Überlebensgeschichten eines Grenzgängers

„Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen“. 
(George Orwell, 1946)

Johann Albrecht (Alf) Mintzel, geb. 18.04.1935, Porträt aus dem Jahre 2013;
,In Extremis‘: Zur Frage der Privatheit und der Sphäre der Intimität „in letzter Minute“ eine der möglichen Antworten: „weil der Erzähler sich ständig selbst beobachtet und sehr wohl weiß, dass seine Zweifel, Zwänge und Umständlichkeiten etwas sind, das man normalerweise vor fremden Augen verbirgt“. (Meilke Feßmann über den Roman ,In Extremis‘ von Tim Park, SZ Nr. 2 vom 28. 1. 2019, S. 12)

Lügen wir uns das Biografische im Nachhinein nicht immer etwas zurecht? Erfinden wir in unseren autobiografischen Berichten nicht Identitätsmythen? Es wäre naiv zu glauben, Selbstzeugnisse und die darin enthaltenen Erinnerungen entsprächen in allen Punkten den Tatsachen. Das menschliche Hirn passt sein biografisches Gedächtnis an Bedürfnisse der Gegenwart an. Brüche werden retuschiert, Vorgänge umgedeutet, Widersprüchlichkeiten ausgeblendet, Irrtümer vertuscht. Welcher vor 1930 geborene Mensch gibt angesichts der zivilisatorischen Katastrophe des Hilter-Regimes schon zu, dazu beigetragen und das mörderische Regime in der einen oder anderen Weise ermöglicht und unterstützt zu haben? In solchen autobiografischen Erinnerungen wird die Neigung zur Rechtfertigung und zur Selbstentlastung durch die geschichtliche Last der Katastrophe verständlicher Weise noch verstärkt. Was ich im Hinblick auf die politischen Generationen zu bedenken gebe, die die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit zu verantworten hatten, gilt auch für nachfolgende Generationen, also auch für meine autobiografischen Rückblicke und Selbstzeugnisse. In der Tat, ich habe in meinem langen Leben Ereignisse beschönigt, Vorgänge umgedeutet und gelogen. Mein Leben wurde durch eine Serie von Niederlagen geprägt. Einige dichtete ich zu Erfolgsgeschichten um. Das half mir in manchen Fällen, aus einer Misere herauszufinden und mich neu zu stabilisieren. Auch darüber möchte ich berichten.

Es wäre naiv zu glauben, wir könnten eine vergangene Wirklichkeit authentisch beschreiben, als würde sie sich tatsächlich so und nur so ereignet und zugetragen haben. Haben wir nicht große Schwierigkeiten, schon unsere aktuellen Gedankengespinste, Gefühlslagen, Tagträume und Wunschbilder schriftlich zu fixieren? Was wissen wir über uns selbst, über unsere Motive, über Steuerungsmechanismen unseres Handelns? Wir können ja nicht einmal die Totalität unserer Person begreifen. Erinnerungen werden mit der Zeit von neuen Eindrücken überlagert und umgemodelt. Sie verblassen und verschwinden ganz. Sie werden durch neue Ereignisse erneut hervorgerufen, haben jedoch nur noch entfernt etwas mit den einstmaligen Tatsachen zu tun. Erinnertes wird zur Fiktion. Und doch ist jede Erinnerung für sich eine Tatsache. Erinnerungen können uns täuschen, sie sind aber keine Lügengespinste. Dieses Paradoxon müssen wir in Kauf nehmen.

Was meine eigene Person betrifft, kann ich meine Erinnerungen insoweit überprüfen, als ich von früher Jugend an minutiös Tagebuch geführt habe. Sie reichen bis in das Jahr 1947 zurück. Ich greife zum Teil auf vor Jahrzehnten Erinnertes zurück und schaue so ungefiltert durch spätere Überlagerungen in meine eigene Vergangenheit.

„De nobis ipsis silemus“ – „Von uns selber schweigen wir“
(Francis Bacon: Instauration magna. Praefatio, zit. n. Immanuel Kant)

Dieser Satz und Vorsatz, den der englische Empirist Francis Bacon geprägt hat, weist auf eine Grundregel für Wissenschaftler hin. Nach herrschender Auffassung soll es in der modernen Wissenschaft nicht um die persönlichen Motive, Befindlichkeiten und privaten Lebensphilosophien der Wissenschaftler, nicht um Person und Amt gehen, sondern um die Sache des Erkenntnisgewinns und um die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit. Die Person soll hinter die Sache zurücktreten. Über uns selbst sollen wir schweigen. Unsere Arbeit und unsere Leistungen zu würdigen, sei Angelegenheit anderer aus der Gemeinschaft der Wissenschaftler. Obschon es gute Gründen gibt, die persönlichen Motive, Vorlieben und Sichtweisen vom eigentlichen Forschen zu trennen, ist diese strikte Trennung fraglich geworden. Entstehungszusammenhänge spielen immer selektiv in unsere Forschung und Erkenntnis hinein. Was treibt uns an? Was sind unsere Motive? Wissenschaftliche Erkenntnisse können in außerwissenschaftlichen Bereichen zu vielerlei Zwecken verwendet und dabei missbraucht werden. Ich werde in meinen Erzählungen etwas über meine kulturelle Prägung und persönlichen Motive preisgeben, die meinen wissenschaftlichen Zugang zur Welt bestimmt haben.

Sich am Ende eines langen und ereignisreichen Lebens mit Abrechnungen zu verabschieden, wäre in der Tat ein schmählicher Abgang. Doch es gibt zu viele gravierende Gründe, zu zürnen und aus seinem Zorn keinen Hehl zu machen. Gewisse Auseinandersetzungen wurden hart und rücksichtlos geführt. Als ich im Jahre 1959 zum ersten Mal in eine Universität eintrat, wähnte ich einen Tempel der Wissenschaft zu betreten, als ich im Jahre 2000 verabschiedet wurde, verließ ich erfahrungssatt und enttäuscht ihre Hallen. Leider herrschen im Hause der Wissenschaft nicht nur intellektuelle Redlichkeit und Verantwortung, nicht nur ein weitsichtiger Geist, sondern auch Ignoranz, Eitelkeit, Bornierheit, Gemeinheiten, Intrigen und Anfeindungen, kurzum, alle menschlichen Schwächen, die auch außerhalb der Wissenschaft anzutreffen sind. Nur die „Leidenschaft zur Sache“, nur der Dienst an der wissenschaftlichen Wahrheit, nur Wissbegierde lassen Diffamierungen und Verletzungen überstehen.

Selbstdeutung und Fremdwahrnehmung

Selbstdeutung und Fremdwahrnehmung stehen zeitlebens in einem offenen dialektischen Prozess, dessen Bestandteile oder Momente sich im Laufe eines langen Lebens verändern, verdichten, verflüchtigen und verhärten können. Wir sind nicht wirklich souverän und autonom in unserer Selbstdeutung. Wie wir uns sehen, erleben und selbst deuten, ist von anderen abhängig und mitgeprägt, die in unsere Erlebnis- und Handlungsfelder eintreten. Wir gewinnen unser Selbstbewusstsein in der Begegnung mit anderen. Die Entwicklung und Selbstdeutung unserer Persönlichkeit und Fremddeutungen stehen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis. Meine Selbstverortung als freischwebender Intellektueller hat sich, wie mein Lebensbericht noch zeigen wird, als eine Selbsttäuschung erwiesen, die mich in schwierige Situationen gebracht hat. Man könnte es „physikalisch“ sehen: Wir geraten unvermeidbar in die Gravitationsfelder anderer Personen und Personengruppen, noch lebender und schon verstorbener, wir werden von ihnen angezogen oder abgestoßen.

Eine Generation kommt und eine Generation geht (…) Da gibt es keine Erinnerung an die Früheren. Und an die Künftigen, die sein werden, auch an sie wird man sich nicht mehr erinnern, bei denen die später sein werden“, so spricht der Prediger Salomon.

Der weise König spricht eine Wahrheit aus. Allerdings denkt er in weiten Zeiträumen, in vieltausendjährigen Zeitaltern. Im Wandel der Äonen wird alles Nichtigkeit und Windhauch. Niemand kennt mehr die Namen der Erbauer und Einwohner längst versunkener Reiche und Städte. Schon in der Gegenwart verklingen die Namen der allermeisten Menschen mit der Totenglocke und den Nachrufen.

Doch werden Menschen immer nach ihren Wurzeln fragen. Wir alle haben einen Ursprung in einem geografischen Raum, in einer Zeit, an einem Ort, in einer Gegend, in einem Kulturkreis und in einem Beziehungsgeflecht einer Menschengruppe. Und dieser Ursprung hat wieder einen Ursprung, und so reiht sich Generation an Generation bis an den Punkt, von dem ab es keine Erinnerung mehr gibt an die Früheren. Ich habe mich seit meiner frühen Jugend stets als Glied in einer langen familiengeschichtlichen Kette gesehen und daraus Kraft geschöpft. Ohne diese Kette von Generationen ist meine Existenz nicht zu denken. Mit der Schilderung ihrer Schicksale und meines Schicksals beschreibe ich unser kleines, unbedeutendes Dasein, unsere kurze Existenz zwischen dem Nichts davor und dem Nichts danach. Wir werden wie sie in das Reich der Vergessenheit eingehen. So komme ich auch längst vergangenen Lebensläufen auf die Spur, ich beginne mich auch an die Gehirne verschwundener Generationen anzukoppeln und ihre Sinnorientierungen zu verstehen. Aus Daten werden Schatten, aus Schatten Schemen, aus Schemen Personen, und plötzlich stehen sie vor mir. Für ein paar Minuten, manchmal auch für ein paar Stunden, kehren sie zurück – ins Gedächtnis.Viele sind mir geradezu unheimlich gegenwärtig. Ich höre ihre Stimmen aus der Ferne der Zeit herüberklingen. Sie beginnen aus ihrem Leben zu erzählen. Ich besuche Erinnerungsorte, trete ein und lausche in die Echoräume der Zeit.

In Erinnerungen schwelgen? Erinnerungen genießen? Lieber hätte ich vieles vergessen oder so gut verdrängt, dass es nicht mehr ins Bewusstsein zurückkehrt: Prügel, Demütigungen, Niederlagen, Versagen, schändliches Handeln, Lügen, Unterlassungen – ein Menschenleben ist gewöhnlich voll schlechter, niederdrückender Erfahrungen, zumal in und am Rande von Zivilisationsbrüchen, wie sie sich im 20. Jahrhundert ereigneten. Vergessen und Vergessenkönnen entlastet, befreit von Schuld- und Albträumen. Ich möchte gegen das Vergessen und Vergessenwerden schreiben, um so kleine biografische Pyramiden zu hinterlassen. Hier also sind sie.

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