VII. Die Welt der einfachen Dinge und ihrer Verwandlungen

Krengel würde es vehement verneinen, fände ein Betrachter in seiner Malerei auch nur ein entferntes Verwandtschaftsverhältnis mit Bildwirklichkeiten des Surrealismus vor, und träfe dies auch nur auf einige Bilder zu. Doch lassen, so scheint es mir zunächst, insbesondere Krengels Bühnen der Dinge solche ikonografischen Assoziationen und visuellen Erinnerun-gen zu. Es sind zwar nur wenige Bilder René Magritte`s, die in Betracht kommen, aber „Die Martern der Vestalin“ (1926) und „Fenster und Kegel“ (1925/30) fallen mir dazu ein. Die Bildidee der bühnenhaften Arrangements der Dinge weist zumindest eine gewisse konzeptuelle Ähnlichkeit auf. Krengel stellt wie der Belgier, und dies ohne epigonale Anlehnung, rätselhafte Dinge in einen imaginären Raum. Bilder der Werkgruppen II und III wirken in ihrer Verfremdung durchaus surreal. Auch zur Pittura Metafisica lassen sich, so meine ich, zumindest weitläufige genealogische Beziehungen entdecken, mögen sie auf den ersten Blick auch nicht gleich erkennbar sein. In Ölbildern de Chiricos, in „Melancholie eines Nachmittags“ (1913) und in „Die Eroberung des Philosophen“(1914), spielen stilisierte Artischocken eine verschlüsselte Rolle. Bei Krengel sind es vogelartige Gestalten, verschleierte, geisterhafte Gebilde und Steinklötze – oder sind es Plastikwürfel? - mit maskenhaften Gesichtern - und ebenfalls Artischocken. Krengel konstruiert, wie ich oben an Bildbeispielen aufgezeigt habe, eine ästhetische Bildwirklichkeit, in der Dinge rätselhaft beieinander stehen. Das scheint das „Geheimnis“ dieser Bilder zu sein, das ihre unverkennbare Eigenart und magische Schönheit ausmacht. Darin liegt wohl, überblickt man das Gesamtwerk, eine große Stärke dieses Künstlers. Krengel vermeidet allerdings mit Bedacht, was die Vertreter der Pittura Metafisica tun, seinen Bildern mit Titeln eine literarische Legende zu unterlegen, die separat eine geistige Tiefendimension andeuten soll. Er will Betrachter nicht in eine „Metaphysik der einfachen Dinge“ (Giorgio de Chirico, 1964) einführen. Treten wir einmal mehr in einen Dialog mit ihm. Er sagt dazu:

„Mit dem Surrealismus habe ich ein Problem (…) Ich habe mir alte Kataloge von de Chirico, Dali, Max Ernst, Magritte und Morandi aus den sechziger Jahren angesehen. Das waren wichtige Ausstellungen, aber für mich geblieben ist nur Morandi. Interessant bei den anderen ist, dass die Bildtitel für die Betrachter mit den Bildern nichts zu tun haben. Sie sollen wohl Bedeutung und Geheimnis vortäuschen. Das ist bei Morandi nicht der Fall.“(J. K., Brief vom 15. Dezember 2013 an den Verfasser).

Wie also will Krengel seine Bildwelt verstanden wissen? Ganz selten entschlüsselt Krengel im Gespräch selbst das in seinem Werk präsente Ding und dessen ästhetisches Eigenleben in seiner Malerei. Er entzieht sich damit gleichzeitig, indem er prosaisch auf die reale Existenz und Herkunft seiner Gegenstände verweist, fraglichen kunstgeschichtlichen Zuschreibungen. Ich zitiere eine seiner „Enthüllungen“ (siehe hierzu Abb. II, 11):

„Ein gutes Beispiel sind die Würfel mit den dunklen Löchern. Man hat schon vermutet, ich würde sie anstelle des Vanitassymbols verwenden. Dabei ist es ganz einfach. Es sind ja keine Steine. Sie sind aus Kunststoff oder sehr leichtem Kunststein. Die Fischer stoßen die Stäbe ihrer Positionsfahnen da durch, mit denen sie die Lage ihrer Netze im flachen Wasser markieren. Irgendwann machen sie sich selbständig und werden am Strand angeschwemmt. Der Einfluss des Salzwassers hat sie für den Maler interessant gemacht“ (J. K., Brief vom 15. Dezember 2013 an den Verfasser).

Und wiederum bezieht sich Krengel selbst auf Morandi.
Ja, „einen Rest Geheimnis sollte man den Bildern lassen“, so schrieb Krengel an den Verfasser. Und dieser Rest sollte auch in seinen Bildern im stummen Beieinander und Miteinander der Dinge zum Ausdruck kommen und den Betrachter „wortlos“ ansprechen. Mit diesem bildnerischen Umgang mit den einfachen Dingen, mit Fundsachen, kommt er Morandi ein Stück näher, der sich um 1919 von der Pittura Metafisica abwandte und in seinen Stillleben zu einer eigenen Bildsprache fand, die auf „metaphysische“ Andeutun-gen und Verschlüsselungen völlig verzichtet. Morandi übersetzt die Beschaffenheit und das Beieinander der ins Bild gesetzten realen Gegenständen in ein Beziehungsgeflecht von Formen, Farben, Räumlichkeit und Licht und schafft kompositorisch und stilistisch ein Balanceverhältnis zwischen „realen“ und wiedererkenn-baren Gegenständen, ihren Formen und „abstrakten“ Farb-Formwerten. (Renate Müller 1998, 197). Krengel folgt ein Stück weit diesem Gestaltungsprinzip und repräsentiert so in seinen Stillleben mit hohen handwerklichen Ansprüchen und originell „die andere Moderne“. Während aber Morandi  in seiner Malerei die auf eine kleine Zahl reduzierten „realen“ plastischen Gegenstände in flächige Farb-Formwerte übersetzt und damit ihre erfahrungsgemäße materielle Beschaffenheit zugunsten eines rein lyrischen Farb-Formklanges aufgibt, erinnern die von Krengel dargestellten Dinge noch deutlich an ihre „reale“, von der Natur oder von ihrem Gebrauch geformte und patinierte Materialität. Krengel hat am Beispiel des Würfels mit den dunklen Löchern selbst darauf hingewiesen. Wir erkennen also eine Nähe zu Morandis Bildsprache, aber zugleich seine Distanz. Krengel folgt in der Darstellung seiner Gegenstände nicht so weit in der Entmaterialisierung und farblichen Ausdünnung, schätzt jedoch die „bewunderungs-würdige Schlichtheit“ der malerischen Verfahrensweise Morandis hoch ein (J. K., Brief vom 25. August 2007 an den Verfasser).

Ich habe versucht, auf Wegen über kunstgeschichtliche Assoziationsfelder In den Bildern, die Krengel seit Mitte der 1970er Jahre geschaffen hat, bildnerische Einflüsse sichtbar zu machen und zugleich aufzuzeigen, wie eigenwillig und eigenartig er sich in der Tradition europäischer Malerei und Grafik bewegt. Darüber ließe sich gewiss noch mehr sagen und der eine oder andere Aspekt tiefer ausleuchten. Die Werkgruppen II und III sind zwar als Genre unter dem Titel „Fundsache Stillleben“ zusammengefasst, sie weisen aber zum Teil stilistisch unterschiedliche Macharten auf. Darauf näher einzugehen, muss jedoch weiteren Betrachtungen vorbehalten bleiben. Ich will es bei dieser vorläufigen Annäherung und ersten Einführung bewenden lassen.

Meine Betrachtungen fasse ich mit wenigen Worten zusammen: Krengel als einen surrealen Realisten der anderen Moderne zu bezeichnen, ist keine contradictio in adjecto. „Für mich gibt es nichts Abstraktes; im Übrigen glaube ich, dass es nichts Surrealeres, nichts Abstrakteres gibt als die Realität“, diese These Morandis gilt wort- und sinngetreu auch für Krengels bildnerisches Schaffen.