35. Kosmische Schauspiele und menschliche Ängste (II) – Sonnenfinsternisse (1654/1999)

Die Sonnenfinsternis am 2. August 1654

(Frei nach alten Quellen erzählt)

Zwei alte Quellen geben uns anschaulich bis in viele Details Auskunft darüber, wie die Menschen damals die für den 2.August 1654 angekündigte totale Sonnenfinsternis erlebten und welche Vorkehrungen sie gegen die vorhergesagten Übel und Schrecken trafen: Die „Beschreibung der ungewöhnlichen grossen Sonnen-Finsternis“ des Straßburger Mathematikers Eberhard Welper aus dem Jahre 1654 und das Hausbuch (Band I, 1652-1655) des Hofer Apothekers Michael Walburger, der darin über die Geschehnisse und seine Beobachtungen berichtet. Welpers Traktat über diese Sonnenfinsternis und ihre Begleiterscheinungen war in Hof an der Saale durch einen Raubdruck der Mintzelschen Buchdruckerei bekannt geworden. Sein Inhalt hatte sich rasch herumgesprochen. Wie ein Jahr zuvor Jacob Ellrod die Erscheinung eines Kometen unter astronomischen, astrophysikalischen, astrologischen und „naturgemäßen“ Gesichtspunkten beschrieben und erörtert hatte, so handelte auch Welper die bevorstehende Sonnenfinsternis nach dem damals üblichen Muster ab. Es war wohl der Hofer Mathematiker und Theologe, der Welpers Schrift für den Raubdruck bearbeitet und die sensationellen und erschrecklichen Teile mit ihren „nützlichen“ Anweisungen für Vorkehrungen in den Vordergrund gerückt hatte.

[Abbildung: Eberhard Welpern: ECLIPSIOGRAPHIA Oder Beschreibung der […] grossen Sonnen=Finsternus […] 1654. Titelblatt]

Welpers Schrift entlarvt ihren Autor trotz seines astronomischen Wissens als Kind einer wundergläubigen Zeit, die immer noch von uralten Ängsten geplagt wurde. Der Straßburger Pfarrer und Mathematiker teilte mit den meisten Menschen seiner Zeit die Jahrtausende alte Überzeugung, die bevorstehende Sonnenfinsternis sei ein Gotteszeichen, das großes Unheil ankündige. Während solcher Himmelserscheinungen, so Welper, entwickelten sich giftige Dämpfe in der Luft. Giftige Nebelschwaden legten sich über weite Landstriche. Von den giftigen Lüften und Winden gingen, falls keine geeigneten Vorkehrungen getroffen würden, für Mensch und Tier tödliche Gefahren aus. Es käme zu einem großen Sterben. Viele Menschen und Tiere würden hinweggerafft, Kinder stürben im Leib ihrer Mütter, Schwangere gingen elend zugrunde. Seine Liste der Gegenmaßnahmen war lang und kurios. Er empfahl seinen Lesern, schon Tage vor dem Ereignis nur Diätkost zu sich zu nehmen. Dazu zählte die Einnahme von Präservationspillen. Es sollte kein grünes Obst gegessen werden. Am Tage der Sonnenfinsternis sollten die Menschen nicht ihren Geschäften nachgehen, sondern möglichst alles tun, was die Gefahren der giftigen Lüfte abwenden könnte: Sie sollten nicht zu Mittag essen und in allen Stuben des Hauses Räucherwerk anzünden. Wohlriechende Düfte aus Wacholderbeeren, Lorbeer, Rosmarin, Salbei, Thymian, Lavendel, Nelken, Zimt, Weihrauch und Myrrhen seien besonders gute Abwehrmittel. Draußen auf den Gassen und in den Höfen sollten Scheiterhaufen aufgerichtet und angezündet werden, weil Feuer geeignet sei, die Luft zu reinigen. Auf der Gasse sei es gut, ständig gegen den Wind zu blasen, auszuspeien und sich zu räuspern, damit nichts Unreines in den Körper gelange. Gegen das Gift in der Luft helfe auch, wenn man Angelika oder Pomeranzenschalen, Zitronenschalen oder Wacholderbeeren in den Mund nähme und langsam zerkaue. Eine Gegenwirkung ginge auch von Quecksilber aus, das in eine Haselnussschale eingeschlossen sei. Die quecksilbergefüllte Nussschale solle als Amulett getragen werden. Solche Anweisungen und Vorkehrungen waren nicht neu. Ein Jahrhundert zuvor galten sie als wirksame Mittel gegen die Pest. Welper ging in seiner Furcht und Angst verbreitenden Deutung der bevorstehenden Sonnenfinsternis sogar so weit zu prophezeien, dass der Jüngste Tag nahe sei. Er werde noch vor 1670 kommen.

Welpers Handlungsanweisungen verfehlten nicht ihre Wirkung. Sie sprachen sich in Windeseile herum und wurden befolgt. Viele Hofer Bürger gaben sich schon Tage vor dem Ereignis in Michael Walburgers Apotheke die Klinke in die Hand. Der Apotheker machte mit den Ängsten der Menschen ein so gutes Geschäft, dass er am 31. Juli 1654 in sein Hausbuch einschrieb: „Die leuth praeserviren sich wegen bevostehenter Finsternuß. Haben eins theils uffm Landt, bevorauß ettlich vom Adel, wie auch in der Stadt, wegen bevorstehenten schrecklichen Finsternuß, so könfftigen Mittwoch den 2. Augusti an der Sonnen am Mittag sein wirdt, daran der Medicorum aller ortten Meinung nach, viel gifftige Lüfft und Näbel gefallen werden, sich mitt praeservativ Mitteln, alß reucherwerg, Nasen Balsam, Küchlein unter die Zung, und andern Medicamentis, auß Meiner Apotheken versehen. Item sindt unterschiedtliche avisen einkommen, daß zu Rehau, zu Schwarzenbach an der Sahl, zum Almitz, an einem Jden ortt, ein Kindt so 2, 3, und 4. Jährig gewesen, Jnngleichen zu Wohnsiedel [Wunsiedel – A.M.] zwei, im waßer ertrunken sein, dergleichen wie dem 29. Juli zu sehen, auch uff der pappiermühl beschehen, waß diß bedeutet, ist Gott bekandt, Ihrer viel geben vohr, bevorstehte Finsterniß habe schon Jhre wirckung.

Den Hofer Bürgern wurde angst und bang. Jedes neue Gerücht wurde als Tatsache weitergegeben, überall wurden Vorzeichen des kommenden Unheils erkannt. Die Menschen sahen in der Sonnenfinsternis eine Botschaft Gottes und fürchteten seine Strafe. Die geistlichen Herren nährten mit ihrer Zorn- und Straftheologie die Ängste und forderten die Menschen zur Umkehr auf. Der Hofer Superintendent Magister Johann Küffner(1606-1659) hielt am Sonntag vor dem Ereignis eine scharfe Bußpredigt, in der er dem Stadtrat und den Gewerben vorwarf, sie hätten mit überhöhten Brot- und Fleischpreisen den Zorn Gottes hervorgerufen. Das Pfund Rindfleisch sei mit neuneinhalb Pfennigen zu hoch angesetzt, ebenso das Pfund Schweinefleisch mit elf Pfennigen. Er prangerte in seiner Sonntagspredigt die angeblich überzogenen Preise mit so gewaltigen Worten an, dass der Stadtvogt, der Bürgermeister und der Rat der Stadt gleich am nächsten Morgen die Preise um einen Pfennig senken ließen. Die Warnungen vor Gottes unmittelbar bevorstehender Strafe waren der Stadtobrigkeit so in die Glieder gefahren, dass sie unverzüglich handelten, um Gott zu besänftigen und Schlimmes abzuwenden.

Wegen der Prophezeiung, während der Sonnenfinsternis entstünden Giftschwaden, die das Wasser vergiften würden, schöpften die Bürger in den Tagen davor die Röhrenkästen leer. Sie schleppten in Bütten und Kannen das Wasser nach Hause und legten für Mensch und Tier Vorräte an. Am Dienstag, den 1. August 1654, hielt dies Apotheker Walburger in seinem Hausbuch fest: „Wegen der finsternus wirdt heut viel waßer geschöppft. Haben in der gantzen Stadt alhier, wegen Morgenter Finsternus, die leuth alle RöhrCästen mitt waßer zum Kochen und für daß vihe sehr erschöppft, weiln man in gedancken stehet, es sollen Morgen alle waßer sehr gifftig sein und ist viel lamentirns, Klagen sagens und forcht, wegen gedacht Morgenter Finsternus.“

Die Wasserversorgung drohte zusammenzubrechen. In der Stadt und auf dem Lande waren die Menschen so in Angst und Schrecken versetzt, dass sie tatsächlich aufhörten, ihren gewohnten Geschäften nachzugehen, und nur noch über das kommende unheilvolle Ereignis sprachen. Die ganze Stadt war erfüllt von dem Gerede über wirksame Vorkehrungen und Abwehrmittel. Es sei vor allem ratsam, Buße zu tun.

Die Morgendämmerung zog herauf. Der Tag brach an. Dunkle Wolkenfahnen durchzogen den silbernen Himmel. Die Bürger waren schon früh aus ihren Betten gestiegen und schauten nach den Zeichen Gottes. Wie würde der Tag enden? Wen träfe die Strafe Gottes? War der Jüngste Tag gekommen? Der Superintendent Johann Küffner hatte den Küster der Sankt Michaeliskirche angewiesen, die große Glocke schon am frühen Morgen zu läuten, zum ersten Mal um fünf Uhr, zum zweiten Mal um halb sechs Uhr und um sechs Uhr zusammen mit allen anderen Glocken. Für sechs Uhr hatte er Bußgesänge angeordnet, danach seine große Bußpredigt angesetzt. Gehorsam strömten die Bürger aus allen Gassen und Winkeln zur Stadtkirche. Vom Lande herein ratterten die Chaisen der Adeligen, die von ihren umliegenden Gütern kamen. Die gesamte städtische Obrigkeit war unterwegs, der Bürgermeister, der Stadtschreiber und Notar, der Stadtvogt und die Räte, der Spitalmeister, der Kammermeister, der Gotteshauspfleger, der Zolleinnehmer und die Gegenschreiber, die gesamte markgräfliche Beamtenschaft. Je näher die Gläubigen dem Hauptportal der Sankt Michaeliskirche kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Selbst die ältesten Bürger konnten sich nicht daran erinnern, schon einmal so viele Menschen zur Kirche gehen gesehen zu haben. Die Angst vor schrecklichen Ereignissen war so groß, die Furcht vor Gottes Zorn und Strafe so mächtig, die Gewissensbisse so quälend, dass niemand es wagte, nicht zur Kirche zu gehen, es sei denn, er lag im Sterben und hatte nicht mehr die Kraft zum Kirchgang. In Scharen eilten sie zur Sankt Michaeliskirche, um zu beichten, das Abendmahl einzunehmen und Buße zu tun.

Die Bußpredigt

(Frei nach alten Quellen erzählt)

Der Superintendent hielt eine gewaltige Bußpredigt, die drei Stunden dauerte. Adel, Bürger, Handwerker, Bauern und Tagelöhner saßen und standen dicht gedrängt im geräumigen Kirchenschiff. Die Bänke und Stühle reichten nicht aus. Maria Mintzel saß mit ihren beiden Kindern ganz hinten bei den Weibern der Handwerker und lauschte. Viele mussten stehen. Nicht wenige ergriff Übelkeit, sie hatten Mühe, die Predigt durchzuhalten. Küffner redete seiner Gemeinde ins Gewissen und ermahnte sie mit eindringlichen Worten, sich eines frommen und gottseligen Lebens zu befleißigen, von ihrem sündigen Treiben abzulassen, ernstlich Buße zu tun und zu beten. Sie sollten morgens und abends neben den üblichen Gebeten den 91. Psalm sprechen und Gott um Schutz und Schirm bitten. Sie sollten sich täglich in der christlichen Nächstenliebe üben und den Bedürftigen Almosen geben. Sie sollten sich mit Beleidigten versöhnen, Zank und Uneinigkeit vermeiden, nüchtern und mäßig leben, dann werde Gott die großen Gefahren, die von dieser schrecklichen Sonnenfinsternis ausgehen, von ihnen abwenden. Die Historien bezeugten, so sagte Küffner, dass auf solche Weise schon viele tausend Menschen und ganze Königreiche von den bösen Lüften befreit worden seien. Er malte die furchtbaren Gefahren in grellen Farben aus, die von den giftigen Lüften ausgehen sollen. Die Lüfte drängten überall ein, das große Sterben nehme seinen furchtbaren Lauf. Alle Arzneien und Präventivmaßnahmen würden nichts nützen, wenn die Menschen nicht gelobten, künftig ein gottesfürchtiges und gottgefälliges Leben zu führen. Die natürlichen Mittel gegen die giftigen Lüfte wirkten nur, wenn auch die göttlichen Mittel benutzt würden. Die Wortsalven des Gottesmannes hallten im Kirchenschiff wider. Wie es die Rhetorik seines Jahrhunderts verlangte, unterstütze der Prediger seinen Redefluss mit theatralischen Gesten und einem imponierenden Mienenspiel. Er warf seine Arme gen Himmel, ballte die Faust und ließ sie auf das Pult der Kanzel niedersausen, er rollte die Augen und wechselte rasch Stand- und Spielbein, indem er sich mal nach rechts und mal nach links wandte. Sprach er vom Zorn Gottes, bebte sein ganzer Körper und er duckte sich, als schlüge Gottvater ganz fürchterlich von oben auf ihn ein. Die Orgelbässe brachten die schweißgeschwängerte Luft zum Schwingen, die Läufe dröhnten von den Wänden. Paul Hohänner, der Organist, holte aus der Orgel brausende Klänge hervor, als sei der Untergang der Welt angebrochen. Die Gläubigen sangen ergriffen das „Gelobt sei Gott im Himmel“ und das „Halleluja“. Die Luft roch penetrant nach Angstschweiß, was verängstigte Gemüter schon als Eindringen der giftigen Lüfte deuteten. Der Superintendent zog alle Register seiner theologischen Rhetorik, er wurde zum leibhaftigen Zorn Gottes, seine Stimme bebte. Er las den Stadtoberen und Gewerben nochmals die Leviten wegen der überhöhten Preise für Schweinefleisch, Rindfleisch und Brot. Er prangerte die Verderbtheit an, die sich in der Stadt ausgebreitet habe. Die Strafe Gottes bliebe nicht aus, wenn die Bürger nicht in sich gingen und sich wandelten. Die Sonnenfinsternis war ein wahres Gottesgeschenk für seinen eifrigen Diener. Er konnte mit seiner wortgewaltigen Bußpredigt den Gläubigen tüchtig ins Gewissen reden und ihre Herzen peinigen. Sie beichteten in langen Reihen und nahmen das Abendmahl ein.

Um halb zehn Uhr endete der Gottesdienst. Unter apokalyptischen Orgelklängen verließen die Gläubigen die Michaeliskirche. Bis zum Eintritt der Sonnenfinsternis waren es noch gut zwei Stunden. Regenschwere Wolken hatten inzwischen den Himmel bedeckt, dann und wann rissen die Winde die Wolkendecke auf und die Sonne brach durch. Die Blicke richteten sich angsterfüllt gegen den Himmel. Alle strömten nach Hause, um sich mit den gepriesenen natürlichen Mitteln auf das schreckliche Ereignis vorzubereiten. Viele glaubten, die giftigen Lüfte schon zu riechen und auf den Lippen zu schmecken. Sie fingen an, sich zu räuspern und das Gift auszuspucken. Sie bliesen und pusteten gegen den Wind, um die giftigen Schwaden abzulenken. Sie riefen, man solle endlich die Scheiterhaufen anzünden, damit das Feuer die Luft von den Giften reinige. Dann war es soweit. Der Schatten begann langsam über die Sonne zu wandern. Knechte entzündeten die großen Scheiterhaufen, die in der Ersten Gasse und in der Klostergasse aufgeschichtet worden waren. Die Beherzten und Neugierigen kamen aus ihren Häusern, um das Himmelsgeschehen zu beobachten. Die Ängstlichen verkrochen sich in ihre Stuben und warteten, was geschehen würde. Überall glomm Räucherwerk. Die Leute horchten auf die Laute, die von der Ersten Gasse heraufdrangen. Was passierte draußen? Würde der Tod aus den giftigen Nebelschwaden hervortreten und die Vorwitzigen ersticken?

Die Wolkendecke riss auf und gab den Blick auf die Sonne frei. Es war für die Augen gefährlich, in die Sonne zu schauen, aber davon war in der Predigt nicht die Rede gewesen. Ganz langsam, für das Auge kaum wahrnehmbar, wurde die Sonne vom Schatten verschluckt. Das Tageslicht wurde fahl und matt, in die Sommerfarben mischte sich ein grauer Ton, es fing an zu dämmern, die Menschen und Dinge verloren ihre Schatten, die Hunde verkrochen sich, die Vögel hörten auf zu singen, die Spatzen schlüpften in ihre Nester, es legte sich über alles eine Stille, die Menschen starrten angsterfüllt zum Himmel, ihr Geschwätz verstummte. Selbst die Beherzten und Neugierigen knieten nieder und begannen laut das Vaterunser zu beten. Andere sangen fromme Lieder und riefen: „Herr, Du großer Gott, sei uns gnädig! Erbarme Dich unser!“ Andere stimmten Bußgesänge an und erhoben die Arme zum Himmel. Sie unterbrachen ihre Gebete und Gesänge, um kräftig gegen die giftigen Nebel zu blasen und zu pusten, und spuckten das angeblich in ihre Münder gelangte Gift aus. Dann huschte auf dem Höhepunkt der Sonnenfinsternis, schneller, als die Augen folgen konnten, der schummrige Schatten über die Stadt und die Häuser. Es herrschte für eine kurze Zeit Dämmerung. Plötzlich wehte ein Wind mit sausendem Ton um die Häuser. Es war der Schattenwind der Finsternis. Eine dunkle Wolkenbank schloss den Himmel.

Allmählich hellte sich die Düsternis auf. Das zunehmende Licht kündigte das Ende der Sonnenfinsternis an. Die Wolkendecke schloss sich wieder und es begann leicht zu regnen. Am Nachmittag kam stürmisches Wetter auf. Ein Platzregen setzte die Gassen unter Wasser, was die Menschen für ein böses Omen hielten. Der 2. August 1654 ging mit regnerischem Wetter zu Ende. Das große Sterben blieb aus, die Menschen gingen in den Trott ihres Alltags zurück und führten ihr Leben weiter wie zuvor. Die gewaltige Bußpredigt des Superintendenten Küffner verlor in kürzester Zeit ihre Wirkung.

345 Jahre später: Die totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999

Die moderne Astrophysik und das naturwissenschaftliche Weltbild haben solche Ängste längst gebannt. Mit Buß- und Strafpredigten lässt sich die aufgeklärte Menschheit nicht mehr schrecken und peinigen. Nur noch Sektierer, religiöse Fundamentalisten und Phantasten glauben an ein göttliches Zeichen und apokalyptische Ereignisse. Das Drehbuch für das kosmische Schattentheater ist einfach: Sonne, Erde und Neumond stehen auf einer Linie. In der Himmelsmechanik müssen die drei Akteure einem diffizilen Spielplan folgen. Die Mondbahn ist gegenüber der Ebene, in der die Erde um die Sonne läuft, um etwa fünf Grad geneigt. Aus diesem Grund trifft der rund 400.000 Kilometer ins All ragende Mondschatten die Erde nicht bei jedem Umlauf. Nur wenn der Trabant in oder nahe einem der beiden Bahnschnittpunkte steht, kann er die Sonne verfinstern. In jenen Regionen, die das etwa 14.000 Kilometer lange und maximal 270 Kilometer schmale Band des Kernschattens überstreicht, erscheint die Sonne total bedeckt. Schon die alten Griechen wussten, wie Plutarchberichtet, dass physikalisch gesehen nur der Kernschatten des Mondes über die Erde huscht. Im Europa des 20. Jahrhunderts wird der Mechanismus des Naturschauspiels bis ins letzte Detail verstanden. Für die moderne Forschung haben totale Sonnenfinsternisse keinen großen Stellenwert mehr. Rund um die Uhr nehmen Astronomen den solaren Fusionsreaktor, der eine Zentraltemperatur von fünfzehn Millionen Grad aufweist, ins Visier. Satelliten verfolgen das turbulente Geschehen auf dem Glutball. Doch kann sich bei aller Aufgeklärtheit und Rationalität wohl selbst der rationalste Wissenschaftler nicht ganz dem großartigen Eindruck entziehen, der von dem Ereignis der Schwarzen Sonne ausgeht.

Am 11. August 1999 begann die letzte totale Sonnenfinsternis des zweiten Jahrtausends vor der Ostküste Nordamerikas. Um 11:30 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit berührte der schmale Mondschatten gut 700 Kilometer östlich von New York die Fluten des Atlantischen Ozeans und raste in Richtung Europa. Etwa vierzig Minuten später erreichte er die Britischen Inseln. Cornwall fiel in Dunkelheit. Über London wurde die Sonne um 12:20 Uhr mit einem Bedeckungsgrad von 96,8 Prozent nahezu schwarz. Dann wanderte der dunkle Kegel über den Ärmelkanal, durch die Normandie, um 12:23 Uhr passierte er Paris. Dann tauchte er Südbelgien und Luxemburg in Schummerlicht, um 12:29 Uhr huschte er über die Grenze nach Deutschland, das er schon zehn Minuten später bei Altötting in Niederbayern in Richtung Wien und Bukarest wieder verließ. Der Kernschatten des Mondes zog über das Schwarze Meer und den Iran, ehe er nach einer rund 14.000 Kilometer langen Spur quer durch Orient und Okzident im Golf von Bengalen ins Weltall verschwand.

Ich hatte das Glück, die totale Sonnenfinsternis an diesem weithin wolkenverhangenen, regnerischen Tag in Südbayern unter guten Standortbedingungen und günstigen Wetterverhältnissen beobachten zu können. Gerade über meinem Standort war die Wolkendecke weit aufgerissen. Wenige Kilometer weiter weg gestaltete sich die Situation völlig anders: Eine dicke Wolkendecke verdeckte das Himmelsgeschehen. Am Tag danach notierte ich in meinem Labortagebuch:

„Gestern Mittag 12:40. Ich habe sie gesehen, die »schwarze Sonne«, ich habe knapp zwei Minuten lang mit bloßem Auge in die »Schwarze Sonne« geschaut. Das Naturschauspiel nicht bloß über die Elektronik virtuell zu sehen, sondern draußen in der weiten Landschaft des Voralpenlandes zu beobachten, war ein großartiges Erlebnis. Die leichte Abkühlung zu spüren, den Schattenwind in hohen Pappeln zu hören, die hereinbrechende Düsternis durch die Landschaft gleiten zu sehen, weckte eigenartige Gefühle. Als die totale Sonnenfinsternis einsetzte, wurde das Licht über den Feldern und Hügeln fahl, ich verlor meinen Schatten, als sei ich nicht mehr körperlich existent. Die »Schwarze Sonne« nahm mir meinen Körperschatten, ich wurde zu einem schattenlosen Unwesen. In der Voralpenlandschaft gingen die fernen Gebirgsketten für einen Moment unter. Links unterhalb der »Schwarzen Sonne« leuchtete hell die Venus. Merkur konnte ich nicht ausmachen. Mich faszinierte das Lichtspiel, das allmähliche Dämmern. Die Grüntöne der üppigen Landschaft nahmen an Intensität ab, es legte sich ein graugrüner Firnis über die Felder und Hügel. Das Goldgelb der noch stehenden Getreidefelder verwandelte sich in ein schmutziggraues Gelb. Dann legte die zunehmende Düsternis ein dunkelgraublaues Tuch über die Landschaft. Weit im Norden standen außerhalb des Kernschattens hohe Wolkenberge in der Sonne. Das »Irdische«, die Lüfte und die Wolken darüber gewannen etwas Theatralisches, als würde ein großer Virtuose der Theaterbeleuchtung es dämmern und abdunkeln lassen und sich hierzu hintergründige Beleuchtungseffekte ausdenken. Während der etwa zwei Minuten dauernden gänzlichen Abdeckung der Sonne faszinierte mich die strahlende Korona vor dem abendblauen Himmel. Am oberen Rande der Schwarzen Sonne konnte ich mit dem bloßen Auge drei rote Punkte erkennen, Protuberanzen. Doch musste ich wenige Momente später schon wieder die Schutzbrille aufsetzen, um nicht an den Augen Schaden zu erleiden. Die Augen konnten den Mondschatten fast nicht verfolgen, so schnell zog er, begleitet vom Schattenwind, über die Landschaft hinweg. Die eilig durchhuschende Düsternis löste in mir in keinem Moment ein Gefühl der Bedrohung oder gar des Grauens aus. Es blieb pure Faszination und Respekt. Erstaunlich war, wie viel Lichtkraft selbst noch von einer schmalen Sonnensichel ausgeht. Kaum war die totale Sonnenfinsternis vorbei, hellte die Landschaft mit jedem Stück, das der Mondschatten auf der Sonne freigab, wieder auf. Der Reiz des Schauspiels ging schon nach wenigen Minuten wieder verloren.

Trotz der Großartigkeit des Naturschauspiels stellte sich bei mir keine religiöse oder spirituelle Ergriffenheit ein. Ich hatte nicht den Eindruck, dass etwas Höheres oder gar ein .Gottwesen zu mir sprach. Mir war nicht wie Adalbert Stifter zumute, der im Jahre 1842 am 8.Juli in Wien eine totale Mondfinsternis beobachtet und das Ereignis >herzzermalmend< genannt hatte. In poetischer Sprache schilderte er den Vorgang und seine Empfindungen: >Endlich, zur vorausgesagten Minute – gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel<, schrieb der Dichter, >empfing sie [die Sonne A.M.] den sanften Todeskuß – ein feiner Streifen ihres Lichtes wich vor dem Hauche dieses Kusses zurück, der andere Rand wollte in dem Glase des Sternrohres zart und golden fort.< Der Dichter fühlte sich umgeben von einer >namenlos tragischen Musik von Farben und Lichtern >Gott redete, und die Menschen horchten<, schrieb Adalbert Stifter. Das war kein drohender und zürnender Gott mehr, den Stifter Mitte des 19. Jahrhunderts im Naturschauspiel zu hören vermeinte.“

In den Wochen und Tagen um die Sonnenfinsternis vom 11. August 199, kehrten alte Fantastereien zurück und wurden neue, von der Weltraumforschung inspirierte Schreckensnachrichten verbreitet und Untergangsängste genährt. Unheilpropheten, Angstmacher und in ihrem Gefolge Geschäftemacher trieben ihr Unwesen. Der Hellseher Nostradamus (1503–1566) wurde zitiert, der für den Sommer 1999 einen „Schreckenskönig“ angekündigt hatte, der vom Firmament herabsteige. In den Buchhandlungen stapelten sich die Sonderhefte der Astro- und Esoterikzeitschriften. Im Internet salbaderte ein „Graf des Grauens zum jüngsten Tag“. An der Universität Wien machte der Geologie-Emeritus Alexander Tollmann von sich reden. Der Professor prophezeite für den August 1999 den Dritten. Weltkrieg mit einer Endschlacht bei Köln. Die französisch-schweizerische Wahrsagerin Elizabeth Teissier glaubte, dass die NASA-Sonde Cassini auf die Erde stürzen und 200.000 Krebserkrankungen auslösen werde. Auch der Mode-Designer Paco Rabanne weckte Panikstimmung. In seinem Buch „Das Feuer des Himmels“ ließ er die russische Raumstation „Mir“ auf Frankreich niedergehen und zerschellen. Panik überall, so hatte Rabannes Szenario für den 11. August 1999 gelautet. „Menschen, die brennenden Fackeln gleichen, irren durch die Straßen“. Er wich vor der prophezeiten Panik in die Bretagne aus und spendete letzte Hoffnung: „Beten hilft immer“. Sekten erfasste ein „Endzeitfieber“. Ein Esoterikblatt verkündete die „Apokalypse 2000“ und fragte, ob wir das Schicksal von Atlantis teilen werden. In München bot eine Gruppe „Lichtarbeiter“ ein Überlebenstraining an. Manche verängstigte Bürger wollten am Tag der Finsternis in verbarrikadierten Kellern biwakieren und sich mit einer Alufolie vor den Fenstern vor tödlicher Strahlung schützen.

Noch immer ruft auch im Europa des aufgeklärten Zeitalters das Himmelsspektakel einer totalen Sonnenfinsternis mehr hervor als nur Faszination und kosmologische Begeisterung. Noch immer werden irrationale Kräfte angesprochen und freigesetzt, noch immer tief verwurzelte Menschheitsängste wachgerufen und genährt. Doch gibt es nicht mehr das öffentliche Glockengeläute, Gottesdienste und Buß- und Strafpredigten, um Unheil abzuwenden und den zürnenden und strafenden Gott gnädig und milde zu stimmen. Die Kirchen blieben am 11. August 1999 leer.

Als sich nach der Sonnenfinsternis über meinem Standort im Rottal unweit Bad Griesbach dicke Wolkenbänke über den Himmel schoben und es, wie damals am 2. August 1654, zu regnen begann, dachte ich an die Buchdruckerfamilie Mintzel und an die Vorkehrungen der Hofer Bürger gegen die giftigen Lüfte und das angekündigte große Sterben, als sei ich damals dabei gewesen. Ich fühlte mich Ihnen plötzlich näher als je zuvor.

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