VI. Kunstkritik und (Selbst-)Einordnung

Die Kunstkritik hat sich in Eröffnungsreden zu Vernissagen bei der Einordnung des Krengelschen Kunstschaffens etwas schwer getan. Er stehe „in bester akademischer Tradition“ (Michael Wolfson, 2007), ohne diese Tradition näher zu benennen. Krengels Kunst sei „eine veritable künstlerische Entdeckung“ (Michael Stoeber, 2000). Krengel gehöre, so sagte es Michael Stoeber  im Jahr 2000 auf einer Vernissage,

„klar in eine Genealogie altmeisterlich verfahrender und sich verstehender Künstler, oft unzeitgemäß in ihrer Zeit und doch zeitgemäß zu allen Zeiten. Krengels Gefühl, in einer künstlerischen Tradition zu stehen, der er sich verpflichtet fühlt und an der er weiter arbeitet, diesem Gefühl für Tradition entspricht im Werk auch die Konzentration auf klassische Genres“. Gemeint sind die Landschaftsmalerei und das Stillleben.

 Krengel habe im Gegensatz zur abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts immer am „figurativen Credo“, an der gegenständlichen Position, festgehalten. Diese gene-relle Einordnung ist zwar richtig, sie bedarf jedoch einer Konkretisierung und Erläuterung, sonst bliebe sie unverbindlich im allzu Ungefähren hängen.

Fragt man Jürgen Krengel, welche zeitgenössischen Zeichner und Radierer ihm einfielen, die Maßstäbe gesetzt und an deren Zeichnungen und Radierungen er sich orientiert habe, dann nennt er spontan Horst Janssen, Tomi Ungerer und Günter Grass. In Bezug auf die Kunst des Radierens zollt er Friedrich Meckseper Bewunderung. Und einmal mehr nennt er den Namen Giorgio Morandi, den Radierer Morandi. An diesen Künstlern habe er sein eigenes Können und Wollen gemessen. Auch die Namen Pablo Picasso und Max Beckmann fallen wieder, jedoch nicht mehr als wirklich zeitgenössische Vorbilder, sondern als Bahnbrecher und Vertreter der klassischen Moderne. Mit Letzteren sich zu messen, hält Krengel für arrogant. „Mit Giganten wie Picasso oder Beckmann darf man sich nicht einlassen“ (Brief an den Verfasser vom 22.12.2011). Nach seiner Studienzeit entfernte er sich von diesen „Giganten“ als Vorbilder und strebte später, nach der erwähnten Schaffenspause, eine eigene Bildwirklichkeit an. Über den Zeichner Joseph Beuys kann er nur lachen und spotten. Diesem spirituellen Guru postmoderner Kunst-auffassung attestiert er im Zeichnen bestenfalls Mittel-mäßigkeit. Als einen hervorragenden Zeichner und Radierer nennt Krengel noch seinen im Jahre 2004 verstorbenen Hannoveraner Künstlerkollegen WP Eberhard Eggers, ohne dessen extrem manieristischen Surrealismus und Aktionismus folgen zu wollen. Krengel hält es im Grunde mit Aretino:

„Die beste Lehrmeisterin ist die Praxis, die bei wiederholter Übung zum Können führt. Der erfinderische Kopf lernt auf diese Weise mehr als von Vorbildern. Besser aus dem eigenen Becher trinken, als aus dem Goldpokal anderer Leute.“ (zit. n. Prezzolini 1960, 147)

Krengel will seine Malerei und Grafik keiner der Ismen und Richtungen der Kunst nach 1945 zugeordnet wissen. Im noch schwelenden, aber längst obsolet gewordenen Streit zwischen der „Weltsprache der Abstraktion“ (Werner Haftmann) und der gegenständ-lichen Malerei hat Krengel immer entschieden und konsequent auf der Seite der Letzteren gestanden. Es mag wie eine Ironie der Kunstgeschichte erscheinen, dass eben jener Werner Haftmann, der Mitte des 20. Jahrhunderts den Siegeszug der „Weltsprache der Abstraktion“ gefeiert hatte, schon Mitte der 1960er Jahre  und später der gegenständlichen und figurativen Malerei wieder einen honorigen Platz im bildnerischen Kunstschaffen zuschreiben musste. Der Kunsttheoretiker Haftmann gab seine Parteilichkeit und Vereinseitigung auf und räumte in bipolarer Perspektive der gegenständlichen Malerei wieder einen gleichgewich-tigen Platz ein, und dies gerade im Blick auf Morandis bildnerische Welt der Dinge. Bezeichnender Weise gewann die gegenständliche Moderne, „die andere Moderne“, ihren Respekt vor allem über die Ästhetik der „Dinge“ mit ihren bildnerischen Metamorphosen. So schreibt Haftmann 1964 über Morandis Bilder:

„Morandi baut oft über lange Zeit hin seine Stillleben aus ärmlichen Gegenständen wörtlich auf, rückt sie zusammen, ordnet sie um, streicht sie wohl auch gar in den Farben an, die seine liebevolle Versenkung für sie verlangt. Dann erst malt er diese schon vorgefertigte Welt, oft über lange Zeit und hebt sie in die letzte Klarheit des bildnerischen Bewußtseins (…) Inhaltlich erhalten diese ärmlichen Gegenstände in ihrem stummen Beieinander eine außerordentliche lyrische Aussagekraft“.
Und später:

Gerade hier [im Raum der Künste] erhielt die Befragung des Dinges eine derart dringliche Bedeutung, dass die Auseinandersetzung mit dem Ding geradezu als die wirksamste Triebkraft in den Bewegungen der modernen bildenden Phantasie angesehen werden kann.“ (Haftmann, 1971)

Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt bringt in ihrem Essay über die Stillleben von Giorgio Morandi dessen Sicht auf den Punkt:

„Morandi versucht die Dinge von ihren kulturell und vor allem sprachlich determinierten Bedeutungsgehalten zu befreien. Morandis Standpunkt war, dass nichts abstrakter und unwirklicher als das ist, was wir sehen.“

Krengel hat durchgehalten und im Kosmos der Moderne seine stille Bahn gezogen. Er hat eine späte Bestätigung erlebt. Doch auch auf dieser Seite gab und gibt es Ismen und Richtungen, die ihrerseits auf Traditionen der bildenden Kunst zurückverweisen. Auf keinen Fall will sich Krengel stilistisch auf postmoderne Grelle, Zerrissenheit und Antiästhetik einlassen. Er will sich auch nicht mit provokativen Bildthemen vordrängen. Kraftstrotzende Pinselgestik liegt ihm nicht. Komposito-rische Ausgewogenheit, Intimität, melancholische Poesie und Stille bleiben seine Leitmotive. In einem Brief vom 27. Januar 2005 an den Verfasser schreibt der Künstler:

„Bei der letzten Laudatio, der ich lauschen musste, endete der Vortragende mit einem Zitat Edward Hoppers: >Wenn man es mit Worten sagen könnte, brauchte man keine Bilder zu malen“< das hat mir gefallen. Einen Rest Geheimnis sollte man den Bildern lassen. In den letzten Jahrzehnten hat die Erklärungswut der Großideologen des Kunstbetriebes solche Formen angenommen, dass sie uns nicht nur unsere Arbeit erklären, sondern uns auch vorschreiben, was wir zu tun haben. Damit kann und will ich nichts zu tun haben. Darum muss man immer versuchen Abstand zu gewinnen und sie reden lassen in einer pseudosakralen Sprache. Es geht ihnen ja nur um Macht, Pfründe und ihre eigene Profilierung. Andererseits schleimen sich die Künstler an, weil sie ihre Angelegenheiten nicht selber vertreten können.“

Er hat ja recht, wenn er sich über bedeutungstiefes Geraune und eloquente Wortzauberei mokiert, die uns in Einführungstexten zu Katalogen und in Eröffnungs-reden zu Vernissagen davon überzeugen wollen, dass ein bestimmter Narrativ als Substrat über die abstrakte Malerei eines bestimmten Künstlers hinausweise und ihr Gemachtes, ihren Charakter als Artefakt, hinter sich ließe. Das Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen. Es ließen sich viele anführen. Ich erspare mir den Beleg. Krengel ist solches Gerede der „Kunsterklärer“ zuwider. Dennoch bleibt auch mir als Betrachter nichts anderes übrig, als eine Einordnung zu wagen oder zumindest verwandtschaftliche Nähen zu markieren. Ich muss es mir hier allerdings versagen, zu ausführlichen kunstwis-senschaftlichen Bildanalysen und Vergleichen anzu-setzen. Das ist nicht mein Metier. Ich gehe bei meinen Betrachtungen und Interpretationen den Weg über kunstgeschichtliche Assoziationsfelder. Es mag sein, dass ich dabei Elemente und Schwerpunkte des bildne-rischen Schaffens von Krengel überbetone und gegenüber anderen Tendenzen im Werk mehr Gewicht verleihe, als es vielleicht von der Sache her gerechtfertigt erscheint. Aber der Blick des sich einfühlenden Betrachters bleibt nun einmal subjektiv und selektiv.