Der Schrei
Ich schreie auf. Der Schrei kommt aus tiefster Kehle. Ich wälze mich im Bett hin und her. Hin zur Schrankseite, her zum Fenster, wo das erste Morgenlicht sich hereintastet. Ich hole mit meinem rechten Arm weit aus und schlage zu. Das Phantom weicht nicht. Ich schreie. Das Phantom bedroht mich. Ich brülle es an. Es kommt nah an mich heran. Ich schreie vor Angst in den stillen Frühmorgen hinein. Meine Frau legt ihre Hand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen. Im Halbschlaf träume ich weiter. Das Phantom verschwindet.
Wer war das Phantom? Ich hatte schon längere Zeit keine Alpträume mehr. Doch jetzt scheinen sie mich wieder heimzusuchen. Was ist der Anlass?
Ich wache auf. Der Schrei verhallt in meinen Ohren. Ich höre ihn noch, bin ganz benommen von diesem Urschrei der Angst. Die Morgendämmerung weicht dem sonnigen Tag. Ich bleibe noch eine Weile liegen und sinniere. Was mag der Traum bedeuten? Was sagt er mir?
Das Phantom, eine fast gestaltlose Masse, war aus einem eingenebelten Raum entstiegen und auf mich zu gewabert, als wolle es nach mir greifen. Der Vorgang erinnerte mich an den Horror-Spielfilm „The Fog“. Schiffbrüchige, die das Ufer erreicht hatten, dort aber von Küstenbewohnern erschlagen und ausgeraubt worden waren, kamen später als Wiedergänger aus einer Nebelwand heraus, um sich an den Frevlern zu rächen. Es war eine wallende Wand des Grauens, aus der die Wiedergänger hervortraten und sich über die Mörder von damals hermachten. War das Phantom womöglich ein Wiedergänger, der mich verfolgt? Das Grauen ist allgegenwärtig.
Mein Alptraum schreckte mich am Morgen des 30. Januar auf, am Tage der nationalsozialistischen Machtergreifung (1933). Seit ich zu einem politisch interessierten und engagierten Staatsbürger geworden war, seit Anfang der 1960er Jahre (siehe Blog-Kap. 13-15), meldet sich dieser Tag in meinem Hirn. Am 27. Januar 1945 war Auschwitz-Birkenau von Kampfeinheiten der Roten Armee befreit worden. Mehr als eine Million Menschen hatten die Nazis in diesem Lager ermordet. Fernsehdokumentationen, Zeitungsreportagen und Radioprogramm hatten in den letzten Tagen dieses grauenhafte Morden eindringlich in Erinnerung gerufen. Entsetzliche Szenen: ausgemergelte Opfer, Leichenberge, industrielle Vernichtung! Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, kämen sie am Tage des Zorns als Wiedergänger zurück, hallten millionenfache Schreie aus den Nebelwänden. Ob diese Tagesthemen wirklich meinen Alptraum hervorriefen? Sich zu einem bedrohlichen Phantom verdichteten? Diese Ad hoc-Deutung halte ich für zu gewagt. Nein, ich glaube nicht, dass sie einen Schlüssel liefert.
Am Lehrstuhl
Ich hatte an diesem Morgen noch einen anderen Traum, der mich luzide an meinen Passauer Lehrstuhl zurückholte. Beide Träume scheinen nichts miteinander zu tun zu haben. War der zweite der erste? Oder umgekehrt? Wie Überblendungen von Filmabschnitten gingen sie ineinander über.
Szenenwechsel. Mein ehemaliges Dienstzimmer taucht auf und gewinnt an optischer Schärfe und szenischer Bestimmtheit. Der Raum und die Dinge erscheinen vor meinen Augen, so wie sie damals gewesen waren, bevor das Haus abgerissen wurde: mein Schreibtisch, meine Couch und davor der niedrige Beistelltisch, ein Sessel, zwei Bücherregale an der Wand, zwei Fester, eines mit Blick auf die Promenade am Inn, das andere mit Blick aufs nächststehende Haus, die Türe zum Vorraum – alles in der räumlichen Größe und Ordnung von damals. Alles steht an seinem alten Platz. Die Wände sind weiß, die Vorhänge hellbeigefarben, die Bezüge des Sitzmobiliars in einem fleckenlosen Hellgrau. Aber was ist anders im Traum? Was ist ungewöhnlich?
Der für den Gebäudekomplex zuständige Hausmeister steht in meinem Dienstzimmer und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Er wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Seine Miene und seine Stimme verraten, dass er mit mir eine ihm sehr unangenehme Angelegenheit besprechen will.
„So geht es doch nicht weiter“, sagt er. „So kann es nicht weitergehen!“ betont er. „Die Reinigungskraft kann nicht mehr saubermachen. Sie kann nicht mehr den Boden saugen. Überall liegt etwas herum.“ Ohne Gefahr zu stolpern sei der Raum nicht mehr begehbar. Ich müsse die Dinge wegräumen, sonst sähe er sich gezwungen, die Universitätsverwaltung auf die Zustände aufmerksam zu machen. „Die Putzfrau beklagt sich“, wiederholt er, „den Raum nicht mehr reinigen zu können.“ Ein zweiter Angestellter der Universität tritt hinzu und notiert in einem kleinen Schreibblock die beanstandeten Zustände in meinem Arbeitszimmer. Eine Szene wie in Donna Leons Venedig-Krimis, Commissario Brunetti schaut sich mit prüfendem Blick um, der Sergente notiert, was gesprochen und bemängelt wird.
Konzeptkunst und Raumgestaltung
Auf der Diagonale von der einen zur anderen Zimmerecke liegen länglich aufgereiht zahlreiche Dinge: karminrote Backsteine, kleine Granitblöcke, Pappschachteln, Blechdosen, Kistchen, Holzklötze, Plastikbehälter und andere Materialien. Ihre diagonale Anordnung verläuft aus der Ecke über den Couch-Tisch hinweg, an meinem Schreibtisch vorbei, hin zum Regal, wo sie endet. Ein kurioses Ensemble verschiedener Dinge, die eine Schlange quer durch den Raum bilden. Jede Besucherin und jeder Besucher muss vor dieser Barriere Halt machen und darüber hinwegsteigen. Die Kette der Dinge bildet eine Scheidelinie. Wer sie überschreitet, kommt mir nahe, womöglich zu nahe. Die aufgereihten Dinge trennen mein Arbeitszimmer in einen Raum davor und in einen dahinter. Der Hausmeister steht noch immer an die Wand gelehnt im Raum. Verzweifelt versucht er mich zur Einsicht zu bringen, dass die Dinge nicht liegenbleiben dürfen. Es müsse wieder Ordnung hergestellt werden, wegen der Putzfrau. Ich habe ihm bisher geduldig zugehört und nichts über den Sinn der Raumgestaltung gesagt.
Sein Hinweis auf die Reinigungsfrau lockt mich aus der Reserve. Ich erwidere: „Wenn Sie sich bei der Universitätsverwaltung beklagen und auf eine Beseitigung meines Arrangements dringen, machen Sie sich lächerlich. Sie geben Ihren Unverstand zu erkennen, wenn Sie wegen der Raumpflege den Abbau der Elemente fordern.“ Ich erkläre ihm, meine Raumgestaltung sei eine künstlerische Arbeit, ein Beispiel zeitgenössischen Kunstschaffens. Es handle sich um Konzeptkunst. Er werde für einen Spießer gehalten, der nichts von Kunst verstünde. Mir ist allerdings bei meiner besserwisserischen Art der Aufklärung nicht ganz wohl. Ich schmunzle, denn ich weiß, dass auch gebildete Betrachter und Kunstkenner oft ratlos vor Produkten der Konzeptkunst stehen, man denke nur an Arbeiten von Marcel Duchamp (1887-1968) und Joseph Beuys (1921-1986). Der Hausmeister hatte sich mit keinem Wort über das Arrangement und meine Raumgestaltung geäußert, sondern nur darauf gedrängt, die Barriere zu beseitigen, um die Raumpflege zu ermöglichen. Nach meiner Belehrung verlässt er beträufelt und zerknirscht mein Arbeitszimmer. Damit endet mein Traum.
Klar: Er hatte das, was ich als künstlerische Arbeit betrachtet haben wollte, allein unter Gesichtspunkten amtlicher Raumpflege gesehen. Wo und wie kann ungehindert gesaugt, gewischt, poliert und entsorgt werden. Außerdem ging es um Reinigungsarbeiten in den Räumen des Lehrstuhls für Soziologie, nicht um Werkräume des Lehrstuhls für Kunstpädagogik und ästhetische Erziehung. Der Hausmeister hätte ja seine Vorwürfe auch damit begründen können. Aber selbst dort gab es keine künstlerischen Miniatursperren diagonal durch Arbeitsräume. Dieses Traumfragment erinnerte mich an die Geschichte mit dem Exponat eines Butterstücks, das Joseph Beuys in einer Ecke deponiert hatte. Eine Putzfrau entsorgte es bei ihrer nächtlichen Reinigungsarbeit. Meine „Konzeptkunst“ – ich grinse – war in der Universität Passau unter den Diensträumen ein Alleinstellungsmerkmal.
Im „Ghetto“
Etwa ein Dutzend kleiner Häuser, die um einen großen, rechteckigen Platz blockförmig gereiht waren, hatten bis Anfang der 2000er Jahre als provisorische Unterkünfte für wissenschaftliches Personal und Studierende gedient. Auch ganze Studienfächer und ihre Professuren hatten mit diesen Provisorien vorliebnehmen müssen, bis zum Schluss (2000) auch das Fach Soziologie. Der ganze Häuserkomplex, die ehemalige Maierhof-Kaserne, hatte früher als Quartier für eine Garnison gedient. Ich hatte in einem dieser Gebäude im zweiten Stock residiert. Dem Lehrstuhl für Soziologie waren 1981 eine Offizierswohnung und auf gleicher Ebene nebenan eine Unteroffizierswohnung zugewiesen worden. Der Häusertrakt, in dem die Soziologie untergebracht worden war, lag zum Inn hin. Ich genoss eine idyllische Aussicht auf den von hohen Bäumen und Buschwerk gesäumten Fluss und die grünen Hänge der österreichischen Seite. Hinter dem Wohnblock hatten die Bewohner kleine Gemüse- und Blumenbeete angelegt. Das Provisorium hatte seinen ganz besonderen Charme, und das sahen so fast alle studentischen Bewohner, wissenschaftlichen Mitarbeiter und Kollegen.
Aus der ehemaligen Kaserne war auf studentische Initiative hin ein „Studenten-Ghetto“ geworden, kurzerhand „das Ghetto“ genannt. Niemand schien sich an dieser politisch-historisch hochbelasteten Bezeichnung gestört zu haben. Das Ghetto zählte an die 150 Bewohner. Der Gebäudekomplex sollte nach den Plänen der Universitätsleitung und der Stadtverwaltung abgerissen werden und auf seinem Baugrund eine große Sportanlage entstehen. Die Studenten wollten die angebotene Zwischennutzung auf Dauer stellen, was zu scharfen Konflikten mit der Universitätsleitung führte. Im Endstadium der Auseinandersetzungen holte die Universitätsleitung zur Durchsetzung des Abrisses sogar Polizei zur Hilfe. Die Konfrontationen brachten aus studentischer Sicht kleine Heldinnen und Helden hervor, zum Beispiel den Hans Langmeier, der bis zum Schluss gegen den Abriss kämpfte. Die Vorgänge erinnerten mich lebhaft an die gefürchteten Berliner APO-Verhältnisse. Es war ein Nachklang der Studentenbewegung mit Passauer Kolorit.
Im Studenten-Ghetto hatte sich ein reges Sozialleben entwickelt. Es wurde vom Frühling bis zum Herbst im Freien rund um den zentralen Platz viel gefeiert und in den kleinen ehemaligen Militärunterkünften ein alternativ-romantisches Leben geführt, Kinder geboren und aufgezogen. Studentinnen sonnten sich barbusig unter meinem Fenster. Farbige Graffitis zierten die schmuddeligen grüngrauen Hauswände. Passauer Bürger beobachteten das Treiben mit Argwohn und Abscheu. Ich höre noch eine Putzfrau, als sie zum Reinemachen ins Ghetto kam, sagen: „Pfui Teufel, diese Weiber!“ Im niederbayerischen Dialekt hörte sich die Abscheu noch zweimal drastischer an. In Passau war man zu dieser Zeit noch nicht an so viel Freizügigkeit gewöhnt. Nach zwanzig Jahren Berliner Universitätsleben (1961–1981) amüsierte mich das bunte Treiben in der gegenkulturellen Enklave am Inn. Die studentischen Bewohner initiierten und organisierten Lesungen, Kunstausstellungen, Partys und im Gang der Entwicklungen den Widerstand gegen die Pläne der Universität. Sie wollten das Ghetto als selbstverwaltetes Wohn- und Kulturprojekt erhalten.
Meine geheime Sammlung auf dem Dachboden
Es gab im Hause des Lehrstuhls einen geheimen Raum, in dem ich zahlreiche Objekte versteckt hielt, um sie gelegentlich in Konzeptkunst, Arte povera oder in Installationen zu verwandeln. In der Lebens- und Arbeitswelt des Ghettos fiel nicht besonders auf, was ich so nebenbei zusammentrug und sammelte. Mein Sammellager befand sich über dem Lehrstuhl auf dem Dachboden. Die Dachstühle waren vor dem Einzug von Funktionseinheiten der Universität in den Gebäudekomplex geleert und abgesperrt worden. Solche leeren Räume zogen mich unwiderstehlich an. Als das Ghetto im Zuge des Ausbaus der Universität in Etappen häuserblockweise platt gemacht wurde, bot sich für mich geradezu an, aus den Schuttbergen wunderbare Dinge zu bergen. Nach jedem Abriss inspizierte ich die Schutthaufen nach Relikten aus der bewohnten Zeit, nach zerbrochenen Baumaterialien und Architekturresten. Ich nutzte freie Stunden und Abende, um meine Fundsachen unbemerkt auf den Dachboden zu schleppen. Es gab für mich nichts Schöneres als ihn mit Dingen zu füllen. Ich wurde ein Schrott-Messie-Monster, das auf dem Dachstuhl hauste und dort seine Schätze hütete.
Darunter sind lange Zinkblechteile, die vom einstürzenden Mauerwerk zerbeult und zu gotischen Faltenwürfen geformt worden waren. Ich bin geradezu versessen auf diese Faltenwürfe, die sich wunderbar aufstellen lassen.
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Aus den Schutthalden ragt Eisengestänge, das zu kleinen skulpturalen Gebilden zusammengebogen werden könnte. Im Schutt der Hauseingänge sind noch metallene Verteiler- und Schaltkästen für die elektrischen Leitungen zu finden. An ihnen hängen noch Drähte wie Haarsträhnen um ein kantiges Haupt. Die offenen Kästen wirken wie Grimassen verrückter Köpfe. Ich assoziiere Porträtbüsten von Hochschulprofessoren.
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Also ab in mein Versteck auf dem Dachboden! Drahtspiralen, zerbrochene Rohrleitungen, Ziegelsteinbruchstücke, verwitterte Backsteine, ich hole sie aus ihrem Schrott-Dasein heraus und lege sie auf dem Dachboden aus. Ich beginne zwischendurch Farben und Pinsel, Bürsten und Feilen für die Bearbeitung meiner Fundstücke bereitzustellen. Nach jedem Gang sperre ich wieder zu. Der Hausmeister ist mit anderen Dingen voll beschäftigt, er hat, so glaube ich, meine Schatzkammer nicht entdeckt. Sonst hätte er wohl, wie ich es in meinem Traum erlebt habe, mich aufgefordert, den „Schrott“ wegzuräumen und den Schlüssel abzugeben.
Es gab am Lehrstuhl, genau beobachtet, zwei Messis namens Mintzel, das Papier-Messie-Monster und das Schrott-Messie-Monster. Das erstere konnte jeder sehen, der durch die Diensträume ging, das letztere blieb bis zum Untergang des Ghettos vor den Augen der anderen verborgen. Als die letzten Tage des Ghettos gekommen waren, stellte die Universitätsleitung einen Sieben-Tonnen-Container zur Entsorgung meiner Papierberge vor die Haustüre. Was ich in den fast zwanzig Jahren meiner Passauer Dienstzeit an Korrespondenzen, Aufsätzen, diversen fachwissenschaftlichen Zeitschriften, Sonderdrucken, Zeitungsausschnitten, Lehrmitteln, Textentwürfen, Kopien, Broschüren, Plakaten, Dokumentationen und anderen Papier-Materialien gesammelt und aufbewahrt hatte, musste in kurzer Zeit entsorgt werden. Ich hatte auch alle handschriftlichen Fassungen meiner wissenschaftlichen Texte aufgehoben. Ein Großteil der Papiermassen stammte aus der vordigitalen Zeit (siehe Blog-Kapitel 57: Mein digitaler Weitsprung in das 21. Jahrhundert). Der Container war im Nu mit sieben Tonnen „Altpapier“ bis zum Rand gefüllt. Später hörte ich, dass auch an anderen Lehrstühlen Messie-Symptome aufgetreten waren. Ehefrauen von Kollegen sollen hinter vorgehaltener Hand eingestanden haben, zu Hause die Arbeitszimmer ihrer gelehrten Männer heimlich stückweise entleert zu haben.
Der Untergang des Ghettos und mein dreifacher Abschied
Es waren also drei Ereignisse zusammengekommen: meine amtliche Verabschiedung in den Ruhestand, die Riesen-Entsorgungsaktion am Lehrstuhl und der Untergang des Ghettos, in welchem meine Arbeitsstätte gelegen hatte. Kurz vor der finalen Bagger- und Abrissbirnen-Attacke war ich mit meiner Familie in unser Schweizer Domizil gefahren. Als ich zurückkam, lag das ganze ehemalige Ghetto in Trümmern. Alles, was ich noch nicht abtransportiert hatte, war vernichtet worden. Sie mussten beim letzten Begehen der Dachböden meinen Schatz entdeckt haben und höchst verwundert gewesen sein. Alles war weg. Ich stand wehmütig und erschrocken vor dem Trümmerfeld. Es sah aus, als wäre das Areal bei einem Luftangriff der US Air Force durch Sprengbomben dem Boden gleichgemacht worden. Das Papier-Messie- und das Schrott-Messie-Monster Mintzel trauerten um ihre Schätze. „Höhere Gewalt“ hatte ihrem Treiben ein Ende gesetzt – zumindest an diesem Platz. Auf dem Dachboden unseres Passauer Wohnhauses konnte ich meiner Leidenschaft weiter frönen. Ich habe noch Material für viele Jahre, um Geheimnisse zu lüften.
Der närrische Beuys hätte mit meinen Materialien die zeitgenössische Kunstgeschichte auf einen zweiten Höhepunkt, wenn nicht gar zum Wahnsinn gebracht. „Der Narr“ aus dem Ghetto sollte hingegen nicht einmal die Ehre haben, von der Passauer Kunstpäpstin namens Dr. Edith Rabenstein unter die 1000 Köpfe der kulturellen Stadtgeschichte aufgenommen zu werden. Vielleicht war in meinem Alptraum diese wabernde Kulturredakteurin das Phantom, das mich ausgrenzen und vernichten wollte.
Zu Rabensteins Auswahl ehrwürdiger Köpfe ein paar kritische Anmerkungen: Rabenstein betreibt mit ihrem biografischen Lexikon allzu penetrant Hochstapelei, indem sie der kulturellen Stadtgeschichte bekannte Namen zuschreibt, die mit Passau selbst so gut wie nichts zutun hatten. Unter den in Rabensteins Olymp aufgenommenen KünstlerInnen und Kulturschaffenden der Gegenwart vermisst man dagegen eine Reihe bedeutender Namen. Unverzeihlich ist zum Beispiel, dass Rabenstein einen satirisch so bissigen wie im Strich schmissigen Zeichner wie Fritz Klier nicht für aufnahmewürdig befunden hat. Zurecht sind in einer Besprechung Nachträge eingefordert worden (vgl. PNP Nr. 297 vom 24.12.2019, S. 7).
Mein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Soziologie, Prof. Dr. Maurizio Bach, zog im Jahr 2000 bei seiner Dienstaufnahme nach einer kurzen Übergangszeit gleich in einen modernen Neubau ein, der frisch fertig gestellt worden war. Er betrat ein bestelltes Feld. Für ihn waren die Ghetto-Jahre der Soziologie, die mühsamen Jahre des Aufbaues und der Organisierung des Faches im Konzert der anderen Fachwissenschaften (siehe Blog-Kap. 22-25), eine Vorgeschichte, mit der er anscheinend nichts zu tun haben wollte. Mein dreifacher Abschied schien ihn nicht berührt zu haben. Der Untergang des Ghettos und meines Arbeitsplatzes waren für mich eine lebens- und berufsgeschichtlich tiefe Zäsur. Nichts erinnert heute mehr an die Ghetto-Jahre. Nicht einmal ich kann sagen, wo das Areal genau gelegen hat. Es war einmal…