V. Zeichnungen und Aquarelle als Studien und Vorarbeiten

Bei den vorangegangenen Hinweisen auf das reiche zeichnerische und grafische Schaffen ist eigentlich schon deutlich geworden, dass es fragwürdig ist, Skizzenblätter und kleine Studien in einer eigenen Werkgruppe zusammenzufassen. Die willkürliche Unterscheidung und Abgrenzung von den Werkgrup-pen II und III als Studien und Vorarbeiten dient zunächst lediglich der Absicht, das umfangreiche Material zu strukturieren und Schritt für Schritt zu erschließen. Gewiss hatten in früheren Jahren Krengels Zeichnungen vornehmlich eine dienende Aufgabe, nämlich festzu-halten, was später mit Pinsel und Farbe in großformatige Bildkompositionen umgesetzt werden könnte. In einem Brief vom 17. April 1995 an den Autor vermerkte er dazu:

„Zwar gehe ich immer von schnell skizzierten Bildideen aus, aber auf der Leinwand baue ich dann das Bild langsam auf, und muss mich dann immer etwas selber treten, schneller zu arbeiten. Mein Skizzenbuch ist gerade voll, das sind einige 100 Bildideen, und es kommen ja immer neue hinzu.“

Jürgen Krengel wandte jedoch seit spätestens Mitte der siebziger Jahre die verschiedenen bildnerischen Techniken gleichzeitig an, Zeichnungen konnten dabei auch eine eigene, unabhängige Qualität gewinnen. In späteren Jahren begannen sich gezeichnete „Bühnenstücke“, Landschaftsbilder und Naturstudien, deren Motive ich in meinen Ausführungen zu den Werkgruppen II und III beschrieben habe, mitunter zu verselbständigen. Manche verloren eine der Malerei vorangehende, begleitende und vorantreibende Funktion, das gilt besonders auch im Hinblick auf die großartigen Radierungen. Spätere, mit Aquarellstiften kolorierten Bleistift- und Tuschzeichnungen könnten auch unabhängig von seiner Malerei als Illustrationen für Romane, Gedichtbände und literarische Land-schaftsschilderungen verwendet werden. Es sind zeichnerische Erzählungen von Streifzügen durch Küstenwälder, über einsame Gestade, zu Rastplätzen irgendwo im Gestrüpp der Randzonen zwischen Land und Wasser und zu ausgeschwemmten und von Stürmen zerzausten Wurzelgebilden (Abb. III, 5; IV, 2). Viele entstanden in den Jahren von 2009 bis 2012. Die zeichnerisch-narrativen Naturbeobachtungen sind in den großen vier Skizzenblöcken aus den Jahren 1996/97, 1998/99, 1999/00/01 und 2001/02/05 festgehalten. Krengels Respekt vor den Zeichnern Tomi Ungerer und Horst Janssen ist in seinen skizzierten „Naturräumen“ spürbar. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen.

Bei der Durchsicht der zahlreichen handkolorierten Zeichnungen fällt eine kleine aus dem Jahr 2003 ganz besonders auf. Krengel hat, was seine Bescheidenheit unterstreicht, nie ein Selbstporträt gezeichnet oder gemalt und sich keinmal „ins Bild gesetzt“. Nur einmal tritt er selbst auf einer Zeichnung auf (Abb. IV, 2). Er hockt mitten im Bild an einem Sandstrand der Ostsee in gebeugter Körperhaltung auf einem Stein, neben ihm zu seinen Füßen sein Hund, ein Spaniel. Hinter Krengel ragt direkt über seinem Körper wie der Rest eines antiken Grabmals ein  hoher Stein- oder Sand-Turm auf, ein Relikt der Erosionskräfte. Das von Sturmwinden geformte phallusartige Erdgebilde scheint schwer auf dem Rücken des Künstlers zu lasten, es drückt ihn förmlich nieder. Er schaut grübelnd auf das Gestade, als frage er sich, wie lange er noch diese Last tragen könne. Eine Metapher? Er tritt in dieser Skizze nicht, wie wir es aus der Kunstgeschichte kennen, als Zeichner auf, der sich mit Skizzenblock und Stift in freier Natur bei der Arbeit zeigt, sondern als einsamer Wanderer, der selbst zu einem Relikt geworden ist.