mintzel.“
(Aus dem Nachlass meines Vaters)

Mit “Frau General “Irene Schellenberg ans Krankenlager

Walter Schellenberg, SS-Brigadeführer, Generalmajor der Waffen-SS und Polizei und seine zweite Frau Irene Schellenberg, geb. Grosse-Schönepauck; Bild: Süddeutsche Zeitung / Enigma Archive

Mein Vater betraute mich gewissermaßen auch mit einem „Personenschutz-Dienst“. Er beauftragte mich die „Frau General“, Irene Schellenberg, ans Krankenlager ihres Mannes zu begleiten. Die zweite Ehefrau Schellenbergs, eine geborene Irene Grosse-Schönepauck, war eine wunderschöne Frau. Sie war die Tochter einer Polin. Heinrich Himmler hatte sein Einverständnis geben müssen, als Schellenberg sie 1940 heiratete. Bei ihren Besuchen bei uns war sie immer extravagant und körperbetont gekleidet. Sie hatte eine schlanke Figur, selbst auf buckeligem Kopfsteinpflaster konnte sie in ihren schmalen Schuhen auf hohen Absätzen noch elegant dahinschreiten. Ging sie aus dem Haus, trug sie einen schwarzen Hut mit geschwungener breiter Krempe. Ihre Erscheinung hatte etwas von einer Diva. In dem vom Bombenkrieg zerstörten Nürnberg erweckte sie, wenn ich sie durch die schmutzigen Straßen zu ihrem Mann begleitete, große Aufmerksamkeit. Die schlecht gekleideten Nachkriegsdeutschen merkten sofort, dass sie einer Dame von Welt begegneten, jedenfalls einer Person, der eine besondere Prominenz zuzuschreiben war.

Care-Pakete aus Schweden

Die Anstellung meines Vaters am Nürnberger Militärgerichtshof veränderte schlagartig die Situation der Familie. Mein Vater verdiente als Verteidiger fast das Doppelte des Gehalts, das er am Ende des Krieges als Oberverwaltungsrat bezogen hatte. Zusätzlich zu seinem Einkommen in Geld wurde er materiell entlohnt: Er bekam monatlich eine Stange Zigaretten der Marke Lucky Strike und durfte in der Kantine des Militärgerichtshofes essen. Die Kantine im Justizgebäude bot in der damaligen Notzeit außergewöhnlich gute Mahlzeiten, was die häusliche Lebensmittelversorgung entlastete. Die Verteidigung Schellenbergs führte 1948 nach Schweden zu Kontakten mit schwedischen Entlastungszeugen, vor allem mit Graf Folke Bernadotte, Carl Herslow und Alvar Möller. Mit Herslow, der bei uns zu Hause mit meinem Vater Fragen der Verteidigung Schellenbergs besprach, lernte ich noch einen prominenten schwedischen Verbindungsmann zum Dritten Reich persönlich kennen. Möller hatte nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler mit Walter Schellenberg Kontakt aufgenommen.

Herslow verbesserte über seine Verbindung zur „Deutschen Zündholzfabriken Aktiengesellschaft“ unsere Verpflegung mit Lebensmitteln. Alvar Möller, ein Topmanager der „Svenska Taendsticks Aktiebolaget“, der Schwedischen Zündholz Aktiengesellschaft, veranlasste vom Frühjahr 1948 an, dass wir monatlich ein großes Care-Paket mit Grundnahrungsmitteln erhielten. Die Sendungen enthielten Mehl, Schmalz, Dosenfleisch, Trockenmilch und andere hochwertige Genussmittel. Jedes Mal, wenn ein Paket angekommen war, versammelten wir uns in der warmen Küche, in der sich in diesen Notjahren das Leben hauptsächlich abspielte, und öffneten es unter großem Jubel. Diese Liebesgaben-Pakete, so wurden sie deklariert, machten der schlimmsten Hungerzeit ein Ende, wenngleich die kargen Jahre erst nach der Währungsreform vorüber waren. Ich bedankte mich für die Lebensmittelsendungen mit Malereien aus meiner Hand, wofür mir Alvar Möller im Auftrag von Herslow noch zum Weihnachtsfest 1951 hundert Deutsche Mark schenkte. Das war damals der halbe Monatslohn eines Arbeiters und erst recht für einen Fünfzehnjährigen enorm viel Geld.

So willkommen das hohe Einkommen meines Vaters auch war, die Kaufkraft der Reichsmark war gering. Es herrschte nach wie vor an allem Mangel, die Lebensmittel waren amtlich rationiert. Der Schwarzmarkt blühte, wer konnte, ging auf Hamsterfahrt. Die amerikanischen Zigaretten waren als Zahlungsmittel hoch begehrt. Bis zur Währungsreform (20.06.1948) kostete auf dem Schwarzmarkt eine Packung Lucky Strike bis zu 120 Reichsmark. Meine Eltern schickten mich vor Ostern 1948 mit etlichen Packungen in die Oberpfalz, um sie bei uns aus der Kriegszeit bekannten Bauern gegen Eier und Mehl einzutauschen. Mit gerade einmal dreizehn Jahren wurde ich auch auf diese Weise zum kleinen Mitversorger der Familie gemacht. Mit dem, was ich nach Hause brachte, buk meine Mutter den Osterkuchen. Mein Vater brütete über seinen Akten, meine Mutter hatte uns fünf Kinder und die Alten zu versorgen, mein Großvater war zu alt geworden, um noch beschwerliche Hamsterfahrten unternehmen zu können.

Entnazifizierung und Selbstverteidigung

Die „Entnazifizierung“ meines Vaters erfolgte in der ersten Hälfte des Jahres 1948, mitten in der Zeit also, in der er am Nürnberger Militärtribunal mit Dr. Riedinger die Verteidigung Schellenbergs übernommen hatte. Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 05.03.1946 sah fünf Gruppen von Verantwortlichen vor: Gruppe I Hauptschuldige, Gruppe II Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Gruppe III Minderbelastete (Bewährungsgruppe), Gruppe IV Mitläufer und Gruppe V Entlastete. Die Spruchkammer IV Nürnberg hatte meinen Vater in erster Instanz im Frühjahr 1948 aufgrund der „Beweismittel“ und der „Klageschrift“ in die Gruppe der „Minderbelasteten“ eingeordnet und zu einem einmaligen Sonderbeitrag von 1000,00 Reichsmark verurteilt. Der Betrag sollte in einen Wiedergutmachungsfond einbezahlt werden. Die Spruchkammer hatte Mitgliedschaften und Ämter meines Vaters noch stark negativ bewertet: Seine Mitgliedschaft in der NSDAP von 1933 bis 1945, seine Tätigkeit als Führer der Altherrenschaft „Hesselberg“ in den Jahren von 1938 bis 1942 und als Gaureferent für Rechtsfragen und Scharführer der Hitlerjugend sowie seine Anwartschaft als Führer der SS. In diesen und anderen Tatbeständen hatte die Kammer – wie ich meine zurecht – Tatbestände einer wesentlichen Förderung des NS-Regimes erfüllt gesehen.

Mein Vater war ein viel zu gewiefter Jurist, um den Urteilsspruch der ersten Instanz hinzunehmen. Wer in die Gruppe der Minderbelasteten eingeordnet wurde, musste auch mit schwerwiegenden Folgen für seine Bürgerrechte und für sein weiteres Berufsleben rechnen. Er legte bei der Berufungskammer gegen das Urteil Widerspruch ein und brachte umfangreiches Beweismaterial vor, aus dem entnommen werden sollte, dass er nur ein „Mitläufer“ gewesen sei. Seine Verteidigungsstrategie war klar und konsequent: Alles, was ihn im Sinne des Entnazifizierungsgesetzes hätte belasten und das Urteil der ersten Instanz bestätigen können, wurde vertuscht, geleugnet oder bestritten. Alles, was ihn als bloßen „Mitläufer“ hatte erscheinen lassen können, wurde in ein positives Licht gerückt. Und selbst ein Mitläufer sei er „nur rein äußerlich in einem nominellen Sinne gewesen“. Er legte zum Beweis zahlreiche Entlastungsschreiben vor, damals „Persilscheine“ genannt. Sie waren von Personen aus seinem nachbarschaftlichen Umfeld, aus Freundschaftskreisen und aus seinem ehemaligen Berufsumfeld verfasst. Die Berufungskammer folgte in allen Punkten den Widerlegungsbeweisen meines Vaters und hob den Urteilsspruch der ersten Instanz auf. Aus dem Beweismaterial ginge klar und eindeutig hervor, so wurde nun argumentiert, dass der Betroffene „ein völlig objektiver, jederzeit hilfsbereiter, entgegenkommender Mensch“ gewesen sei, „der sich nur von sachlichen Gesichtspunkten leiten ließ und dem insbesondere die Parteizugehörigkeit (…) völlig gleichgültig war“. Er habe „in keiner Weise auf andere eingewirkt, etwa um sie zum Parteibeitritt zu bewegen (…) und (er sei) nie aktivistisch oder propagandistisch hervorgetreten.“ „Äußerlich habe der Betroffene dies schon damit dokumentiert, dass er kein Amt im Rahmen der Partei angenommen oder geführt habe. In gleicher Weise verhielt er sich militärischen Dingen gegenüber ablehnend“. Er habe „insbesondere den Krieg und seine zeitgeschichtlichen Auswüchse mit scharfen Ausdrücken wie Verbrechen, Wahnsinn und dergleichen verurteilt.“ Die Berufungskammer (habe) die Überzeugung gewonnen, dass der Betroffene am Nationalsozialismus nicht mehr als dem Namen nach teilgenommen und diesen nur unwesentlich unterstützt“ (habe).

Es wäre sicher informativ, an diesem Beispiel Punkt für Punkt diese Persilscheinpraxis zur Reinwaschung von braunen Flecken des Nationalsozialismus aufzuzeigen. Es war eine gängige Praxis, mein Vater war kein auffallender Sonderfall (Woller, 1986, S. 116ff). In seiner Selbstverteidigung und „Beweisführung“ konnte er gewiss auch seine Erfahrungen und sein Wissen als Verteidiger in den Kriegsverbrecherprozessen nutzen.

Die Spruchkammern waren mit zunehmender Dauer der Entnazifizierung zu „Mitläuferfabriken“ (Lutz Niethammer) geworden. Minderbelastete wurden von den Berufungskammern in der Regel als Mitläufer eingestuft und mit geringeren Geldbußen bestraft. 1948 hatte sich der Rehabilitierungsgedanke rasch durchgesetzt. Auch insofern hatte mein Vater im Juni 1948 bereits von der veränderten Situation profitiert. Dennoch gehörte er, wie es schon bald euphemistisch hieß, zu den „verdrängten“ Beamten, zu den „Entnazifizierungs-Entlassenen“, die wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nicht wieder im öffentlichen Dienst eingestellt wurden.

Jerusalem, 1948 – Der Mord an Graf Folke Bernadotte

An einem milden Spätsommertag des 17. September 1948 kam mein Vater unerwartet früh vom Justizpalast zurück. Er trat aufgeregt und erbost auf unseren Balkon. Graf Folke Bernadotte sei eben in Jerusalem von zionistischen Terroristen ermordet worden. Bernadotte hatte im Prozess gegen Schellenberg zu den Hauptentlastungszeugen gehört. Mein Vater hatte seine Verteidigung vor allem auf dessen eidesstattlichen Erklärungen aufgebaut. Ich hätte als dreizehnjähriger Schüler dieser Nachricht, wenn überhaupt, sonst wohl keine große Bedeutung beigemessen. Im Rundfunk wurde jeden Tag über Morde und Konflikte berichtet. Ich hätte Gewicht und Tragweite nicht einschätzen können, hätte mein Vater nicht darüber gesprochen.

Zwei Rückblenden: (http://de.wikipedia.org/wiki/Folke_Bernadotte, 04.04.2014)

Rückblende 1: Die Aktion „Weiße Busse“
Folke Bernadotte Graf von Wisborg (1895–1948) stammte aus dem Adelsgeschlecht Bernadotte und war somit ein Verwandter des schwedischen Königshauses. Nach dem Abitur hatte er die Offizierslaufbahn eingeschlagen. Nach seiner militärischen Ausbildung war er in den diplomatischen Dienst eingetreten. Am 1. September 1943 hatte er zunächst das Amt des Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes übernommen und in dieser Funktion für die Nachkriegszeit Pläne für humanitäre Hilfsmaßnahmen ausgearbeitet. Noch im Frühjahr 1945 hatte er Kontakt mit Heinrich Himmler aufgenommen und in Verhandlungen mit ihm erreicht, dass etwa 8.000 KZ-Häftlinge skandinavischer Herkunft und mit ihnen 10.000 bis 12.000 Juden und andere Personengruppen verschiedener Nationalität vor der Ermordung in den Konzentrationslagern gerettet wurden. An die 20.000 Häftlinge, vorrangig aus den Lagern Ravensbrück und Theresienstadt, wurden von rund 250 Helfern begleitet nach Schweden gebracht. Diese humanitäre Hilfs- und Befreiungsaktion, die mit weißen Fahrzeugen durchgeführt worden war, ging später unter dem Namen „Mission Weiße Busse“ in die Geschichte des Schwedischen Roten Kreuzes ein. Einer dieser Busse wurde später in die Jerusalemer Holocaust–Gedenkstätte Yad Vashem gebracht. Am 23. April 1945, wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, hatte Himmler, so wird berichtet, ohne Hitlers Wissen in illusorischer Verkennung der Absichten der alliierten Mächte und seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten dem Mittelsmann Graf Bernadotte zugesagt, das Deutsche Reich werde vor den USA und Großbritannien kapitulieren, wenn es seinen Krieg gegen die Sowjetunion weiterführen dürfe. Bernadotte hatte dieses eigenmächtige Angebot Himmlers an die schwedische Regierung weitergereicht. (http://de.wikipedia.org/wiki/Folke_Bernadotte, 04.04.2014)
Walter Schellenberg, der als Geheimdienstchef Kontakte nach Schweden besaß und sich wiederholt in Schweden aufgehalten hatte, war in der „Mission Weiße Busse“ einer der deutschen Mittelsmänner gewesen, die mitgeholfen hatten, diese Rettungsaktion zu ermöglichen und erfolgreich durchzuführen. Im Wilhelmstraßen-Prozess gereichte diese Mitwirkung Schellenberg zu seiner Entlastung. Dr. Riediger und mein Vater hatten als seine Verteidiger Kontakt nach Schweden aufgenommen und erreicht, dass Graf Bernadotte Schellenberg entlastete. Der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurde daraufhin fallengelassen (dazu Paehler 2015, S. 29-56).

Rückblende 2: Mord der zionistischen Attentäter und „Landräuber“
Im Mai 1948 hatten die zionistischen Einwanderer und Siedler in Palästina, das unter dem Mandat Großbritanniens gestanden hatte, den Staat Israel ausgerufen und damit den ersten Palästinakrieg provoziert. Bernadotte war am 20. Mai 1948 zum ersten Vermittler in der Geschichte der Vereinten Nationen (UN) gewählt worden. Er hatte in dieser Amtseigenschaft unter anderem die Gründung des Hilfswerkes der UN für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten angestoßen und sich für eine Anerkennung des Rückkehrrechtes der palästinensischen Flüchtlinge eingesetzt. Außerdem erreichte Bernadotte im Rahmen seines Auftrages, eine friedliche Entwicklung in Palästina zu fördern, einen dreißigtägigen Waffenstillstand. Er war davon überzeugt, dass die palästinensischen Flüchtlinge einen Anspruch auf ihre Heimat hätten. Darüber hinaus hatte Bernadotte einen Plan entwickelt, wonach die Stadt Jerusalem unter internationale Aufsicht gestellt und die Negev-Wüste an die Araber abgetreten werden sollte. Dieser Plan war bei den israelischen Staatsgründern auf erbitterten Widerstand gestoßen. Sie sahen ihre gewaltsame Landnahme und einseitige Staatsgründung gefährdet. Die sogenannte Terroristen-Gruppe Lechi machte kurzen Prozess: Sie erschoss Bernadotte und seinen Begleiter, den UN-Beobachter Andre Serot am 17. September 1948. (http://de.wikipedia.org/wiki/Folke_Bernadotte, 04.04.2014)
Die Sympathien meines Vaters galten, soweit ich das aus seinen Äußerungen heraushören konnte, der arabisch-palästinensischen Seite. Dahinter verbarg sich vermutlich ein Antisemitismus, den er nicht offen bekunden wollte. Welche Gedanken wurden wohl in jenen Tagen zwischen meinem Vater und dem Angeklagten Schellenberg ausgetauscht?

Gesuch um Amnestie für den Kriegsverbrecher Martin Sandberger, 22.11.1949

Auch nach dem Ende der Prozesse war mein Vater noch einige Zeit mit den Fällen befasst, mit denen er als Verteidiger zu tun hatte. Er schaltete sich in die Bemühungen der ersten deutschen Bundesregierung ein, für die Verurteilten beim Hochkommissar eine Amnestie zu erwirken. (siehe hierzu Earl 2015, S. 57ff)

Office of Military Government for Germany (U.S.); Reiseerlaubnis für Kurt Mintzel am 9. Januar 1948 nach Darmstadt, München, Würzburg zur Durchführung von Interviews mit Zeugen im Fall Martin Sandberger

Martin Sandberger (1911–2010), dessen Verteidiger er zusammen mit Bolko von Stein bis zum Ende des Prozesses im März 1948 gewesen war, hatte es nach seinem Studium der Rechtswissenschaften (1929–1933) in einer steilen NS-Karriere bis 1938 zum SS-Sturmbannführer (Major) gebracht. Im Oktober 1939 hatte ihn Heinrich Himmler zum Chef der Einwanderungszentralstelle Nord–Ost ernannt, deren Aufgabe es unter anderem war, deutsche Umsiedler nach ihrer Rassereinheit zu bewerten. Nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion war er neben Dr. Walter Stahlecker Führer des Einsatzkommandos 1a geworden und damit direkt für Massenmorde an Juden im Baltikum verantwortlich gewesen. Zur Belohnung war er 1941 zum Kommandeur der Sicherheitspolizei der Staatssicherheitsdienste in Estland ernannt worden. Bis zum Ende des Krieges hatte er noch weitere Spitzenämter im Reichssicherheitshauptamtes inne. Sandberger war vom US-amerikanischen Militärtribunal im März 1948 wegen Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt worden. (Earl 2015, 57ff)

Mein Vater gehörte zu den ersten, die sich sofort nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland für eine Amnestie oder zumindest für eine Aufhebung der Todesstrafe einsetzten. (Earl, 2015, S. 57ff). Zu diesem Zweck wandte er sich im November 1949 mit folgendem Schreiben an den ersten Bundesminister der Justiz, an Dr. Thomas Dehler (FDP):

„Sehr verehrter Herr Bundesjustizminister,
Mein Mandant, Martin Sandberger (zurzeit im War Crime Prison in Landsberg/Lech), Sohn des Kaufmanns Karl Viktor Sandberger in Stuttgart/Illenbuch, wurde im April 1948 von einem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg, ebenso wie die 13 seiner Mitangeklagten, zum Tode verurteilt.
Wie ich einigen Zeitungsnotizen entnahm, ist das Bundesjustizministerium im Begriff, mit den Dienststellen der Hohen Kommissare auch die Fragen der vor Militärgerichten der Besatzungsmächte verurteilten Deutschen zu erörtern. In diesem Zusammenhang bitte ich, Sandberger ganz besonders zur Amnestierung oder mindestens zu einer wesentlichen Herabsetzung der Strafe beim amerikanischen Hohen Kommissar in Vorschlag zu bringen. Einen Überblick über Sandbergers Fall in möglichst kurzer Form erhalten Sie aus der als Anlage 1 beigefügten Abschrift eines Berichtes, der an sich zur Orientierung amerikanischer Stellen bestimmt ist, aber doch auch die wichtigsten für Ihre Entschließung maßgeblichen Gesichtspunkte enthält. Falls Sie darüber hinaus die umfangreichen Schriftsätze und Beweismaterialien, die ich der ehemaligen amerikanischen Militärregierung, dem Herrn Hohen Kommissar und dem U.S. District Court in Washington eingereicht habe, wünschen, bitte ich, diese Unterlagen bei mir anfordern zu wollen.
Als Anlage 2 füge ich die Abschrift eines Briefes bei, den der ehemalige Beauftragte der Schwedischen Regierung und des Schwedischen Roten Kreuzes in Estland, Herrn Carl Mothan vor kurzem in der Sache Sandberger an den Herrn Kommissar gerichtet hat. Der Brief beweist nicht nur, dass Sandberger seiner inneren Einstellung nach keineswegs ein williges Werkzeug der Nazi-Politik war, sondern ist auch insofern von Interesse, als solche und ähnliche Gesichtspunkte von manchen Besatzungsgerichten weitgehend als ›mildernde Umstände‹ anerkannt wurden.

Mit vorzüglicher Hochachtung
gez. Kurt Mintzel“

Aus dem Inhalt dieses Schreibens lässt sich der Schluss ziehen, dass er sich auch nach Abschluss des Prozesses noch als Verteidiger Sandbergers betrachtete. Sicher war er mit dem Fall juristisch bis ins Detail vertraut, er kannte Anklageschrift, Verteidigungsschrift und Urteilsbegründung im Wortlaut. Hätte er sich aber deshalb Ende 1949 für einen der Haupttäter des Völkermordes im Baltikum einsetzen müssen? Was veranlasste meinen Vater, seinem ehemaligen Mandanten Sandberger zu bescheinigen, kein williges Werkzeug der Nazi-Politik gewesen zu sein? Wäre es meinem Vater nicht möglich gewesen, auszuweichen und sich nicht mehr weiter in den Fall einzulassen? Warum setzte er sich gleich bei der ersten Möglichkeit, die Aufhebung des Todesurteils zu betreiben, mit ganzer Kraft dafür ein? Warum nahm er sich ganz besonders des Falles Sandberger an?

Ein Motiv lässt sich möglicherweise aus der Tatsache erschließen, dass Sandberger an der Universität Tübingen zum Hochschulgruppenführer des NS-Studentenbundes avanciert und dann zum Bereichsführer Südwest des Reichsstudentenführers ernannt worden war. Mein Vater hatte von 1927 bis 1931 ebenfalls Rechtswissenschaft studiert, war der rechtsradikalen schlagenden Burschenschaft „Frankonia“ beigetreten und 1933 zum Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund übergetreten. Die studentenbündlerischen Ideale und Schwüre verpflichteten zur lebenslangen gegenseitigen Unterstützung. Auch solche gesinnungsmäßigen Gesichtspunkte könnten meinen Vater veranlasst haben, seinen ehemaligen Mandanten aus der Todeszelle herauszupauken zu wollen. Letztendlich war seine Initiative insofern erfolgreich, als Sandberger 1951 mit Hilfe zahlreicher prominenter Politiker der Bundesrepublik, darunter Bundespräsident Theodor Heuss und der Vizepräsident des Deutschen Bundestages Carlo Schmid, vom Hochkommissar John McCloy begnadigt wurde. Das Todesurteil wurde in lebenslange Haft geändert. Nach einem Revisionsprozess kam er 1958 endgültig frei und wurde Justiziar in einem württembergischen Wirtschaftsunternehmen. Sandberger verstarb als einer der letzten hochrangigen NS-Verbrecher 2010 im Alter von 98 Jahren in Stuttgart. (zur Biografie und Begnadigung neuerdings Earl 2015, S. 57ff). Viele alte Nazis kehrten in den fünfziger Jahren in hochrangige Ämter zurück. Auch mein Vater.

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