42. Gedächtnisrede auf Luise Schaltenbrand, gehalten am 29.01.1999

Familiengeschichten im Miniaturformat

Meine Schwiegermutter Luise Schaltenbrand, genannt Lulu, eine geborene Kleinwort, verstarb am 26.Januar 1999 in Würzburg im Alter von 101 Jahren. Am 29.Januar hielt ich auf der Abschiedsfeier der Familie in einem größeren Kreis eine Erinnerungsrede. Sie bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil schilderte ich ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft und Herkunftsfamilie, ihre Ehegeschichte an der Seite von Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand (1897-1979) und besondere Charaktereigenschaften aus dem Blickwinkel ihres verstorbenen Ehemanns. Hierzu benutzte ich als Quelle Eintragungen meines Schwiegervaters in seine Tagebücher, die frisch und lebendig über sein Leben mit Lulu berichteten. Ich las die Zitate vor und fügte die eine und andere erläuternde Anmerkung hinzu. Im zweiten Teil betrachtete ich Lulus Persönlichkeit aus meinem Blickwinkel und markierte meine spannungsreiche Beziehung zu ihr als Schwiegersohn und Vater ihrer Enkelkinder. Im dritten Teil brachte ich ihre Enkelkinder ins Gespräch mit Großmutter Schaltenbrand.

Die Auszüge aus den Tagebüchern meines Schwiegervaters sind wortwörtlich wiedergegeben und nur der heutigen Orthografie angeglichen.

Teil I: Tagebuchauszüge aus den Jahren 1928 bis 1935

„1928. In diesem Jahr hat sich mein Schicksal entschieden. Während der Karnevalszeit wurde ich meinen Prinzipien mehrmals untreu und lernte auf dem >Künstlerfest< eine junge Dame kennen. Sie ist genau gleichaltrig mit mir. Groß, schlank, brünett, mit lebhaften braunen Augen, von einem unheimlichen Temperament. Sehr graziös, wenn auch manchmal noch etwas geziert. Gymnastiklehrerin, aber, wie sie mir gleich am ersten Abend beichtete, nur als Ersatz. Sie hielt mich für ungefährlich und 25, und ich sie für 25 und eine Witwe. Zu meinem Schrecken stellte ich in den nächsten Tagen fest, dass es sich um eine höhere Tochter handelt. Gott sei Dank aber eine sehr emanzipierte, ohne Vorurteile. Sie hat sehr viel Geschmack, einen ganz guten psychologischen Blick, aber zu viel Temperament, um systematisch zu sein. Wir stoßen des Öfteren hart mit den Köpfen zusammen, vertragen uns dann aber wieder inniglich. Wir versuchen uns beide zu erziehen, sie mich zum Kavalier, ich sie zu einem ebenso unerreichbaren Ideal.“

(Über Lulus Mutter): „Lulus Mutter ist eine (Gott sei Dank oder leider?) schwerhörige Dame, von beängstigendem Temperament. Sie kann sehr liebenswürdig sein. Sie ist nicht übermäßig praktisch, ziemlich egoistisch, hält glücklicherweise nicht nach. Geräuschvolle Kräche waren an der Tagesordnung und nicht gerade sehr erfreulich.“

(Über Lulus Brüder): „Lus ältester Bruder, ein schöner, begabter Schwadroneur, hat im letzten Jahr das ziemlich beträchtliche Vermögen der Familie verspekuliert. Der jüngste Bruder ist ein etwas trotteliger Bauer, der weder in Deutschland noch in Afrika auf einen grünen Zweig gekommen, dafür aber immer guter Dinge ist und schon zwei Kinder gezeugt hat.“

(Über Lulus Schwester Else): „Else ist eine Perle, ruhig, praktisch, klug; sie hat einen zartbesaiteten, künstlerisch veranlagten Dermatologen geheiratet.“

(Über Lulus Vater): „Der Vater soll ein sehr scheuer, ernster, kluger, stiller und selbstloser Mensch gewesen sein. Er hatte das Ostasiengeschäft aufgebaut, das der älteste Sohn beinahe pleite gemacht hatte.“

[Anmerkung: Der Vater Lulus, ein reicher Hamburger Großkaufmann, hatte in Hamburg mit Frachtschiffen eine Reederei gegründet und einen Ostasienhandel betrieben.  Der ältere Bruder Lulus hatte die Firma übernommen, aber durch spekulative Geschäfte verloren und damit einen sozialen Absturz der Familie Kleinwort verursacht. Die Familie verlor einen Großteil ihres Vermögens. Nähere Umstände sind mir nicht bekannt.]

(Über die Hochzeit mit Lulu): „ Die Trauung war zivil mit Schleier – eine seltsame Kombination. Ich war sehr froh, als alles vorüber war. Nur die Mütter und Lulus Geschwister anwesend. Nachher waren wir 2 Wochen in der Wohnung meiner Mutter in Düsseldorf, während Mama Lilli [Elisabeth, Georg Schaltenbrands Schwester] half, ein Kind zu kriegen. Die letzten Tage vor der Abreise waren durch den Naturforscherkongress, Besuch vieler Freunde und Packen angefüllt. Erst im Zug kamen wir zur Ruhe.“

[Anmerkung: Kurz nach seiner Hochzeit (09.08.1928) begab sich das jungvermählte Ehepaar auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn auf die Reise nach China, wo Georges Schaltenbrand in Peking am „Peking Union Medical College“ (PUMC) eine von der Rockefeller-Stiftung finanzierte Stelle als Arzt angenommen hatte. Sie verbrachten in Peking zwei Jahre. 1930 kehrten sie, nach einem Zwischenaufenthalt in Japan, nach Hamburg zurück.]

(14.IV.1933): „Mit meiner phlegmatischen, etwas selbstbestrafenden und in der Hauptsache auf den Beruf eingestellten Art hat Lu schwer zu knacken. Zwar habe ich mich (…) schon in vielem geändert, bin geselliger, etwas eleganter geworden, rauche wieder, entreiße mich den Klauen des Nelsonismus, aber es fällt mir immer noch schwer, die so geliebten kleinen Überraschungen mitzubringen, den Braten rechtzeitig zu loben und vergnügten Unsinn zu treiben. Ihre farbige, fahrige, sprunghafte, aber oft sehr instinktsichere Art zu denken und meine nüchterne, sarkastische und unproblematische Schweigsamkeit sind ein seltsames Gespann. 24 Tage im Monat geht es sehr gut, die übrigen schlecht, dass wir beide Angst haben, nach Hause zu kommen.“

[Anmerkung: Georges Schaltenbrand zählte sich in den 1920er Jahren zum Kreis um den politisch und pädagogisch engagierten Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882-1927). Nelson, ein Neosokratiker, verfolgte das Konzept eines ethisch begründeten Sozialismus. Der von ihm 1917 gegründete „Internationale Studentenbund“ geriet in Konflikt mit der SPD-Führung, die 1925 gegen den ISB einen Unvereinbarkeitsbeschluss fasste. Nach dem Ausschluss gründete Nelson den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), der seit 1933 im Widerstand gegen den Nationalsozialismus wirkte. Nelson vertrat die ethische Idee einer enthaltsamen, vorbildhaften Lebensführung, propagierte eine vegetarische Lebensweise und forderte Tierrechte. In seiner Tagebuchnotiz spielt Schaltenbrand auf seinen rigorosen „Nelsonimus“ an]

(14.VIII.1935, über die Geburt des ersten Kindes): „Gott sei Dank wurde sie prompt wieder schwanger und nach langen Ängsten und Nöten hat sie ein Kind zur Welt gebracht. Dadurch ist sie ein ganz anderer Mensch geworden, harmonischer, glücklicher, auch gesunder. Der Kleine [Peter Schaltenbrand, geb. 07.09.1934) ist blond und blauäugig, hat anscheinend ein gutes, nicht zu lebhaftes Temperament, ist mechanisch begabt. Die Haare sind spiralig gezwirnt.“

Teil II: Meine Erinnerungen an Lulu

„Jeder Freund Inge Lus wurde mit Fragen gelöchert und gründlich ausgequetscht, die Lyrik des 20. Jahrhunderts unter stilistischen und individualpsychologischen Gesichtspunkten hin- und hergewendet und bildungsbürgerlich beflissen über die Abgründe in den literarischen Texten gehüpft – dabei ein Schluck Tee aus einer Arzberg-Tasse. Im Sommer gab es ein Stück Kirschkuchen dazu.

Der chronologischen Reihe nach wurden ausgequetscht:

–  Klaus Mauter, >Bürschi< genannt, ein virtuoser Klavierspieler und vielversprechende Gymnasiast,

– Winfried Zink, aus Gerbrunn bei Würzburg, der gern ein großer Romancier geworden wäre,

– Alf Mintzel, der im Alter von 18 Jahren nicht die geringsten genialen Anzeichen aufwies, um zu den >Auserwählten< der Schaltenbrandschen >Geistesaristokratie< gehören zu dürfen.

Möglichweise, nein höchstwahrscheinlich, waren die >Prüfungsaufgaben< Lulus Ablenkungsmanöver, um die Tochter vor dem Verlangen der bösen, unwürdigen Buben zu schützen. Eine Devise war es doch gewesen, die Tochter unbescholten einem Geistesaristokraten zuzuführen, der allerding nur unterhalb von Vater Georges einen Platz einzunehmen würdig war.

Lulu blieb bis ins hohe Alter eine vielinteressierte Frau und stellte unablässig bohrende Fragen und große Anforderungen. Noch vor zwei Jahren, im Alter von 99 Jahren, fragte sie mich: >Was schreibst Du im Augenblick für ein Buch? < Ich antwortete: >Über Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika<. Sie: >Was sind multikulturellen Gesellschaften? Kannst Du mir das schnell erklären? < Meine Antwort: >Mein Buch hat 740 Seiten<.

Zur fränkischen Seite von Lulus und meiner familiären Herkunft: Die „Militzer-Connection“

Ich verkörpere die fränkische Seite in Lulus Biografie und Familiengeschichte. Damit war von Anfang an eine kreative Spannung angelegt, die meiner Leidensbereitschaft das Äußerste abverlangte. Ich sprach – wie ihre Mutter – einen fränkischen Dialekt und wurde schon deshalb auf die Stufe der Dienstboten platziert. Ich war ein Nichts und erhielt von 1954 bis 1956 ein strenges Hausverbot [siehe hierzu Blog-Kap.10 und 19].

Lulus Mutter, eine geborene Militzer aus dem alten Hofer Militzer-Clan ordnete mich dagegen anders ein [siehe hierzu Blog-Kapitel 19xy). Jeder Hofer kannte die Firma Mintzel-Druck. Für die Großmutter war ich folglich kein Nichts, sondern Spross einer ihr gut bekannten Drucker- und Verlegerfamilie.

Historische Nachforschungen ergaben zu meiner Überraschung noch mehr: Es gab im 19. Jahrhundert in Hof eine >Militzer-Mintzel-Connection<, und zwar dergestalt, dass die Militzer dort in der Ersten Gasse, in der heutigen Ludwigstraße, das Mintzelsche Wohnhaus kauften, in dem die Mintzels von 1642 bis 1736 gewohnt hatten. Das Haus steht noch heute. Wahrscheinlich haben die Vorfahren der Oma Kleinwort-Militzer im gleichen Schlafzimmer geschlafen wie zuvor die Mintzels [siehe hierzu Blog-Kap.19 xy]. Leider machten mich alle diese Erkenntnisse bei Lulu noch lange nicht hoffähig. Also blieben die kreativen Spannungen bestehen, bis ich mich durch strenge Zucht allmählich zu einer Mini-Ausgabe des Geistesaristokraten Georges Schaltenbrand modellierte.(…)“

(Würzburg, am 23. 12. 1996) „Bei Lulu im Altersheim. Sie hatte gerade eine Weihnachtsfeier hinter sich. Auf Fragen, wie die Feier gewesen sei, erinnerte sie sich plötzlich daran, dass Kinder falsch gesungen hatten. Auf die Frage, ob ein Geistlicher anwesend gewesen sei, denn die Feier hatte in der Hauskapelle stattgefunden, sagte sie, sie habe keinen gesehen. Zu einer ungläubigen Christin käme keiner.

Inge Lu sagte zu ihr, es sei vielleicht ganz gut, mit Gott ein Verhältnis zu haben. Lulu antwortete, das habe sie. Sie sei zu Gott gegangen und habe ihm ins Ohr geflüstert, etwas über Liebe. Gott sei entsetzt gewesen ob ihres weltlichen Geflüsters. Daraufhin habe sie ihm nochmal etwas ins Ohr geflüstert, etwas, das ihm gefallen habe – dann habe sie (!) sich von ihm abgewandt.“

Teil III: Enkelkinder fragen

(Würzburg, am 29. 12. 1996 bei Oma Schaltenbrand im Altersheim): „Ich frage Lulu, wie sie sich heute die Zeit vertrieben hätte. Sie machte eine Handbewegung auf sich zu und sagte: >Dass ich noch nicht fertig bin<.

Theresa (geb. 1971) fragt Oma, ob sie religiös sei. Lulu denkt nach, zögerte mit einer Antwort. Sie bejaht die Frage. Theresa fragt weiter: >Bist du Buddhistin oder Hinduistin?< Lulu versteht nichts, fragt zurück: >Was hast du gefragt?<

>Bist du Buddhistin?<

>Ich verstehe nicht.<

Ich schreie: >Buddha! Bist du Buddhistin?<

>Butter? <

>Nein, Buddha!< Ich versuche den Buddha-Sitz zu imitieren. Plötzlich versteht sie die Frage: >Nein, ich bin keine Buddhistin<, antwortet sie entschieden.

Theresa fragt weiter nach: >Bist du Christin, christlich?<

Jetzt antwortet sie sofort und entschieden mit >Nein<.

Ich erzählte Lulu, dass wir das Mainfränkische Museum auf der Marienburg besucht haben. Sie fragte zurück, was wir gesehen hätten. Theresa sagte, eine Maria hier, eine Maria dort, eine Maria oben, eine Maria unten. Sie legte die Hand über den Kopf und imitierte Gesten der Marienskulpturen.

Ich fügte hinzu, dass die Marien immer einen nackten Bengel auf dem Arm trügen, so einen Christus-Bengel ohne Windeln. Lulu antwortete schlagfertig und witzig: >Ich habe für solche Fälle immer ein Schwanzdeckchen mitgenommen.<

Theresa und Caroline (geb. 1975) amüsierten sich köstlich über Omas Frivolitäten.“

Abschied von Lulu mit einem Gedicht von Hans Arp

 

Kaum spüre ich noch die Erde,

Der Boden wird blauer und blauer.

Mein Schritt wird leichter und leichter.

Bald schwebe ich.

Singende Sterne wandern mit mir.

 (Hans Arp: Singendes Blau, 1946-1948)

Ein Kommentar

  1. Ich kannte Sie.
    Durch die Steuerkanzlei. Anker/Röhr Würzburg.
    Ich war in Orselina, Casa Lu in Urlaub.
    Ihre Rede ist mehr als zutreffend. Respekt.

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