63. Wie Dr. Edith Rabenstein Passau zum Leuchten bringt

Über: Edith Rabenstein: 1000 Künstler/innen & Kulturschaffende. Biografisches Lexikon zur Passauer Stadtgeschichte. Verlag Friedrich Pustet Regensburg, 2019. 483  Seiten.

Prüfung und Bewertung der Machart

Im Herbst 2019 erschien das oben angezeigte Buch, in welchem Leben und Wirken von annähernd 1000 Künstlern/Künstlerinnen und Kulturschaffenden dokumentiert sind. Die Autorin, Kulturredakteurin der Passauer Neuen Presse, bei der Vorstellung ihres Werkes: „Diese ganz spezielle Sammlung von Wissen entstand aus dem tiefen Wunsch heraus, mehr über Persönlichkeiten zu erfahren, die künstlerisch hier tätig waren.“ (PNP Nr. 248, 26. 10. 2019, S. 9).

Rasch folgten des Lobes volle Besprechungen. Rabenstein habe aus einem reichen Fundus geschöpft und ein beachtliches Werk vorgelegt. Sie bezöge in ihr Lexikon „auch jene Größen ein, die Passau zum Leuchten brachten, ohne dort gelebt zu haben“ (SZ Nr. 281, 05.12.2019,S. 42). Die Veröffentlichung sei auch schon deshalb bedeutend, weil es „keine vergleichbare Publikation über jene Menschen gibt, die Passau geformt haben“ (ebenda). Auch die vorangestellten Grußworte des Bayerischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst und des Oberbürgermeisters der Stadt Passau verleihen dem Werk besondere Gravität. Die gefällige Aufmachung des Werkes wird allgemein gewürdigt. Es scheint mir bei so viel Lob notwendig zu sein, die Machart des Werkes genauer unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, ob es seinen selbstgestellten Ansprüchen, wie sie in der Titelei zum Ausdruck kommen, gerecht wird. Ich stelle damit auch die bisherige Rezeption in den Printmedien zur Diskussion.

Das Lexikon ist in drei Teile gegliedert, in ein Vorwort (S.7f), in Kurzbiografien (S.12-470) und einen Anhang (S.472-483). Letzterer enthält ein Verzeichnis der Abkürzungen, ein Personenregister, die Bildnachweise und eine Bibliografie. Annähernd 1000 Personen in einem biografischen Lexikon zu versammeln, und dies noch dazu für einen Zeitraum von rund 1000 Jahren, ist ein Unterfangen, das von vorneherein konzeptuell gut überlegt sein will.  Wer wird aufgenommen, wer nicht? Welche Kriterien wendet die Autorin hierzu an? Je nach Interesse und Informationsbedürfnis werden Benutzer nach Personen und Personalien suchen. In einer kurzen Würdigung bleibt bei dieser Masse an Personen aus zehn Jahrhunderten allerdings nichts anderes übrig, als schwerpunktmäßig an Beispielen die Machart des Werkes aufzuzeigen. Der Titel des Buches und das Vorwort der Verfasserin geben an, was Benutzer in etwa erwarten dürfen. Und noch ein allgemeiner Hinweis ist nötig: Man muss mit der Künstlerszene und den kulturellen Aktivitäten in Passau und seinen benachbarten Gebieten einigermaßen gut vertraut sein, um insbesondere erkennen zu können, wen Rabenstein nicht in ihr biografisches Lexikon aufgenommen hat. Im Blick auf die Gegenwart verdeutlichen erst „Negativlisten“ die feinen Unterschiede. Wer zählt zu den Ausgewählten und wen hält die Autorin für nicht aufnahmewürdig? Rabenstein schlüpft mit ihrer Auswahl in die Rolle einer Jurorin. Es war abzusehen, dass Benutzer und noch aktive Künstler und Kulturschaffende neugierig fragen werden, wer ist drin, wer nicht. Oder selbstgefällig ausgedrückt: Bin ich drin?

Unscharfe Begriffe und ein weitgesteckter zeitlicher Rahmen

Rabenstein benutzt für ihre Auswahl zwei deskriptive Sammelbegriffe, einmal „Künstler/-innen“ und einmal „Kulturschaffende“. Sie grenzt dabei ausdrücklich Personen aus, die sie laut Vorwort kategorial dem Kunsthandwerk zurechnet (S.7). Kunsthandwerker/-innen gehören nach ihrem selektiven Ansatz weder zur Kategorie der Künstler/-innen noch zur Kategorie der Kulturschaffenden. Mit dieser groben Zuschreibung und Ausgrenzung beginnen schon im methodischen Ansatz selektive Probleme. Wer ist ein Künstler, wer nur ein Kunsthandwerker? Wer ist ein Kulturschaffender, jedoch weder Künstler noch Kunsthandwerker? Ist ein Künstler kein Kulturschaffender? Was alles fällt unter den Begriff Kultur? Bedient sich die Autorin eines engeren oder weiteren Kulturbegriffes? Fallen darunter nur Schaffende der Hochkultur? Oder zählen auch Vertreter der Alltagskultur dazu? Die Autorin gibt in ihrem  knappen Vorwort  zu diesen Grundfragen, wenn überhaupt, nur dürftige Auskünfte. Ich zitiere aus ihrem zweiseitigen Vorwort die maßgeblichen Passagen:

„Das vorliegende Buch bezieht sich auf rund 1000 Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende quer durch die Zeiten, die in der Dreiflüssestadt gelebt und gewirkt haben, geehrt worden sind oder heute noch hier kreativ arbeiten (…)  Menschen und ihre Werke bilden wie ein Mosaik (…) das Bild dieser Stadt. Ausgeklammert bleiben – bis auf wenige Ausnahmen – die Personen des Kunsthandwerks, die oft nur durch ihre Beschauzeichen dokumentiert sind (…). Ausgeklammert bleiben auch Künstlerinnen und Künstler, die Gäste in der Dreiflüssestadt waren, es sei denn, sie haben noch heute sichtbare Spuren hinterlassen, oder ihre künstlerische Arbeit hier war Startschuss oder Sprungbrett für eine große Karriere. Ein Beispiel: Künstler, deren Arbeiten noch heute zu bewundern sind, werden aufgeführt, Gäste der Festivals wie Europäische Wochen, Jazzfest Passau, Passauer Saiten u. a. hingegen nicht. Ebenso nicht aufgenommen sind alle oft kurzzeitigen Ensemble-Mitglieder am Landestheater Niederbayern, früher Südostbayerisches Stadttheater. Hier wurde die Auswahl auf langjährige Mitglieder des Theaters gelegt. Eine Differenzierung schien mir notwendig.

Aufgeführt sind dagegen Preisträger etwa des Kulturpreises der Stadt Passau für die Böhmerwäldler, der seit 1961 des Konzerthaus-Vereins, der alle zwei Jahre verliehen wird, des Scharfrichterbeils, des Theaterpreises, der >Jungen Kunst< oder des MiE-Awards [Menschen in Europa-Award – A. M.] – und Letztere nur sofern sie aus dem künstlerischen Bereich kommen. Nicht aufgeführt sind Gruppen als Preisträger (…).

Freilich ist sich die Verfasserin bewusst, dass es ein schier unmögliches Unterfangen ist, wirklich alle Künstlerinnen und, Künstler und Kulturschaffenden von einst und jetzt in einer kulturreichen Stadt wie Passau abzubilden – es muss eine Auswahl getroffen  werden -, zum einen, weil die aktuelle Kulturszene stets im Wandel ist, zum anderen, weil die vergangenen Jahrhunderte retrospektiv manchmal nicht zur Gänze rekonstruierbar sind. Ich bin mir also dessen bewusst, dass man in diesem Unterfangen den Mut zur Lücke haben muss.“

Es gilt also zu überprüfen, inwieweit die Autorin ihre sich selbst gestellten Aufgaben erfüllt hat und ob ihre Sammelbegriffe bei den Zuordnungen, Abgrenzungen und Ausklammerungen behilflich waren.

Künstler/innen, Kulturschaffende, Kunsthandwerker

Die  Problematik liegt in Rabensteins Wahl der Sammelbegriffe und ihren methodischen Konsequenzen.  Es bedarf einer Begriffsklärung, die Rabenstein an keiner Stelle vornimmt. Kulturschaffende(r) ist ein Sammelbegriff, der alle einschließt, die kreativ gestaltend am kulturellen Leben mitwirken: Künstler/-innen, Dichter, Schriftsteller, Theaterproduzenten, Musiker, Komponisten, Dirigenten, Tänzer, Bildhauer, Architekten und andere.

Der Begriff „Kulturschaffender“ kam in den 1920er und 1930er Jahren in den Kulturwissenschaften auf und wurde unter der nationalsozialistischen Diktatur zu einem politischen Begriff. Nach 1945 ging er auch in das politische Vokabular der DDR ein. Erst in den 1990er Jahren gelangte er in den allgemeinen Sprachgebrauch. Er schloss stets alle Künstler der Bildendenden und Darstellenden Künste ein. Die begriffliche Unterscheidung und konjunktive Gegenüberstellung von Künstlern und Kulturschaffenden ist deshalb problematisch. Die Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme, die hierdurch gegeben sind, durchziehen das gesamten biografische Lexikon. Rabenstein hat sich vermutlich einige Gedanken dazu gemacht, vielleicht Wikipedia zurate gezogen, aber ihre Entscheidung  für den gewählten Titel nicht begründet.

Auch auf den Sammelbegriff „Kunsthandwerk/ Kunsthandwerker“ geht sie nicht explizit ein. Sie stellt ihn einfach den beiden anderen Sammelbegriffen gegenüber. Laut Wikipedia steht der Begriff „für jedes Handwerk, für dessen Ausübung künstlerische Fähigkeiten maßgebend und erforderlich sind. Die Produkte des Kunsthandwerks sind in eigenständiger handwerklicher Arbeit und nach eigenen Entwürfen gefertigte Unikate.“ Der Begriff hebt, vereinfacht ausgedrückt, kunsthandwerkliche Produkte von industriell gefertigten Massenprodukten ab. Von „hoher“ Kunst unterscheiden sich kunsthandwerkliche Produkte durch ihre primär handwerklich-technische, auf Anwendung bezogene Machart. Die Kunsthandwerke gelten neben den Bildenden und Darstellenden als Angewandte Künste.

Die Autorin belässt es in in ihrem Vorwort bei ihren allzu knappen Erläuterungen. Die inhaltliche Gliederung des Lexikons folgt sodann nicht den Sammelbegriffen und ihren Kriterien, sondern dem Alphabet. Wir haben es mit einem biografisch sortierten „Zettelkasten“ zu tun, in dem mit Bienenfleiß zusammengetragene Personalien zu den Ausgewählten enthalten sind. Das Hauptgliederungsprinzip ist also das Alphabet und dies in doppelter Weise. Denn unter jedem (Groß-)Buchstaben werden wiederum in alphabetischer Reihenfolge die Personen aufgeführt. Gewissermaßen quer zur alphabetischen Ordnung legt die Autorin ein zeitliches Schema zugrunde. Sie reiht unter jedem Buchstaben die ausgewählten Personen „von einst und jetzt“/ „quer durch die Zeiten“ ein (S.7). Ihr zeitlicher Rahmen reicht vom Hochmittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart, von Walter von der Vogelweide und dem Nibelungenlied bis zu Anna Sterr, die 1997 in Passau geboren wurde. Die Machart des Lexikons ist folglich ebenso einfach wie offen. Die Unschärfe der deskriptiven Sammelbegriffe und die zeitliche Ausdehnung ihrer Recherchen über einen Zeitraum von rund 1000 Jahre ermöglichen ihr eine kategorisch großzügige Auswahl und Zuordnung. Damit ist aber zugleich die Gefahr selektiver Willkür und Beliebigkeit gegeben. Für Leser/-innen, die nur eine rasche Auskunft über einzelne Personen des kulturellen Lebens der Stadt Passau und seiner Umgebung wollen, mag dieses locker strukturierte Konzept genügen, Hauptsache, die Angaben zur Vita einer gesuchten Person stimmen. Aber aufgepasst!

Rabenstein nimmt Stefan Rammer, ihren Redaktionskollegen von der Passauer Neuen Presse, gemäß ihrer Kriterien zurecht in ihr Lexikon auf. Rammer ist ein niederbayerischer Heimatschriftsteller, Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift Passauer Pegasus und Kulturpreisträger des Landkreises Passau, also einer Aufnahme würdig. Seine von Rabenstein verfasste Vita enthält aber drei ärgerliche Fehler: Rammer ist nicht in Schalding links der Donau geboren, sondern rechts der Donau. Er hat nicht im Adalbert-Stifter-Museum sein Abitur gemacht, sondern im Adalbert-Stifter-Gymnasium, und er hat über den SPD-Politiker Kurt Schumacher promoviert, nicht über den CDU-Politiker Ludwig Erhard. Ein weiteres Beispiel betrifft den Passauer Dichter Friedrich Hirschl, dessen letzter Gedichtband „Stilles Theater“ (2017) in den Angaben zum Werk fehlt. Es empfiehlt sich also in jedem Fall die angegebenen Personalien zu überprüfen.

Galeristen – Künstler/-innen oder nur Kulturschaffende, oder beides?

Die Unschärfe der deskriptiven Kategorisierungen führt zum Beispiel im Blick auf die Galerien in selektive Probleme hinein. In ihrem Vorwort nennt Rabenstein unter den angeführten cultural players keine(n) einzige(n) Galeristen/in. Sie kommen  erst in einzelnen Vitae zum Vorschein, wobei die Auswahlkriterien fraglich bleiben.  Rabenstein nimmt in ihr Lexikon nur Galeristen auf, die zugleich als Künstler/-innen auftreten wie die Betreiber der Passauer Produzentengalerie und die Galerien von Horst Stauber, Eva Priller und AGON. Sie schließt hingegen alle Galeristen aus, die nicht zugleich als Künstler/-innen hervortreten oder früher hervorgetreten waren. Zu den Ausgeschlossenen zählen zum Beispiel Eva Riesinger (Soiz Galerie), Christa Schubach (zusammen mit Horst Stauber) und Michaela Dambeck (die ihre Galerien inzwischen aufgegeben haben) und Monsignore Dr. Bernhard Kirchgessner, der in den Räumen von Spectrum Kirche regelmäßig Kunstausstellungen veranstaltet. Es drängt sich die Frage an die Autorin auf, warum sie nur Künstlergaleristen berücksichtig, die „Nur-Galeristen“ hingegen alle ausschließt. Sind diese nicht auch Kulturschaffende? Warum hält die Autorin sie nicht für würdig, in ihr Lexikon der Tausend aufgenommen zu werden? Hier scheint in der Auswahl Willkür oder Beliebigkeit im Spiel zu sein. Rabensteins konzeptuelle Aussagen in ihrem Vorwort genügen nicht.

Kulturschaffende Verleger

Die Unschärfe des Sammelbegriffs Kunstschaffende wirkt sich auch auf die Frage aus, ob Verlegerpersönlichkeiten ins Lexikon aufgenommen werden. Rabenstein stellt insgesamt fünf Verleger vor: Angelika Diekmann, Ulrich Kraus,  Matthäus Merian, Gregor Peda und Jakob von Sandrart. Kraus, Merian und Sandrart traten im 17. Jahrhundert als Kupferstecher hervor. In dieser Rolle hatten sie mit Passau zu tun, sie fertigten Passauer Stadtansichten. Von den Passauer Verlegerpersönlichkeiten der Gegenwart bezieht Rabenstein nur zwei ein: Angelika  Diekmann und Gregor Peda. Zumindest zwei weitere hätten es nach meiner Ansicht verdient aufgenommen zu werden: Karl Stutz (1954-2015) und Dietmar Klinger. Warum hat Rabenstein diese kulturschaffenden Verleger nicht für aufnahmewürdig befunden?

Stutz gründete 1982 den Andreas-Haller-Verlag, der ab 1985 als Karl-Stutz-Verlag firmierte. Stutz gelang es, aus der 1978 neu gegründeten Universität Passau Autoren zu gewinnen und eine beachtliche Zahl kulturwissenschaftlicher Werke zu verlegen, darunter auch Publikationen zur Kulturgeschichte Passaus und der ostbayerischen Region. Bei Stutz erschien auch der 2007 erstmals ins Deutsche übersetzte Schauerroman „Zastrozzi“ des englischen Dichters Percy Bysshe Shelley (1792-1822). Der Titelheld des 1810 geschriebenen Romans macht auf einer Reise auch in Passau Station und erlebt diese Stadt als einen locus amoenus. Ich könnte noch andere Verlagsprodukte anführen. Die Kulturjornalistin Rabenstein berichtete in der PNP über Stutz. Ihr waren also dessen Vita und Verlagstätigkeit bekannt.

Dietmar Klinger, der ebenfalls von der Gründung der Universität Passau profitierte, trat seit 2010 ebenfalls als Verleger zahlreicher kultur- und politikwissenschaftlicher Schriften zur Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen hervor. Ein Schwerunkt seiner Verlagstätgkeit liegt auf Kunstkatalogen. Sein Verlag listet inzwischen vierzig Titel auf.

Nimmt man die Autorin beim Wort und berücksichtigt die ostbayerische Region, dann gehört auch noch der Hauzenberger Verleger Toni Pongratz zu den Ungenannten, die unbedingt ins Lexikon hätten aufgenommen werden müssen. Er gibt regionalen Autoren mit seiner „Edition Pongratz“ eine anspruchsvolle, respektable literarische Plattform.

Und wieder stoßen wir auf eine biografisch versteckte Information, die uns darauf aufmerksam macht, dass es in Passau auch schon früher Kleinverleger gab. Der gelernte Verlagsbuchhändler und Gründer des Passauer Stadtmuseums (1912), Franz Bieringer, verlegte die „Niederbayerische Monatsschrift“, die später in „Ostbairische Grenzmarken“ umbenannt wurde. Wer den Namen Bieriger nicht kennt und im Lexikon nach Verlegern sucht, wird Mühe haben, diesen Verleger zu entdecken.

Die Aufnahme der Passauer Journalistin und Verlegerin Angelika Diekmann bedarf keiner besonderen Begründung. Diekmann, Gesellschafterin der Verlagsgruppe Passau, rief 1996 die Veranstaltungsreihe „Menschen in Europa“ (MiE) ins Leben und holte zu dieser hochkarätige Künstler und prominente Vertreter aus  Politik und Gesellschaft nach Passau.

Menschen in Europa (1996-2019)

Den MiE-Kunst-Award der Verlagsgruppe Passau erhielten Placido Domingo, Norman  Foster, Karl Lagerfeld, Anna Netrebko, Ai Weiwei, Lang Lang, Igor Sacharow-Ross, Wim Wenders. Die weithin leuchtenden internationalen Stars traten alle in Passau im Rahmen der Großveranstaltung „Menschen in Europa“ auf. Rabenstein hat sie allesamt in ihr biografisches Lexikon aufgenommen.

So verdienstvoll und löblich das engagierte Mäzenatentum der Passauer Verlagsgruppe und der Passauer Neuen Presse auch ist, so wenig wurden aus den eingeladenen und vermutlich hochbezahlten Stars des internationalen Kulturlebens und der internationalen Kunstwelt genuin Passauer Kulturträger und Kulturschaffende, „die Passau zum Leuchten brachten.“  Die Stars aus Musik, Theater, Kunst und Film blieben, was sie waren und nach wie vor sind, bezahlte durchreisende Besucher, die nach ihren Auftritten Passau wieder verlassen. Sie bilden im Turnus eine „Cloud“, die über dem kulturellen Leben der Stadt hinwegzieht und für ein paar Tage oder Wochen Glamour herabrieseln lässt. Diese Berühmtheiten per Lexikon zu Passauer Künstlern und Kulturschaffenden zu machen und als solche der Passauer Stadtgeschichte einzuverleiben, grenzt ein wenig an Hochstapelei. Ehrlicher wäre es gewesen, es bei Größen wie Alfred Kubin, Reiner Kunze, Hans Carossa, Emerenz Meier zu belassen, die in der Stadt oder in der umgebenden Region wenigstens zeitweise gelebt und gearbeitet haben.

Festspiele Europäische Wochen Passau

Im Gegensatz zur Veranstaltungsreihe Menschen in Europa schließt Rabenstein die für Auftritte verpflichteten Künstler (Musiker, Pianisten, Sänger, Schriftsteller, Maler … ) prinzipiell von einer Aufnahme ins Lexikon aus (S. 7).  Gewiss, die Europäischen Wochen haben nach Art der Zielsetzung, Programmgestaltung, Organisation und Finanzierung einen anderen Status. Aber sie bieten seit ihrer Gründung (1952) hochkarätigen Vertretern der Bildenden und Darstellenden Künste eine breite Plattform, unter anderem auch Künstlern aus Passau und der Region. Wikipedia listet 31 Künstler/-innen auf, darunter Vadimir Ashkenazy, Klaus Maria Brandauer, Yehudi Menuhin, Igor Oistrach, Grigory Sokolov und Tibor Varga, um nur einige zu nennen. Ihre Auftritte haben das Passauer Kuturleben ungemein bereichert und überstrahlt. Rabenstein bezeichnet sie in ihrem Vorwort als Gäste (S. 7).  Hätten sie nicht – nach der Logik des Konzepts – wie die Stars der Veranstaltungen „Menschen in Europa“ ins Lexikon aufgenommen werden müssen? Rabenstein gesteht nur Indentanten diese Ehre zu: Pankratz von Freyberg, Peter Baumgardt, Thomas E. Bauer und Carsten Gerhard. Als hätten Stars der Europäischen Wochen nicht ebenfalls „Passau zum Leuchten gebracht.“ Auch diese ungleiche Behandlung scheint mir auf einer willkürlichen Vorentscheidung zu beruhen. Ganz unauffällig tauchen Künstler, die an Europäischen Wochen teilgenommen haben, in Kurzbiografien auf: so beispilsweise die Maler Georg Weiß und Miguel Horn.

Fragwürdige Zuschreibungen

Rabenstein schreibt der kulturellen Stadtgeschichte Personen zu, die, wie oben schon gesagt, mit Passau nie oder nur rein zufällig und peripher etwas zu tun hatten. Ich entnehme Rabensteins Lexikon fünf Bespiele: Friedrich Nicolai (1733-1811), Lucas Cranach d. Ä. (um 1472-1553), Albert Birkle (1890-1986), Georg Britting (1891-1964), Johann Ernst Fabri (1755-1825).

Ein krasser Fall hochstapelnder Zuschreibung ist der Renaissancemaler Lucas Cranach der Ältere, der weder in Passau geboren wurde, noch je einen Fuß  auf Passauer Territorium setzte, noch selbst je in einem geschäftlichen Verhältnis zu Passau stand. Lucas Cranach d. Ä. malte in seiner Zeit als kursächsischer Hofmaler das Gnadenbild Mariahilf, das auf das Jahr 1537 datiert ist. Dieses für den kursächsischen Hof bestimmte Bild gelangte 1611 durch eine Schenkung in den Besitz des Passauer Fürstbischofs, wanderte aber schon wenige Jahre später nach Innsbruck. In Passau hängt nur eine Kopie. Rabenstein räumt dem berühmten Maler, dessen Vita wohlbekannt ist, eine und eine halbe Kolumne ein.

Der nächste zweifelhafte Fall ist der Maler Albert Birkle. Er war Mitglied der Berliner Sezession, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und aktiver Teilnehmer auf der Biennale in Venedig. Rabenstein dazu: Birkle war „ein typischer >Reisemaler<, der vor Ort gearbeitet hat.“ In seinen Landschafts- und Stadtlandschaftsmalereien gäbe es auch Motive von Passau und vom Bayerischen Wald, woraus Rabenstein haarscharf folgert: „Er dürfte also auch in Passau gewesen sein, Daten sind nicht bekannt.“ Die Autorin räumt der Biografie dieses Malers mehr als eine ganze Kolumne ein. Der nächste Fall: Der Berliner Schriftsteller und Aufklärer Friedrich Nicolai war 1781 auf einer Reise durch Deutschland und die Schweiz auch durch Passau gekommen. Er schrieb in einem Essay, so hebt Rabenstein hervor, „über Topografie, Architektur, die Passauer Frauen und die Wundergläubigkeit in Mariahilf, die den aufgeklärten Protestanten erstaunte.“ Das mag man gelten lassen, um Nicolai mit einer kurzen Notiz in das biografische Lexikon aufzunehmen. Ein Künstler oder Kulturschaffender Passaus war er sicher nicht.

Scharfrichterhaus/Scharfrichterbeil

Ein weiterer Testfall sind die Kabarettisten, die weit über Passau hinaus bekannt sind und zum Teil dem sozio-kulturellen Nährboden Passaus entstammen. Kabarettisten verkörperten viele Jahre Widerständigkeiten gegen das erzkonservative städtische Establisment, gegen die damalige Dreifaltigkeit von katholischer Kirche, CSU und Passauer Neue Presse. Der Ort kabarettistischen Wirkens war das von Passauer Bürgern anfangs gemiedene, ja verfemte Scharfrichterhaus. Erst Jahre später wurde mit dem Wandel des kulturellen Klimas in der Stadt  aus dem angefeindeten Betrieb eine offiziell geförderte kulturelle Institution Passaus.

Seit 1983 wurde im Rahmen der Passauer Kabaretttage an die Gewinner des Wettbewerbs das Scharfrichterbeil vergeben. Von 1983 bis 2019 gab es 36 Preisträger, darunter 30 Solisten und sechs Duos. Letztere schließt Rabenstein von vorneherein als „Gruppen“ aus (siehe Vorwort, S. 7). Von den 30 Solisten nimmt sie vier nicht in ihr Lexikon auf: Kapud (1998), Norbert Bürger (2016), Thomas Steierer (2017) und Corrina Fuhrmann alias Lucy van Kuhl (2019). Warum? Mut zur Lücke? Oder mutwillige Ausgrenzung? Stillschweigende qualitative Wertung? Die „Urväter“ und Mitbegründer  des Passauer Kabaretts, Bruno Jonas, Sigi Zimmerschied und Rudi Klaffenböck, sind selbstverständlich drin, ebenfalls Manfred Kempinger, Hanns Meilhammer und Norbert Entfellner.

Passauer Pegasus

In ihrem Vorwort (S. 8) betont die Autorin, ihr Buch verstehe sich „in seiner Kombination aus Sachinformation und kurzer Wertung als Nachschlagewerk und Zusammenschau für jedermann.“ Die Problematik von Wertungen zieht sich, wie könnte es bei der Thematik Kunst und Kultur anders sei, durch fast alle Biografien. Jede Würdigung der Leistungen derer, die in das Lexikon aufgenommen worden sind, enthält Wertungen. Allein schon die pure Entscheidung, einen Kandidaten aufzunehmen oder auszuklammern, ist eine, die bewertet. Die Frage ist, ob und wie Rabenstein ihre Wertungen offenlegt. Sachinformation und Wertung lassen sich schwer trennen. Man kann ihre Sachinformationen auch als explizite oder implizite Wertungen lesen. Aus dem Umfang und der Detailiertheit von Kurzbiografien lassen sich wertende Gewichtungen ablesen. Auch die Negativlisten resultieren aus Wertungen. An einem Beispiel will ich aufzeigen, wie Rabenstein schwer nachprüfbare Wertungen vornimmt.

Unter den Passauer kulturellen Institutionen, Künstler-Gemeinschaften und literarischen Zirkeln gibt es ein literarisches Unternehmen, das im Laufe der letzten Jahrzehnte bundesweit Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Edith Ecker, Karl Krieg und Stefan Rammer geben seit 1980er Jahre die literarische Zeitschrift „Passauer Pegasus“ heraus. Der Passauer Pegasus wird von den Initiativen und dem Engagement der drei Herausgeber getragen. Die Zeitschrift bietet deutschen Autoren und Schriftstellern anderer Nationalität eine Publikationsmöglichkeit für bisher nicht veröffentlichte Texte (Prosa und Lyrik). Die Herausgeber veranstalten neben dem Pegasus-Projekt mit ihren Autoren Lesungen und stellen auch literarische Neuerscheinungen vor. Diese Sachinformationen werden in den Kurzbiografien über Karl Krieg und Stefan Rammer nicht mitgeteilt. Rabenstein hebt insbesondere die schriftstellerischen Aktivitäten der beiden hervor.  Edith Ecker ist hingegen unter dem Groß- und Kleinbuchstaben „E“  nicht zu finden. Auf sie wird lediglich in der Kurzbiografie Rammers mit einem Pfeil hingewiesen. Was immer die Autorin sich dabei gedacht haben mag, das Beispiel zeigt die Wirkung expliziter und impliziter (Ab-)Wertungen. Der uninformierte Benutzer des Lexikons wird vermutlich solche unterschwelligen Wertungen Rabensteins gar nicht wahrnehmen.

„Junge Kunst – Kunstprojekt der Sparkasse Passau“

Die Sparkasse Passau rief im Jahr 1996 gemeinsam mit dem Bundesverband Bildender Künstler Niederbayern den länderübergreifenden Wettbewerb „Junge Kunst“ ins Leben. Bei diesem Wettbewerb werden im Zweijahresturnus jeweils ein Künstler aus Niederbayern, Südböhmen und Oberösterreich prämiert. An ihm können folglich Künstler/-innen teinehmen, die weder in Passau oder sonstwo in seiner unmittelbaren Umgebung geboren wurden, noch dort leben und arbeiten. Die preisauslobenden Institutionen haben ihren Sitz in Passau. Von 1996 bis 2018 wurden die Preise zwölf Mal an jeweils drei, also insgesamt an 36 Künstler/innen verliehen. Eine Überprüfung ergibt, dass Rabenstein, wie in ihrem Vorwort angekündigt, alle ins Lexikon aufgenommen hat.

Die Ausgeklammerten/ Negativlisten

Erst Negativlisten machen indirekt qualitative Bewertungen sichtbar. Selbstverständlich muss aus einer Vielzahl von Künstlern und kunstbeflissenen Hobbykünstlern eine Auswahl getroffen werden. Die Teilnehmerlisten aktiver Mitglieder zu den Jahresausstellungen des Passauer Kunstvereins  erweisen, wie notwendig es ist, eine relativ strikte Auswahl zu treffen. Sonst müsste man ein biografisches Lexikon über die Maßen aufblähen. Aber gerade deshalb wäre es unbedingt erforderlich, Kriterien zu nennen, mit denen die feinen Unterschiede begründet werden. Von den Passauer Malern, Grafikern, Zeichnern und Objektkünstlern  schließt sie zum Beispiel aus:  Alexander Glas, Andreas Heckmann, Fritz Klier, Angelika von Krieglstein-Bender, Reinhard Mader, Doris Miedl-Pisecky, Alf Mintzel, Gabor Pavluk, Alois Riedl, Eva Schmidt-Gyurak. Welche Kriterien und Maßstäbe sind es, die Rabensteins  Ausgrenzungen rechtfertigen könnten? Die Autorin bleibt sie schuldig. Hierdurch wird wiederum der Eindruck eines methodisch unkontrollierten Verfahrens verstärkt. Aufnahmewürdig ist, wen sie kraft ihrer beanspruchten Kompetenz als Kulturredakteurin und journalistische Beobachterin für aufnahmewürdig hält. Sie legt darüber keine Rechenschaft ab. Geradezu unverzeihlich ist, dass Rabenstein einen satirisch so bissigen wie im Strich schmissigen Zeichner wie Fritz Klier nicht für aufnahmewürdig befunden hat. Den oberösterreichischen Maler Alois Riedl nicht aufgenommen zu haben,  obwohl er als Künstler und Nachbar seit Jahrzehnten aufs Engste mit Passau verbunden ist, spricht gegen die Urteilskraft der Journalistin.

Völlig unverständlich ist auch die Ausgrenzung Dr. Wilfried Hartlebs. Der Kreisheimatpfleger (1990-2001) und Kulturreferent (2001-2016) des Landkreises Passau bereicherte in diesen Ämtern das kulturell Leben initiativreich organisatorisch und publizistisch. Er förderte als Kulturreferent Ausstellungen in der Landkreisgalerie Neuburg am Inn, begleitete die Restaurierungsarbeiten am Schloss Neuburg und veröffentlichte zahlreiche Schriften zu kulturellen Themen des Landkreises und der Region. Hartleb war, um die unscharfen Sammelbegriffe zu benutzen, sicher kein Künstler, aber ein produktiver Kulturschaffender. Warum nahm Rabenstein ihn nicht in ihr Lexikon auf? Die Frage stellt sich auch im Blick auf den Fotografen Franz Hintermann aus Waldkirchen. Rabenstein nimmt 27 Fotografen auf. Franz Hintermann fehlt. Welche Kriterien sind es, die ihn als nicht aufnahmewürdig erscheinen lassen?

Andere Ungereimtheiten. Es gibt noch eine besondere Variante der Ausklammerung, nämlich die von Künstlerehepartnern. Rabenstein nimmt den Projektkünstler Bernhard Lutzenberger und seine Ehefrau, die Textilkünstlerin Susanne Lutzenberger, ins Lexikon auf, während sie die Ehefrau von Oswald Miedl, die oberösterreichische Malerin Doris Miedl-Pisecky, aussperrt. Letztere stellen als Künstlerehepaar ihre Werke über Jahre auch in Passau aus, beide sind aktive Mitglieder des Passauer Kunstvereins. Beim Künstlerehepaar Annerose und Alois Riedl verfährt Rabenstein umgkehrt. Annerose Riedl ist drin, ihr überregional bekannter Ehemann bleibt ausgeschlossen. Aus welchen Gründen? Seine oberösterreichische Herkunft kann und darf wohl nicht der Grund sein.

Kunsthandwerker, was unterscheidet sie von Künstlern und Kulturschaffenden?

Rabenstein betont ausdrücklich, Kunsthandwerker nur ausnahmsweise berücksichtigt zu haben, ohne Kriterien zu nennen, welche diese nach ihrer Meinung oder nach allgemeinen kunsttheoretischen Gesichtspunkten von Künstlern und Kulturschaffenden unterscheiden lassen. Um zu ermitteln, wer die wenigen Ausnahmen sind, müsste der Benutzer alle Kurzbiografien nach Berufsangaben absuchen. Unternimmt man die Suchaktion in systematischer Weise, dann kommt man wiederum zu dem Ergebnis, dass in der Auswahl eine gewisse Beliebigkeit herrscht.

Rabenstein nennt im biografischen Teil des Lexikons folgende Kunsthandwerker, die relativ unstrittig als solche angesehen werden können (in Klammern die jeweilige Anzahl): Keramiker/-innen (4), Steinmetze (3), Elfenbeinschnitzer (1), Graveure (3), Goldschmiede (5), Lithografen/Buchdrucker/Typografen(7), Kostümbildnerin(1), Stuckateure (10), Kunstschmiede (4), Glasermeister/Glasveredler (2), Intrumentenbauer (1), Gemmenschneider (1), Tapissier (1), insgesamt also 43 Personen. Zählt man die Fälle hinzu, von denen nicht ganz klar ist, welcher Kategorie Rabenstein sie zurechnet, die aber dem Kunsthandwerk zugeordnet werden könnten (zum Beispiel die Textilkünstlerin Susanna Lutzenberger), dann steigt die Zahl der Kunsthandwerker erheblich an. Es dürften an die 60 und sogar mehr sein. Von wenigen Ausnahmen kann folglich keine Rede sein.

Rabensteins Absichtserklärung (S. 7), ausgerechnet Kunsthandwerker aus ihrem Lexikon auszuklammern, ist auch deshalb unverständlich, weil die Barockstadt ihre architektonische und bildnerische Schönheit gerade Kunsthandwerkern und italienischen Baumeistern verdankt. Die kulturelle Geschichte der Stadt ist ohne ihre vielen (Kunst-)Handwerker nicht zu denken. Die Autorin nimmt allerdings im biografischen Teil ihre Absichtserkärung zurück und erweist über die oben genannte Zahl hinaus den vielen italienischstämmigen Kunsthandwerkern, Architekten und Baumeistern ihre biografische Referenz.

Fazit

Das alphabetisch ineinander doppelt verwobene Ordnungsprinzip, der weit gesteckte zeitliche Rahmen  und die das gesamte Lexikon sekundär ordnenden Sammelbegriffe Künstler/-innen, Kulturschaffende und Kunsthandwerker sowie die Zuordnung auch entferntester  künstlerischer Beziehungen ermöglichen es der Autorin, eine eindrucksvolle Schar von Persönlichkeiten in ihrem Lexikon der Tausend zu versammeln. Der Benutzer wird mit vielen interessanten Lebensläufen und Karrieren bekannt gemacht. Längst vergessene Persönlichkeiten, die einstmals Rang und Namen hatten, werden in Erinnerung gerufen. Ein alphabetisch geordneter Reigen von  kleinen und großen Geistern zieht in den Kostümen seiner Zeit vorüber. Manche Biografie weckt nostalgische Gefühle. Viele Abbildungen (Kupferstiche, Selbstporträts, Fotos) bringen die in den Rabensteinschen Olymp Aufgenommenen optisch näher. Leider fehlt eine beträchtliche Zahl von Konterfeis, und dies gerade auch von noch lebenden Kunst- und Kulturschaffenden. Die Aufnahme auch von solchen, die niemals ihren Fuß auf Passauer Boden setzten oder auf der Durchreise nur kurze Zeit in Passau weilten,  geht allerdings in einigen Fällen über ein noch sinnvolles Maß hinaus (siehe zum Beispiel Paul Koch, Ignaz Spörrer). Sie nehmen anderen, nicht berücksichtigten Persönlichkeiten den Platz weg, den diese möglicherweise verdient hätten.

Dem Lexikon wäre es gut bekommen, wenn ihm eine kurze methodische Einführung vorangestellt worden wäre, um Zuordnungen, Ausklammerungen und auch Fehlanzeigen zu begründen und verständlich zu machen. Rabenstein setzt sich in ihrem Vorwort mit ihrem begrifflichen Instrumentarium und seinen methodischen Problemen und Konsequenzen nicht auseinander. Das Vorwort spricht die selektiven Probleme, soweit sie überhaupt thematisiert werden, zu pauschal und undifferenziert an. Kunst- und kulturhistorische Kontexte werden innerhalb der Kurzbiografien zwar sichtbar gemacht, was aber nur sehr beschränkt möglich ist. Wer den Namen einer gesuchten Person kennt, wird über die alphabetische Ordnung rasch fündig. Wer aber eine ihm unbekannte Personen aus dem kulturellen Leben Passaus erst ausfindig machen will, muss geduldig Berufsbezeichnungen absuchen. Es bleibt bei der „Unterwerfung unter die strikten Regeln des Alphabets“ (S. 7), bei einem alphabetisch sortierten biografischen, auf Einzelpersonen zugeschnittenen digitalen Riesenzettelkasten. Die Autorin dokumentiert in dieser Form, „welch hohes künstlerisches Potential in der Dreiflüssestadt vorhanden war und ist“(S. 7). Sollte es zu einer zweiten Auflage kommen, müsste das Lexikon umfänglich überarbeitet werden.

Zwei Nachträge zur Bibliografie des Lexikons

Alf Mintzel: Zwei Ausstellungen zum 60. Geburtstag Oswald Miedls. Bewegte Formationen, Kraftströme und Licht – Dazwischen. In: Universität Passau. Nachrichten und Berichte Nr. 104, Juni 2000, S. 21-23.

Alf Mintzel: “Europa Sacrale”. Über Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Religion am Beispiel der “44. Festspiele Europäische Wochen Passau. In: Richard Faber und Volkhard Krech (Hrsg. ): Kunst und Religion im 20. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 227-258.

62. Der Schrei im Alptraum, Studenten-Ghetto Passau, der Untergang

Der Schrei

Ich schreie auf. Der Schrei kommt aus tiefster Kehle. Ich wälze mich im Bett hin und her. Hin zur Schrankseite, her zum Fenster, wo das erste Morgenlicht sich hereintastet. Ich hole mit meinem rechten Arm weit aus und schlage zu. Das Phantom weicht nicht. Ich schreie. Das Phantom bedroht mich. Ich brülle es an. Es kommt nah an mich heran. Ich schreie vor Angst in den stillen Frühmorgen hinein. Meine Frau legt ihre Hand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen. Im Halbschlaf träume ich weiter. Das Phantom verschwindet.

Wer war das Phantom? Ich hatte schon längere Zeit keine Alpträume mehr. Doch jetzt scheinen sie mich wieder heimzusuchen. Was ist der Anlass?

Ich wache auf. Der Schrei verhallt in meinen Ohren. Ich höre ihn noch, bin ganz benommen von diesem Urschrei der Angst. Die Morgendämmerung weicht dem sonnigen Tag. Ich bleibe noch eine Weile liegen und sinniere.  Was mag der Traum bedeuten? Was sagt er mir?

Das Phantom, eine fast gestaltlose Masse, war aus einem eingenebelten Raum entstiegen und auf mich zu gewabert, als wolle es nach mir greifen. Der Vorgang erinnerte mich an den Horror-Spielfilm „The Fog“. Schiffbrüchige, die das Ufer erreicht hatten, dort aber von Küstenbewohnern erschlagen und ausgeraubt worden waren, kamen später als Wiedergänger aus einer Nebelwand heraus, um sich an den Frevlern zu rächen. Es war eine wallende Wand des Grauens, aus der die Wiedergänger hervortraten und sich über die Mörder von damals hermachten. War das Phantom womöglich ein Wiedergänger, der mich verfolgt? Das Grauen ist allgegenwärtig.

Mein Alptraum schreckte mich am Morgen des 30. Januar auf, am Tage der nationalsozialistischen Machtergreifung (1933). Seit ich zu einem politisch interessierten und engagierten Staatsbürger geworden war, seit Anfang der 1960er Jahre (siehe Blog-Kap. 13-15), meldet sich dieser Tag in meinem Hirn. Am 27. Januar 1945 war Auschwitz-Birkenau von Kampfeinheiten der Roten Armee befreit worden. Mehr als eine Million Menschen hatten die Nazis in diesem Lager ermordet. Fernsehdokumentationen, Zeitungsreportagen und Radioprogramm hatten in den letzten Tagen dieses grauenhafte Morden eindringlich in Erinnerung gerufen. Entsetzliche Szenen: ausgemergelte Opfer, Leichenberge, industrielle Vernichtung! Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, kämen sie  am Tage des Zorns als Wiedergänger  zurück, hallten millionenfache Schreie  aus den Nebelwänden. Ob diese Tagesthemen wirklich meinen Alptraum hervorriefen? Sich zu einem bedrohlichen Phantom verdichteten?  Diese Ad hoc-Deutung halte ich für zu gewagt. Nein, ich glaube nicht, dass sie einen Schlüssel liefert.

Am Lehrstuhl

Ich hatte an diesem Morgen noch einen anderen Traum, der mich luzide an meinen Passauer Lehrstuhl zurückholte. Beide  Träume scheinen nichts miteinander zu tun zu haben. War der zweite der erste? Oder umgekehrt? Wie Überblendungen von Filmabschnitten gingen sie ineinander über.

Szenenwechsel. Mein ehemaliges Dienstzimmer taucht auf und gewinnt an optischer Schärfe und szenischer Bestimmtheit. Der Raum und die Dinge erscheinen vor meinen Augen, so wie sie damals gewesen waren, bevor das Haus abgerissen wurde: mein Schreibtisch, meine Couch und davor der niedrige Beistelltisch, ein Sessel, zwei Bücherregale an der Wand, zwei Fester, eines mit Blick auf die Promenade am Inn, das andere mit Blick aufs nächststehende Haus, die Türe zum Vorraum – alles in der räumlichen Größe und Ordnung  von damals. Alles steht an seinem alten Platz. Die Wände sind weiß, die Vorhänge hellbeigefarben, die Bezüge des Sitzmobiliars in einem fleckenlosen Hellgrau. Aber was ist anders im Traum? Was ist ungewöhnlich?

Der für den Gebäudekomplex zuständige Hausmeister steht in meinem Dienstzimmer und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Er wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Seine Miene und seine Stimme verraten, dass er mit mir eine ihm sehr unangenehme Angelegenheit besprechen will.

„So geht es doch nicht weiter“, sagt er. „So kann es nicht weitergehen!“ betont er. „Die Reinigungskraft kann nicht mehr saubermachen. Sie kann nicht mehr den Boden saugen. Überall liegt etwas herum.“  Ohne Gefahr zu stolpern sei der Raum nicht mehr begehbar. Ich müsse die Dinge wegräumen, sonst sähe er sich gezwungen, die Universitätsverwaltung auf die Zustände aufmerksam zu machen. „Die Putzfrau beklagt sich“, wiederholt er, „den Raum nicht mehr reinigen zu können.“ Ein zweiter Angestellter der Universität tritt hinzu und notiert in einem kleinen Schreibblock die beanstandeten Zustände in meinem Arbeitszimmer. Eine Szene wie in Donna Leons Venedig-Krimis, Commissario Brunetti schaut sich mit prüfendem Blick um, der Sergente notiert, was gesprochen und bemängelt wird.

Konzeptkunst und Raumgestaltung

Auf der Diagonale von der einen zur anderen Zimmerecke liegen länglich aufgereiht zahlreiche Dinge: karminrote Backsteine, kleine Granitblöcke, Pappschachteln, Blechdosen, Kistchen, Holzklötze, Plastikbehälter und andere Materialien. Ihre diagonale Anordnung verläuft aus der Ecke über den Couch-Tisch hinweg, an meinem Schreibtisch vorbei, hin zum Regal, wo sie endet.  Ein kurioses Ensemble verschiedener Dinge, die eine Schlange quer durch den Raum bilden. Jede Besucherin und jeder Besucher muss vor dieser Barriere Halt machen und darüber hinwegsteigen. Die Kette der Dinge bildet eine Scheidelinie. Wer sie überschreitet, kommt mir nahe, womöglich zu nahe. Die aufgereihten Dinge trennen mein Arbeitszimmer  in einen Raum davor und in einen dahinter. Der Hausmeister steht noch immer an die Wand gelehnt im Raum. Verzweifelt versucht er mich zur Einsicht zu bringen, dass die Dinge nicht liegenbleiben dürfen. Es müsse wieder Ordnung hergestellt werden, wegen der Putzfrau. Ich habe ihm bisher geduldig zugehört und nichts  über den Sinn der Raumgestaltung gesagt.

Sein Hinweis auf die Reinigungsfrau lockt mich aus der Reserve. Ich erwidere: „Wenn Sie sich bei der Universitätsverwaltung beklagen und auf eine Beseitigung meines Arrangements dringen, machen Sie sich lächerlich. Sie geben Ihren Unverstand zu erkennen, wenn Sie wegen der Raumpflege den Abbau der Elemente fordern.“ Ich erkläre ihm, meine Raumgestaltung sei eine künstlerische Arbeit, ein Beispiel zeitgenössischen Kunstschaffens. Es handle sich um Konzeptkunst. Er werde für einen Spießer gehalten, der nichts von Kunst verstünde. Mir ist allerdings bei meiner besserwisserischen Art der Aufklärung nicht ganz wohl. Ich schmunzle, denn ich weiß, dass auch gebildete Betrachter und Kunstkenner oft ratlos vor Produkten der Konzeptkunst stehen, man denke nur an Arbeiten von Marcel Duchamp (1887-1968) und Joseph Beuys (1921-1986). Der Hausmeister hatte sich mit keinem Wort über das Arrangement und meine Raumgestaltung geäußert, sondern nur darauf gedrängt, die Barriere zu beseitigen, um die Raumpflege zu ermöglichen. Nach meiner Belehrung  verlässt er beträufelt und zerknirscht mein  Arbeitszimmer. Damit endet mein Traum.

Klar: Er hatte das, was ich als künstlerische Arbeit betrachtet haben wollte, allein unter Gesichtspunkten amtlicher Raumpflege gesehen. Wo und wie kann ungehindert gesaugt, gewischt, poliert und entsorgt werden. Außerdem ging es um Reinigungsarbeiten in den Räumen des Lehrstuhls für Soziologie, nicht um Werkräume des Lehrstuhls für Kunstpädagogik und ästhetische Erziehung. Der Hausmeister hätte ja seine Vorwürfe auch damit begründen können. Aber selbst dort gab es keine künstlerischen  Miniatursperren diagonal durch Arbeitsräume.  Dieses Traumfragment erinnerte mich an die Geschichte mit dem  Exponat eines Butterstücks, das Joseph Beuys in einer Ecke deponiert hatte. Eine Putzfrau entsorgte es bei ihrer nächtlichen Reinigungsarbeit. Meine „Konzeptkunst“ – ich grinse – war in der Universität Passau unter den Diensträumen ein Alleinstellungsmerkmal.

Im „Ghetto

Etwa ein Dutzend kleiner Häuser, die um einen großen, rechteckigen Platz blockförmig gereiht waren, hatten bis Anfang der 2000er Jahre als provisorische Unterkünfte für wissenschaftliches Personal und Studierende gedient. Auch ganze Studienfächer und ihre Professuren hatten mit diesen Provisorien vorliebnehmen müssen, bis zum Schluss (2000) auch das Fach Soziologie.  Der ganze Häuserkomplex, die ehemalige Maierhof-Kaserne, hatte früher als Quartier für eine Garnison gedient. Ich hatte in einem dieser Gebäude im zweiten Stock residiert. Dem Lehrstuhl für Soziologie waren 1981 eine Offizierswohnung und auf gleicher Ebene nebenan eine Unteroffizierswohnung zugewiesen worden. Der Häusertrakt, in dem die Soziologie untergebracht worden war, lag zum Inn hin. Ich genoss eine idyllische Aussicht auf den von hohen Bäumen und Buschwerk gesäumten Fluss und die grünen Hänge der österreichischen Seite. Hinter dem Wohnblock hatten die Bewohner kleine Gemüse- und Blumenbeete angelegt.  Das Provisorium hatte seinen ganz besonderen Charme, und das sahen so fast alle studentischen Bewohner, wissenschaftlichen Mitarbeiter und Kollegen.

Aus der ehemaligen Kaserne war auf studentische Initiative hin ein „Studenten-Ghetto“ geworden, kurzerhand „das Ghetto“ genannt. Niemand schien sich an dieser politisch-historisch hochbelasteten  Bezeichnung gestört zu haben. Das Ghetto zählte an die 150 Bewohner. Der Gebäudekomplex sollte nach den Plänen der Universitätsleitung und der Stadtverwaltung abgerissen werden und auf seinem Baugrund eine große Sportanlage entstehen. Die Studenten wollten die angebotene Zwischennutzung auf Dauer stellen, was zu scharfen Konflikten mit der Universitätsleitung führte. Im Endstadium der Auseinandersetzungen holte die Universitätsleitung zur Durchsetzung des Abrisses sogar Polizei zur Hilfe. Die Konfrontationen brachten aus studentischer Sicht kleine Heldinnen und Helden hervor, zum Beispiel den Hans Langmeier, der bis zum Schluss gegen den Abriss kämpfte. Die Vorgänge erinnerten mich lebhaft an die gefürchteten Berliner APO-Verhältnisse. Es war ein Nachklang der Studentenbewegung mit Passauer Kolorit.

Im Studenten-Ghetto hatte sich ein reges Sozialleben entwickelt. Es wurde vom Frühling bis zum Herbst im Freien rund um den zentralen Platz viel gefeiert und in den kleinen ehemaligen Militärunterkünften ein alternativ-romantisches Leben geführt, Kinder geboren und aufgezogen. Studentinnen sonnten sich barbusig unter meinem Fenster. Farbige Graffitis zierten die schmuddeligen grüngrauen Hauswände. Passauer Bürger beobachteten das Treiben mit Argwohn und Abscheu. Ich höre noch eine Putzfrau, als sie zum Reinemachen ins Ghetto kam, sagen: „Pfui  Teufel, diese Weiber!“ Im niederbayerischen Dialekt hörte sich die Abscheu noch zweimal drastischer an. In Passau war man zu dieser Zeit noch nicht an so viel Freizügigkeit gewöhnt. Nach zwanzig Jahren Berliner Universitätsleben (1961–1981) amüsierte mich das bunte Treiben in der gegenkulturellen Enklave am Inn. Die studentischen Bewohner initiierten und organisierten Lesungen, Kunstausstellungen, Partys und im Gang der Entwicklungen den Widerstand gegen die Pläne der Universität. Sie wollten das Ghetto als selbstverwaltetes Wohn- und Kulturprojekt erhalten.

Meine geheime Sammlung auf dem Dachboden

Es gab im Hause des Lehrstuhls einen geheimen Raum, in dem ich zahlreiche Objekte versteckt hielt, um sie gelegentlich in Konzeptkunst, Arte povera oder in Installationen zu verwandeln. In der Lebens- und Arbeitswelt des Ghettos fiel nicht besonders auf, was ich so nebenbei zusammentrug und sammelte. Mein Sammellager befand sich über  dem Lehrstuhl  auf dem Dachboden. Die Dachstühle waren vor dem Einzug von Funktionseinheiten der Universität in den Gebäudekomplex geleert und abgesperrt worden. Solche leeren Räume zogen mich unwiderstehlich an. Als das Ghetto im Zuge des Ausbaus der Universität in Etappen häuserblockweise platt gemacht wurde, bot sich für mich geradezu an, aus den Schuttbergen wunderbare Dinge zu bergen. Nach jedem Abriss inspizierte ich die Schutthaufen nach Relikten aus der bewohnten Zeit, nach zerbrochenen Baumaterialien  und Architekturresten.  Ich nutzte freie Stunden und Abende, um  meine Fundsachen unbemerkt auf den Dachboden zu schleppen. Es gab für mich nichts Schöneres als ihn mit Dingen zu füllen. Ich wurde ein Schrott-Messie-Monster, das auf dem Dachstuhl hauste und dort seine Schätze hütete.

Darunter sind lange Zinkblechteile, die vom einstürzenden Mauerwerk zerbeult und zu gotischen Faltenwürfen geformt worden waren. Ich bin geradezu versessen auf diese Faltenwürfe, die sich wunderbar aufstellen lassen.

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Aus den Schutthalden ragt Eisengestänge, das zu kleinen skulpturalen Gebilden zusammengebogen werden könnte. Im Schutt der Hauseingänge sind noch metallene Verteiler- und Schaltkästen für die elektrischen Leitungen zu finden. An ihnen hängen noch Drähte wie Haarsträhnen um ein kantiges Haupt. Die offenen Kästen wirken wie Grimassen verrückter Köpfe. Ich assoziiere  Porträtbüsten von Hochschulprofessoren.

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Also ab in mein Versteck auf dem Dachboden! Drahtspiralen, zerbrochene Rohrleitungen, Ziegelsteinbruchstücke, verwitterte Backsteine, ich hole sie aus ihrem Schrott-Dasein heraus und lege sie auf dem Dachboden aus. Ich beginne zwischendurch Farben und Pinsel, Bürsten und Feilen für die Bearbeitung meiner Fundstücke bereitzustellen. Nach jedem Gang sperre ich wieder zu. Der Hausmeister ist mit anderen Dingen voll beschäftigt, er hat, so glaube ich, meine Schatzkammer nicht entdeckt. Sonst hätte er wohl, wie ich es in meinem Traum erlebt habe, mich aufgefordert, den „Schrott“ wegzuräumen und den Schlüssel abzugeben.

Es gab am Lehrstuhl, genau beobachtet, zwei Messis namens Mintzel, das Papier-Messie-Monster und das Schrott-Messie-Monster. Das erstere konnte jeder sehen, der durch die Diensträume ging, das letztere blieb bis zum Untergang des Ghettos vor den Augen der anderen verborgen. Als die letzten Tage des Ghettos gekommen waren, stellte die Universitätsleitung einen Sieben-Tonnen-Container zur Entsorgung meiner Papierberge vor die Haustüre. Was ich in den fast zwanzig Jahren meiner Passauer Dienstzeit an Korrespondenzen, Aufsätzen, diversen fachwissenschaftlichen Zeitschriften, Sonderdrucken, Zeitungsausschnitten, Lehrmitteln, Textentwürfen, Kopien, Broschüren, Plakaten, Dokumentationen und anderen Papier-Materialien gesammelt und aufbewahrt hatte, musste in kurzer Zeit entsorgt werden. Ich hatte auch alle handschriftlichen Fassungen meiner wissenschaftlichen Texte aufgehoben. Ein Großteil der Papiermassen stammte aus der vordigitalen Zeit (siehe Blog-Kapitel 57: Mein digitaler  Weitsprung in das 21. Jahrhundert). Der Container war im Nu mit  sieben Tonnen „Altpapier“ bis zum Rand gefüllt. Später hörte ich, dass auch an anderen Lehrstühlen Messie-Symptome aufgetreten waren. Ehefrauen von Kollegen sollen hinter vorgehaltener Hand eingestanden haben, zu Hause die Arbeitszimmer ihrer gelehrten Männer heimlich stückweise entleert zu haben.

Der Untergang des Ghettos und mein dreifacher Abschied

Es waren also drei Ereignisse zusammengekommen: meine amtliche Verabschiedung in den Ruhestand, die Riesen-Entsorgungsaktion am Lehrstuhl und der Untergang des Ghettos, in welchem meine Arbeitsstätte gelegen hatte. Kurz vor der finalen Bagger- und Abrissbirnen-Attacke war ich mit meiner Familie in unser Schweizer Domizil gefahren.  Als ich zurückkam, lag das ganze ehemalige Ghetto in Trümmern. Alles, was ich noch nicht abtransportiert hatte, war vernichtet worden. Sie mussten beim letzten Begehen der Dachböden meinen Schatz entdeckt haben und höchst verwundert gewesen sein. Alles war weg. Ich stand wehmütig und erschrocken vor dem Trümmerfeld. Es sah aus, als wäre das Areal bei einem Luftangriff der US Air Force durch Sprengbomben dem Boden gleichgemacht worden. Das Papier-Messie- und das Schrott-Messie-Monster Mintzel  trauerten um ihre Schätze. „Höhere Gewalt“ hatte ihrem Treiben ein Ende gesetzt –  zumindest an diesem Platz.  Auf dem Dachboden unseres Passauer Wohnhauses konnte ich meiner Leidenschaft weiter frönen. Ich habe noch Material für viele Jahre, um  Geheimnisse zu lüften.

Der närrische Beuys hätte mit meinen Materialien die zeitgenössische Kunstgeschichte auf einen zweiten Höhepunkt, wenn nicht gar zum Wahnsinn gebracht. „Der Narr“ aus dem Ghetto sollte hingegen nicht einmal die Ehre haben, von der Passauer Kunstpäpstin namens Dr. Edith Rabenstein unter die 1000 Köpfe der kulturellen Stadtgeschichte aufgenommen zu werden. Vielleicht war in meinem Alptraum diese wabernde Kulturredakteurin das Phantom, das mich ausgrenzen und vernichten wollte.

Zu Rabensteins Auswahl ehrwürdiger Köpfe ein paar kritische Anmerkungen: Rabenstein betreibt mit ihrem biografischen Lexikon allzu penetrant Hochstapelei, indem sie der kulturellen Stadtgeschichte bekannte Namen zuschreibt, die mit Passau selbst so gut wie nichts zutun hatten. Unter den in Rabensteins Olymp aufgenommenen KünstlerInnen und Kulturschaffenden der Gegenwart vermisst man dagegen eine Reihe bedeutender Namen. Unverzeihlich ist zum Beispiel, dass Rabenstein einen satirisch so bissigen wie im Strich schmissigen Zeichner wie Fritz Klier nicht für aufnahmewürdig befunden hat. Zurecht sind in einer Besprechung Nachträge eingefordert worden (vgl. PNP Nr. 297 vom 24.12.2019, S. 7).

Mein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Soziologie, Prof. Dr. Maurizio Bach, zog im Jahr 2000 bei seiner Dienstaufnahme nach einer kurzen Übergangszeit gleich in einen modernen Neubau ein, der frisch fertig gestellt worden war. Er betrat ein bestelltes Feld. Für ihn waren die Ghetto-Jahre der Soziologie, die mühsamen Jahre des Aufbaues und der Organisierung des Faches im Konzert der anderen Fachwissenschaften (siehe Blog-Kap. 22-25), eine Vorgeschichte, mit der er anscheinend nichts zu tun haben wollte. Mein dreifacher Abschied schien ihn nicht berührt zu haben. Der Untergang des Ghettos und meines Arbeitsplatzes waren für mich eine lebens- und berufsgeschichtlich tiefe Zäsur. Nichts erinnert heute mehr an die Ghetto-Jahre. Nicht einmal ich kann sagen, wo das Areal genau gelegen hat. Es war einmal…

59. Die große Exkulpation Gottes – Im Sinne der Anklage nicht schuldig

Theologie und Philosophie nach Auschwitz

Der Holocaust hat den Frage- und Antwort-Katalog der Theodizee (siehe Blog-Kapitel 58) radikal und dramatisch zugespitzt. Theologen und Philosophen haben sich nach Auschwitz mit der Rolle Gottes und des Bösen auseinandergesetzt und die gängigen Zuschreibungen göttlicher Eigenschaften (Allmacht, Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit, Liebe und Güte und andere) neu „evaluiert“. Jüdische und christliche Anwälte Gottes haben sämtliche Sophistik und Rabulistik daran gesetzt, in ihren Verteidigungsreden Gott zu entlasten und auf die Theodizee-Fragen überzeugende Antworten zu geben.(https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust-Theologie abgerufen am 04.05.2021)

Ich kann hier nur ansatzweise und äußerst selektiv auf die vielfältigen Darlegungen und Antworten verweisen und einzelne Antworten vorstellen. Alle Bemühungen, welcher Glaubenslehre sie auch folgen mögen, halten nach meiner Überzeugung  einer Überprüfung nicht wirklich stand. Alle laufen auf eine große Exkulpation Gottes hinaus. Es sei eben seine Göttlichkeit, wie immer sie beschrieben und geglaubt werde, die ihn einer Rechtfertigung vor dem Menschen enthebe. Er habe sich nicht schuldig gemacht, er könne für die Gräueltaten der Menschen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verteidiger Gottes ziehen alle Register der Gotteslehren, um ihn zu exkulpieren, von der klassischen der Droh- und Straftheologie bis hin zu einer Theologie der allgegenwärtigen Liebe Gottes, die auch Tyrannen und Verbrecher einbezieht. Hitler und Stalin als Werkzeuge Gottes, um sein Volk zum Glauben zurückzuführen? Der Holocaust als Menetekel Gottes?

Eine philosophische Verteidigung Gottes (Hans Jonas): Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein

Hans Jonas, ein jüdischer Philosoph und Autor, argumentiert in seinem Büchlein „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ (15. Auflage, 2016) so: „Dies ist nicht ein allmächtiger Gott. Wir können „die althergebrachte (mittelalterliche) Doktrin absoluter, unbegrenzter göttlicher Macht nicht aufrecht halten.“ S.33) „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, dass eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (…) total unverständlich wäre.“ (S.39).

Gott habe sich im Moment seines Schöpfungsaktes kraft eigener souveräner Vollmacht und eigener Autorität entschlossen, sich aus der von ihm eben geschaffenen Welt zurückzuziehen und der Welt freien Lauf zu lassen, der Natur ebenso wie dem Menschen. Gott habe sich in einer sich selbst auferlegten Selbstbeschränkung jeder Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben, was seine Ohnmacht gegenüber Naturgewalten ausmache. Mit dem Verzicht auf seine göttliche Macht habe er dem Menschen die Freiheit des Handelns gegeben und ihn damit ermächtigt, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden (S.42ff). Gott werde jedoch mit dem Entwicklungsgang von der mit seinem Schöpfungsakt entäußerten Welt „affiziert“, also rückwirkend beeinflusst, und dadurch selbst verändert und „verzeitlicht“. Gott sei ein werdender Gott (18ff, 27ff). Der Ewige wird durch die Verwirklichung des Weltprozesses fortschreitend anders. Mit der Evolution des Menschen werde aus ihm allmählich auch ein „sorgender Gott“, der allerdings kein Zauberer sei, der alles bewirken könne.

Im Weltentwicklungsprozess gäbe es weiterhin die anderen, aus dem Eigenlauf und der Eigenmacht (Freiheit) des Menschen erwachsenen Akteure, die sich gegen Gott wenden können und es auch tun. Gottes Macht sei durch sie begrenzt. Deren Existenz sowie deren Tun aus eigenem Recht und eigener Autorität erkenne Gott auf Grund seiner selbstgewählten Beschränkung nolens volens an (S.40).

Aus dem von Gott gewollten freien Weltentwicklungsprozess seien auch Nazis, Mörder, Henker, Despoten wie Hitler und Stalin und andere Gewaltverbrecher hervorgegangen. Gott habe ihrem Treiben nicht Einhalt gebieten können. „Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott (…), nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein“ (S.41).

Der „sorgende Gott“, soweit er sich schon entwickelt hatte, war auf Grund seiner Selbstknebelung zum Zuschauen gezwungen.  Zwar sei Gott „vom Augenblick der Schöpfung an, und gewiss von der Schöpfung des Menschen an“ ein „leidender Gott“ gewesen (S. 25). Aber er musste schweigen. Er konnte nicht anders.

Hans Jonas kommt in seinem mythologisch-poetischen Plädoyer zu folgendem Schluss:

Gott könne für Auschwitz und generell für alles Schreckliche und Entsetzliche, das Menschen anderen Menschen antun, für Leid und Unrecht, nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Gott wäre und sei noch immer ein „werdender Gott“, der sich im evolutiven Gang der Weltentwicklungsprozesse seiner eigenen Fesselung entledigen muss, um einschreiten zu können. Gott habe es durch seinen Verzicht auf Allmacht und durch seine Selbstbeschränkung allerdings ermöglicht, dass das Böse „aus dem Herzen der Menschen erwachsen“ ist (S. 43). Jonas plädiert für Freispruch.

Theologische Verteidigung: Hans Küng, katholischer Theologe

Hans Küng widerspricht in seinem Buch „Credo. Das apostolische Glaubensbekenntnis“ (1992) entschieden und lapidar der Behauptung, Gott sei nicht in Auschwitz gewesen. Er hält dagegen: „Übergroßes, unschuldiges, sinnlose Leid lässt sich – im individuellen wie im sozialen Bereich – nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen (…). Gott ist und bleibt den Menschen letztlich unbegreiflich, und doch ist dem Menschen die Möglichkeit geschenkt, diesem unbegreiflichen Gott statt Resignation oder Verzweiflung ein unerschütterliches, unbedingtes Vertrauen entgegen zu bringen.“

Küng exkulpiert den Allmächtigen mit dem Hinweis auf dessen Unergründlichkeit. Gott wisse, worum er was, wann und wie zulässt. Sinn und Zweck seines Handelns oder Nichthandelns entzögen sich menschlichem Verstehen. Die konkrete Frage, warum Gott in Auschwitz nicht eingegriffen und millionenfache Vergasung verhindert habe, könne nicht theoretisch beantwortet werden. Alle Versuche seien gescheitert, angesichts der Übel in der Welt den Allmächtigen und Allgütigen zu rechtfertigen. Das unlösbare Problem liefere für eine atheistische Position die stärksten Argumente gegen Gott. Aber keiner der großen Geister in Theologie und Philosophie habe das Urproblem gelöst. Der „Vermessenheit des Menschengeistes, ob sie nun im Kleide der theologischen Skepsis, der philosophischen Geschichtsphilosophie oder der trinitarischen Spekulation daherkommt“, könne nur mit einem absoluten Glauben an Gott begegnet und entgegnet werden. Küng greift auf die Ur-Figur Hiob zurück, auf den Archetypus des geschundenen und leidenden Menschen, auf den „Heimgesuchten“, der nichts Böses getan hat und dennoch von schlimmsten Übeln geplagt wird und deshalb mit seinem despotischen Gott hadert. Die Antwort schlechthin, so argumentiert Hans Küng, sei im Buch Hiob zu finden: „Ein grenzenloses Vertrauen auf einen unbegreiflichen Gott. Leiden und Hoffnung gehören zusammen, Hoffnung auf einen Gott, der sich trotz allem nicht als launisch-apathischer Willkürgott, sondern als Gott der rettenden Liebe zeigt.“

Jesus habe die furchtbare Erfahrung der Opfer des Holocaust vorweggenommen, jene Erfahrung, dass man von allen Menschen verlassen werden kann, dass man sogar des Menschseins verlustig gehen kann, dass man von Gott selbst aufgegeben werden kann.“ Wer den Glauben aufgäbe, Gott sei allmächtig, gut und gerecht, habe es nicht mehr mit Gott zu tun.

Hans Küngs theologische Hilflosigkeit und inhumane Antwort

Küngs Rückgriff auf das Buch Hiob verrät seine theologische Hilflosigkeit. Ich sehe in der Hiob-Erzählung ein Ur-Muster menschlicher Selbstdemütigung und Unterwürfigkeit. Der Gottesknecht Hiob lässt sich alles gefallen. „Siehe, ich bin zu leichtfertig gewesen, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen. Ich habe einmal geredet, und will nicht antworten; zum andermal will ich´s nicht mehr tun“ (Hiob 40: 4, 5). Der geknechtete Untertan gelobt künftighin den Mund zu halten, zu schweigen, weil ihm vorgegeben und eingebläut wird, es fehle ihm die Einsicht in Sinn und Zweck von Gottes Handeln. Hiob versucht seinen Peiniger zu beschwichtigen, indem er eingesteht, verantwortungslos gehandelt zu haben. Das gefällt dem tyrannischen Gott. Er tritt in seiner „zweiten Rede (…)  aus dem Wetter“ hervor und prahlt selbstgefällig und großspurig mit seiner Macht (Hiob 40: 6-32; 41,1-6).  Er gibt großmäulig an, was er mit seiner Allmacht alles bewirken könne. Hiob duckt sich und stammelt: „Ich erkenne, dass du alles vermagst und nichts, was du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. Wer ist der der den Ratschluss verhüllt mit Unverstand? Darum bekenne ich, dass ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe“ (Hiob 42, 2,3).  Der theologische Ratschlag lautet: Nimm Pein und Qual und alle Übel als gottgewollte und gottgegebene Prüfung an, auch wenn du Gottes Gründe nicht erkennen, geschweige denn verstehen kannst. Füge dich in das Leid, das der Allmächtige über dich gebracht hat. Verliere nicht deinen Glauben an seine Allmacht, Weisheit und Güte. Es ist ein liebender Gott, der es letztendlich mit den „Heimgesuchten“ gut meint. Die zynische Formel für diese überlieferte Handlungsanweisung lautet: „Was Gott tut, das ist wohlgetan, der Name des Herrn sei gelobt.“

In der biblischen Hiob-Erzählung ist es ohne Zweifel Gott, der seinen Kumpan, den Teufel, anstachelt, seinem frommen Knecht Hiob die übelsten Leiden zuzufügen. Gott höchst persönlich ist es, der den Teufel beauftragt, Hiob bis aufs But zu piesacken. Gott ist folglich der Grund allen Übels und Leidens. Hans Küngs Versuch, Gott zu exkulpieren, führt zurück in eine archaische Zeit.

Angesichts der ungeheuerlichen technischen Gewalt– und Zerstörungspotentiale, die der Mensch entwickelt hat, angesichts des industriell organisierten Holocausts, des Bombenterrors im Zweiten Weltkrieg, der Massenvernichtung in Josef Stalins Lagern und der sich weiterdrehenden Spirale menschlicher Gewalttätigkeit mag die sogenannte Hiob-Antwort auf den Sinn von Leid und Übel in Gottes Schöpfungswerk nicht mehr überzeugen. Im Gegenteil: Die Hiob-Antwort ist höchst suspekt geworden. Eine weltimmanente Deutung erlaubt heute eine ganz andere Lesart der Hiob-Erzählung. Gott muss, wenn wir die „Hiobsbotschaften“ und deren theologische Auslegungen zu Ende denken, ein blutrünstiges Monster sein oder ein Sadomasochist schlimmster Art. Er befriedigt seine selbstgefälligen Bedürfnisse, indem er den Menschen Schläge und Grausamkeiten zufügt. Er stachelt sie perfide auf, sich von ihm loszusagen, um sie mit jeder seiner weiteren Strafaktion umso schlimmer malträtieren zu können. Der himmlische Despot quält gerade diejenigen, die sich ihm ganz und gar gottgefällig unterwerfen. Er sendet ihnen die widerwärtigsten Übel, treibt sie in Verzweiflung, versetzt sie in Angst und Schrecken, schickt ihre Kinder und Kindeskinder in den Tod. Der monströse Despot scheut kein Mittel, den Menschen, seine Kreatur, zu peinigen und zu demütigen. Und dies alles, um seine absolute Macht zu demonstrieren. Hans Küngs fundamentaler Rückgriff auf Hiob ist inhuman, denn er transportiert damit eine despotische Botschaft der unbedingten Unterwerfung unter die Gewaltherrschaft eines Psychopaten. Ein Despot unterwirft in seiner angemaßten Allmacht seine Untertanen. Mit Mitteln der Willkürherrschaft macht er seine Untertanen zu gefügigen Helfern, um seine Machtposition aufrechtzuerhalten. Das ist die Botschaft: Wer sich unterwirft, nicht viel fragt, den Mund hält und sich mit den beklagenswerten Übeln abfindet, den belohnt Gott. Er ist ein Konstrukt des absoluten altorientalischen Herrschers. “Wehe den Gottlosen! Denn sie haben es übel, und es wird ihnen vergolten werden, wie sie es verdienen“ (Jesaja 3, 11). Und auch der Christengott bestraft und belohnt: „Und sie werden in die Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Matthäus, 25:40). Torturen zu ertragen, sich zu unterwerfen und trotz aller erlittenen Qualen und Ungerechtigkeiten glaubensfest zu bleiben, das lohnt sich also.

Der Allmächtige müsse sich nicht rechtfertigen. Sein Handeln und Nichthandeln seien durch seine Allmacht, seine Weisheit und sein Allwissen gerechtfertigt. Kein Mensch sei befähigt und dürfe es wagen, Gott zur Rechenschaft zu ziehen. Das sei wider das Geheimnis Gottes und Gotteslästerung. Vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte Anklage gegen Gott zu erheben (siehe Kapitel 58), sei eine unerhörte Anmaßung. Es sei allein der Mensch, der sein Handeln und Nichthandeln vor Gott rechtfertigen muss.

Die Jeremias-Antwort

Die Klagelieder Jeremias 3: 42-47): „Wir haben gesündigt und / sind ungehorsam gewesen, darum hast / Du billig nicht verschont; / sondern du hast uns mit Zorn / überschüttet und verfolgt und ohne / Barmherzigkeit erwürgt / Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, / dass kein Gebet hindurch konnte. / Du hast uns zu Kot und Unflat / gemacht unter den Völkern. / Alle unsere Feinde sperren ihr / Maul auf wider uns. / Wir werden gedrückt und geplagt / mit Schrecken und Angst.“ // (5: 22): Denn du hast uns verworfen / und bist allzu sehr über uns erzürnt.“

„Und der Herr sprach zu mir [Jeremias]: / Und wenngleich Mose und Samuel / vor mir stünden / so habe ich doch kein / Herz zu diesem Volk; treibe sie weg / von mir und lasse sie hinfahren. / Und wenn sie zu dir sagen: wo / sollen wir hin? So sprich zu ihnen: So / spricht der Herr: Wen der Tod trifft, / den treffe er; wen das Schwert trifft, / den treffe es / wen der Hunger trifft, den treffe er; wen das Gefängnis trifft, / den treffe es. / Denn ich will sie heimsuchen mit / vielerlei Plagen spricht der Herr: / Mit dem Schwert, dass sie erwürgt / werden; mit Hunden, die sie schleifen / sollen; mit den Vögeln des Himmels / und mit den Tieren auf Erden, dass sie / gefressen und vertilgt werden sollen“ (Jeremias 15: 1-3).

Auch der Gott des Propheten Jeremias ist ein grausamer Gott, ein rächender Despot, ein Würger und Schlächter, der selbst vor einem Genozid nicht zurückschreckt. Was ist das für ein Gott, der sich hinter eine Wolke zurückzieht, sich unzugänglich macht und einen Genozid befiehlt? Wiederum eine theologische Exkulpation.

Die theologische Denkfiguren, die den „allmächtigen“ Schöpfer und Christengott der Verantwortung für die Untaten der Menschen entheben, sorgen dafür, dass in Gott kein Monster gesehen werden darf. Die Wahrheit einer Religion und göttlicher Allmacht darf, so die Amtskirchen, „nicht aufgrund des Verhaltens einzelner Gläubiger oder Glaubensgruppen beurteilt werden.“ Es gäbe den dramatischen Widerspruch zwischen Glauben und unserem Leben und Verhalten. Ein hochgestellter Gottesmann sieht heute das Problem so: „Wenn sich (…) die Religionen von den Ideologien verseuchen lassen, können sie Krieg oder Intoleranz verursachen. Aber Gott ist nicht der Polizist der Welt, sondern deren liebevoller Vater. Deshalb sollten sich alle religiösen Menschen an der Wahrheit Gottes messen und sich ständig von der Ideologie distanzieren. Religion und Krieg verbinden sich nur, wenn die Ideologie zum Parasiten der Religion wird.“

Der Allmachtsmonotheismus wird heute von seinen Vertretern schöngeredet, das Buch Hiob zu einem Frömmigkeitstest eines angeblich liebenden und sorgenden Gottes herabgestuft und der angeblich unbegreifliche Gott von jeder Verantwortung für das Leid freigesprochen, das er mit seiner Schöpfung in die Welt gebracht hat. Wer sich auf diese Gotteslehren einlässt, sieht sich am Ende um eine befriedigende kognitive Antwort betrogen.

Fazit

Meine Anstrengung war vergebens, in diesen Fragen, die gemeinhin als Theodizee bekannt sind, zu befriedigenden Antworten zu gelangen. Ich hatte, je tiefer ich mich mit diesen Fragen beschäftigte, den Eindruck, mich in zirkulare und gebetsmühlenartige Begründungen einzulassen. Ich sah mich mehr und mehr in traditionelle Argumentationsmuster verstrickt, die Pseudoerklärungen liefern und die sich dabei auf absolute religiöse Gewissheiten stützen. Meine Fragen und Überlegungen waren in der Welt des Götterglaubens und der Heilslehren befangen. Ich sah mich auf der falschen Spur der Erkenntnisgewinnung und wechselte zu einem hypothetischen Atheismus über und zu den wissenschaftlichen  Fragen und Forschungsergebnissen der evolutionären Anthropologie.

———————————————————————–Copyright für die Blog-Kapitel 58 (ausgenommen Charlie Hebdo, Numero Special /NR. 1224, 6. Januar 2016), 59 und 60, insbesondere für die Titelei, beim Verfasser und Künstler

61.Das Geheimnis der Artemis – Kunsttheoretische Überlegungen

(Aus Anlass meiner aktiven Teilnahme an zwei Kunst-Werk-Wochen im Rottal, Juli und September 2019: Modellieren, Abformen, Gießen)


Das Geheimnis der Artemis, 2019
von links hinten – von vorne – von rechts
Foto: Alf Mintzel

Naturform – Artefakt

Fundstücke aus der Natur, die ich wegen ihrer Schönheit in Artefakte verwandelt habe, erinnern an von Menschen geschaffene prähistorische Figurine und zugleich an Kunstschöpfungen der Moderne, wie zum Beispiel von Tony Cragg oder auch Hans Arp (Beispiel: Menschliche Konkretionen, 1936; Der Wolkenhirt, 1953), E. Chillida (Beispiel: Forma, 1948) und Henry Moore. Sie haben mich herausgefordert, darüber nachzudenken, was passiert, wenn ich Gebilde der Natur in Kontexte menschlicher Kultur überführe und sie so möglicherweise zu Kunstobjekten mache. Hierzu ein paar problemumkreisende Überlegungen und vorläufige Antworten.

Naturfund, unbearbeitet; die körnige Sandsteinstruktur des Lößbodens ist noch deutlich zu sehen. Später die Kleinplastik „Torso der verschwundenen Venus”, 2019,
22,5 cm x 13,5 cm x 6 cm
Foto: Alf Mintzel

 

Übernahme eines Produkts der Natur in die Welt menschlicher Artefakte

Das menschliche Auge sieht in der Gestalt eines Naturgegenstandes (Stein, Holzklotz, Erdklumpen, Wolke etc.) und in seinen Oberflächenstrukturen bildhafte Erscheinungen. Was die Natur durch blinden Zufall an Gebilden hervorgebracht hat, wird durch das ikonografische Gedächtnis und Sehen des Menschen bildhaft in etwas anderes umgesetzt. Ein zu einem Klumpen gebackener Erdkloß wird durch das bildhafte Sehen zu einem weiblichen Torso, oder allgemein, zu einer anthropomorphen Figurine. Ein runder Kieselstein wird mit seinen kleinen ausgewaschenen Höhlungen als menschlicher Kopf mit Gesicht wahrgenommen. Der Umriss eines Steines wird zur Silhouette eines Tieres. Und da, wo eine Lücke besteht, wo etwas zu fehlen scheint, ergänzt das menschliche Auge das Fehlende zu einem möglichen Ganzen.

Ähnlichkeiten ermöglichen verschiedene Deutungen. Das bildhafte Sehen des Menschen ist somit eine Voraussetzung für die Übersetzung einer Naturform/-gestalt in seine Bildwelten. Ein Stein, ein Holzstück, ein Klumpen Erde wird übersetzt in ein Idol, Votiv, in einen Torso oder in ein anderes Artefakt. Die Ähnlichkeit zufälliger Naturformen und naturhafter Gestaltungen mit bildlichen Vorstellungen des Menschen bewirkt einen Verwandlungsprozess. Unser bildhaftes Denken und Sehen ist die Voraussetzung dafür, dass ein zufälliges Naturgebilde durch die menschliche bildhafte Sehweise zu einer anthropomorphen Kleinplastik wird. Ohne diese geistige Fähigkeit zur Umdeutung einer Naturform/-gestalt bliebe das Gebilde eben nur das, was es eigentlich ist, nämlich ein bedeutungsloses Ding der Natur. Das zufällige Naturprodukt, wird zu einem Artefakt (kulturellem Bestandteil), indem es aus seinem natürlichen Kontext entnommen und in einen kulturellen Kontext transferiert wird. Ist er aber durch diesen Transfer schon ein Kunstprodukt geworden? Das ist die Frage.

Die menschenähnlich gestalteten Osteokollen, die ich gefunden habe (zu Begriff und Gegenstand siehe unten), bleiben, so könnte eingewandt werden, auch nach ihrer Umsetzung in einen kulturellen Kontext zunächst von der Natur hervorgebrachte und gestaltete Gebilde. Erst dadurch, dass ich ihnen eine ästhetische Bedeutung verleihe und in ihnen zum Beispiel anthropomorphe Figurinen sehe, mache ich die Osteokollen zu möglichen Kandidaten für das Kunstschaffen. Ich muss sie erst zu einem Gegenstand der Kunst erheben.

Was alles kann Kunst sein?

Es wird viel über Kunst geredet, doch ist es schwer, ihre Eigenart präzise zu erfassen. Im Laufe der Zeit hat der Mensch verschiedene ästhetische Lehren entwickelt und kontroverse Positionen über die Frage bezogen, welche menschlichen Artefakte als Kunst gelten dürfen und welche nicht. Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? Die Unsicherheit ist mit der Ausdifferenzierung zahlreicher Macharten und Stile gewachsen. Künstler wie berufliche Kunsterklärer haben im 20. Jahrhundert unterschiedliche Positionen bezogen, darunter auch Extrempositionen. Für eine hinlängliche Klärung des Verhältnisses von Natur und Kunst werden verschiedene Aspekte in Betracht gezogen: Die Natur als künstlerische Inspirationsquelle, die Natur als Künstlerin,  die Erfindung der Natur, Natur als Kunst, die Synthese von Natur und Kunst, Naturmaterialien in der zeitgenössischen Kunst – das sind Stichworte der aktuellen ästhetisch-theoretischen Diskussionen und kunstphilosophischer Klärungsversuche. Wir kommen nicht um eine Ästhetik und Kategorisierung herum. Was ist Kunst? Welche Materialien benutzt Kunst? Bedarf es eines erweiterten Kunstbegriffes à la Joseph Beuys, um zufällig gefundene Naturgebilde unter bestimmten Bedingungen als Kunstobjekte bezeichnen zu können?

Exemplare naturgeformter plastischer Gebilde


Ensemble von fünf Beispielen
Foto: Alf Mintzel

 

Naturschönheit – Kunstschönheit

Die Bezeichnung Osteokolle (im Plural Osteokollen) ist aus den altgriechischen Wörtern „osteon“ und „kolla“ zusammengesetzt. Osteon heißt der Knochen, „kolla“ der Leim. Der Theologe Thomas Erasmus berichtet 1590 über verkalkte Wurzeln, die er „lapis sabulosus“ nennt. Mit dieser Bezeichnung kam Thomas Erasmus dem Entstehungsprozess im sandigen Boden nahe.

Geographisch und geologisch haben sich Osteokollen in postglazialen Lößgebieten im Umfeld der vereisten Gebiete gebildet. Löß besteht aus angewehten und abgelagerten Sanden der Inter- und Postglazialzeit. In diesen Sanden sind alle Gesteinsanteile der glazialen Gesteinsabtragungen enthalten, darunter ein hoher Anteil Kalk. Durch Sickerwasser gelangt der Kalkanteil in tiefergelegene Sandschichten und lagert sich dort ab. Diese Kalkauswaschungen sammeln sich an Baum- und Strauchwurzeln, die in den angewehten und angelagerten Sanden stehengeblieben waren, verfestigen sich und wachsen allmählich um die Wurzel herum, je nach Wurzelwerk und Kalkzufuhr, zu verschiedenen Gebilden heran. Je nach organischen Entstehungsbedingungen, ob kleine oder große, ob verzweigte oder dicke Wurzeln, und je nach der Menge der Kalkzufuhr entstehen in diesem Prozess vielgestaltige mineralische Aggregate, Konkretionen genannt. Die Größe von Osteokollen variiert von wenigen Zentimetern bis zu einer Größe von dreißig und mehr Zentimetern.  Der Formenreichtum dieser Gebilde reicht von bizarren kleinen „Würstchen“ und „Wichtelfiguren“ (im Volksmund Lößkindl, Lößpuppen und Steinmännle genannt) bis zu größeren, anthropomorph anmutenden Gebilden, die prähistorische und moderne Künstler geschaffen haben könnten. Manche Exemplare sind so schön gestaltet und ästhetisch perfekt geformt, dass man ohne das Wissen von Entstehung und Herkunft dieser Gebilde meinen könnte, es handle sich tatsächlich um künstlerische Werkstücke des Menschen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Osteokolle, abgerufen 01.06.2019; https://www.bgr.bund,de/DE/Themen/Sammugen-Grungla…abgerufen 01.06.2019)

Meine Fundstücke erinnern mich an aufrechtstehende und liegende Frauenkörper, an archaische Göttinnen und an abstrahierend figürliche Plastiken der klassischen und zeitgenössischen Moderne. Ich bin fasziniert von ihrer Schönheit. Doch blieben sie, was immer ich in sie hineindeute, so könnte mir entgegengehalten werden, Naturprodukte, keine von menschlicher Hand geformte ästhetische Gebilde. Noch einmal zurück zur Frage, was ist Kunst?

Alf Mintzel bei der Einbettung eines Naturmodells in Ton – erster Arbeitsschritt, Juli 2019


Extreme kunsttheoretische Positionen

Theodor W. Adorno hat der Kunst eine kritisch-utopische Funktion zugewiesen. „Angesichts dessen, wozu sich die Realität auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S.10). Nach den Massenvernichtungslagern und bestialischen Katastrophen jedweder Art des 20. Jahrhunderts stünde gerade auch die Kunst in deren Zeichen. „Nach den realen Katastrophen und im Angesicht kommender“ habe die Kunst ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Es komme nicht nur auf die Qualität der ästhetischen Formalien an, sondern auf die inhaltlichen Aussagen zum Weltgeschehen. Kunst müsse, um ihrer humanen Aufgabe zu genügen, die Schrecken und inhumanen Widersprüche aufzeigen und auf utopische Möglichkeiten hinweisen. In diesem Sinne sind meine im Blog-Kapitel 58 abgebildeten Lithografien zu Themen wie „Schrecken des Krieges“ und „Folter“ humane Anklagen.

Joseph Beuys proklamierte den vielzitierten „erweiterten Kunstbegriff“. Jeder Mensch besitze allgemein schöpferische Fähigkeiten, die, so sein künstlerisches Programm, erkannt, ausgebildet und in allen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Sektoren zur Geltung gebracht werden sollten. Beuys setzt Kunst mit Kreativität gleich. Jeder Mensch sei im Grunde ein Künstler, wie überhaupt das Leben ein Kunstwerk sei. Zumindest habe jeder Mensch das Zeug dazu. Diese Erweiterung des Kunstbegriffs scheint mir höchst problematisch zu sein. Sie führt, so denke ich, ins Nebulose und in eine grenzenlose Beliebigkeit. Ästhetische und handwerklich-technische Standards werden zugunsten einer willkürlichen Definition und aktionistischen Praxis aufgegeben (siehe hierzu die hervorragende Analyse von Sandro Bocola „Die Kunst der Moderne, S. 503–540). Alles kann möglicherweise als künstlerische Äußerung und Leistung angesehen werden, also auch ein Transfer von Naturgebilden in menschliche Artefakte.

Unter einem solchermaßen ausgeweiteten Kunstbegriff ließen sich meine abgeformten Naturgebilde leicht subsummieren. Es genügte, sie gefunden, ausgewählt, handwerklich-technisch abgeformt, gegossen und mit einer anderen Bedeutung belegt zu haben. Nach diesem Konzept wären Entdeckung und Bearbeitung zweifellos kreative künstlerische Akte und deren Ergebnis ein Kunstobjekt. So gesehen bedürfte es keiner weiteren ästhetisch-theoretischen Anstrengung mehr.

Venusfigurine, Rückseite: Modell auf Tonbett gelegt, Außenlinie des Modells festgelegt; unten Einguss- und Entlüftungstülle gesetzt
Foto: Alf Mintzel

Naturmodell „Das Geheimnis der Artemis“ in Ton eingebettet; links unten Tülle für den Betonguss
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Das Geheimnis der Artemis“ in Ton (ocker) / Silikon (rosa)
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso aus früher Zeit“; Einbettung auf Ton, Außenlinie des Naturmodells festgelegt, links Einguss- und Entlüftungstülle
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso der Verschwundenen Venus“, 2. Arbeitsschritt
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Torso der verschwundenen Venus“, 3. Arbeitsschritt: Abdeckung mit Silikonschicht
Foto: Alf Mintzel

Abformung des Naturmodells „Postglaziales Idol“
Foto: Alf Mintzel

Gipskapseln mit Negativformen
Foto: Alf Mintzel

 

Readymade, Objet trouvé oder doch nur handwerklich-technische Reproduktion einer Naturschönheit?

Das Readymade ist nach geläufiger Definition ein handwerklich-technischer oder industriell vorgefertigter Gegenstand, den ein Künstler auswählt, kauft und durch Platzierung in einen Kontext mit seiner Signierung zu einem Kunstwerk erklärt. Der Künstler löst den Gegenstand aus seiner ursprünglichen Funktion und verleiht ihm in einem individuellen Akt eine ästhetische Funktion. Bekannte Beispiele: Marcel Duchamps Signierung eines Urinals und Umbenennung in „Fountaine“. Oder Duchamps „Flaschentrockner“, wie sie damals in französischen Gasthäusern in Gebrauch waren. Duchamp sammelte vorgefertigte Alltagsgegenstände, gab ihnen einen anderen Namen, signierte sie, erklärte sie zu Kunstgegenständen und reichte sie bei Kunstausstellungen ein. Er schildert diese Umwandlung so:
„Ob Mr. Mutt [sein Pseudonym] die Fontaine mit seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. Er hat sie AUSGEWÄHLT. Er nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des täglichen Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand – schuf einen neuen Gedanken für das Objekt.“ (zit. n. Partsch, S. 54)

Überträgt man dieses Konzept auf meine Objekte, dann könnte man sagen: Ich habe von der Natur geformte, vorgefertigte Gebilde aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, sie mit einem Titel versehen, ihnen damit eine neue Bedeutung unterlegt, signiert und ihnen einen Platz in der Kunstwelt eingeräumt. (Ich platziere allerdings meine Objekte nicht, wie Duchamp, im ästhetischen Sinn einer Anti-Kunst, sondern im Kanon klassischer Positionen). Auch bei meinen Kleinplastiken käme es also nicht darauf an, ob ich sie mit eigenen Händen gemacht oder nur AUSGEWÄHLT habe. Entscheidend ist darüber hinaus, den Osteokollen eine neue Bedeutung gegeben und sie in die Welt der Künste gestellt zu haben.

Das Objet trouvé  hingegen, der gefundene Gegenstand, kann, muss aber nicht handwerklich-technisch oder industriell vorgefertigt sein. Es kann sich ebenso um ein Stück Holz, um Wurzelwerk, um einen Stein oder um andere anorganische oder organische Materialien handeln. Auch gefundene Gegenstände werden wie Readymades durch die Erfindung von Titeln mit neuer Bedeutung aufgeladen, die sie vorher nicht hatten. Pablo Picasso macht aus einer Lenkgabel und dem Sattel eines Fahrrades einen Stierkopf.

Ohne Zweifel: Osteokollen sind Fundstücke, die mir wegen ihrer Schönheit ins Auge gefallen sind. Ich habe sie aufgehoben und jene, die mir besonders schön erschienen, mit Titeln aus dem kulturellen Arsenal des Menschen versehen. In diesem Sinne sind es objet trouvés. Doch bin ich nicht ihr Schöpfer, nicht ihr künstlerischer Gestalter. Es sind von der Natur hervorgebrachte Gebilde, die in einem langen zeitlichen Prozess zufällig Formen angenommen haben, als wären sie von menschlicher Künstlerhand geschaffen worden. Das Naturschöne entsteht aus einem natürlichen Grund, sei es ein physikalischer, geologischer oder anderer bewusstseinsloser Vorgang. Kunstwerke sind hingegen per definitionem Produkte bewusster menschlicher Tätigkeit. Ich bin durch die Akte der kulturellen Aneignung, des Auffindens, der Abformung, des Gießens und der Bedeutungszuweisung zu einem „Mitschöpfer“ geworden. Ich habe die Naturgebilde kraft meiner „ikonografischen“ Anschauung entdeckt und ihre schöne Gestaltung für kunstwürdig erklärt. Die Gebilde sind, so besehen, beides, primär Hervorbringungen der Natur und sekundär meine Schöpfungen. Ich schreibe dem Akt meiner ästhetischen Entdeckung eine Art Transsubstantiationskraft (siehe Willi Baumeister, S. 46) zu.

Die Natur als Künstlerin?

Natur kennt nicht, so sehe ich die Sachlage, die Kategorien der Schönheit und des Hässlichen. Die Natur bringt ihre Formen, Gebilde, Farben und sonstige Eigenschaften evolutiv hervor. Das Formen- und Farbenspiele, auch das weniger auffällige und schöne, dient der Paarung, Bestäubung und Fortpflanzung, hat also eine biologische Funktion. Ist die „Venus von Willendorf“ in der Evolution des Menschen ein Naturprodukt? Oder schon „kunstverdächtig“?
Die Natur ist an sich ästhetisch völlig indifferent. Die evolutiven Vorgänge ereignen sich ohne ästhetische Absicht und Maßstäbe. Das gilt übrigens auch für geophysikalische Vorgänge, für erodierende Felsformationen, glazial geschliffene Steine, Sandrosen und viele andere physikalischen Gebilde. Die Natur ist sich ihrer Schönheit nicht bewusst. Schönheit als solche zu erleben, zu sehen und zu bezeichnen, ist eine menschliche Fähigkeit. Wir Menschen sind es, die etwas als schön oder unschön werten und eine Ästhetik entwickeln. Eine in einem Fluss angeschwemmte Holzwurzel mag noch so beeindruckend schöne Formen aufweisen, schön wird sie erst durch die ästhetische Zuschreibung des Menschen. Nicht die Wurzel empfindet sich als schön, sondern der Mensch schreibt der Wurzel Schönheit zu. Nicht die in Jahrhunderttausenden im Lößboden durch Auswaschungen gebildeten Osteokollen sehen sich als schönes Naturprodukt, sondern der Finder ist von ihrer schönen Gestaltung fasziniert.

Alf Mintzel prüft den Stand eines Naturmodells auf einem Sockel, Juli 2019
Foto: Franziska Lankes

Alf Mintzel gibt dem Abguss „Torso aus früher Zeit“ den letzten Schliff, September 2019
Foto: Franziska Lankes

Alf Mintzel in der Werkstatt, letzter Arbeitsgang: Behandlung der Sockel, November 2019
Foto: Franziska Lankes

 

Pure Nature Art

Im Jahre 2017 wurde auf die internationale Ausstellung „Pure Nature Art“ Naturmateriealien in der zeitgenössischen Kunst“ mit folgendem Text aufmerksam gemacht:
„Respektvolle Aneignung des von der Natur Hervorgebrachten
Für die Ausstellung wurden sechs internationale Positionen ausgewählt. Die über 20 Installationen, Objekte, Wandarbeiten und Skulpturen aus Materialien wie Muscheln, Federn, Sepiaschalen, Blättern, Kork, Pferdehaare oder Rosenblüten lenken den Blick auf die Schönheit, Leichtigkeit und Fragilität der in der Natur aufzufindenden Materialien. Sie verweisen aber auch auf die faszinierende Systematik und gestaltende Kraft, die der Natur innewohnt. Bei dem Erforschen, Sammeln und Ordnen des Vorgefundenen, bei dem Erschaffen neuer Formen und Kontexte handelt es sich um eine respektvolle Aneignung des von der Natur Hervorgebrachten. Die Ausstellung liefert überraschende und nachdenklich stimmende Anregungen, dem vielschichtigen Verhältnis von Kunst und Natur nachzuspüren.“
(https://www.mkdw.de/de/ausstellung/pure-nature-art-naturm…28.08.2019)

Die hier bezogenen Positionen stellen den Vorgang der Aneignung als Kunstschaffen in den Vordergrund, das Erforschen, Sammeln und Ordnen des von der Natur Hervorgebrachten und Vorgefundenen. Der gestaltenden Kraft wird nachgespürt, ihren Formen und Gebilden. Der Kunstbegriff wird offengehalten und nicht auf die schöpferische Tätigkeit des Menschen beschränkt. Zwischen der „Lehrmeisterin Natur“ und der schöpferischen Arbeit des Menschen besteht ein vielfältiges Wechselverhältnis, in dem immer neue Formen und Gebilde hervorgebracht werden. Doch auch in diesen Statements bleibt fraglich, was eigentlich welche Formen und Gebilde der Lehrmeisterin kunstwürdig macht und was die genuine kreative Leistung des Menschen ausmacht, der sich respektvoll von der Natur Hervorgebrachtes aneignet. Solche Formulierungen lassen vieles offen. Ich habe mir die Osteokollen respektvoll angeeignet und bewundere ihre Schönheit. Nicht die „Lehrmeisterin Natur“ hat aus einigen ihrer vielgestaltigen Gebilde eine Aphrodite, Artemis, einen weiblichen Torso oder sonst eine anthropomorphe Gestalt gemacht (siehe Abbildungen), sondern ich. Ich sehe diese ikonografischen Gestaltungen in die von Natur aus blinden, das heißt a-kulturellen, Formen der Natur hinein. Die Antwort auf die Frage, ob sie hierdurch den Anspruch erfüllen, kunstwürdig zu sein, hängt von der jeweiligen kunsttheoretischen Position ab.
Der Kunsthistoriker Hans Holländer (1932–2017) sagt hierzu Folgendes:
„Die Abenteuer der Ermittlung von Bildern in den Verstecken der Gesteine und die Wege des Zufalls bei der Anwendung von Prozeduren, deren Resultate anschließend weiterbearbeitet werden, sind überaus mannigfaltig und nicht reglementierbar. Artistisches Material ist die Gesamtheit aller Dinge und ihrer Strukturen. Jede von ihnen kann auch ein Bild von etwas anderem sein, das wiederum seine Struktur hat, die der arbeitenden und bildenden Phantasie gewisse Deutungen nahelegt. Die Frage, welche dieser Bilder ,Kunst‘ sind oder nicht, die einst so rigorose Antworten erzwang, ist dabei ziemlich gleichgültig, weil der Tätigkeitsbereich der Phantasien ohnehin nicht mit den Geltungsrevieren von Kunstbegriffen identisch ist. Kunstfertigkeit aber gerade dann vonnöten ist, wenn aus dem Meer von Assoziationen die Entscheidung für ein bestimmtes Bild getroffen und dies dann auch hergestellt werden soll. Leonardos Exempel von der Vieldeutigkeit der Strukturen einer Mauer bleibt  der beste und am meisten einleuchtende  Text zu diesem Problem, weil es sich nicht um einen kunsttheoretischen Text handelt“
(Hans Holländer, 1997: Das Irreguläre, der Zufall und die sich selbst erfindende Natur, in: Edward Quinn: Max Ernst, S. 119).
Holländer hat bei seinen Betrachtungen zwar vor allem die Malerei und Grafik der Surrealisten im Blick, doch lassen sich diese auch auf plastische Gebilde übertragen.

Fazit meiner problemumkreisenden Überlegungen

In meinem konkreten Fall begegnen sich zufällig naturgeformte Schönheit und von Menschenhand geschaffene „Kunstschönheit“ auf eine verblüffende Weise. Sie scheinen eine Synthese eingegangen zu sein. In der Natur vorgefundene natürliche Werkstücke und die künstlerischen Werkstücke des Menschen können sich in einem so hohen Maße ähneln, ja gleichen, dass eine strikte kategorische Trennung fraglich wird. Ich habe durch meine Aneignung neue Geschöpfe kreiert, ich bin der Schöpfer der Figurinen. Aus den Naturgebilden sind kulturelle Gegenstände geworden. Der Akt des Hineinsehens und der schöpferischen Aneignung macht sie zu kulturellen Artefakten und – nach Machart und ästhetischen Regeln – möglicherweise zu Kunstprodukten.

Werkstattatmosphäre, November 2019
Auf dem Tisch meine Turbo-Beton-Abgüsse, zurechtgelegt für die Aufstellung auf Metallsockel

Danksagung
Dem Künstler und Kollegen Oswald Miedl (Linz), der bis 2005 den Lehrstuhl für Kunstpädagogik und ästhetische Erziehung innehatte, danke ich für seine anregenden Kommentare und Hinweise. Dank schulde ich auch den Künstlerinnen Franziska Lankes und Maya Franzen-Westermayer, den Leiterinnen der Kunst-Werk-Wochen im Rottal, für ihre Anleitungen und Hilfen bei der Durchführung meines Arbeitsprojektes. Die Gespräche mit ihnen über Arbeit und Sinn meines künstlerischen Vorhabens haben meine Selbstreflexionen geschärft. Besonders danke ich auch André Hasberg, der handwerklich exzellent die Sockel für meine Kleinplastiken angefertigt hat, und Georg Thuringer für die Bearbeitung der Fotodokumentation.

Zu Rate gezogene Literatur (kleine Auswahl)
Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum. Rombach 1994
Edward Quinn: Max Ernst. Beiträge von Max Ernst, U M. Schneede, Patrick Waldberg, Diane Waldmann, Zürich und Freiburg i, B. 1976
Sandro Bocola: Die Kunst der Moderne. Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung. Von Goya bis Beuys, München, New York 1997
Michael Hauskeller, 2000: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, München beck’sche reihe
Susanne Partsch, 2005: Die 101 wichtigsten Fragen. Moderne Kunst. München beck’sche reihe
Dieter Rahn, 1993: Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst. Rombach Verlag Freiburg
Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst Verlag M. DuMont Schauberg Köln 1960.

60.Universität Passau und die Fronleichnamsprozession – ein aktueller Klärungsbedarf

Kritik an der Amtsführung der Universitätspräsidentin Prof. Dr. Carola Jungwirth

„Präsidentin in Not“, „Die Patriarchin. Misstrauen und Mobbing an der Universität“, „Der Streit der Gelehrten“, „Unmut und Angst“, „Dauerkritik an der Präsidentin“, „Eitelkeiten“, „Studierenden Vertretung kritisiert Uni-Präsidentin“ – diese und weitere Presseberichte tragen seit einigen Wochen interne Konflikte der Universität Passau an die Öffentlichkeit. Am 17. Juli 2019 steht die nächste Präsidentschaftswahl an, und die amtierende Universitätspräsidentin, Prof. Dr. Carola Jungwirth, kandidiert für eine zweite Amtsperiode. Ein Novum in der jungen Geschichte der Universität: Zwei auswärtige Kandidaten und eine hausinterne Konkurrentin bewerben sich gleichzeitig um dieses Amt. Alle Versuche der amtierenden Präsidentin, die konfliktgeladene Stimmung zu beruhigen und zu ihren Gunsten zu wenden, sind bisher missglückt. Es rumort weiter und immer heftiger. Der Ton wird schärfer und unversöhnlicher, die Kluft zwischen den Streitparteien immer größer. Der Amtsinhaberin werden von verschiedenen Seiten ein ungenügender kommunikativer Führungsstil, gravierende Eigenmächtigkeiten, eklatante strukturelle Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten vorgeworfen. Die meisten Kritiker wollen dabei gern anonym bleiben. Vor allem Professorinnen und Professoren halten sich bedeckt, erst recht der beruflich nicht abgesicherte wissenschaftliche Mittelbau. Sie fürchten spätere Benachteiligungen. Aus der Studentenschaft kommen die heftigsten Attacken bis hin zum Aufruf „Stürzt die Präsidentin“. Welche Vorwürfe auf tatsächliche Mängel zurückgeführt werden können   und was an den Streitpunkten überzogen und gar verfälscht ist, lässt sich von außen schwer beurteilen. Ich bin als pensionierter Ordinarius im 85. Lebensjahr „zu weit weg vom Schuss“, um die vielfältigen Konflikte und ihre Turbulenzen im Detail wirklich durchschauen und beurteilen zu können. Nach vierzig Jahren beruflicher Universitätserfahrung kann ich mir zwar auf vieles einen Reim machen, aber das ersetzt keine solide empirische Untersuchung. In einem Konfliktbereich kenne ich allerdings die Vorgänge gut genug, um dazu pointiert Stellung nehmen zu können. Dieser Konfliktbereich mag für einen Nebenschauplatz gehalten werden, doch lässt sich an ihm die Kritik an der Amtsführung der Universitätspräsidentin anschaulich nachvollziehen und demonstrieren.

Prof. Dr. Carola Jungwirth nahm in ihrer Eigenschaft als amtierende Universitätspräsidentin auch in diesem Jahr wieder an der Fronleichnamsprozession teil. Sie hatte sich in den Dienst des Passauer Episkopats gestellt und – wie die lokale und überregionale Presse berichtete – in einer Rundmail  an ihre „Untergebenen“ von diesen erbeten, an der Passauer Fronleichnamsprozession teilzunehmen (Bürgerblick Nr. 124, April 2019, S.30; Süddeutsche Zeitung Nr. 138, 17. 06.2019, S. 29). Diesen universitätsamtlichen Appell hatten manche als Belästigung aufgefasst. Meines Wissens ist es das erste Mal, dass universitätsinterner Widerspruch gegen diese Form der Aufforderung zur Teilnahme geäußert worden und an die Presse gelangt ist.

Bisher hat die Universitätsleitung nichts zur Klärung des Sachverhalts beigetragen. Die Universitätspräsidentin scheint dies nicht für notwendig zu halten und hüllt sich in Schweigen. Dabei stünde der konfessionsunabhängigen staatlichen Universität eine gründliche und prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Vorgang gut an. Liegt es in der Kompetenz und im Ermessen des Universitätspräsidenten einer staatlichen, nichtkirchlichen Institution der Wissenschaft, in seiner Amtseigenschaft die Professorenschaft zur Teilnahme an der Fronleichnamsprozession aufzurufen, und dies mit einem nachdrücklichen Schreiben? Es gibt Klärungsbedarf.

In wessen Namen, kraft welcher Kompetenz und in welcher Form?

Der Appell der Universitätspräsidentin hat eine interne Vorgeschichte. Universitätspräsident Prof. Dr. Walter Schweitzer, von 1997–2008 Rektor und von 2008–2012 Präsident, hatte im Jahre 2008 in einem Schreiben an alle „Damen und Herren Professorinnen und Professoren“ bedauert, dass aus der Universität „eine stetig sinkende Zahl von Teilnehmern an der Fronleichnamsprozession“ zu beobachten sei. „Aus eigenem Entschluss“, so hatte er ausdrücklich betont, bäte er „wieder um eine vermehrte Teilnahme, um unsere Verbundenheit mit Kirche und Stadt zum Ausdruck zu bringen.“ Er hatte allerdings seinen Appell vorsichtig dahin abgeschwächt: „Man möge sein Schreiben als gegenstandslos betrachten, falls man sich davon nicht angesprochen“ fühle.

Walter Schweitzer hatte damit grundsätzliche und allgemeine Fragen des heutigen Verhältnisses zwischen staatlicher Universität und Kirche angerührt und universitätsinternen Widerspruch hervorgerufen. Schließlich ist ein Universitätspräsident höchster Repräsentant aller Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der konfessionsunabhängigen Universität. Der amtliche Aufruf des Präsidenten hätte als Werbeschreiben für die katholische Kirche verstanden werden können. Das hatte Schweitzer wohl bedacht und deshalb auch ausdrücklich darum gebeten, seinen Appell als gegenstandslos zu betrachten, falls man sich nicht angesprochen fühle – eine diplomatische Überspielung der realen Verhältnisse, die es eigentlich zu klären gilt: In welcher Position beziehungsweise Rolle, in wessen Namen und kraft welcher Kompetenz nimmt der höchste Amtsinhaber/die höchste Amtsinhaberin der Universität Passau an der Fronleichnamsprozession teil? Wer repräsentiert wen mit welcher Begründung?

Schweitzers Nachfolger im Amt des Universitätspräsidenten, Prof. Dr. Burkhard Freitag (2012–2016), hatte die Frage „entklerikalisiert“, indem er von derartigen Empfehlungen und Appellen Abstand nahm und bei einem Besuch des Passauer Bischofs Stefan Oster in der Universität klarstellte, dass die Universität im Sinne einer freundlichen Äquidistanz zu beiden Kirchen Beziehungen pflegen wolle. Professor Freitag vermied es auch, nach katholischer Sprachregelung von „der Kirche“ im Singular zu sprechen.

Freitags Amtsnachfolgerin, Prof. Dr. Carola Jungwirth, brachte hingegen in die grundsätzlichen Fragen erneut Verwunderung und Verwirrung hinein. Sie nahm in ihrer Doppeleigenschaft als evangelische Christin und Universitätspräsidentin wiederholt demonstrativ an der Fronleichnamsprozession teil und begründete ihre Teilnahme damit, sie wolle auf diese Weise das gute Verhältnis der Universität zur katholischen Kirche sichtbar machen und bekräftigen (Passauer Neue Presse Nr. 171, 27.07.2017, S. 22). Hatte Schweitzer in seinem Appell noch sensibel erkennen lassen, dass die Teilnahme von Universitätsmitgliedern im Grunde eine katholische Sache sei, setzte sich die Universitätspräsidentin Jungwirth über solche konfessionellen Bedenken hinweg. Sie reihte sich als höchste Amtsträgerin der Universität Passau in die vom Generalvikariat der katholischen Kirche vorgegeben Prozessionsordnung ein. Frau Jungwirth meinte anscheinend, amtlich legitimiert zu sein, für die ganze Universität mit gutem Beispiel vorangehen zu dürfen. Dass die Fronleichnamsprozession eine zutiefst katholisch-konfessionelle Veranstaltung ist, die seit jeher rituell und dogmatisch gerade auch der Abgrenzung zum Protestantismus dient, scheint die höchste Amtsinhaberin der Universität offenbar nicht zu stören. Konsequent zu Ende gedacht müsste die Universitätsleitung, vertreten durch die Universitätspräsidentin, auch zu einer vermehrten Teilnahme am Gottesdienst zum evangelischen Reformationsfest oder zur Karfreitagspredigt aufrufen – was selbstverständlich nicht geschieht.

Prinzipiell gesagt und unmissverständlich formuliert: Es steht außer Frage, dass Frau Carola Jungwirth als Privatperson die vom Grundgesetz verbürgte positive und negative Religionsfreiheit genießt. Als Privatperson kann sie auch als Protestantin, wenn sie das persönliche Bedürfnis dazu hat, an der Prozession teilnehmen. Niemand würde es ihr verwehren können oder wollen. Die Sache steht jedoch anders, wenn sie, wie geschehen, als Amtsperson und höchste Repräsentantin der Wissenschaft und aller Wissenschaftler auftritt. Mag sein, dass die Amtsposition auch diesbezüglich einen relativ großen Entscheidungsspielraum zulässt. Dennoch muss sie sich Fragen nach ihrem Rollenverständnis gefallen lassen.

Frau Jungwirth erklärt, sie demonstriere mit ihrer Teilnahme in der „Tradition des früheren Universitätspräsidenten Schweitzer“ die guten Beziehungen zur katholischen Kirche. Sich auf diese Tradition zu berufen, ist aber ein äußerst schwaches Argument.

„Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin“

In seinem Einladungsschreiben vom 21. Mai an die „liebe Frau Präsidentin“ hebt Bischof Stefan Oster ausdrücklich hervor, dass „es ja schon eine kleine Tradition“ sei, „nach der Fronleichnamsprozession am 20. Juni bei mir im Innenhof (…) zur gemütlichen Brotzeit bei Bier, Weißwurst und mehr“ Gast zu sein. Er bitte sie, „diese Einladung an die betreffenden Personen weiterzugeben.“

An die betreffenden Personen? In der diplomatischen Amtssprache der katholischen Kirche waren wohl vor allem katholische Professoreninnen und Professoren gemeint. Es blieb jedoch nicht nur bei der Einladung zum traditionellen Weißwurstessen. Die kirchenamtliche Einladung zur Mitfeier der Prozession folgte am 27. Mai. Msgr. Helmut Reiner, Domkapitular und Pfarrer im Pfarrverband Altstadt schrieb an die Universitätspräsidentin:

„Ich lade Sie im Auftrag unseres H. H. Bischof Dr. Stefan Oster SDB herzlich ein zur Mitfeier des Fronleichnamsfestes am Donnerstag, den 20. Juni 2019. Die Feier beginnt mit dem Pontifikalamt um 8.30 Uhr im Hohen Dom. Im Anschluss daran wird die Fronleichnamsprozession durch die Passauer Altstadt stattfinden (…) Alle näheren Einzelheiten über die Aufstellung und den Weg der Prozession werden am Ende des Pontifikalamtes bekanntgegeben. Ich würde mich freuen, wenn Sie das Fronleichnamsfest mitfeiern würden, zu dem sowohl alle Gläubigen eingeladen sind als auch die Ordensgemeinschaften und die Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Passau sowie ihrer Behörden und Ämter.“

Der Wortlaut der amtskirchlichen Einladung richtet sich ohne Zweifel an die Amts- und Titelträgerin Jungwirth, nicht an die gläubige Privatperson. Es ist die Universitätspräsidentin, die zur Mitfeier des Fronleichnamsfestes in Dienst genommen wird. Sie wird gebeten, diese Einladung an die betreffenden Personen weiterzugeben. Und die Universitätspräsidentin ist es, die kraft ihres Amtes und ohne Abstimmung mit den Gremien der Universität den Bitten nachkommt.

Die Rundmail an die lieben Kolleginnen und Kollegen

Unter dem Datum des 4. Juni richtet die Universitätspräsidentin an alle „lieben Kolleginnen und Kollegen“ eine Mail, in der sie die kirchenamtlichen Einladungen zu ihrer eigenen Sache macht. Daraus folgender Auszug:

(…) am (…) 20. Juni 2019 um 8.30 Uhr findet der alljährliche Fronleichnamsgottesdienst im und um den Passauer Dom statt: Fronleichnam – Hochfest des Leibes und Blutes Jesu Christi / Pontifikalamt mit Prozession durch die Stadt mit Domchor und Dombläsern. Msgr. Helmut Reiser, Domkapitular und Pfarrer im Pfarrverband Altstadt, lädt herzlich zur Mitfeier des Fronleichnamsfestes im Dom ein. Der Bischof von Passau Dr. Stefan Oster SDB setzt auch in diesem Jahr im Anschluss an den Gottesdienst die schöne Tradition fort, das Kollegium der Professorinnen und Professoren der Universität  Passau im Anschluss an den Gottesdienst und die Prozession (…) zu einem Imbiss in den Innenhof der ehemaligen Dompropstei einzuladen, worüber ich mich sehr freue.

Bitte teilen Sie bis (…) 13. Juni mit, wenn ich für sie und ihre Familie / Ihre Partnerin / Ihren Partner bei Msgr. Reiner im Dom Plätze reservieren soll (die Professorinnen und Professoren mit ihren Familien / ihrer Partnerin / ihrem Partner sitzen links neben dem Altar gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Passau) und wie viele Personen ich bei Bischof Oster für Sie anmelden darf. Für die Weiterleitung dieser Einladung an ehemalige Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls gerne teilnehmen möchten, bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich freue mich auf ein nettes Beisammensein. Herzliche Grüße, Carola Jungwirth.“

Diese Rundmail an alle Kolleginnen und Kollegen enthält weit mehr nur als eine sachliche Weitergabe der kirchenamtlichen Einladungen. Sie übergeht eigenmächtig wie selbstverständlich den religiös-konfessionellen Pluralismus in der Universität. Frau Jungwirth machte sich zur universitätsinternen Vollstreckerin der katholisch-amtskirchlichen Bitten. Ihren Formulierungen mangelt es an einer der Universität angemessenen Distanz zum vielfach aufgefächerten religiös-konfessionellen Bereich. Die Universitätspräsidentin ignoriert mit ihrer Rundmail dogmatische Trennungslinien in so zentralen Fragen wie die der Eucharistie, die gerade in der Fronleichnamsprozession (Leib und Blut Jesu Christi) wirksam sind. Und sie macht das „nette Beisammensein“ in katholischer Manier zu einem gesellschaftlichen Weißwurst-Ereignis. Erst der Leib Christi, dann das Weißwurstessen – das ist nicht nach jedermanns religiösem Geschmack. Dies alles sollte unter dem intellektuellen und kognitiven Niveau einer höchstamtlichen Repräsentantin der heutigen Wissenschaft sein. Und es ist eine bedenkliche Missachtung Andersgläubiger.

Ständestaatliche und berufsständische Platzzuweisungen

Die offizielle Teilnahme an der Fronleichnamsprozession bedeutet – wie auch die Platzreservierung bestätigt – mehr als nur ein bloßes freundliches Mitlaufen. Teilnahme bedeutet in die Prozessionsordnung ein- und untergeordnet zu werden. Die amtskirchlich verordnete Platzierung folgt einem ständestaatlichen und berufsständischen Ordnungskonzept mit Honoratioren-Privilegien. Den Professoren werden wie dem Klerus respektable Plätze reserviert und zugewiesen. Die Universität bildet die 12. Gruppe, unterteilt in Professoren, Katholische Hochschulgemeinde und (katholische)  Studentenverbindungen. Das Ende des Zuges bilden das „Gläubige Volk aus den Stadtpfarreien, Frauen, Männer und Kinder gemischt“. (Hinweise des Generalvikars zur Durchführung der Großen Fronleichnamsprozession).

Professoren genießen ein Honoratiorenprivileg, sie werden nicht der Gruppe des „Gläubigen Volks“ zugeordnet. Wie lässt sich die Universitätspräsidentin, Frau Professor Jungwirth, platzieren? Auch in organisatorischer Hinsicht ist der Appell der Universitätspräsidentin ein Akt der Diskriminierung. Warum richtet sie ihren Appell nur an die Professorenschaft, aber nicht, allgemein und in der Sache neutral, auch an die wissenschaftsunterstützenden Bediensteten der Universität? Letztere werden auf diese Art und Weise indirekt zum „Gläubigen Volk“ hintangestellt. Wieder einmal scheint in der Universität eine gewisse „institutionalisierte Gedankenlosigkeit“ (Prof. Dr. Heinrich Oberreuter) zu vermeintlich respektablen Entscheidungen zu führen. Jedenfalls glaubt man, sich unbedenklich und bequem in die vorgegebene katholische (Prozessions-) Ordnung einreihen zu können. Teile des Sozialsystems Universität kollidieren mit dem kognitiven System der Wissenschaft und seinen Regeln.

Das prekäre Verhältnis von Wissenschaft und religiös-konfessionellen Institutionen

Einer modernen Institution des Wissens, Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung stünde es in der heutigen säkularen Welt gut an, das prekäre Verhältnis von Wissenschaft und religiösen Institutionen nicht diplomatisch zu übertünchen und schönzureden, sondern grundsätzlich zu klären, ob, inwieweit und in welcher Form eine kirchlich-konfessionell unabhängige Universität amtlich überhaupt bei einer Fronleichnamsprozession in Erscheinung treten kann und sollte. Für eine konfessionsunabhängige staatliche Institution der Wissenschaft gibt es andere, der heutigen Wirklichkeit angemessene Wege und Kommunikationsformen, ihre Beziehungen zu den Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften zu ordnen und zu pflegen. Es könnte zum Beispiel ein Arbeitskreis „Universität, Kirchen und Glaubensgemeinschaften“ gebildet werden, der als Plattform für Diskurse und akademische Streitfragen dienen könnte. Zweifelhafte und oder gar krass einseitige Appelle an Professoren und Professorinnen, an kirchlichen Festen teilzunehmen, gehören nicht zu den Aufgaben einer konfessionsneutralen staatlichen Institution der Wissenschaft.

Das Verhältnis von Staat und Kirchen hat sich inzwischen aufgrund gesellschaftlicher und politischer Veränderungen vom Modell einer freundlichen Kooperation zum Konzept „der übergreifenden offenen Neutralität“ weiterentwickelt (Ernst-Wolfgang Böckenförde 2006: Der säkularisierte Staat und seine Probleme im 21. Jahrhundert). Die übergreifende offene Neutralität gilt auch für das Verhältnis von konfessionsunabhängiger staatlicher Universität und katholischer Kirche. Ausgerechnet die erzkatholische Institution der Fronleichnamsprozession als amtliches „Bindemittel“ zwischen Universität und Kirche zu instrumentalisieren, ist seitens einer neutralen Institution der Wissenschaft eine intellektuelle und kognitive Fehlleistung, die nicht mehr um eines internen Friedens willen einfach hingenommen wird. Überdies mutet die universitätsamtliche Bitte um „vermehrte Teilnahme“ angesichts einer schrumpfenden und krisengeschüttelten katholischen Kirche (Mitgliederschwund, dramatischer Priestermangel, Beteiligung und Gleichstellung der Frau, amtskirchliche Sexualmoral, Missbrauchsskandale, Entkirchlichung …) wie eine spirituelle Hilfsmaßnahme an. Eine kirchenunabhängige staatliche Universität ist jedoch keine Missionsgehilfin bei der „Neuevangelisierung“ verlorengehenden religiös-konfessionellen Bodens (siehe Blog-Kap. 43 und 46). Traditions- und Brauchtumsargumente sind die schwächsten Verteidigungsmanöver, auch im Falle der Teilnahme an der Fronleichnamsprozession. Mitglieder der Universität sehen sich mit gutem Grund von der amtlichen Aufforderung der Universitätspräsidentin kognitiv und konfessionell belästigt.

Auf einer universitätsinternen interkonfessionellen Plattform wie dem oben vorgeschlagenen Arbeitskreis (Universität, Kirchen und Glaubensgemeinschaften) könnten Positionen ohne angemaßte konfessionelle Präsidialappelle abgeklärt und akademische Brücken geschlagen werden. Dem Generalvikariat der katholischen Kirche bleibt es selbstverständlich unbenommen, zur Teilnahme an der Fronleichnamsprozession aufzurufen. Jede Katholikin und jeder Katholik kann je nach religiösem und kirchlichem Bedürfnis daran teilnehmen oder nicht.

Die Beziehungen der Universität Passau zu den Kirchen und religiös-konfessionellen Glaubensgemeinschaften sollten nicht dem Gutdünken und persönlichen konfessionell eingefärbten Neigungen einer Universitätspräsidentin beziehungsweise eines Universitätspräsidenten überlassen bleiben. Der sensible Bereich bedarf universitätsintern einer institutionellen Regelung und Kontrolle. Es muss klar sein, wer in wessen Namen, kraft welcher Kompetenz und in welcher Form die Beziehungen zu den Kirchen und Glaubensgemeinschaften unterhält. Die Kritik an der amtierenden Universitätspräsidentin griffe allerdings zu kurz, hebe sie nur auf ihre persönliche Praxis freundlicher Kooperation mit der katholischen Kirche ab. Strukturelle Rahmenbedingungen sind es, die es der Präsidentin ermöglichen, die Kooperation mit der katholischen Amtskirche diensteifrig zu überdehnen. Die bisherige Praxis ist religionsverfassungsrechtlich und grundgesetzlich fundiert und beruht zwar auf den Prinzipien freundlicher Kooperation und Freiwilligkeit, aber die gesellschaftlichen und mit ihnen die religionspolitischen Verhältnisse haben sich in den letzten Dezennien erheblich verändert.

Im einst so tief katholisch geprägten Passau hat sich viel verschoben. Die katholische Kirche in Passau hat in 15 Jahren fast die Hälfte ihrer Kirchgänger verloren. (PNP Nr. 299, 24.12.2018, S. 25.) Auch die Fronleichnamsprozession ist sichtlich geschrumpft. Von der Universität nehmen, wie der ehemalige Universitätspräsident Prof. Dr. Walter Schweitzer beklagt hat, immer weniger Menschen teil. Sie werden die immer größer werdenden Lücken nicht füllen.

Die Universitätsleitung täte gut daran, im Sinne einer übergreifenden Neutralität religiös-konfessionell anmutende  Empfehlungen und Appelle prinzipiell zu unterlassen und sich nicht in den Dienst einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft nehmen zu lassen.

58. Gott vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte – eine fiktionale Anklage

Vor etlichen Jahren hatte ich angefangen, eine fiktive Anklageschrift gegen Gott für einen Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte vorzubereiten. Ich lege sie in Auszügen hier zum ersten Mal vor. Die Anklagepunkte hatte ich in der ursprünglichen Fassung jeweils mit einem Spruch aus der Bibel versehen. Angesichts der historischen und gegenwärtigen Gewaltexzesse und Kriege wollte ich damit verdeutlichen, wie zynisch uns heute diese Lobsprüche über Gott und Gotteswerk anmuten können.

 

Charlie Hebdo, Numéro Spécial / Nr. 1224, 6. Januar 2016

Wanted!

Die Nachrichtenagenturen melden: Wanted! Gott zur Fahndung ausgeschrieben- sofern es ihn gibt.Gott, zurzeit flüchtig, Aufenthaltsort unbekannt (angeblich im Himmel); Eröffnung des Verfahrens in Abwesenheit des Angeklagten. Von Interpol global zur Fahndung ausgeschrieben; schwer bewaffnet; als gemeingefährlich eingestuft; der Flüchtling soll sich unterschiedliche Identitäten beschafft haben und in verschiedenen Maskeraden auftreten. Das von Interpol auf Grund von Beschreibungen des Angeklagten gewonnene Phantombild hat sich bisher wegen der unterschiedlichen Erscheinungsweisen, seine Verehrer sprechen von „Emanationen“, als ungeeignet erwiesen. Die islamistischen Terroristen behaupten, in seiner wahren Erscheinungsform trete er als Allah auf. Jeder Fahnder und jede Abbildung des Propheten wird mit dem Tode bestraft. Allahu akbar! „Gott ist größer!“
Gott soll an verschiedenen Orten gesichtet worden sein. In den USA wollen ihn Passanten im Bibel Belt gesehen haben. Er werde dort, so heißt es, von Sympathisanten auf einer Range versteckt gehalten. Bisher sei kein Zugriff gelungen. Andere glauben ihn auf einer Straße unter Zeugen Jehovas beim Verkauf des „Wachturms“ entdeckt zu haben. Als die Polizei eintraf, war er angeblich verschwunden. Er soll auch an einem weit entfernten Ort gesehen worden sein. Der Heilige Geist und ein Engelsschwarm hätten seine Verhaftung verhindert, indem sie die Fahnder mit sonderbaren Flugkünsten abgelenkt hätten. Aus Deutschland wird gemeldet, er habe sich an der Universität Passau hinter seiner „Maria vom Siege“ verschanzt, hinter der Siegerin in allen Schlachten Gottes (siehe Blog-Kap. 29 und 30). Theologen behaupten gar, Gott sei überhaupt nicht zu fassen. Steckbriefe und Suchbilder führten nicht zu ihm. Gott sei ein mysterium strictissime dictum, ein unergründliches ortloses Geheimnis. Skeptiker, Religionskritiker und andere Experten weisen zwar darauf hin, dass Gott Kriegsschauplätze, Folterstätten, Konzentrationslager und Schlachthöfe peinlich meide, weil er mit seinem handwerklichen Pfusch am Weltenbau nicht konfrontiert werden wolle. Er könnte sich aber in einem Massengrab unter den Toten versteckt haben. Die Präsidentin der Universität Passau, Prof. Dr. Carola Jungwirth, hofft jedenfalls, ihm mit einem besonderen Qualitäts- und Diversity-Management (PNP Nr. 171, 27.07.2017, S. 22) auf die Spur zu kommen, indem sie angeblich im Namen der Wissenschaft und aller Wissenschaftler an der Fronleichnamsprozession teilnimmt. Carola Jungwirth meint wohl, Gott sei in der ständeordentlichen Prozession im Allerheiligsten zu finden. (Ökumene auf gut katholisch!). Sein letzter Zufluchtsort sei vermutlich der niederbayerische Provinzidyllen-Katholizismus. Auch damit sei zu rechnen: Möglicherweise verstecke sich Gott in Passau hinter der größten Orgel der Welt. Klopfe Gott in seiner Not nachts heimlich an, gewähre der Bischof von Passau, Stefan Oster, dem gesuchten Migranten kein Kirchenasyl, weil er den Bittsteller Jesus nicht erkenne.
Besondere Vorsicht ist vor Emanationen in Gestalt von Vorgartenzwergen geboten, die uns das Du anbieten! Papst Benedikt XVI. gab einen paradoxen Hinweis zum Auffinden Gottes: „Gott (habe) sich klein gemacht für uns. Gott (käme) nicht mit äußerer Macht, sondern er komm(e) in der Ohnmacht der Liebe, die seine Macht (sei). Er (gäbe) sich in unsere Hände. Er (bäte) um unsere Liebe. Er (lade) uns ein, selbst klein zu werden, von unseren hohen Thronen herunterzusteigen und das Kindsein vor Gott zu erlernen. Er (böte) uns das Du an. Er (erbitte), dass wir ihm vertrauen und so das Sein in der Wahrheit und in der Liebe erlernen.“ (Papst Benedikt XVI, Ansprache in Mariazell am 08.09.2007, L´ Osserv. Romano 37/07, 10f). Anthropomorphe Gartenzwerg-Emanationen dienen dem Flüchtigen als Betrugsmittel.
Hinweise auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort nimmt jede Polizeistation entgegen. Für seine Entdeckung und erfolgreiche Ergreifung ist der Nobelpreis ausgelobt worden.

 

Gottesbegriffe der christlichen Theologie

Warum noch einmal die Problematik der Theodizee durchdeklinieren? Was ist das für ein Gott? Sage ich nicht, es sei pure Zeitverschwendung sich damit zu befassen? (siehe Blog-Kap. 45)

Die christliche Theologie behauptet, Gott sei der Inbegriff der Liebe. Angesichts der Wirklichkeit von Folter, Massaker, Massenmord, Völkermord und Leichenbergen scheint diese Behauptung wie ein Hohn. Ist er wirklich ein liebender Gott? Was hat der allmächtige, liebende Gott „Großes“ an den Menschen getan?

Die christliche Theologie behauptet, Gott sei allmächtig. Warum hat er Folter, Massaker, Massenmord, Völkermord und andere Untaten zugelassen? Hätte er als liebender und allmächtiger Gott nicht einschreiten und die Gräueltaten abwenden können?

Die christliche Theologie behauptet, Gott sei allgegenwärtig. Er sei zu jeder Zeit in jedem Moment und an jedem Ort gegenwärtig. Hat er nur zugeschaut, als die Leichenberge aufgehäuft wurden? Hat er geschlafen, als unschuldige Kinder in Gaskammern umgebracht wurden?

Die christliche Theologie behauptet, Gott sei absolut weise. Welche Weisheit besteht darin, alle die Gräuel und Grausamkeiten zuzulassen, die sich Menschen antun?

Die christliche Theologie behauptet, Gott sei allwissend. Warum hat er seine Allwissenheit und Weisheit nicht dazu verwendet, in seinem Schöpfungsakt den Menschen mit besseren Eigenschaften auszustatten? Er hätte doch in seiner Allwissenheit und Allmacht erkennen müssen, dass er unfriedliche und grausame Geschöpfe geschaffen hat.

 

Christliche Theologie im Faktencheck

Wo war Gott? Wie konnte ein liebender Gottvater die Grausamkeiten und Gewaltexzesse zulassen? Unter seinen Augen wurde gefoltert, vergewaltigt, sterilisiert, verschleppt, gehenkt, erschossen, vergast, verbrannt, in medizinischen Experimenten gemartert. Aus den Schlöten der Todesfabriken des nationalsozialistischen Terrorregimes drang himmelwärts riechender Qualm. Aber Gott scheint nicht gerochen zu haben, was da unten vor sich ging.
Dies alles geschah in meiner Lebenszeit, manches geschah nicht weit entfernt.

Gewiss, meine Liste der Grausamkeit ist selektiv, greift aus Tausenden „Vorfällen“ sehr verschiedene geografische Situationen, Vorgänge, Zusammenhänge und politische Konstellationen heraus. Aber jeder Anklagepunkt verweist auf die Bestie Mensch und auf Gottes Nicht-Handeln und Wegschauen. Schon in meiner Jugendzeit hatte sich bei mir eine unfassbare Angst davor eingestellt, wehrlos von irgendwelchen Schächern und Mördern gepeinigt und getötet zu werden. Ich gehöre zur „Generation der Davongekommenen“ (siehe Blog-Kap. 40). Ein Trauma ist geblieben. Meine Liste der Bestialität wäre ohne diesen Hinweis nicht ganz zu verstehen. Es geht nicht darum, die Liste wissenschaftlich zu ordnen, ihre Selektivität zu begründen und auf ein analytisches Niveau zu heben. Es sind ungeordnete Schreckensmeldungen und Berichte, die uns täglich erreichen und erschüttern.

 

Liste der Bestialität

J´ accuse! Zur Vorbereitung der Verfahren gegen Gott vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Anklage wegen der Schaffung und Duldung von Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und verbrecherischer Aggression. Missachtung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10.12.1948 und Unterlassung von Hilfe bei Verstöße gegen sie.

„Die Theologie behauptet [und Abermillionen von ihr indoktrinierte Christen – A.M.], Gott müsse sich für das Übel und Leiden in der Welt nicht rechtfertigen, denn er habe es ja nicht verursacht, sondern die Menschen selbst, indem sie das Böse in die Welt brächten. Dies könne man nicht einem Gott in die Schuhe schieben“ (Geißler 2017: Kann man noch Christ sein, S. 27). Es sei die raffinierteste Erfindung der Theologie gewesen, den freien Willen, den Gott dem Menschen geschenkt habe, für die Übel und Leiden verantwortlich zu machen und Gott zu exkulpieren. Habe Gott mit der Freigabe des Denkens, Willens und Handelns nicht das Böse erlaubt und ermöglicht? Es gehöre doch zum Schöpfungswerk Gottes, den Menschen so veranlagt zu haben, dass er auch Böses tut. Folglich: Nicht der Mensch müsse sich für sein Tun vor Gott rechtfertigen, sondern Gott vor den Menschen. Gott müsse, sofern es ihn gäbe, als Schöpfer der Welt für seinen Pfusch geradestehen (ebd., S.10, 22, 73). Die Lobpreisungen auf Gott seien angesichts der Wirklichkeit ein Hohn. “Während auf der Welt ununterbrochen gefoltert und gemordet wird, werde Gott in den höchsten Tönen gepriesen.“ (ebd., S. 32f).

 

Alf Mintzel, Die Schrecken des Krieges XII: Opfer, Lithographie, 2006

Babij Jar, 1941
Halleluja! Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich“ (Psalm 106,1)

Am 29. und 30. September 1941 treiben Sonderkommandos, geheime Feldpolizei, Angehörige der Waffen-SS und ukrainische Nationalisten 33 771 Juden in die in der Ukraine gelegene Schlucht von Babij Jar, zwingen größtenteils Kinder, Frauen und alte Menschen sich nackt auszuziehen, erschießen alle und verscharren sie in einem Massengrab. Bis zum Abzug der deutschen Wehrmacht aus Kiew 1943 blieb die Schlucht Hinrichtungsstätte, an der auch viele Sinti und Roma ermordet wurden. Die Schlucht wurde später zugeschüttet und das Massaker verschwiegen.

 

Alf Mintzel, Die Schrecken des Krieges VII, Lithographie, 2006

Massaker von Lidice, 9./10. Juni 1942
Was Gott tut, das ist wohlgetan; der Name des Herrn sei gelobt (Hiob 1, 20-22)

In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 ermordet ein SS-Kommando 340 Einwohner des tschechischen Dorfes Lidice. 173 Männer werden sofort liquidiert, Frauen und Kinder in nahegelegene Konzentrationslager verschleppt und dort vergast. Das Dorf wird in Brand gesteckt und verwüstet, die Leichen in einem Massengrab verscharrt. Das Massaker war ein Racheakt für die Ermordung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich, des stellvertretenden Reichsprotektors im Protektorat Böhmen und Mähren. Heydrich war an den Folgen des Attentats gestorben, das tschechische Widerstandskämpfer verübt hatten. (SZ Nr. 116, 20./21.05.2017)

 

Alf Mintzel, Folter, Zustand 4, Lithographie, 2006

Auschwitz-Birkenau
Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe! (Psalm 139, 17)

Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau werden 1,3 Millionen Menschen ermordet. Auschwitz wird zum Inbegriff des Holocaust.

 

Hiroshima, 06.08.1945
Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut! (1. Mose 1,31a)

8.15 Uhr Ortszeit. Der US-amerikanische Pilot der B-29 klinkt „Little Boy“ aus, die erste Atombombe in der Menschheitsgeschichte. Die vier Tonnen schwere Uran-235-Bombe explodiert 8.16 Uhr Ortszeit in 600 Metern Höhe über dem Zentrum der japanischen Stadt Hiroshima. Sie setzt eine Sprengkraft von 16 Kilotonnen TNT-Sprengkraft frei. Die Bombe verwüstet ein 13 Quadratkilometer großes Gebiet und siebzig Prozent der Gebäude. Mindestens 75.000 Menschen sind sofort tot. Sie sterben in den Trümmern der einstürzenden Gebäude und verbrennen in Sekundenschnelle im atomaren Feuerball, der noch am Boden Temperaturen von 6000 Grad Celsius erreicht. Der Atompilz steigt 13 Kilometer hoch in die Atmosphäre. Wer die Explosion überlebt, hat meistens schwere Verbrennungen. In den Wochen nach dem Abwurf der Bombe sterben noch einmal 70 000 bis 100 000 Menschen qualvoll an den direkten Folgen. An den Spätfolgen (Leukämie, Herz-, Leber- Augenkrankheiten) gehen weitere 100 000 zugrunde. Bilanz des Verbrechens: „270 000 Menschen starben durch eine einzige Bombe.“ (Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges).
Pilot der B-29, der die Bombe ausklinkte, hieß Paul Tibbers. Er hatte das Flugzeug nach dem Namen seiner Mutter Enola Gay genannt. Der Hiroshima-Pilot wurde in den USA als Held, der Abwurf als heroische Befreiungstat gefeiert. Tibbers antwortete 1981 in einem Interview auf die Frage, ob er ein schlechtes Gewissen habe: „Nein, damit halte ich mich nicht auf. Es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muss ich eher darüber nachdenken, als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit“ (DIE ZEIT Nr. 32, 06.08.2015, S. 19).
Telford Tayler, der Chefankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen die NS-Führer, nannte den Einsatz der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki „ein Verbrechen, für das ich nie eine plausible Rechtfertigung gehört habe“ (SZ Nr. 179, 06.08.2015, S. 7; DIE ZEIT Nr. 32, 06.08.2015, S. 18ff).

 

Alf Mintzel, Die Schrecken des Krieges IX, Lithographie, 2006

Vietnamkrieg USA/Vietkong, 1955–1968
Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm (1. Johannes 4,16)

Die USA setzen Napalm B gegen die zivile Bevölkerung ein. Napalm B besteht aus einem Gemisch aus Benzin, Benzol und Polystyrol, das eine lange verheerende Brenneigenschaft hat. Ein Kanister, gefüllt mit 380 Litern, der aus einem Flugzeug abgeworfen wird, setzt eine Fläche von mehr als 1200 Quadratmetern in Brand. Bei günstigem Wind potenziert sich die Vernichtungskraft. Menschen können sich kaum schützen. Das Feuer breitet sich mit rasender Geschwindigkeit aus und brennt alles nieder. Napalm B frisst sich mit 800 bis 1200 Grad Celsius durch jede Art von Kleidung und verbrennt die Haut und Knochen. Napalm B dringt in Laufgräben, Unterstände und Bunker ein, zieht durch alle Ritzen und Löcher.
Der Sicherheitsberater des 1968 gewählten Präsidenten der USA, der US-Politiker Henry Kissinger, empfahl Richard Nixon, den Krieg gegen Nordvietnam auszuweiten und Napalm B einzusetzen. Angeblich war der „Sicherheitsberater“ Kissinger ein von Gott gesandter Todesengel gegen das „Böse“ (Nordvietnam). Der Vietnamkrieg war das reine Grauen. Am Ende waren mehr als 58.000 Amerikaner tot. Die Zahl der getöteten Vietnamesen wird auf drei Millionen geschätzt.

 

Massaker von Vukovar, 20.11.1991
Gottes Wege sind vollkommen/ die Worte des HERRN sind durchläutert./ Er ist ein Schild allen, die ihm vertrauen. (Psalm 18, 31)

Mitglieder der Jugoslawischen Volksarmee und Mitglieder jugoslawischer Freischärler-Verbände aus Serbien verüben während der Loslösung Kroatiens aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien nahe der kroatischen Stadt Vukovar ein Massaker an der Zivilbevölkerung. Reguläre Truppen der Jugoslawischen Volksarmee nehmen am 20.11.1991 aus dem Krankenhaus von Vukovar 400 Patienten gefangen und bringen von ihnen 300 an einen Ort nahe der Stadt Vukovar. Hunderte von ihnen werden in 10er- und 20er Gruppen aufgeteilt, in nahegelegenen Orte gebracht, 200 werden von Angehörigen der Armee und von Freischärlern ermordet und in einem Massengrab verscharrt.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Vukovar !3.03.2017)

 

Alf Mintzel, Die Schrecken des Krieges XIV, Lithographie, 2006

Das Massaker von Srebrenica, 1995
Jauchzet Gott, alle Lande! (…)rühmet ihn herrlich! Sprecht zu Gott: Wie wunderbar sind deine Werke! (Psalm 66, 1–3)

Im Juli 1995 werden in der Gegend von Srebrenica unter Führung von Ratko Mladic, einem General der bosnisch-serbischen Armee der Republika Srpska, der Polizei und serbischen Paramilitärs bis zu 8000 Bosniaken ermordet. Der Massenexekution fallen Tausende Männer und Jugendliche, Frauen, Kinder und Alte zum Opfer. Die Massenexekutionen dauern mehrere Tage. Die Leichen werden mit schwerem Erdräumgerät verscharrt. Der Internationale Gerichtshof bewertete 2007 das Massaker als Genozid.

 

Guantanamo, seit 2002
Wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen, darum hast Du billig nicht verschont; sondern du hast uns mit Zorn überschüttet und verfolgt ohne Barmherzigkeit erwürgt (Jeremias 5, 12)

Nach dem 11. September 2002 bauen die USA auf dem US-amerikanischen Stützpunkt Guantanamo ein abgeschiedenes Gefangengenlager auf, in das mutmaßliche und tatsächliche Taliban- und Al Kaida-Kämpfer verbracht werden. Die Terrorverdächtigen werden gegen internationale Regeln und Menschenrechten gefesselt in Drahtgehegen gefangen gehalten, systematisch gefoltert und ohne Anklageerhebung und Rechtsbeistand gelassen.

 

Süddeutsche Zeitung, Nr. 35, 2. September 2005, © Süddeutsche Zeitung GmbH, München, mit freundliechr Genehmigung von SZ Content

Folterungen im Abu-Ghraib-Gefängnis, 2004 bis 2006
Ich erkenne, dass du alles vermagst und nichts, was du dir vorgenommen, ist dir zu schwer (Hiob 42, 2,4)

Während der militärischen Besetzung des Irak durch die USA kommt es in dem in der Nähe von Bagdad gelegenen Abu-Ghraib-Gefängnis in den Jahren 2004 und 2006 zu Folterexzessen des US-amerikanischen Wachpersonals. Irakische Gefängnisinsassen wurden vielfach misshandelt, gefoltert und vergewaltigt, oft bis zum Tod. Der Folterskandal wurde von Presseorganen durch die Veröffentlichung von Beweisfotos und -videos aufgedeckt. Es handelte sich nicht um einzelne Verfehlungen, sondern um systematisch angewandte Gewalt an vielen Gefangenen.

 

Enthauptungen im Namen Allahs, 02.09.2014
Der Herr hat´ s gegeben, der Herr hat´s genommen; der Name des Herrn sei gelobt (Hiob 1, 20–22)

Al-Kaida-Terroristen enthaupteten den Journalisten Nicholas Berg im Irak vor laufender Kamera. Das Video zirkulierte lange im Internet und wurde viele Millionen Mal angeklickt. Zu hören war der Moment, in dem die Kehle des Opfers mit einem Messer durchtrennt und dabei die Luft hastig und filterlos ausgestoßenen wurde. Die menschliche Stimme des Opfers verwandelte sich in wenigen Sekunden in ein heißes Zischen. Die Reste der Atemluft entwichen durch die offene Röhre. (Clemens J. Setz: Das grelle Herz der Finsternis, in: DIE ZEIT Nr. 40, 25.09.2014, S. 47) Ein Mitglied des „IS“ zeigte online den Vollzug der Enthauptung. Weitere Enthauptungsopfer waren Jim Foley (USA), Steven Sotloff (USA), David Haines (Entwicklungshelfer) und Alan Henning (GB).

 

Die Liste der Grausamkeiten des Menschen ließe sich ins Unendliche fortführen. Sie müsste um die Naturkatastrophen erweitert werden, in denen unzählige Menschen, Kinder, Frauen, Männer, Alte, Unschuldige und Schuldige ums Leben kamen. Wo war Gott? Wie konnte er das zulassen? Warum hat er so viel Leid geschickt? Was haben meine zwei kleinen Nichten, die dreijährige Jule und die fünfjährige Lina Mintzel, Böses getan, dass dieser Gott sie am 26. Dezember 2004 mit den Fluten des Tsunami ins Meer schwemmen ließ? „Einen solchen Gott müssen (…) Millionen Frauen und Kinder als Hohn empfinden, denn sie tun nichts Schlechtes, und Babys und kleine Kinder haben nicht gesündigt, nichts Böses getan“, so empört sich Geißler (2017: Kann man noch Christsein, S, 23) – und auch ich. Gibt nicht jeder meiner Anklagepunkte Grund genug, die Frage nach der Existenz und Rechtfertigung Gottes in den Himmel zu schreien!?

57. Mein digitaler Weitsprung ins 21. Jahrhundert – eine späte Blogger-Karriere

Ankunft in der „schönen“ digitalen Welt

Ich war bis zu meiner Entpflichtung im Jahre 2000 bezüglich der Neuen Medien in einem selbstverschuldeten Laienstand oder, krasser ausgedrückt, in digitalen Dingen ein „Idiot“. Meine Blogger-Karriere begann erst vor wenigen Jahren, eigentlich zu spät. Leser aus jüngeren Generationen, die in das digitale Zeitalter hineingeboren wurden und von Kindesbeinen an in dieser Welt ganz selbstverständlich kommunizieren, mögen darüber lächeln und sich amüsieren, wie schwer sich alte Menschen tun, sich mit den neuen Geräten und  Techniken  anzufreunden und sie in Gebrauch zu nehmen. Bis über die Jahrtausendwende hinaus schrieb ich meine Texte, Notizen und den Großteil meiner Korrespondenzen mit der Hand und pflegte meine Handschrift. Meine kaligrafische Neigung fand Gefallen und wurde für außerordentlich leserfreundlich gehalten. Ich war ein Fossil aus der vordigitalen Welt. Vor dem Jahre 2000 hatte ich nie daran gedacht, meine autobiografischen Berichte und Erzählungen später einmal einem Rechner anzuvertrauen, geschweige denn dafür das Format eines Blogs zu verwenden. An der Universität Passau waren die Lehrstühle und wissenschaftlichen Einrichtungen erst seit Anfang der 1980er Jahre mit Personal Computers (PCs) ausgestattet und die Sekretariate in ihre Nutzung eingewiesen worden. Die Begriffe Blog und Blogger waren zu jener Zeit noch unbekannt. Die Nutzung der ersten und zweiten Computergeneration hatte ich meinem Sekretariat und meinen wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern überlassen. Sie mussten meine handschriftlichen Textentwürfe und die bisher mit einer elektrischen Schreibmaschine geschriebenen Schriften jedweder Art in den Rechner eingeben. Ich scheute mich an den „digitalen Kasten“ zu gehen – die Geräte waren damals noch viel größer und schwerer – und mich in seine Technik einzuarbeiten. Doch war es prinzipiell keine technische Gegnerschaft, die mich vom digitalen „Teufelswerk“ zurückschrecken ließ, sondern Bequemlichkeit und vor allem die Zeitfrage. Ich befürchtete, es würde mich zu viel Zeit und Mühe kosten, bis ich mich soweit mit diesen Techniken vertraut gemacht hätte, dass ich sie unabhängig von meinem Hilfspersonal selbst anwenden könnte. In den letzten fünf Jahren vor meiner Pensionierung hatte ich noch einmal meine Arbeitskraft in hohem Maße auf den Abschluss publizistischer Projekte konzentriert, vor allem auf die  drei Monografien, die schon über Jahre in Arbeit gewesen waren, auf mein Lehrwerk über „Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika“ (1997), auf „Die CSU-Hegemonie in Bayern“ (1998) und auf die Edition „Hofer Flugschriften im 16., 17. und 18. Jahrhundert“ (2000). Außerdem hatte ich noch am Ende meiner Amtszeit spezielle Kompendien für die Lehre erarbeitet. Diese Publikationen, die insgesamt mehr als 2000 Druckseiten umfassten, waren mit zahlreichen, zum Teil komplizierten Schaubildern, Tabellen und Merkkästen ausgestattet. Es wäre mir auch mit gutem digitalen Know-how und Einsatz nicht möglich gewesen, diese publizistische Kärrnerarbeit in der noch zur Verfügung stehenden Zeit allein zu bewältigen. Ohne treue, digital kompetente und versierte studentische Hilfskräfte hätte ich am Lehrstuhl mein Publikationsprogramm nicht verwirklichen können. Arno Zurstraßen stellte 1989 die Computerfassung des großformatigen Kunstbuches „Es ist noch Zeit genug“ als erstes digitale Druckwerk her. Anke Wagner, geborene Zepf, brachte über Jahre meine wissenschaftlichen Skripte zur digitalen Druckreife. Sie erarbeitete auch noch in dem Jahrzehnt nach meiner Entpflichtung für mein zweibändiges Werk „Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie“ eine digitale Fassung. Das Werk erschien im Jahre 2011 im Berliner Verlag Duncker & Humblot. Der Passauer Lehrstuhl für Soziologie, den ich aus anderen Gründen und im Vergleich mit anderen Forschungsstätten einen „Micky-Maus-Lehrstuhl“ genannt hatte (siehe Blog-Kapitel 28),  erwies sich trotz seiner äußerst beschränkten Mittel als eine produktive Einrichtung – allerdings mit einem gerütteltem Maß an Selbstausbeutung an  Zeit und Mitteln. Anke Zepf bezahlte ich viele Jahre fast durchgängig aus eigener Tasche, so auch zeitweise Einspringer und mit Korrekturaufgaben beauftragte studentische Hilfskräfte. Ich muss gestehen, dass diese wissenschaftsbetriebliche Arbeitsorganisation und dieser Einsatz von Mitteln ohne meine Befugnisse und Möglichkeiten als Lehrstuhlinhaber nicht möglich gewesen wären. Ich profitierte von meinem Status als Ordinarius.

Dann aber kam die Zeit, von der an ich mich, wollte ich weiterhin publizistisch hervortreten, mit der sich inzwischen rasant fortentwickelnden digitalen Welt vertraut machen musste. Ich musste lernen, die Geräte selbst zu bedienen und für verschiedene Zwecke zu nutzen. Kein Verlag, keine städtischen kulturellen Einrichtungen wie Stadtarchive, keine staatlichen Archive, nicht einmal mehr historische Vereine nahmen mehr Skripte an, die nicht bis zum Komma und Strich digital vom Autor hergestellt waren. Dem Autor wurde in der Regel die komplette digital-druckreife Herstellung seiner Skripte zugemutet. Wer diese Umstellung nicht mitmachte, hatte so gut wie keine Chancen mehr, an dem allgemeinen publizistischen Produktionsprozess teilzunehmen. Er fiel, salopp ausgedrückt, aus dem System und verschwand vom Monitor. Es sei denn, er übertrug die Herstellung der digitale (End-) Fassung einer kompetenten Arbeitskraft.

Schon vor meiner Pensionierung hatte meine Frau mich gedrängt, einen eigenen Computer anzuschaffen und mich noch von meinen Hilfskräften anlernen zu lassen. Sie könne und wolle nicht meine Schreibhilfe werden. Sie hatte für ihre Zwecke, vor allem für die Verwaltung und Pflege der beiden Familienhäuser in Würzburg und im Tessin (siehe hierzu Blog-Kapitel 47 und 48), einen Laptop gekauft, einen Schnellkurs absolviert und sich ausreichende Kenntnisse in der Nutzung ihres Gerätes angeeignet. Sie war mir, als ich nach dem Jahre 2000 endlich einen Rechner kaufte, um viele Nasenlängen voraus. Bis ich selbst hinreichende Grundkenntnisse in der Bedienung des Gerätes erworben hatte, was nicht ohne eine beträchtliche Summe an Lehrgeld und fremde Hilfe möglich war, nervte ich meine Frau mit Hilferufen und Wutgeschrei, wenn ich mit meinem digitalen Latein am Ende war und wieder Textteile abgestürzt waren. Wie oft hatte ich zu speichern vergessen und vergeblich herauszufinden versucht, was mir noch so alles an Fehlern unterlaufen war. Weil aber das Schreiben und Publizieren ein Grundbedürfnis geblieben war, das mich täglich an den Schreibtisch drängte, gab ich nicht auf. Im Gegenteil: Ich war von den schreibtechnischen, gestalterischen und kommunikativen Möglichkeiten und Vorteilen so fasziniert, dass ich mit einem geduldigen „learning by doing“ sogar noch über reine Grundkenntnisse hinauskam. Meine Nichte Tonke Franziska Koch aus Berlin richtete für mich eine Website, einen Wikipedia-Account und zwei Blogs ein und öffnete mir damit Zugang zur digitalen Welt. Aber immer noch reichen meine Fertigkeiten nicht dazu aus, meine digital erstellten Skripte allein in die gewünschte druckreife Fassung zu bringen. Ohne Hilfe geht es nicht. Das trifft nun auch auf die Einfügung zahlreicher Abbildungen in meine Blog-Kapitel zu, eine diffizile Arbeit, die Georg Thuringer, Passau, exzellent durchführt. Und Nina Eisen aus Berlin steht mir mit ihrem Lektorat seit Anfang 2016 zur Seite (www.eisen-lektorat.de). Alle Korrespondenzen laufen über den Computer, alle Fragen und Aufgaben werden digital erledigt. Ich bin im Alter von 84 Jahren in dieser neuen Welt endgültig angekommen.

 

Digitaler Weitsprung ins 21. Jahrhundert

Meine Tochter Theresa war es, die mir 2015 nahegelegt hatte, mein autobiografisches Projekt nicht in der klassischen Buchform anzugehen, sondern das Blog-Format zu wählen, das mir bis dahin unbekannt geblieben war. In meinem hohen Alter würde sich dieses Format geradezu als ein schriftstellerischer Königsweg anbieten, weil es alle Vorteile einer raschen, flexiblen, interaktiven und globalen Verbreitung biete. Ich müsse nicht warten, bis das Projekt endgültig abgeschlossen und ein Verlag gefunden sei. Das Projekt ließe sich in actu und Echtzeit im Selbstverlag verwirklichen. Theresa, selbst publizistisch erfahrene und erfolgreiche Bühnenpoetin, Jugendbuch- und Theaterautorin (www.theresa-sperling.de), hatte mich davon überzeugt, dass das Blog-Format tatsächlich am besten gerade auch meinen vielfältigen schriftstellerischen Neigungen entgegenkäme. Ich disponierte um und wurde, wie die Passauer Neue Presse (Nr. 103, 04.05.2016, S. 21) berichtete, „Passaus ältester Blogger“. Allerdings musste ich erst noch mehr Erfahrungen mit diesem Medium sammeln und mich mit seinen formativen Möglichkeiten befassen. Ich setzte zu einem digitalen Weitsprung ins 21. Jahrhundert an und lernte im Verlauf der Arbeit an meinem Blog viel dazu.

Passauer Neue Presse, Nr. 103 vom 4. Mai 2016, S. 21

Die allgemeine, alle seine Modalitäten übergreifende Beschreibung des Mediums und Formats „Blog“ in der Wikipedia-Enzyklopädie lautet: „Häufig ist ein Blog eine chronologisch abwärts sortierte Liste von Einträgen, die in bestimmten Abständen umbrochen wird. Der Blogger ist Hauptverfasser des Inhalts, und häufig sind die Beiträge aus der Ich-Perspektive geschrieben. Das Blog bildet ein Medium zur Darstellung von Aspekten des eigenen Lebens und von Meinungen zu spezifischen Themen, je nach Professionalität bis in die Nähe einer Internet-Zeitung mit besonderem Gewicht auf Kommentaren. Oft sind auch Kommentare oder Diskussionen der Leser über einen Artikel möglich. Damit kann das Medium sowohl dem Ablegen von Notizen in einem Zettelkasten, dem Zugänglichmachen von Informationen, Gedanken und Erfahrungen, etwas untergeordnet auch der Kommunikation dienen, ähnlich einem Internetforum. Die Tätigkeit des Schreibens in einem Blog wird als Bloggen bezeichnet. Die Deutsche Nationalbibliothek bezeichnet Blogs als Internetpublikationen und vergibt seit Herbst 2013 auch ISSNs an Weblogs [Blogs].“ (https://de.wikipedia,org/wiki/Blog abgerufen 02.04 2019)

Die neue Darstellungsform war kurz vor der Zeit meines Eintritts in den Ruhestand entwickelt worden. Ihre Vorläufer waren in den 1990er Jahren aus der Taufe gehoben worden und hatten dann ein schnelles Wachstum erfahren. 1997/98 waren die ersten „Weblogs“ gestartet worden, bald hatte sich in der Bezeichnung die Kurzform „Blog“ durchgesetzt. Laut einer Allensbacher Computer- und Technik-Analyse betrieben in Deutschland im Jahre 2007 bereits 8,4 Prozent der Internetznutzer einen Blog. Im Oktober 2011 soll die Zahl der Blogs weltweit auf etwa 173 Millionen angewachsen sein. (Quelle: Wikipedia, ebenda). Kurzum, ich war als Blogger zugestiegen, als dieses Medium und Format schon eine rasante Verbreitung gefunden hatte und weiterhin rasch wuchs. Grob schematisch werden zwei Kategorien von Blogs unterschieden: „Solche, die ähnlich dem Software-as-a-service-Prinzip von einem meist kommerziellen Anbieter betrieben und beliebigen Nutzern nach einfacher Registrierung zur Verfügung gestellt werden, und solche, die von den jeweiligen Inhabern auf ihrem individuellen Server oder Webspace meist unter eigener Domain betrieben werden.“ (ebenda Wikipedia). Mein Blog ist ohne Zweifel der zweiten Kategorie zuzuordnen. Allerdings schöpfte ich bisher die kommunikationstechnischen Möglichkeiten des Mediums (zum Beispiel die Verlinkung und Vernetzung) nicht voll aus. Genug der allgemeinen Charakterisierung, die auch bei Wikipedia nachgelesen werden kann!

Was für mich das Medium Blog als Kommunikationsform so spannend und interessant macht, sind seine hohe Individualisierung, seine thematische Reflexivität und Variabilität, seine interaktiven Eigenschaften, die Aufhebung der Grenze zwischen Produzent (Autor) und Rezipient (Empfänger) und seine Unabhängigkeit. Mein Blog ist ein völlig autonomes, individuelles Non-Profit-Unternehmen. Ich blogge ohne jegliche kommerzielle Bindung und Ausrichtung. Ich verstehe meinen Blog als Zeugnis und Dokumentation eines Zeitzeugen im Dienst der Überlieferung.

Der Ratschlag meiner Tochter Theresa erwies sich als ein kreativer Anstoß. Dies ist auch unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten von Bedeutung. Die thematische Reflexivität und Variabilität erlaubt im Rahmen eines autobiografisch angelegten Blogs ganz unterschiedliche Themen und Darstellungsweisen: Berichte, Erzählungen, Episoden, Dialoge, satirische Einschübe, Pasquillen, tagebuchartige Notizen, Auseinandersetzungen mit tagespolitischen Vorgängen, hochemotionale Schilderungen von Unglück, Liebe und Tod, Auszüge aus  amtlichen und privaten Korrespondenzen, politische, philosophische und theologische Reflektionen und Diskussionen bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen. Selbst die Preisgabe zutiefst persönlicher Erfahrungen und innerer Kämpfe, also auch Themen und Darstellungsweisen, die normalerweise die psychische und mentale Schmerzgrenze überschreiten, sind möglich. Ich habe als individueller, unabhängiger Blogger große Freiheiten. Ich liebe und nutze diese und habe verschiedene Darstellungsweisen gewählt. Ich muss, wenn ich nicht will, keine Rücksicht mehr nehmen auf Großinstitutionen, Fakultäten, Fachschaften und Karrierezirkel. Soweit ich keine Persönlichkeitsrechte verletze, kann ich Ross und Reiter beim Namen nennen und Vorgänge aufdecken, über die normalerweise geschwiegen wird. Auf einzelne Aspekte bin ich schon in vorangegangenen Blog-Kapiteln eingegangen (zum Beispiel in der Einleitung „Zwischen den Stühlen war viel Platz“, in Kapitel 23 und 29–31).

Der verstorbene Schauspieler Peter Ustinov hat einmal gesagt: „Wir alten Männer sind gefährlich, weil wir keine Angst mehr vor der Zukunft haben. Wir können sagen, was wir denken, wer will uns dafür strafen?“

Dafür ist ein autobiografischer Blog wie geschaffen. Ich bin 84 Jahre alt. Meine Karriere ist zu Ende. Ich kann sagen, was jüngere und abhängige Leute besser für sich behalten. Das macht einen Blog interessant. Professorenkollegen, die mit aufgeblasener Blasiertheit meinen, den richtigen Geist zu vertreten und sich dünkelhaft inszenieren, können nicht mehr meine Existenz als Wissenschaftler gefährden. Ich vermute, dass Kollegen das Medium und Format Blog schon wegen seiner Freiheiten für unseriös halten.

 

Blogger, Themen, Sprachstile, Leserschaft

Die thematische Vielfältigkeit und die entsprechenden Darstellungsweisen, die das Format Blog ermöglicht, verlangen allerdings bei aller Freiheit selbstkritische und fremde Kontrollen. Mein autobiografischer Blog ist an eine anonyme Leserschaft gerichtet. Generell können sich alle Internetnutzer einloggen, beliebige Kapitel auswählen und lesen und, wenn sie wollen, reaktiv in Form von Kommentaren darauf antworten. Entsprechend seiner thematischen Vielfalt richtet sich mein Blog potentiell an ganz unterschiedliche Internet-Nutzerkreise, an Leser, die an Lebensgeschichten interessiert sind, an wissenschaftliche Fachkreise aus Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie und anderen Fächern, an lokalgeschichtlich und familiengeschichtlich  interessierte Personenkreise, also generell an Fachleute und Laien mit verschiedenem Ausbildungs- und Informationsstatus. Weil ich meinen Blog nicht als Tagebuch angelegt habe, das zu einem täglichen Meinungs- und Informationsaustausch anregen soll, sondern Themen, Fragestellungen, Ereignisse und Erlebnisse relativ ausführlich und anspruchsvoll behandle, verwende ich in der Regel die Berichts- und Erzählform als Stilmittel. Sie entspricht auch am besten den autobiografischen Absichten und Aufzeichnungen. Solchermaßen gestaltete Blog-Kapitel könnten es allerdings Nutzern erschweren, sich in Kommentaren zu den verschiedenen Inhalten zu äußern. Auch die stilistische Form des Essays bietet sich an, könnte aber ebenfalls potenzielle Leser zurückhalten, Kommentare zu schreiben. Damit steht der interaktive Charakter des Mediums Block in Frage. Thematische Vielfältigkeit und Anspruchsniveau bestimmen also die stilistischen Darstellungsweisen. Eigentlich müsste ich ein professioneller Kommunikations- und Informationsexperte sein, um Stilmittel thematisch angemessen einsetzen zu können.

Und hier kommt das Lektorat ins Spiel. Es gibt in meinem Fall noch eine besondere stilistische Problematik, die darin liegt, dass ich als Wissenschaftler und Universitätsprofessor von den 1960er Jahren an bis heute ununterbrochen publizistisch tätig gewesen bin. Ich habe von der Pike an die Regeln und Methoden wissenschaftlichen Schreibens gelernt und befolgt. Ich habe mehrere Bücher verfasst und zahlreiche Artikel geschrieben. Alles Schreiben war der Forderung nach sachlicher Präzision unterworfen. Die Ich-Perspektive war verpönt. Zu den Charakteristika der Wissenschaftssprache gehören Sachlichkeit Genauigkeit, Klarheit, argumentative Erkenntnisvermittlung, Vermeidung von Ich-Bezogenheit und persönlicher Emotionalität.  Natürlich habe ich im Laufe der vielen Jahre eine persönliche „Handschrift“ entwickelt. Dabei haben sich auch stilistische und argumentative „Unarten“ eingeschlichen und verfestigt. Ich neige zu überakribischen Beschreibungen, zu umständlichen Formulierungen, zu Wiederholungen und übertreibe ein wenig die in der Wissenschaft gebotene entpersönlichte, „rein sachliche“ Darstellungsweise. Zu glauben, dass diese jahrzehntelangen „Schreibübungen“ einen dazu prädestinieren, einen Blog zu pflegen, geht fehl. Im Gegenteil: Sie sind eher hinderlich, weil die eingeübte wissenschaftliche Darstellungsweise dem Medium und Format Blog, es sei denn, er wurde von vorne herein für fachwissenschaftliche Zwecke eingerichtet, widerspricht. Quellenangaben und Belege, eine eiserne Pflicht in der Wissenschaft, sind zwar bei anspruchsvollen Blog-Themen nicht ganz vermeidbar, sie müssen aber auf ein geringes Maß reduziert werden. Das Medium Blog, besonders seine autobiografische Variante, zeichnet dagegen ein hohes Maß an Ich-Bezogenheit und Emotionalität aus. Berichte und Erzählungen sind auf den Autor zentriert. Er teilt seine Meinungen, seine Einstellungen, Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse mit und erhofft eine kommunikative Resonanz. Am Anfang meines Bloggens war mir das alles nicht so klar. Ich musste um- und dazulernen. Es war nicht leicht und einfach, aus dem Wissenschaftler einen Blogger werden zu lassen.

Dazu brauchte ich, wie sich rasch ergab, die professionelle Hilfe eines Lektorats. Frau Nina Eisen, meine Lektorin, griff ein und ermahnte mich oftmals, meinen wissenschaftlichen Stil zurückzudrängen, die subjektive Berichts- und Erzählform viel stärker zu betonen und, wo immer es auch geht, aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Der potenzielle Leser müsse auch emotional hineingezogen werden. Nina Eisen überprüfte jedes Kapitel auf stilistische und inhaltliche Mängel und ließ keine Passage durchgehen, in der ich persönlich erlebte Ereignisse und Vorgänge zu umständlich und trocken dargestellt hatte. Ohne ihre kreativen Empfehlungen, konkreten Vorschläge und wiederholten Eingriffe in Texte wäre manches Kapitel schwer genießbar geblieben. Der Wissenschaftler Mintzel kam aber in einigen Kapiteln immer wieder stilistisch zum Vorschein, vor allem in den Kapiteln, die speziell meine Rolle als Wissenschaftler betrafen (sieh zum Beispiel die Blog-Kapitel 32, 43 und 46). Mein autobiografischer Blog bleibt für mich ein interessantes schriftstellerisches Experimentierfeld. Ich studiere von Blog-Kapitel zu Blog-Kapitel seine Funktionsweisen und lerne aus meinen Fehlern. Es macht mir ausgesprochen Spaß, im hohen Alter mit diesem Medium zu arbeiten.

 

„Ruhestörung“

Zur Ich-Bezogenheit, Emotionalität und Privatheit, zu diesen Verbotsnormen wissenschaftlicher Darstellungsweisen ein aktuelles Beispiel. In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 6./7. April 2019 (Nr. 82, S. 30) wurde berichtet, dass ein Privatsender die Öffnung eines altägyptischen Grabes in Ägypten in Echtzeit live überträgt. Eine Sensation! Der Ägyptologe Michael Höveler-Müller wird den Vorgang vor laufender Kamera im deutschen Fernsehen kommentieren. Höveler-Müller wurde von der Süddeutschen Zeitung vorab gefragt, ob diese Grabkammer bislang sein aufregendster Fund gewesen sei. Der Ägyptologe antwortete: „Mein erster Skelettfund 1998. Das Grab war 6000 Jahre alt und völlig unberührt. Es war ein Sandgrab, noch ganz am Anfang der ägyptischen Geschichte, auf einem sehr elitären Friedhof, auf dem rund 500 Jahre später die ersten Könige Ägyptens beigesetzt werden sollten. Das Skelett lag auf der Seite und die Beine waren angezogen, wie bei einem Fötus. Er war in ein Fell gehüllt und hatte Gefäße bei sich und Schmuck und Waffen. Ich war der erste Mensch, der dieses Grab geöffnet hat.“ Die nächste Frage des SZ-Interviewers: „Was empfand man da?“ [warum das entpersönlichende „man“, warum nicht „Sie“? –  A.M.].  Darauf Höveler-Müller: „Ich muss sagen: Ich hatte Schuldgefühle. Ich wollte immer so ein ungestörtes Grab finden, und als ich es dann endlich gefunden hatte, habe ich mich ganz schlecht gefühlt. Weil ich der erste Mensch nach 6000 Jahren war, der die Ruhe dieses Toten gestört hat. Ich habe dann an die Menschen gedacht, die hier wohl am Rand der Grube standen, geweint haben und ihrem Angehörigen Opfergaben mit ins Grab gegeben haben. Ich fand das ganz makaber. Ich hatte lange daran zu knabbern.“

Auf die erste Frage antwortet der Ägyptologe sachlich und nüchtern in der Sprache der Wissenschaft. Er könnte nun des Weiteren schildern, mit welchen modernen Techniken die Archäologie das Grab und seine Inhalte untersucht und welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden können. Aber auf die zweite Frage antwortet der Forscher emotional. Er spricht darüber, wie ihn das in Fell gekleidete Skelett und die Situation am Grab psychisch und mental ergriffen haben. Er gibt seine persönlichen Gefühle preis, sein Erschaudern, sein Schuldgefühl, die Totenruhe gestört zu haben. Das alle gehört nicht in den streng wissenschaftlichen Forschungsbericht der Archäologie. Das gehört in den Bereich des persönlichen Erlebens und in die „Psychologie der Forschung.“  Der Wissenschaftler könnte als Blogger frei darüber berichten. Eine Mischform aus wissenschaftlichen Bericht und Schilderung persönlicher Gefühle würde seinen Blog vermutlich besonders interessant machen. Meine Lektorin Nina Eisen hat den Wissenschaftler Mintzel immer wieder aufgefordert, die ganz persönliche Komponente und Perspektive aufzuzeigen und den Leser mit stilistischer Lockerheit und ungezwungen in seine Gedanken- und Erlebniswelt mitzunehmen. Das war allerdings von Anfang an meine Absicht gewesen. Allein mit der Umsetzung haperte es wiederholt.

Die Ich-Bezogenheit und autorzentrierte Darstellungsweise, die Autobiografien eigen sind, garantieren allerdings nicht automatisch eine spannende Lektüre. Das trifft auf die Buchform ebenso zu wie auf einen autobiografischen Blog. Der emeritierte Politikwissenschaftler und ehemalige bayerische Kultusminister (1970–1986) Hans Maier hat in seiner Autobiografie „Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff.“, die 2012 erschienen ist, einen – so sehe ich das – in Teilen langweiligen Lebens- und Arbeitsbericht vorgelegt. Man liest seine Selbstdarstellung an und ist bald erschlagen von so viel Selbstsicherheit, stets auf der richtigen Seite gestanden, stets das Richtige geglaubt und getan zu haben, immer zu den Guten gezählt und ein makelloses, ehrenvolles Leben geführt zu haben. Wenig Zweifel, keine Irrtümer, keine Rebellion. Persönliche und berufliche Fehlentscheidungen werden bestenfalls angedeutet. In seinen Kapiteln über die 1968er-Bewegung und ihre Auswirkungen bezieht Hans Maier eine entschieden katholisch-konservative Verteidigungsposition, wehrt und wertet die 1968er-Bewegung vehement ab und sieht in ihr nur Unvernunft und Irrsinn wirksam. Er äußert sich süffisant über einen renommierten Kollegen. Er derbleckt, wie man in Bayern sagt, den Berliner Historiker Karl Dietrich Erdmann und zeigt dabei seine abgrundtiefe Abneigung gegen die 1968er-Bewegung und Intellektuelle. Ich zitiere Maier:

„Ich erinnere mich auch an die Berichte über die Beisetzung Ohnesorgs in Hannover und an die Rede, die Jürgen Habermas, der umjubelte Sprecher, aber auch kritische Begleiter der Revolte, bei dieser Gelegenheit hielt. Hier fiel zum ersten Mal sein Wort vom ,linken Faschismus‘; es galt Rudi Dutschke, den ich in Berlin mehrfach bei Demonstrationen erlebt hatte und der mir in seiner Verbindung von fanatischer Entschlossenheit, Gesinnungseifer und oft ziellosen Aktionen tief fremd war. Aber ich habe auch andere Reaktionen erlebt: Ein so nüchterner Kollege wie Karl Dietrich Erdmann flüsterte mir einmal während einer Dutschke–Rede, die wir im Radio hörten, begeistert zu: ,Der junge Luther! Der junge Luther!‘ Das Attentat auf Dutschke im folgenden Jahr – verübt von einem Hitler-Anhänger aus München – hat mich entsetzt und erschüttert, es war der eigentliche Auftakt zu den Osterunruhen  1968, mit denen der studentische Protest in eine breite Öffentlichkeit schlug.“ (ebda., S. 160)

Fast automatisch stellt sich bei mir angesichts so fester Gewissheiten und Selbstgefälligkeiten die Assoziationskette ein: „katholisch, brav, bieder, gottergeben, langweilig“. Aber das ist natürlich ein Klischee. Der katholische Rebell Heiner Geißler (CDU), dem ich meinen Respekt gezollt und ein ganzes Blog-Kapitel gewidmet habe, beweist das Gegenteil. Geißler hat mich mitgerissen in seinen rebellischen Ausführungen zur Frage „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ (siehe Blog-Kapitel 44). Hans Maiers autobiografische Berichte haben mich als Zeitgenosse, der zwanzig Jahre lang in Westberlin, einem Hauptbrennpunkt der 1968er-Bewegung, hautnah die APO-Zeit miterlebt hat (siehe Blog-Kapitel 14,15 und 18), interessiert, aber nicht innerlich ergriffen. Ich sah mich mit seiner Position und Einschätzung konfrontiert und dachte noch einmal über mein eigenes Denken und Handeln in jenen turbulenten Jahren nach. Insoweit waren diese Kapitel für mich spannend. Meine Sympathien gehören aber, so spüre ich es innerlich, mehr Rebellen wie Heiner Geißler, weniger so braven und feinsinnigen Hochschullehrern wie Hans Maier.

Ich erfahre bei der Lektüre autobiografischer Berichte und Erzählungen viel über mich. Trifft das auch auf potenzielle und tatsächliche Leser und Leserinnen meines Blogs zu? Wie kommen meine Blog-Kapitel beim Rezipienten an, was lösen sie aus? Ich weiß es nicht. Bisher wurden nur wenige Kommentare gepostet. Und die waren äußerst knapp.

 

Die EU-Urheberrechtsreform (2019) aus der Sicht meiner Blogger-Praxis

Es gibt noch andere Gründe, mich mit dem Medium und Format des Blogs als solchem zu befassen und aus meiner Blogger-Praxis zu berichten. Ein Grund ist, dass ich angefangen habe, in die einzelnen Blog-Kapiteln Bildmaterial einzufügen: private Fotos, schriftliche und gedruckte Dokumente, Ablichtungen von Korrespondenzen, Abbildungen von eigenen künstlerischen Werken und Skizzen, Zeitungsauschnitte und anderes. Ich bin überzeugt, dass die Abbildungen die Inhalte der Blog-Texte ungemein verlebendigen. Genannte und zitierte Personen erscheinen im Bild und rücken uns ganz nahe. Politische Flugblätter veranschaulichen die damaligen Kontroversen und Konflikte. Mögen die Darstellungseisen meiner Blog-Texte auch gut gelungen sein, Abbildungen bringen uns vieles optisch noch näher. Wir leben im Zeitalter des digitalen Bildes. Das gilt ebenso für das Medium Blog und gerade auch für seine autobiografische Variante. Der andere Grund ist die Verabschiedung der EU-Datenschutz-Grundverordnung Ende März im europäischen Parlament. Die heftigen Auseinandersetzungen darüber gehen mich als Blogger direkt an, weil sowohl meine Texte als auch mein beigegebenes Bildmaterial rechtlichen Rahmenbedingungen des Urheberrechtsschutzes unterliegen. Ich habe mich deshalb über Wochen intensiv mit den Debatten und Berichten über die umstrittenen Artikel befasst und die Konsequenzen für mein Bloggen geprüft. Der aktuelle Einschub dieses Blog-Kapitels ist nicht zuletzt diesen rechtlichen Streitfragen geschuldet, über die ich hier allerdings nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren will und kann. Die Materie ist zu komplex. Eines ist aber gewiss: Ich benutze urheberrechtlich geschützte Bilder und Texte und bewege ich in einem weiten Graubereich. Es könnte sein, dass ich in dem einen oder anderen Fall sogar Persönlichkeitsrechte und strafrechtliche Normen verletze. Jedenfalls muss ich als Blogger, der es nicht mit einem freundlichen Hin- und Her von unverfänglichen Gedanken- und Meinungssplittern bewenden lässt, die einschlägigen Rechte bedenken und beachten. Unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten darf ich mit einer gewissen Kulanz der Rechtseigentümer (copyright) rechnen, weil mein Blog, wie ich eingangs schon hervorgehoben habe, kein gewinnorientiertes  gewerbliches Unternehmen ist, sondern  ein autonomes, persönliches  Non-Profit-Projekt, das obendrein der Dokumentation einer Zeitzeugenschaft dient. Die Süddeutsche Zeitung hat mir deshalb – um ein Beispiel zu erwähnen –  auf meine Bitte hin, Textauszüge und Abbildungen zu genehmigen, „die Online-Nutzung von bis zu zehn SZ-Artikeln/Titelseiten kostenfrei“ erlaubt (Syndikation Süddeutsche Zeitung, 11.03.2019). Auch das gehört, wie ich meine, in den Werkstattbericht eines Bloggers.

55.4 Zur bayerischen Landtagswahl 2018 – 4. Folge (4.11.2018)

Mit dieser vierten Folge setze ich meine Beobachtungen und Steh-Greif-Analysen der bayerischen Landtagswahl 2018 fort. Ich versuche die Ereignisse und Vorgänge, die sich auf der parteipolitischen Bühne und im Wahlkampf abspielen, möglichst synchron und im Zeittakt ihres Ablaufs aufzuzeichnen und unmittelbar dazu Stellung zu nehmen. Denn hinterher ist man bekanntlich immer etwas schlauer. Mit dieser Art protokollarischer Aufzeichnung ist es möglich, später bzw. danach zu kontrollieren, ob, inwieweit und wie scharf ich die aktuellen Vorgänge treffend beobachtet habe. Außerdem ermöglichen mir (und anderen) meine im Internet veröffentlichten Texte zu kontrollieren, ob ihre Inhalte woanders verwertet und kommentiert werden. Für Hinweise und Diskussionsbeiträge bin ich sehr dankbar.

Hybris und Demut

Als vor der Landtagswahl demoskopische Umfragen hatten erkennen lassen, dass die CSU bei den Wählern drastisch an Zustimmung verloren und sie mit einem spektakulären Wahldebakel zu rechnen hatte, wuchsen in der CSU-Führung mit jedem Umfrageergebnis Nervosität und Verunsicherung. Je näher der Wahltag kam und je tiefer die Umfragewerte sanken, desto mehr verstiegen und vergriffen sich der bayerische Ministerpräsident und seine Wahlkampfhelfer in ihren Attacken. Markus Söder glaubte, im letzten Moment mit Katastrophenwarnungen und einer „Bayern first“-Rettungsaktion eine Wende zugunsten der CSU herbeiführen zu können. Er fuhr zu Propagandazwecken aus dem ideologischen Arsenal der bayerischen Staatspartei die schwersten Kaliber auf: „Wir befinden uns in einer ernsten Situation, nicht nur für uns, sondern für die Demokratie in unserm Land.“

Man müsse unbedingt „den Mythos Bayern erhalten.“  (PNP NR. 215, 17.09.2018, S.3). Bayern sei immer „ein Modellfall der Demokratie“ gewesen. Bayern sei „einzigartig, es wäre schade, es in falsche Hände zu geben.“ Wenn es so komme, wie es sich in den Umfragen andeute, dass sechs Parteien ins Landesparlament einzögen, dann „könnte Bayern zum Problemfall der Demokratie werden“. Söders Appelle mündeten in Weckrufe wie: „Steht auf, wenn ihr für Bayern seid!“

Rettet mit eurer Stimme die CSU! Rettet Bayern! Rettet die Demokratie in Bayern! Er setzte sinngemäß CSU, Bayern und Demokratie in eins. Einer der CSU- und Bayern-Auguren und Kommentatoren, Professor Dr. Heinrich Oberreuter (Passau), warf in einem Interview mit dem Münchner Merkur (04.10.2018) der CSU Hybris vor. Denn alles, was sie an zugespitzten Gefährdungspotenzialen benenne, beruhe auf der Hybris, dass das Wohl des Freistaats Bayern mit dem Wohl der CSU identisch sei. „Die(se) Position sollte man“, so fügte er hinzu, „in einer pluralistischen Demokratie besser nicht einnehmen, wenn man es mit der Demokratie ernst meint.“ Mitnichten sei „die Demokratie in Bayern gefährdet, wenn die CSU nicht allein regieren kann.“ Mitnichten sei die Stabilität in Bayern gefährdet, wenn es eine Koalition brauche.

In seinem Gastbeitrag für die Passauer Neue Presse (Nr. 233, 09.10.2018, S. 2) warnte Oberreuter: Man sollte das „plurale Volk nicht für dumm verkaufen.“ „Im Wahlendspurt Optimismus zu propagieren und zugleich darüber zu streiten, wer das doch kommende Desaster zu verantworten hat, bugsiert (…) in die nächste Glaubwürdigkeitsfalle.“ Oberreuter gab der CSU-Führung zurecht, wie ich meine, eine Lektion in Demokratiekunde – von wegen „Modellfall der Demokratie“.

Erst in der Woche vor der Wahl begann Söder sich zu mäßigen und von seinen völlig überzogenen Gefährdungssprüchen und seinem aggressiven Vokabular (Asyltourismus, Abschiebeindustrie etc.)  abzulassen. Er hatte zudem einsehen müssen, dass einstmals wirksame Identitäts- und Abgrenzungsparolen nicht mehr den erwünschten Effekt haben. Der Verlust der absoluten Mehrheit der CSU war ein Absturz in die gewandelte gesellschaftliche und politische Wirklichkeit des Freistaats Bayern. Markus Söder musste „mit Demut“, wie er seine „Betroffenheit“ pietistisch umdeutete, Wandel und Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Die Ära der CSU-Hegemonie in Bayern ist 2018 endgültig zu Ende gegangen (Alf Mintzel, 1998: Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer). Söders öffentliche Präsentation der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zwischen CSU und der Hubert-Aiwanger-Partei (FW) am Abend des 4. November 2018 zeigte einen Ministerpräsidenten, der sich vom aktionistischen „Politrowdy“ (SZ Nr. 254, 05.11.218, S. 29) zu einem fürsorglichen, kompromissbereiten und sanften  „Landesvater“ zu entwickeln scheint. Am Pult neben Söder stand bei diesem Auftritt der Landesvorsitzende der CSU und Bundesinnenminister. Seehofer durfte zur Eröffnung ein paar Segenswünsche für die Arbeit der „Bayern-Koalition“ (CSU/FW) und für Bayern aussprechen. Das alles sei gut für Bayern. Wer genau hinsah und Seehofers Gesichtsausdruck und Redeweise beobachtete, dem konnte nicht entgehen, dass hier ein Mann blass und bleich auf Abruf stand. Von der neuesten Nachricht, wonach der abgesetzte Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, aus Anlass seines Ausscheidens hausintern eine politisch brisante Rede gehalten haben soll, hatte er nach eigener Auskunft keine Kenntnis. Auch die „Personalie Maaßen“ wird nochmals den politischen Druck auf Seehofer so stark erhöhen, dass er in Kürze aus seinen Ämtern ausscheiden muss. Die überraschende Ankündigung (29.10.2018) der Bundeskanzlerin, sie werde im Dezember des Jahres ihr Amt als Bundesvorsitzende der CDU aufgeben und  mit dem Ende der laufenden  Bundestagsperiode sich ganz aus der Politik zurückziehen, wirkt sich auch auf das  gespannte Verhältnis von CDU und CSU aus. Zwar wird in beiden Parteien beteuert, man mische sich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten und Entscheidungen der Schwesterpartei ein, aber es besteht kein Zweifel, dass Wechselwirkungen besonders in Spitzenpositionen  unvermeidlich sind und eine Eigendynamik entwickeln, die die gesamte Union betreffen.

55.3 Zur bayerischen Landtagswahl 2018 – 3. Folge (26.10.2018)

Horst Seehofers Sturz steht kurz bevor

Noch vor der Jahreswende 2018/19 wird Horst Seehofer, dessen bin ich sicher, seine Ämter als Landesvorsitzender der CSU und Bundesinnenminister aufgeben müssen. Sein Sturz ist nur noch eine Frage der aktuellen Umstände und des Zeitpunkts. Schon unmittelbar nach der hessischen Landtagswahl (28.10.2018), in der CDU und SPD aller Voraussicht nach folgenreiche Verluste hinnehmen müssen, wird Seehofer zum Rücktritt von seinen Ämtern gezwungen. Die Mehrheit der Bundesbürger ist der Meinung, er sei der Hauptstörfaktor in der Großen Koalition, er trage permanent Zwistigkeit in die Bundespolitik hinein, er boykottiere eine gedeihliche Bundespolitik, er treibe seine Obstruktionspolitik auf die Spitze, drohe die Union zu spalten und vergreife sich in Stil und Ton. Auch in seinem Stammland Bayern werden die Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Bundeskanzlerin vor allem ihm angelastet.

Auch in Führungskreisen der CSU und an der CSU-Basis verliert Seehofer an Rückhalt. Ehemalige prominente CSU-Größen wie Theodor Waigel, Erwin Huber, Barbara Stamm, Max Straubinger und andere fordern nach dem Wahldebakel in öffentlichen Stellungnahmen rasche Konsequenzen und meinen damit mehr oder weniger unverblümt Seehofers Rücktritt. CSU-Kreis- und Bezirksverbände halten nicht mehr still, an der Parteibasis rumort es, der Unmut über die politischen Manöver und Winkelzüge des Landesvorsitzenden wächst. Der parteiinterne Vorwurf bemängelt, er habe seine ganze Kraft ausschließlich in die Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie in die Sicherheitspolitik investiert und dabei andere zentrale Politikfelder wie Umwelt und Ökologie vernachlässigt und den Grünen überlassen. Seine Auseinandersetzungen mit der Bundeskanzlerin seien überdies im Stil und im Ton überzogen und kontraproduktiv gewesen. Seehofers wiederholte indirekte Andeutungen, er werde gegebenenfalls zurücktreten, werden als Versuche gewertet, sich im Amt zu halten und personelle Konsequenzen bis zu einem Sonderparteitag hinauszuschieben. Seehofer wehrt sich.

Ich will nur zwei Beispiele anführen, ohne hier den jeweiligen politischen Kontext skizzieren zu können. Wissenschaftliche Spezialanalysen mögen später einmal untersuchen und beurteilen, was sich genau abgespielt hat und welche Wirkfaktoren mit welchem Gewicht den Gang der Dinge bestimmt haben. Aktuelle Stimmungen und Meinungen sind es, die Seehofer zu Fall bringen werden. Stimmungen entspringen nicht rein rationalen Kalkülen. Stimmungen sind mächtige Flutwellen, die in Ämter tragen, aber auch vom Sessel reißen, ihre Kraft ist nicht kalkulierbar. Eine ungeschickte Wortwahl oder ein falscher Zungenschlag genügt, um Stimmungen umschlagen zu lassen. Gestauter Unmut macht sich Bahn.

Seehofers Äußerung vom 6. Juni 2018, „die Migration (sei) die Mutter aller Probleme“ in Deutschland, löste einen medialen Sturm aus, Zustimmung und Ablehnung, enthusiastischen Beifall und harsche Kritik. Seine Behauptung erntete im Internet 5.200.000 Treffer. Aus den obersten Führungsrängen der CSU (und der CDU) mussten ihm Parteifreunde interpretativ beispringen, um seiner Behauptung eine seriöse/plausible Deutung zu verleihen (Alexander Dobrindt u.a.), Angela Merkel wich diplomatisch aus. Sie sage das anders: „Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen. Und dabei gibt es auch Probleme.“ Es gebe auch Erfolge. Doch half die geschickte Distanzierung Seehofer nicht aus der sprachlichen Klemme. Die politischen Nachwirkungen zeigten sich dann auch in der bayerischen Landtagswahl 2018 an den Wählerwanderungen weg von der CSU. Seehofers Behauptung ist logisch falsch, in der Sache faktisch nicht haltbar und politisch desaströs. Was haben Dieselabgaswerte, Stromnetzfragen, gentechnikfreie Landwirtschaft, Straßenausbaubeiträge, der Bau einer dritten Startbahn am Münchner Flughafen und andere Politikfelder mit der Migrations- und Asylproblematik zu tun? Aber er blieb mit einer kleinen Korrektur, mit einem „nicht nur“, bei seiner Behauptung. (Belege für viele: https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/CSU-und-Frei…abgerufen am 19.10.2018; https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/seehofer-migr…abgerufen 25.10.2018)

Das andere Beispiel. „Noch mal mache ich einen Watschenbaum nicht. Man kann mich kritisieren, aber das zu reduzieren auf den Horst Seehofer, und der ist für alles verantwortlich, das werde ich persönlich nicht mitmachen.“ „Eher stelle ich mein Amt als Parteivorsitzender zur Verfügung.“ Und an anderer Stelle fügte er hinzu: Er stehe zu seiner Verantwortung als Landesvorsitzender, „aber ich übernehme sie nicht alleine“ (SZ Nr.243, 22.10.2018, S. 1). Seine „Watschenbaum“–Klage, er habe mit eisernem Willen konsequent eine sachlich gute Politik vertreten und dies in Übereinstimmung mit den strategischen Zielen der Partei, klingt nach heroischer Selbststilisierung und Selbstmitleid.

Seehofer ist keine charismatische Persönlichkeit, kein Visionär, ihm fehlt eine menschheitsgeschichtliche Perspektive. Ihn zeichnen keine Eigenschaften aus, die seinen Fall aufhalten könnten. Seehofers – gespielte? – Gelassenheit und Beharrungsneigungen wirken altersbockig und uneinsichtig. Er nimmt anscheinend nicht wahr, dass seine öffentlichen Auftritte und Äußerungen ihn nur noch weiter ins Trudeln bringen und seiner Partei schaden. Gerade in kritischen Situationen wirken seine Auftritte beschränkt und kleingeistig. An seinem 69. Geburtstag in der Öffentlichkeit genüsslich lächelnd zu bekunden, dass selbigen Tages 69 Afghanen abgeschoben worden seien, lässt jede Mitmenschlichkeit vermissen. Da sprach eine bürokratische Krämerseele aus ihm, der ein Kompass fehlt für die zivilisatorischen Tragödien. Dies wird auch von der urbanen, liberalen und weltoffenen Wählerschaft wahrgenommen.

55.2 Zur bayerischen Landtagswahl 2018 – 2. Folge (21.10.2018)

Die Kreuz-Symbolpolitik der CSU

Wortlaut des Kreuz-Erlasses vom April 2018:

Ministerrat beschließt das Aufhängen von Kreuzen in Dienstgebäuden des Freistaats: Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes im Freistaat ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns deutlich wahrnehmbar ein Kreuz als sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und in Deutschland anzubringen. Der Ministerrat hat am 24. 4. eine entsprechende Änderung der allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern beschlossen. Das Kreuz ist das grundlegende Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung. Die Verpflichtung gilt für alle Behörden des Freistaats Bayern ab dem 1. Juni 2018. Gemeinden, Landkreisen und Bezirken wird empfohlen, entsprechend zu verfahren.“

Mit dieser Anordnung hat die bayerische Staatsregierung ihren identitätspolitischen Kurs fortgesetzt, den sie seit der bayerischen Kruzifix-Debatte von 1995 verfolgt hatte. Die Staatsregierung maßt sich an, kraft ihrer amtlichen Hoheit allgemein verbindlich definieren zu dürfen, was das Kreuz gefälligst zu symbolisieren habe, und macht das Kreuz zu einem bayerischen Staatssymbol. Sie schließt hierdurch andere religiös-konfessionelle Bekenntnisse und weltanschauliche Orientierungen aus. Das zentrale Symbol des christlichen Glaubens wird staatsamtlich seines zentralen Glaubensinhalts beraubt und zur kulturellen Dekormasse gemacht. Führende CSU-Politiker benutzen das Kruzifix als soziales Bindemittel. Mit der Kreuz-Symbolpolitik soll insbesondere die katholische Wählerschaft bei der CSU-Stange gehalten werden.

In der neuen Debatte über die Kruzifix-Anordnung sind die Streitfragen von 1995 in ihren Grundpositionen fortgesetzt und zugespitzt worden. Drei der sieben Verfassungsrichter hatten damals ein Minderheitsvotum vertreten, wonach das Kruzifix zur bayerischen Lebenswelt und zur Alltagskultur gehöre. Das Kruzifix sei ein Traditionssymbol ohne Glaubensinhalt. Ein missionarischer Charakter käme ihm nicht zu. Unter den besonderen bayerischen Verhältnissen bliebe das Kreuz im Rahmen des kulturell Typischen und Üblichen. Unter dem Motto „Das Kreuz bleibt – gestern, heute und morgen“ hatten sich 1995 die katholische Amtskirche, das Landeskomitee der Katholiken und zahlreiche katholische Laienorganisationen zu einer Aktionseinheit zusammengefunden und in München eine „Wehrt-Euch-Großdemonstration“ durchgeführt. Die freundliche vielfältige Kooperation von bayerischer Staatsregierung und katholischer Kirche hatte sich 1995 demonstrativ in wechselseitiger agitatorischer Indienstnahme kundgetan. Das Kruzifix gehöre zu Bayern, so der damalige CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber, wie der Chiemsee und die Berge, wie der Maßkrug und der Maibaum. In den Kruzifix-Debatten geht es um die kollektive Identität der bayerischen Heimatwelten, um „Bayerisches“ und „Nichtbayerisches“, um das Wir-Gefühl in Abgrenzung zu anderen. Die im bayerischen Volksschulgesetz vorgeschriebene Pflicht, an staatlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen, verstoße folglich nicht gegen Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die christsozialen Identitätsmanager verstehen sich noch immer als Hüter und Pfleger bayerischer Heimatwelten und machen sich hierzu das Kreuz zu eigen. Staatsregierung und CSU bedienen mit ihrer christlich-abendländisch aufgeladenen Kreuz-Symbolpolitik katholische Heimatsphären und die katholische CSU-Wählerschaft. Das katholisch-staatsbayerisch eingefärbte Identitätsmanagement stutzt das zentrale Symbol des christlichen Glaubens, so sehen es laizistisch orientierte Kritiker und auch Theologen beider Großkirchen, zu einem Logo bajuwarischer Stammeskultur zurecht und instrumentalisiert es zum Zwecke des Machterhalts. Führende CSU-Politiker und zahlreiche kleine christsoziale Mitstreiter sagen frei heraus: Es ginge nicht um die Botschaft Jesu Christi, nicht um christliche Glaubensinhalte als solche und schon gar nicht um Dogmen. Niemand müsse das Kruzifix, so wird argumentiert, theologisch und dogmatisch (mehr) ernst nehmen. Es ginge im christlich-abendländischen Bollwerk Bayern um eine spezifische Lebensart und deren Ausstattung mit Dekorstücken christlich-abendländischer Kultur. Das Kreuz wird amtlich als mentaler Traditionskitt und als staatsbayerisches Identitätslogo verwendet und missbraucht.

Ministerpräsident Markus Söder hat sich argumentativ an die Minderheitsposition des Jahres 1995 angelehnt und erst nach massiven kritischen Einwände zugegeben, das Kreuz sei auch ein religiöses Symbol. Sein multimedial inszenierter Auftritt beim Aufhängen eines Kreuzes in der Staatskanzlei und sein selbstgefälliges Posieren vor den Kameras sind mit Befremden registriert worden. Söder hat wohl geglaubt, für seinen Kreuz-Erlass erneut mit breiter Unterstützung rechnen zu können. Er hat sich ein Stück weit verrechnet und lächerlich gemacht. Sogar aus kirchlichen Kreisen hat er heftigen öffentlichen Widerspruch hinnehmen und am Ende Museen, Theater und Universitäten sowie Hochschulen vom Erlass ausnehmen müssen. Söder hat schließlich sogar auf eine staatliche Kontrolle der Durchführung des Erlasses verzichtet. Tempi passati! Die konfessionspolitische Situation hat sich auch in Bayern seit 1995 weiter zum Nachteil der Hegemonialpartei verändert. Die römisch-katholische Kirche ist inzwischen wegen ihrer Missbrauchsskandale, weltfremden Sexuallehre und hierarchischen Strukturen in eine fundamentale Legitimationskrise geraten, was sich vermutlich auch auf das Wahlverhalten katholischer Bevölkerungsteile auswirkt. Die katholische Kirche hat 3677 Missbrauchsopfer auf dem Gewissen. Söders Erlass hat wohl weit mehr urbane Bildungsbürger und verärgerte Katholiken von der CSU weggetrieben als Herrgottswinkel-Katholiken zugunsten der CSU mobilisiert. Die staatsbayerische Kreuz-Symbolpolitik hat, so scheint es, nur noch im stark katholisch geprägten Niederbayern und in der Oberpfalz positiv zu Buche geschlagen. Dort liegen die Stimmkreise mit vierzig und mehr Prozent CSU-Stimmen.

Wie lange eine solche Strategie noch wirklich greifen wird, ist angesichts des auch in Bayern weiter zunehmenden Säkularisierungsdruckes fraglich. Der bayerischen Staatsregierung gelingt es immer weniger, die säkularisierenden Kräfte abzubremsen und die politisch-kulturelle CSU-Hegemonie staatsprotektionistisch zu stützen. Die freundlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen sind in Bayern so weit überdehnt, dass man mit guten Gründen von einem semisäkularen Staat sprechen kann. Jedenfalls werden die verfassungsgebotene Neutralitätspflicht des Staates verletzt und die freiheitlich-pluralistische Grundordnung unterlaufen. Der Lehrsatz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, der freiheitliche säkularisierte Verfassungsstaat lebe von Voraussetzungen, die er nicht garantieren könne, gilt auch für Bayern.

Der amtierende Generalsekretär der CSU, Markus Blume, der eigentlich als ein programmatischer „Vordenker“ der CSU gilt, bezichtigte Kritiker und Gegner des Kreuz-Erlasses im Tonfall klerikal-autoritärer Zeiten „Religionsfeinde und Selbstverleugner“ zu sein. Wörtlich: „ Bei den Kritikern haben wir es mit einer unheiligen Allianz von Religionsfeinden und Selbstverleugnern zu tun.“ Wer sich wie die Grünen gegen christliche Symbole im Alltag wende, habe eine „verkehrte Weltsicht“. Es sei „beschämend, wie man die eigenen Werte so verleugnen kann“ (PNP Nr. 98, 27.04.2018, S.1). Sein Freund-Feind-Weltbild lässt keine religiös-konfessionellen Differenzierungen und weltanschaulichen Pluralismus zu. Ein Grund nicht CSU zu wählen. Vor solchen Kreuzrittern ist zu warnen.