1. Gewalt am Kinderbett und ein geladener Trommelrevolver

Ich kam am 18. April 1935, es war an einem Gründonnerstag, um 16 Uhr 45 in Augsburg gesund und ohne Komplikationen zur Welt. Am 5. Mai 1935 wurde ich an einem für Protestanten besonders ehrwürdigen Ort getauft, in der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Anna. Meine Mutter war eine gläubige, kirchennahe Protestantin, mein Vater ein getaufter und konfirmierter „Kulturprotestant“, mit einem ausgelaugten Verhältnis zur evangelischen Kirche. In der NS-Zeit trat er aus der Kirche aus, nach dem Krieg aus opportunistischen Gründen wieder ein. Sein Glaube war verdunstet. Doch war er protestantischen Denktraditionen verpflichtet geblieben. In diesem säkular verdünnten Sinne wurde ich als evangelischer Christ in ein fränkisch-protstantisches sozial-moralisches Milieu hineingeboren und 1950 in Nürnberg in der kunst- und stadtgeschichtlich berühmten St. Johannis Kirche konfirmiert. Mit zunehmendem Alter wurde mein Gottesglaube, soweit er sich überhaupt gebildet und verfestigt hatte, brüchig. Realität und rationale Widersprüche rieben ihn schießlich völlig auf. Ich trat 1964 aus Überzeugung aus der Kirche aus. Christlicher Glaube war mir so gründlich abhanden gekommen, dass es verlogen gewesen wäre, das Vater Unser auch nur der Höflichkeit halber oder bloß aus Tradition mit- oder nur nachzubeten.

Die ersten Jahre nach der Geburt bezeichnen Entwicklungspsychologen, Hirnforscher, Pädagogen und andere Experten als „Schicksalsjahre“, als die sensiblen Jahre, in denen wir unser Ich und unsere Fähigkeiten entwickeln und Handlungsdispositionen aufbauen, die uns ein Leben lang begleiten. In dieser Zeit bilden sich die meisten Nervenverbindungen, ein Vorgang im Gehirn, der durch Zuwendung und Anregung seitens der Eltern oder Pflegepersonen gefördert und geformt wird. Unser Denkvermögen und unser späteres Lernverhalten werden angelegt und vorgeprägt, angeborene Fähigkeiten durch Umwelteinwirkungen verstärkt oder beeinträchtigt. Ein bildungsbürgerliches familiäres Umfeld bietet in der Regel größere Chancen, später in der Schule, an der Universität und im Beruf erfolgreich zu sein als eine bildungsferne Herkunft. Platt formuliert: „Herkunft bestimmt Zukunft“. Mein Vater hatte schon kurz nach meiner Geburt in einer Art Wunschprogramm meinen Lebenslauf und akademischen Werdegang vorausbestimmt, indem er die Stationen auflistete, die ich in meiner Karriere durchlaufen sollte: Einschulung in die Volksschule, Übertritt ins Gymnasium, Studium an der Universität, Beitritt zur schlagenden Burschenschaft “Frankonia“, Mensuren, Abschluss des Studiums usw. Seinen Fahrplan für mein Leben, der von Anfang an feststand, fand ich viele Jahrzehnte später in seinem Nachlass.

Käthe Mintzel mit Johann Albrecht (Alf) Mintzel, Augsburg, kurz nach der Geburt
am 18. April 1935

Käthe Mintzel mit ihrem Sohn Johann Albrecht (Alf) Mintzel, München Ramersdorf, Sommer 1935

Gerade an diese äußerst sensiblen ersten Lebens- und Lernjahre des Säuglings und Kleinkindes können wir uns nicht erinnern. Das als amnesia juvenilis bekannte Phänomen löscht so gut wie jede Erinnerung daran aus, was an Fähigkeiten und Fertigkeiten angelegt und ausgeprägt worden ist. Was ich über meine ersten vier Lebensjahre weiß, woran ich ich mich zu erinnern glaube, stammt größtenteils aus Berichten meiner Eltern oder verwandter Personen, deren Erzählungen ich nicht überprüfen kann. Das wenige, das über meine Entwicklung und meine Taten der Jahre zwischen 1935 bis 1940 berichtet worden ist, gibt jedoch erste Auskünfte über lebensgeschichtliche Potenziale, die in die Zukunft weisen.

Meine Eltern hatten sich nach ihrem Umzug von Erding in Oberbayern nach Nürnberg eine für einen städtischen Verwaltungsrat auffallend stattliche und teure Wohnugseinrichtung gekauft: das Mobiliar für ein Esszimmer, ein Herrenzimmer und ein elterliches Schlafzimmer. Das neugekaufte Mobiliar war von erlesener Qualität, hergestellt mit wertvollen Hölzern und glänzenden Fournieren. Die Möbel des Herrenzimmers waren aus edlem, braunen Jamaika-Holz. Der riesengroße, an seinen Ecken geschwungene Schreibtisch hatte auf seiner Vorder- und Rückseite von Türen verschlossene Fächer, die Geheimnise zu bergen schienen. Selbst der Körper eines großen Erwachsenen wurde klein, wenn dieser sich in einen der großen Sessel sinken ließ. Auf dem runden Couchtisch standen Utensilien aus Bronze, als Dekor eine Eidechse, die Insekten auflauert, Behälter für Zigarren und Streichhölzer, ein Aschenbecher, Zinnteller für kleines Gebäck und anderes mehr. Alles machte einen „herrschaftlichen“ Eindruck. Das Mobiliar des Esszimmers war aus hellerem, ebenfalls hochpolierten Hölzern. Besondere Schmuckstücke waren eine hohe Vitrine und eine fächerreiche Anrichte für Porzellan und das Silberbesteck.

Johann Albrecht (Alf) Mintzel, 1936

Mein Kinderbett stand, wie meine Mutter erzählte, am Tage im Esszimmer parallel zur großen Anrichte. Die Erwachsenen hatten mich an diesem Platz am besten im Kontrollblick. Der Standort hatte allerdings einen Nachteil, die Anrichte lag in Reichweite der Kinderhändchen. Ich konnte durch die Gitterstäbe das schön polierte Möbelstück erreichen und kleine Fingerabdrücke hinterlassen. Das war für meinen Vater ein Graus, er konnte es nicht leiden, wenn ich „übergriffig“ wurde und mit meinen Fingern die schöne Politur bewunderte und erkundete. Was machte er, um mich davon abzubringen? Er vergrößerte nicht den Abstand zwischen Kinderbett und Anrichte, vielleicht war das auch aus räumlichen Gründen nicht möglich. Nein, er klopfte mir bei jedem meiner Versuche, die Anrichte zu befühlen, kräftig auf die Finger, und das viele Male. Ich lernte bereits im frühkindlichen Alter Gewalt kennen, Gewalt prägte meine Entwicklung. Und schon im Kindesalter – ich glaube im Alter von sechs oder sieben Jahren – nahm ich mir fest vor, der väterlichen Gewalt lautlos zu trotzen. Das mag wie eine nachträgliche Stilisierung und Übertreibung klingen, doch gehörte mein Vorsatz, Schläge meines Vaters still zu ertragen, zu den ersten Maximen meines Lebens. Durchhalten, sich nicht unterkriegen lassen, überstehen, zurückschlagen, psychischer und mentaler Gewalt widerstehen, wurden zu lebensgeschichtlichen Devisen. Die Kehrseite dieser Prägung und Grundorientierung, Stärke zu zeigen, war Angst vor Gewalt. Ich weigerte mich später in meiner Gymnasialzeit, einen damals üblichen Schularrest anzutreten, machte mich auf und davon, wurde in Bremen vom Schiff geholt und in die Zelle 25 des Stadtgefängnis gesperrt. Zeitlebens schauderte mir vor dem Gedanken, rechtlos und wehrlos psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Dass ich mich Jahrzehnte später in meinem Kunstschaffen mit Themen wie „Schrecken des Krieges“, „Folter“, „Opfer“, „Srebrenica“ befasste, war wohl schon in Erfahrungen meiner Kindheit vorherbestimmt.

Käthe Mintzel mit ihrem Sohn Johann Albrecht (Alf) und ihrer Tochter Dorothea (Dorle, geb. 1936), ca 1938

Johann Albrecht (Alf) Mintzel in Schaftstiefeln, ca. 1938/39

Es gibt noch zwei, drei andere unangenehme Ereignisse, die mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben sind. Eines hätte tödlich enden können. Noch heute spüre ich den Schrecken, wenn ich das Ereignis in meine Erinnerung zurückrufe. Ich verdanke mein Leben einem blinden Zufall. Es hätte schon mit fünf Jahren enden können. Mein Großvater Mintzel, im Jahre 1937 Witwer geworden, lebte seit Herbst 1937 mit uns in der elterlichen Wohnung. Er hatte ein eigenes, geräumiges Zimmer, das für ihn Wohn- und Schlafraum zugleich war. Dorthin konnte er sich zurückziehen, wenn ihm der Kinderlärm zuviel wurde und er nach Ruhe suchte. Der Raum war mit Mobiliar aus seinem früheren Hausstand ausgestattet, darunter ein großer schwarzer Schreibtisch mit einem fächerreichen Aufbau. Der alte Mann sperrte sein Zimmer nicht jedesmal ab, wenn er die Wohnung verließ. Solche Situationen reizten meine Neugier. Ich nutzte seine Abwesenheit für heimliche Erkundungen und zog eine Schublade nach der anderen auf. An einem sonnigen Vormittag entdeckte ich in einer der unverschlossenen Schubfächer einen kleinen, sehr handlichen Trommelrevolver. Ich nahm ihn höchst interessiert heraus und begann seinen Mechanismus genauer zu betrachten. Ich drehte an dem Kugellager, sah darin Kugeln stecken und spielte daran herum. Ich hielt den Revolver mal in die Höhe, mal von mir weg, die Finger am Abzug. In der rechten Ecke des Raumes stand als Dekor ein hoher bauchiger Krug. Auf diesen richtete ich spielerisch den Lauf und drückte ab. Der Krug zersprang mit lautem Knall in Scherben. Ich erschrak bis in alle Glieder, legte den Revolver rasch in das „Geheimfach“ zurück und blieb auf dem Schreibtisch sitzen. Unser Dienstmädchen Emmi hatte den ungewöhnlichen und sonderbaren Knall gehört. Sie kam herein und wollte wissen, was geschehen war. Ich sagte, ich sei an den Krug gestoßen, der daraufhin zersprungen sei. Meine Erklärung schien ihr plausibel genug. Sie sammelte die Scherben ein und ging der Sache nicht weiter nach. Von diesem Ereignis war niemals mehr die Rede. Geschehnisse totzuschweigen, scheint oft das Einfachste zu sein.

7 Kommentare

  1. Ich gebe zu, nur den Anfang gelesen zu haben. Und dazu ein Gedanke: ja, wir passen unsere auch negativen Erinnerungen im Nachhinein an. Dies kann sogar hilfreich sein, z.B. bei sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Das schützt die Psyche des Opfers zunächst. Wünschenswert ist es hier aber, dass die realistische Erinnerung zu einem Zeitpunkt an dem man es aushält zurück kehrt.
    Auch bei Tätern stelle ich mir vor, gibt es diese Form der nachträglichen einfärbung. Auch hier sollte die Realität natürlich verarbeitet werden.

    1. Liebe Frau Köhler, Sie haben Recht und es ist mein Anliegen, genau das zu tun, auch wenn es an manchen Stellen fast unmöglich scheint.
      Freundliche Grüße
      Alf Mintzel

    1. Liebe Hanne,
      möchtest du Auszüge deiner Erinnerungen hier einstellen? Vielleicht würde dieser Blog so zu einer Anlaufstelle werden und die Möglichkeit bieten, einzelne Zeitdokumente zu sammeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

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