IV. Landschaften und Orte als Stillleben

In der dritten Werkgruppe finden wir unter dem Hauptthema „Landschaften und Orte als Stillleben“ zwei grundverschiedene Landschaftstypen ins Bild gesetzt, italienische Landschaften und Landschaften und Topografien der Ostsee. Sie bilden auch zeitlich zwei Untergruppen. Die italienischen sind die viel älteren Landschaftsbilder, die Ostsee-Bilder entstanden nach 1989/90, also nach der Vereinigung der zwei deutschen Teilstaaten. Die malerischen Ostsee-Topografien stellen insofern ein „Politikum“ dar, als die Strände und deren eigenartiger nostalgischer Reiz für den Hannoveraner Künstler erst nach der Vereinigung zugänglich wurden. Doch wehrt der Künstler im Gespräch darüber eine politische Sichtweise ab: Diese Bilder hätten nichts mit Politik zu tun, „eher mit einer etwas poetisch melancho-lischen Form von Anarchie, die man in Malerei umsetzen kann“ (J. K. am 05. 08. 2012). Die große Werkgruppe besteht im Vergleich mit den „Bühnen-stücken“ meist aus großformatigen Landschaftsbildern. Bevor ich auf diese Bilder zu sprechen komme, möchte ich ein paar allgemeine Überlegungen voranstellen.

Landschaftsdarstellungen haben auch im 20. Jahrhundert einen bedeutenden und eindrucksvollen Platz in der Malerei eingenommen und behalten. Die Suggestivkraft der Landschaft wird auch im 21. Jahrhun-dert ungebrochen bleiben. Todeslandschaften der Kriegs- und Katastrophengebiete, metropolitane Stadtlandschaften, Mülllandschaften der Industrie-technik, flurbereinigte Agrarlandschaften oder grüne Rückzugslandschaften fordern zu neuen künstlerischen Antworten auf. Der Mensch und „seine“ Landschaften stehen in einer existenziellen, artifiziellen, innerlichen und äußerlichen Wechselbeziehung, deren bildnerische Veranschaulichung gleichzeitig verschiedene Mach-arten zulässt. Neben spektakulären techno-medial geprägten Landschaftsdarstellungen werden sich auch im 21. Jahrhundert imaginäre Landschaften mit lyrischen oder erzählenden Ausdrucksformen behaup-ten, ohne romantischen Rückzug in arkadische Beschaulichkeit zu bedeuten. Erlebte und geschaute „Landschaft“ mit klassischen und neuen Techniken in ästhetische Formen, Strukturen und materiale Konstrukte zu übersetzen, wird ein bildnerisches Grundbedürfnis bleiben.

Krengels Landschaftsbilder sind keine Pleinair-Malerei, sondern „erinnerte Landschaften“. Er will keine konkre-ten Topografien anfertigen, nicht in heimatliche und „heimelige“ Idyllen hineinführen. Er meidet, was als neoromantische Verklärung verstanden werden könnte. Im Gegenteil: In seinen Motiven ist auch etwas Beklemmendes oder etwas Dräuendes zu spüren. Seine „erinnerten Landschaften“ veranschaulichen innere und äußere Wanderungen und Wegstrecken des Auges. Sie repräsentieren auch ein Stück Lebensge-schichte und hellwacher, scharfsichtiger Zeitgenossen-schaft.

Zwei Landschaftstypen und Topografien sind es, die Krengel in zahlreichen Zeichnungen und Ölbildern „ins Bild setzt“: im Süden mediterrane Ansichten und Aus-blicke und im Norden „Orte“ an Ostseestränden. Beide Motivgruppen sind auf Reisen entstanden. Sie sind Ergebnisse von Seherlebnissen in Norditalien und an der Ostsee, am „mare baltico“, wie es die Italiener nennen. Es sind nach Skizzen und Fotografien landschaftstypisch und topografisch komponierte Stillleben. Ausblicke und Ausschnitte werden nach ästhetischen Kompositions-regeln in Bildideen um- und zusammengesetzt (Abb. III, 4) Jeder Landschaftstyp mit seinen Topografien hat seine Attribute, sein eigenartiges Ensemble von Dingen. Landschaften werden zu Schauplätzen von Gegen-ständen. Sind es bei der großen Werkgruppe II Kleinbühnen, in die Dinge hineingestellt und zu Ensembles vereint werden, so sind es in der Werkgruppe III die Landschaften, die zur Bühne werden und als Schauplatz dienen. Insofern besteht eine enge Verwandtschaft der Bildideen. Die Landschaft ermög-licht es, die Dinge anders zu verteilen, sie auf größeren Freiflächen, seien es Sandstrände, seien es Uferzonen, seien es hügelige Ortsbeschreibungen, zu gruppieren (Abb. II, 5). Die gegenständlichen Inszenierungen ergeben sich aus den typischen Attributen einer Gegend. Die Attribute werden nach ästhetischen Gesichtspunkten zusammengestellt. Die skizzierten Naturräume werden in dingliche Vorstellungsräume übersetzt. Ihre Farbigkeit, ihre Valeurs und ihr Kolorit, erhalten sie nach den Grundregeln von kalt und warm, von hell und dunkel, wobei Krengel zumindest für seine Ostsee-Bilder kühle Farbwerte vorzieht. Keine der vielen Landschaftsinszenierungen gibt folglich eine geogra-fisch genaue Topografie wieder. Es sind wie bei Altmeistern der Landschaftsmalerei, wie bei Claude Lorrain im 17. Jahrhundert oder bei den Deutschita-lienern im 18. und 19. Jahrhundert, komponierte Kunstlandschaften, die im Atelier „gebaut“ werden. Dazu dienen ihm seine mit Zeichnungen ausgefüllten Skizzenbücher, die als ein besonderer Bestandteil seines Gesamtwerkes zu betrachten sind (Werkgruppe IV).

In der Vielzahl der großformatigen Sandstrände des Nordens entdecken wir bildnerisch drei klar hervortre-tende Untergruppen: die Gruppe mit der hochgelegten Horizontlinie des Meeres, die der breiten unteren Bildfläche viel Raum für Staffage bietet (Abb. III, 10), die Gruppe, in der die Linie des Meereshorizontes auch eine eigene unabhängige weit nach unten verlegt wird, unterhalb der parallelen Sehlinie also, wodurch viel Fläche für einen hohen, weiten Himmel geschaffen wird, und eine dritte Untergruppe, in der das Meer, Strände und andere Uferzonen von der gewählten Staffage völlig verdeckt werden (Abb. III, 4). Landschaftstypische und topografisch charakteristische Attribute der Staffagen weisen lediglich auf das Meer hin.

Landschaften und Orte als Stillleben, so könnte man die kompositorischen Arrangements bezeichnen. Die Motive variieren sehr viel breiter als in der Werkgruppe der Bühnenstücke. Der Fundus an Ausstattungsstücken für die Sandstrände, Uferzonen und Badegelände ist größer und farbenreicher. Dies gilt auch für die vielen aquarellierten Zeichnungen der vierten Werkgruppe. Wir sehen eine Vielzahl angeschwemmter maritimer Materialen: Tang, Netzwerkreste, Halterungen für Fischernetze, rotfarbige Styroporstücke, Seilstücke, Krabbenskelette, Muscheln, Bojen, Holzbretter von Schiffsrümpfen, vom Meerwasser blank gewaschene Baumstämme. Am Rande von Abbrüchen wachsen zwischen Geröll vom Wind zerzauste Binsen. Fischer haben dem Zeichner und Maler zugearbeitet, Gerümpel hinterlassen und aufgehäuft, abgebrochene Schiffsteile, Bretter, Holzpflöcke, Balken und unbrauch-bar gewordene Rettungsringe im Sand liegen gelassen. Viele Ostseestrände sind nach dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik noch nicht für Touristen gereinigt und herausgeputzt. Noch herrscht das Bild einer verlassenen Landschaft vor, in der allerlei vielfarbige Dinge dem streunenden Maler ins Auge fallen. Er nutzt sie später im Atelier für seine Staffagen. Doch gibt es auch die dritte Gruppe von Bildern, in denen hinter Positionsfahnen, Bretterbuden, Holzzäunen und Strandkörben das Meer nur vermutet werden kann. In manchen dieser Ostsee-Ansichten, die Verlassenes, Verlorenes, Vergessenes, Liegengelassenes, Entsorgtes und Nutzloses zeigen, kehrt jene melancholische Poesie wieder, die einem beim Betrachten überkommt. Diese seelische Stimmung wird, obschon die Farbgebung des Malers reicher ausfällt, durch das insgesamt gedämpfte Kolorit der Bilder verstärkt. Nur in wenigen Bildern treten Menschen direkt auf, zum Beispiel als eine Gruppe von Fischern. Menschen werden meistens nur mit ihren materiellen Hinterlassenschaften sichtbar gemacht. Krengel, der sich mit Kommentaren zu seiner Malerei und  zu einzelnen Bildern sehr zurückhält, sagte zu dieser Werkgruppe einmal mit knappen Worten:

„>Les choses oubliées< nannte sie Degas, die vergessenen Dinge. Zeit und Witterung verleihen den Dingen eine Patina, die ihnen den Anschein gibt, die Natur hole sie zurück. Fast beiläufig finden sie sich zu Stillleben und treten in einen stummen Dialog. Landschaft dringt ins Bild, die Dinge verstellen den Raum, der Horizont nur eine Linie, die das Bild in der Fläche hält, Farben und Formen korrespondieren im Bildraum. Landschaft als Stillleben, Stillleben als Landschaft.“