43. Säkularer Staat, religiös-konfessionelle Erosionen und islamische Neubürger

Vortragsreisen nach Trient

In sozial- und geschichtswissenschaftlichen Fachkreisen hatte sich wohl allmählich herumgesprochen, dass sich meine Forschungsinteressen und Fragestellungen vom engeren Bereich der Parteienforschung entfernt und sich der bekannte „CSU-Mintzel“ in kritischer Distanz zur bayerischen Staats- und Ordnungspartei (CSU) allgemeinen Fragen der religiös-konfessionellen Entwicklungen und institutionellen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Kirchen zugewandt hatte. Gewiss, es waren vor allem spezifisch staatsbayerische Verhältnisse und Anstöße, die mich bewegten, mich generell mit Fragen der Säkularisierung und dem Wirken der Konfessionen und Kirchen zu befassen und dazu Stellung zu nehmen. Es waren zugegebenermaßen auch persönliche berufspolitische Erfahrungen, die meine Interessen an solchen Fragestellungen lenkten und verstärkten, so das Ärgernis der Konkordatslehrstühle (siehe Blog-Kap. 21) sowie der penetrante Klerikalismus und die staatliche Alimentierung der katholischen hohen Klerisei. Anfang der 1990er Jahre waren im sogenannten Madonnen-Streit an der Universität Passau die verdeckten und verschleierten internen und externen katholisch-konfessionellen „Selbstverständnisse“ an den Tag gekommen, aber auch säkulare Gleichgültigkeit und niederträchtige Gesinnung (siehe Blog-Kap. 29/30). In den Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil des Bundeverfassungsgerichtes hatte es 1995 eine katholisch-konfessionell geprägte Aktionseinheit des bayerischen Staates mit der katholischen Kirche und ihren Laienorganisationen gegeben (siehe Blog-Kap. 32). Die Stellung und Finanzierung der Katholisch-Theologischen Fakultäten an sieben bayerischen Universitäten waren angesichts der konfessionellen Erosionsvorgänge am Ende der 1990er ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geraten. Ich hatte mich zu diesen Vorgängen, wie in meinem Blog dokumentiert, in wissenschaftlichen Analysen und Printmedien mehrmals ausführlich geäußert. In Kollegenkreisen waren die kritischen und bissigen Auseinandersetzungen des „CSU-Mintzel“ mit diesen Verhältnissen und Entwicklungen wohl mit etwas Verwunderung verfolgt worden, zumindest von denen, die in mir einen als Wissenschaftler zwar in freundlicher Distanz stehenden, aber doch treuen Anhänger der CSU vermuteten. In der Tat waren meine kirchen- und konfessionspolitischen Ansichten mehr und mehr in einen scharfen Gegensatz zur CSU-Politik geraten, für die das vom bayerischen Staat 1933 mit dem Vatikan geschlossene Konkordat sakrosankt war. Ganz konnte ich mich jedoch auch auf internationalen Tagungen nicht meinen lebensgeschichtlichen und wissenschaftlichen bayerischen Bindungen und Verbindungen entziehen.

Meinen letzten großen Beitrag über die CSU hatte ich im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung für die Akademie der Wissenschaften in Moskau verfasst. Er war 2007  in der  Moskauer Reihe “Urgent Problems of Europe” in russischer Sprache unter dem Titel “Die Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU). >Politik für Bayern, für Deutschland und für Europa<” in Moskau erschienen.|

Ich war hocherfreut und sah mich abermals wissenschaftlich herausgefordert, als mich in den Jahren 2005/06 der Direktor des renommierten Italienisch-Deutschen Historischen Instituts (ITC) in Trient, Prof. Dr. Gian Enrico Rusconi, zweimal dazu einlud, auf hochkarätig besetzten Tagungen Vorträge zu halten. Im November 2005 stand das Thema „Die Kruzifix-Debatte in Deutschland“ auf dem Institutsprogramm, im Oktober 2006 das Thema „Der säkularisierte Staat und seine Veränderungen heute.“ Die Einladungen gaben mir die willkommene Chance, meine kritischen Auseinandersetzungen auf einer internationalen wissenschaftlichen Plattform zur Diskussion und somit auf den Prüfstand zu stellen. Kollege Rusconi bat mich 2005, das Kruzifix-Urteil und vor allem die spezifisch bayerischen Reaktionen darzustellen und zu erläutern. Das Tagungsthema 2006 griff hingegen sehr viel weiter aus. Teilnehmer auf deutscher Seite waren neben mir Ernst-Wolfgang Böckenförde (Freiburg), Thomas M. Schmidt (Frankfurt a.M.), Klaus Eder (Berlin) und Jörg Luther (Alessandria). Mein Thema lautete: „Herausforderungen des säkularisierten Staates heute: Kruzifix-Debatte, Moscheenbau, Marktl, Konkordatslehrstühle und andere Formen freundlicher Kooperation.“ Die Anstrengungen der Teilnahme wurden reich belohnt, die Vorträge waren facettenreich und multiperspektivisch: theologisch-philosophisch, politisch-philosophisch, verfassungs- und kirchenrechtlich, historisch und soziologisch. Meine Frau begleitete mich auf beiden Vortragsreisen. Selbst sie, die mich sonst scharf kritisierte und stets etwas an meinen Auftritten auszusetzen hatte, war voll des Lobes. Meine sorgfältig vorbereiteten Vorträge waren offensichtlich gut aufgenommen worden. Sie wurden zu einem Buchbeitrag zusammengefasst, ins Italienische übersetzt und 2008 publiziert (in: Lo Stato secolarizzato nell´eta post-secolare, a cura di Gian Enrico Rusconi, Bologna). Mit anderen Schwerpunktsetzungen, die vor allem das deutsche Religionsverfassungsrecht und das religionspolitische Auseinanderdriften der westlichen und östlichen Bundesländer thematisierten, steuerte ich einen Beitrag zur Festschrift für Heinrich Oberreuter zu dessen 65. Geburtstag bei (Res publica semper reformanda, 2007, S. 135-148).

Aktuelle Verhältnisse und Zukunftsperspektiven

In den Jahren 2006 und 2007 drängten mich insbesondere zwei Ereignisse, mich erneut mit hochaktuellen Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche zu befassen: Es waren der Staatsbesuch des damaligen Papstes Benedikt XVI. in Bayern und seine Rede über das „Thema „Glaube, Vernunft und Universität“, die er am 12. September 2006 an der Universität Regensburg hielt, sowie der Artikel des deutschen Bundesministers des Innern Wolfgang Schäuble zum Thema „Muslime in Deutschland“. Die Rede Benedikts XVI. wurde am 13.09.2006 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt (Nr. 213, S.8). Schäubles Artikel erschien aus Anlass der ersten Deutschen Islamkonferenz in Berlin am 27. September 2006 ebenfalls in dieser Zeitung (Nr. 225, S.9). Meine jeweiligen Zitate stammen aus diesen Quellen.

Ich verfolgte mit großem Interesse die darauffolgenden öffentlichen Debatten, und dies über Jahre. Ich sah mich auch als Zeitzeuge erneut herausgefordert, meine Beobachtungsschärfe und meine Zeitdiagnostik auf den Prüfstand zu stellen. Wir stehen als Zeitgenossen und informierte Beobachter mittendrin in gegenwärtigen Entwicklungsverläufen und können nur schwer ausmachen, wie der Wandel weiterhin wirklich verlaufen wird. Zu brandaktuellen Vorgängen und Streitfragen Stellung zu nehmen, birgt natürlich die Gefahr in sich, Fehlbeurteilungen zu unterliegen. Doch gerade die Mühen, aktuelle Entwicklungsverläufe zu beobachten, Tendenzen zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, verleiht Zeitgenossenschaft ihr besonderes Gewicht. Ich werde es nicht mehr erleben, ob und inwieweit meine analytischen und deutenden Bemühungen bestätigt werden oder sich als falsch erweisen.

Ich gehe in meiner Skizze von zwei Thesen aus: Der säkularisierte Staat, hier die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bundesländer, sind heute in doppelter Weise konfessionspolitisch herausgefordert: Auf der Seite der sogenannten „christlichen Mehrheitsgesellschaft“ werden angesichts sich drastisch verändernder religiös-konfessioneller Verhältnisse bestimmte Privilegien und Rechte der christlichen „Großkirchen („Volkskirchen“) fragwürdig und reformbedürftig. Auf der Seite der islamischen Minderheit ist deren konfessionspolitische Integration über dauerhafte institutionelle Arrangements zu einer dringenden und permanenten Aufgabe geworden. Beide Herausforderungen stellen das hoch gepriesene „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) auf den Prüfstand.

Die päpstliche Kritik an der säkularisierten Welt

Mit seiner Regensburger Vorlesung forderte der Papst den säkularisierten Staat frontal heraus. In der Konfrontation zwischen „westlicher Welt“ und „islamischer Welt“, so warnte Benedikt XVI. 2006, sei die „westlichen Welt“ nicht nur von außen, sondern auch von innen her bedroht. Es ging dem Papst nicht nur um eine theologisch-philosophische Positionierung des Christentums gegenüber dem Islam, sondern konkret um eine Lektion über die geistige Selbstgefährdung der „westlichen Welt“. Er warf der modernen Wissenschaft, insbesondere aber den Naturwissenschaften vor, einer „positivistischen Vernunft“ zu erliegen. Der Mensch selbst werde dabei in seinem Wesen verkürzt. Der Papst verlangte eine Abkehr von der „modernen naturwissenschaftlichen Vernunft“ und die Hinwendung zu einem weiten, ganzheitlichen Vernunftbegriff. „Glaube und Vernunft“ sollten nicht als Gegensätze verstanden, sondern „im Ganzen der einen Vernunft“ versöhnt werden. Im Hinblick auf den säkularisierten Staat der „westlichen Welt“ sagte er sinngemäß, dieser Staat sei eine in sich selbst gefährdete Institution. In Bezug auf die Aufgabe und Stellung der Theologie an den staatlichen Universitäten stellte er fest: Die Theologie stehe „in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten [sic!] Gebrauch der Vernunft […], „indem sie nach der Vernunft des Glaubens“ frage. In diesem Sinne gehöre Theologie „nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft an die Universität und ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein.“ Der Papst nahm damit zu einer innerkirchlichen und öffentlichen Streitfrage im Verhältnis von Staat und Kirche Stellung und verteidigte die Existenz und den Platz der Theologie an staatlichen Universitäten. Er erteilte sowohl laizistischen Kräften als auch Bestrebungen in der katholischen Amtskirche eine Absage, welche die Theologie in der staatlichen Wissenschaftsorganisation marginalisieren oder sogar aus der Universität herauslösen wollen.

Mit seiner Ermahnung zum „rechten Gebrauch der Vernunft“ und seiner Positionierung der Theologie in der staatlichen Wissenschaftsorganisation sprach der Papst auch christlich-interkonfessionelle Streitfragen und Frontstellungen an. Die schrille Empörung in der islamischen Welt über sein fragwürdiges Zitat lenkte zunächst von den offenen und versteckten Einwänden gegen die evangelische Theologie ab. Er wandte sich gegen das „Subjektive“ und gegen das „subjektive Gewissen und seine Beliebigkeit“ und teilte damit Seitenhiebe gegen den evangelischen Glauben aus, der ein anderes Verständnis von Kirche und individuell geprägter Religion vertritt. Der Papst reklamierte mit seinen Ausführungen und Postulaten für die römische Kurie die Wahrheitsfrage und das richtige Weltverstehen, er sagte es nur nicht so unverhohlen und schroff. Was der Papst mit theologisch-philosophischer Friedfertigkeit und Dialogbereitschaft vortrug, enthielt genau besehen brisante Ansprüche an den säkularisierten Staat von heute. Auf einer theologisch-philosophischen Metaebene mögen sein gedankliches Konstrukt vom „Ganzen der einen Vernunft“ und seine Teleologie des sich in der Geschichte entwickelnden Logos und Gottesverständnisses plausibel und schlüssig sein. Doch halte ich es wenig wahrscheinlich, dass die von ihm angemahnte Besinnung und Umkehr in der westlichen Welt eintreten werden. Die inmitten von Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse voranschreitende westliche Zivilisation und moderne Wissenschaft werden weiterhin Gegenpositionen hervorbringen und den wissenschaftlichen Pluralismus des Weltverstehens eher verstärken, als zur Akzeptanz der päpstlichen Denkfiguren und Postulate führen. Aus der Pluralisierung und Fragmentierung der Wertsphären resultierenden Wertkonflikte und Spannungen können unter den Bedingungen der modernen Lebenssphären nicht mehr hierarchisch, geschweige denn ex cathedra, „von oben“, „im Ganzen einer Vernunft“ versöhnt werden. Mit seiner Regensburger Rede forderte der Papst den säkularisierten Staat auch insofern heraus, als er diesen quasi auf seine „Wahrheit“ zu verpflichten versuchte. Diese Anmaßung ist nicht akzeptabel.

 Die konfessionspolitische Integration der Muslime

Im Wochenblatt DIE ZEIT wurde Anfang Oktober 2006 dem Bundesinnenmister Wolfgang Schäuble bescheinigt, mit seiner jüngsten Stellungnahme und Initiative zur Integration der über drei Millionen Muslime in Deutschland sei ihm „ein gesellschaftspolitischer Coup“ gelungen. Schäuble hatte öffentlich anerkannt, dass der Islam in Deutschland für alle erkennbar kein Gastarbeiterglaube mehr sei, der mit seinen Trägern wieder verschwinde, sondern neben dem Christentum die zweitstärkste Konfession bilde. „Es leben drei Millionen Muslime in Deutschland, die Teil der deutschen Gegenwart und Zukunft sind, so wie der Islam ja auch ein Teil Europas ist. Das müssen und wollen wir zur Kenntnis nehmen; deswegen muss der Staat in eine vernünftige Beziehung zu den Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft eintreten, deshalb versuchen wir einen Dialog in Gang zu bringen.“ (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S. 4). Das Problem von Staat und Religion müsse, so mahnte Bundesminister Schäuble, auch innenpolitisch gelöst werden. Mit den drei Millionen Muslimen habe sich in Deutschland der religiös-konfessionelle Pluralismus um den Islam dauerhaft erweitert. Es sei eine der großen Aufgaben des Staates, durch kooperative Arrangements eine die Gegensätze entschärfende konfessionspolitische Integration zu erreichen. „So wie wir zu der katholischen und der evangelischen Kirche Beziehungen haben“, so führte Schäuble aus, „müssen wir in Deutschland versuchen, ein Verhältnis zwischen Staat und muslimischen Gläubigen zu entwickeln.“(SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S.5) Die Devise der Initiativen lautet: „Wir wollen aufgeklärte Muslime in unserem aufgeklärten Land“ (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S.5). Die angekündigten staatlichen Bemühungen liefen auf die Förderung eines „Euro-Islam“ im Sinne des deutschen Staatskirchenrechtes hinaus. Die staatlich kontrollierte Ausbildung und Einsetzung von Imamen wurde zu einer der neuen aktuellen Aufgaben des säkularisierten Staates gemacht. Das päpstliche Plädoyer für die Ausbildung von Theologie an staatlichen Universitäten und Hochschulen in der gemeinschaftlichen Verantwortung von „Glaube und Vernunft“ gewann so in Deutschland im Zusammenhang mit den konfessionspolitischen Herausforderungen des Islam eine neue integrationspolitische Bedeutung. Auch die islamische Religionsgemeinschaft und ihre Imame sollten, wie ehemals die katholische Kirche, der staatlichen Kontrolle unterstellt werden.

Allerdings müsse die konfessionelle Pluralisierung durch die muslimische Einwanderung, so Schäuble, im Sinne der „spezifisch deutschen Lösung im Verhältnis von Staat und Religion“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) geregelt werden. Es sei deshalb höchste Zeit, den Islam konfessionspolitisch zu integrieren und dafür auf der Basis der Verfassung und des deutschen Religionsverfassungsrechts dauerhafte kooperative und institutionelle Arrangements zu schaffen. Wörtlich sagte er hierzu: „Muslime in Deutschland sollen sich als deutsche Muslime fühlen können. Sie sollen als Bürger eines religiös neutralen, aber nicht religionsfreien demokratischen Rechtsstaates gefeit sein können gegen die Verlockungen und Irrwege terroristischer Extremisten“ (Schäuble: Muslime in Deutschland). Schäuble korrigierte sich in seinem Beitrag gleich selbst. Der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland sei natürlich weltanschaulich und religiös-konfessionell nicht neutral. Weltanschaulich beruhe er auf den Voraussetzungen eines Wertekanons (Menschenrechte, Grundfreiheiten, Pluralismus). Religiös-konfessionell hätten seine Traditionslinien, Werte und sein Rechtsverständnis christliche Wurzeln. Allerdings sei die Bundesrepublik Deutschland „kein christlich dominierter Staat oder >Christenclub<“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) Der Bundesminister verband mit dem religiös-konfessionellen Gleichberechtigungsangebot jedoch Bedingungen, die, realistisch gesehen, in absehbarer Zeit wohl weder von staatlicher noch von muslimischer Seite erfüllt werden können. Im konfessionspolitischen Integrationsangebot war ein Haken enthalten: „Die Muslime wollen vom Staat gleichberechtigt behandelt werden, so wie die christlichen Kirchen.“ Der Islam müsse als eine „Religion ohne Kirche“ dafür erst die organisatorischen Voraussetzungen schaffen und Bedingungen erfüllen, um wie die hochorganisierten christlichen Großkirchen in Verhandlungen mit dem Staat eintreten zu können (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr.222, 26.09.2006, S. 5). Der Bundesminister zeigte sich überzeugt, dass mit „der spezifisch deutschen Lösung im Verhältnis von Staat und Religion“ ein „richtiges“ und noch immer mustergültiges Verhältnis ausgehandelt worden sei, das nun auch die Integration der Muslime als Glaubensgemeinschaft ermögliche. Das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“, das sich zu anderen europäischen Modellen abgrenze, gewähre allen Religionen eine Chance. Es sei auch den neuesten Herausforderungen des säkularisierten Staates durch den Islam gewachsen. Die Bundesrepublik Deutschland sei „für die aus der Globalisierung und den Migrationsströmen sich ergebenden religionsrechtlichen Herausforderungen bestens gewappnet“ (Schäuble: Muslime in Deutschland).

Das deutsche Modell: Formen freundlicher Kooperation

Bei konfessionspolitischen Konflikten und rechtlichen Streitigkeiten, die das Verhältnis von Staat und Kirche betreffen, wird in Deutschland stets auf die historischen Erfahrungen und das ausgewogene, friedensstiftende und gut eingespielte Verhältnis von Staat und Kirchen hingewiesen. Die religionsgeschichtliche und -rechtliche Entwicklung brachte ein deutsches „Modell“ hervor, das in Europa zwischen dem laizistischen Modell lateinischer Staaten und dem staatskirchlichen Modell Großbritanniens und skandinavischer Staaten einzuordnen ist. Im konfessionsgespaltenen Deutschland wurden im „Verhältnis von Staat und Religion“ enge Formen einer freundlichen Kooperation entwickelt, welche die mit der konfessionellen Spaltung und ihren Spannungen gegebenen Verhältnisse allmählich entschärften. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter E.-W. Böckenförde bezeichnete das historische Ergebnis als „Konzept der übergreifenden offenen Neutralität“ des Staates. (Böckenförde, 2006: Der säkularisierte Staat, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, Vortag am 17.10.2006). Die Großkirchen („Volkskirchen“) erhielten den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes und wurden hierdurch mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Ihnen wurden kraft eigenen geistlichen Auftrages in dieser Welt, so die allgemeine Begründungsformel, besondere Mitwirkungsrechte in Staat, Politik und Gesellschaft eingeräumt. Als heutige Beispiele seien genannt: der Religionsunterricht an staatlichen Schulen, der Bereich der Jugendarbeit, die dem Bundesverteidigungsministerium unterstellte Militärseelsorge, Sitz und Stimme in Gremien des öffentlichen Rechtes, der Bereich der Ausbildung von Theologen an staatlichen Universitäten, das entscheidende Wort bei der Besetzung bestimmter Professuren in religionsfreien Fakultäten und, nicht zu vergessen, beim Einzug der Kirchensteuer durch staatliche Finanzämter.

In Deutschland decken die Kirchen ihre Ausgaben für Personal, Seelsorge und soziale Dienste hauptsächlich aus zwei großen Einnahmequellen, aus der Kirchensteuer und über staatliche Dotationen (Zuwendungen). Durch die von den Kirchenmitgliedern erhobenen und über die staatlichen Finanzämter eingezogenen Kirchensteuer kommen jährlich – abhängig von den staatlichen Steuereinnahmen – über neun Milliarden Euro in die Kirchenkassen, rund fünf Milliarden auf katholischer, etwa 4,5 Milliarden auf evangelischer Seite. Der Betrag, den die beiden Großkirchen über staatliche Zuwendungen erhalten, übersteigt das Volumen der Einnahmen durch die Kirchensteuer. Noch heute, nach mehr als zweihundert Jahren, wird ein Teil der Dotationen damit begründet, ein legitimer Ausgleich für die Zwangsenteignungen durch die Säkularisation von 1803 zu sein. Mit öffentlichen Mitteln, also aus dem Steueraufkommen aller Erwerbstätigen ohne Rücksicht auf kirchliche Mitgliedschaft, werden unter anderem extra bezahlt oder bezuschußt: die Militär-, Anstalts- und Polizeiseelsorge, die Kirchentage beider Konfessionen, Denkmalpflege, Religionsunterricht, kirchliche Kindertagesstätten, Kirchenbibliotheken und Konfessionsschulen. In den meisten Bundesländern werden zudem Bischöfe und höhere Geistliche wie Beamte vom Staat besoldet. Der Staat verzichtet auf viele Milliarden Euro an Einnahmen, indem er den Kirchen steuerliche Privilegien einräumt. Alles in allem sind die Kirchen Deutschlands folglich in einem hohen Maße von den verschiedenen Formen der „Staatshilfe“ abhängig, nicht zuletzt natürlich von der staatlichen Steuergesetzgebung und den Steuereinnahmen. Würden die Großkirchen heute tatsächlich auf eigene finanzielle Füße gestellt, dann zeigten sich in aller Schärfe ihre schwindenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Von kirchlicher Seite wird freimütig bestätigt, dass die Abschaffung des gegenwärtigen Kirchensteuersystems die Kirchen eines Finanzsystems berauben würde, das mehr Vorzüge hat als jedes andere System. Die staatliche Entreibung trage wesentlich zur Freiheit und Autonomie der Kirchen bei. Wichtige Gebiete kirchlichen Wirkens wären akut gefährdet, ja sie kämen zum Erliegen, wenn das bestehende Kirchensteuersystem abgeschafft würde. Der Staat erhalte zwar für seine Steuererhebungshilfe eine Vergütung, er verzichte aber auf jeden Einfluß und jede Kontrolle der Verwendung der Kirchensteuer. Das historisch gewachsene Religionsverfassungsrecht und die mit ihm gegebenen engen Kooperationsformen zwischen Staat und Kirchen geraten zunehmend in Diskrepanz zu den religiös-konfessionellen Entwicklungen.

Noch christliche „Volkskirchen“ oder schon christliche „Minderheitenkirchen?

Schon die Kruzifix-Debatte und die von der katholischen Kirche und ihren Laienorganisationen 1995 organisierte Großdemonstration für die Anbringung von Kreuzen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen haben auch die Frage provoziert, wer in Deutschland und in seinen Bundesländern eigentlich Mehrheit und wer Minderheit ist (siehe meine Ausführungen dazu in Blog-Kap. 32). Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hatte sich zu einem Wortführer der „beleidigten Mehrheit“ in Bayern gemacht. Kardinal Lehmann, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sprach am 20. September 2006 in seiner Verteidigung der Regensburger Vorlesung des Papstes wie selbstverständlich von der „christlichen Mehrheitsbevölkerung“ (Kardinal Karl Lehmann: Kampf der Kulturen? in: FAZ Nr. 219, 20.09.2006, S. 8). Mit der empirischen Mehrheiten-Minderheiten-Problematik ist die Frage nach der künftigen Entwicklung der sogenannten Volkskirchen und ihrer Privilegien aufgeworfen. Machen die großen christlichen Religionsgemeinschaften tatsächlich noch die Mehrheit aus? Sind die zwei christlichen Großkirchen tatsächlich noch „Volkskirchen“? Werden die privilegierten christlichen Konfessionsgemeinschaften im Zuge der weiteren Säkularisierung zu Minderheiten? Inwieweit sind die den Großkirchen ehemals eingeräumten Privilegien obsolet geworden? Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hatte 1996 dazu geäußert:

„Vielleicht müssen wir von den volkskirchlichen Ideen Abschied nehmen. Möglicherweise steht uns eine anders geartete, neue Epoche der Kirchengeschichte bevor, in der das Christentum eher wieder im Senfkornzeichen stehen wird, in scheinbar bedeutungslosen, geringen Gruppen, die aber doch intensiv gegen das Böse anleben und das Gute in die Welt hineintragen […]. Die katholische Kirche hat immer noch eine Provokationsmacht, sie ist Stachel und Widerspruch, oder wie der heilige Paulus es ausdrückt, ist Skandalon, ein Stolperstein“(Kardinal Ratzinger, zit. nach Stern, Nr. 18, 25.04.2005, S. 46).

Die Schreckensvision des damaligen Kardinals Ratzinger, die Kirche müsse sich in Europa möglicherweise auf eine neue Epoche der Kirchengeschichte einstellen, scheint von den konfessionspolitischen Entwicklungen bestätigt zu werden. Mit dieser 1996 von Ratzinger angedeuteten und in der Tendenz empirisch nachgewiesenen Entwicklung werden auf den säkularisierten Staat ohne Zweifel Herausforderungen zukommen, die das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ infrage stellen. Gewisse Privilegien, Einflußbereiche und sogar Vetopositionen der Kirchen werden in einem ganz anderen Sinn zum Skandalon.

Um meine Argumente abzustützen und zu bestärken, muss ich ein paar Daten und Hinweisen aus der amtlichen Konfessionsstatistik Deutschlands und aus anderen Quellen anführen. Aus der jüngeren und jüngsten Konfessionsstatistik (2006-2016) geht hervor: Von rund 81 Millionen deutschen Staatsangehörigen gehören rund 46 Millionen nominell einer der beiden Großkirchen an, rund 24 Millionen der katholischen und etwa 22 der evangelischen Kirche. Schon 30 Millionen Staatsbürger gehören keiner der zwei großen Konfessionsgemeinschaften an. Rund 36 Prozent, also bereits ein Drittel der deutschen Staatsbürger, bezeichnen sich als konfessionslos. Die Vereinigung Deutschlands hat die konfessionspolitischen Verhältnisse verändert und einen Säkularisationsschub mit sich gebracht. Unterscheidet man die alten und neuen Bundesländer nach konfessionellen Gesichtspunkten, dann ergibt sich: In den fünf neuen Bundesländern gehören 66 Prozent der deutschen Staatsangehörigen keiner Konfessionsgemeinschaft an, das sind zwei Drittel. Nur ca. 4 Prozent gehören der römisch-katholischen Kirche an, lediglich 27 Prozent der evangelisch-lutherischen Kirche. Alle anderen Konfessionsgemeinschaften, christliche Freikirchen und nicht christliche Konfessionsgemeinschaften, machen zusammen nicht einmal zwei Prozent aus. Die Lebenswirklichkeit ist in allen östlichen Bundesländern nur noch rudimentär religiös-konfessionell geprägt. Es gibt dort faktisch keine „christlichen Mehrheitsgesellschaft“ und keine christlichen „Volkskirchen“ mehr. Die Christen sind zu einer Minderheit geworden, die Konfessionslosen bilden ohne Zweifel die Mehrheit. Umfragen ergaben, dass dort die Hälfte der Befragten „Religion und Kirche“ für völlig unwichtig halten. Achtzig Prozent der Befragten glauben an keinen Gott, drei Viertel der Befragten bezeichnet sich als „nicht gläubig“.

In den alten Bundesländern hat sich der Anteil der Befragten, die sehr selten zur Kirche gehen von 42 auf 50 Prozent erhöht. Eine Studie (Shell-Studie) über Jugendliche zeigt, dass es im Elternhaus mit der Religiosität schlecht bestellt ist. In den alten Bundesländern bezeichnen 72 Prozent der befragten Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahre ihr Elternhaus als weniger und nicht religiös, in den neuen Bundesländern sind es 90 Prozent. In den neuen Bundesländern ist die religiöse Sprachfähigkeit praktisch völlig abhandengekommen. Wertevermittlung und die Ausbildung von Selbst- und Weltverständnis werden nicht mehr in der Sprache religiöser Tradition formuliert.

In den alten Bundesländern, wo im Westen und Süden territorial die katholischen Schwerpunkte liegen, sehen die Verhältnisse im Gegensatz zur weit fortgeschrittenen Dechristianisierung und Entkirchlichung der neuen Bundesländer noch relativ günstig aus. Zwar gibt es dort noch eine nominelle „christliche Mehrheitsgesellschaft“, aber auch sie unterliegt der säkularen Erosion. Der anscheinend noch einigermaßen intakte Provinzidyllen-Katholizismus in Teilen Bayers und anderswo kann immer weniger darüber hinwegtäuschen. Die katholische Kirche leidet schwer unter dem zunehmenden Priestermangel, sie muß an vielen Orten Pfarreien zusammenlegen, die Zahl der Erstkommunionen nimmt ständig ab und die Austritte nehmen beträchtlich zu. Die Missbrauchsskandale und andere Faktoren wie der Zölibat und eine weltfremde Sexualethik verstärken die negativen Effekte.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zeichnet ein eher düsteres Bild ihrer Zukunft und befürchtet ebenfalls, dass die Zeit der „Volkskirchen“ schon bald abgelaufen sein könnte. Der Traditionsprotestantismus nimmt die „Pastorenkirche“ fast nur noch an Knotenpunkten des Lebens in Dienst, bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen (K. Engelhardt, H. von Loewenich und Peter Steinacker, Hrsg., 1997: Fremde Heimat Kirche). Die evangelische Kirche ging in den Jahre 2005/06 davon aus, dass die Zahl ihrer Mitglieder bis zu 30 Prozent sinken und die Zahl der Pfarrer von 21.000 auf ca. 16.500 zurückgehen werden (SZ Nr. 153, 06.07.2006, S.1; FAZ Nr. 264, 12.11.2005, S. 10). Die Zahl ihrer Kirchengemeinden verringerte sich bis 2014 noch schneller als erwartet auf 14.241. Die Erosionskräfte halten unvermindert an. Die Anzahl der Taufen, der Konfirmierten und der Bestattungen nahm ab. In der evangelischen Kirche ist von einer künftigen Kirche als „Minderheit mit Zukunft“ die Rede (SZ Nr. 153, 06.07.2006, S.1).

Während in den neuen Bundesländern die Konfessionslosen die große Mehrheit bilden, sind es in den alten Bundesländern, sehen wir einmal von der nominellen Mitgliedschaft in einer Kirche ab, faktisch die Indifferenten geworden. Gerade auch die zunehmende Indifferenz führt zur Delegitimation kirchlicher Formen und Ansprüche. Kurzum, Distanzierung der Menschen von der Institution Kirche, Rückgang der Zahl der Kirchenbesucher, Schließung und Umwidmung von Kirchen nehmen ein Ausmaß an, das Kirchenleitungen beunruhigt. Die vorliegenden Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft, zu Kirchenaustritten, zur Häufigkeit des Gottesdienstbesuches, zur Gebets- und Glaubenspraxis, zur Gottesfrage und zu anderen Formen religiösen Lebens weisen auf eine gravierende und weiterwachsende Legitimationskrise der Kirchen hin. Die ihnen bisher zugebilligten Entfaltungsräume und Einflußpotentiale stehen mehr und mehr im umgekehrten Verhältnis zu dem, was die Kirchen aus eigener Kraft noch zu leisten vermögen. Das trifft insbesondere auf die neuen Bundesländer zu.

Der Staat als Missionsgehilfe bei der Neuevangelisierung?

Angesichts dieser konfessionellen Verhältnisse drängt sich die Frage geradezu auf, ob der säkularisierte Staat sich in den neuen Bundesländern mit dem Abschluss von Verträgen und mit der Neueinrichtung Katholisch-Theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten faktisch zum Missionsgehilfen der Kirchen macht. Die politischen Begründungen für diese Restauration freundlicher Kooperationsformen im neuen Missionsgebiet laufen immer auf den gleichen Tenor hinaus: Die Kirchen hätten in Gesellschaft, Politik und Staat fundamentale transzendentale Funktionen. Der gänzlichen Säkularisierung müsse Einhalt geboten werden, weil eine Verselbständigung der Welt, die sich von ihrem göttlichen Ursprung lossagt, entweder weltlichen Heilslehren oder dem Nihilismus Vorschub leiste. Der säkularisierte Staat müsse deshalb im christlich-abendländisch geprägten Deutschland transzendental an den christlichen Glauben rückgebunden werden. In den neuen Bundesländern läuft diese Begründung auf eine staatliche Abstützung des transzendentalen Missionsauftrages der Kirchen hinaus. Provokativ und zugespitzt formuliert: Der Staat wird zum Mitträger der „Neuevangelisierung“. Die zwei großen Konfessionsgemeinschaften wären aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage, die ihnen zuerkannten Aufgaben zu erfüllen. Die Verhältnisse werden, wie Böckenförde prognostizierte, für sie „in hohem Maße prekär“ bleiben und sich noch verschlechtern. Der Staat könne „mithin nur noch recht begrenzt und für die Zukunft mit abnehmender Tendenz auf die christliche Religion als gemeinsam verbindende und ein tragendes Ethos vermittelnde Kraft bauen.“(Böckenförde, 2006: Der säkularisierte Staat; FAZ Nr. 164, 17.07.2004, S. 41). Und an anderer Stelle bekräftigt Böckenförde jedoch noch einmal sein Theorem: „Voraussetzung [für ein einigendes Band und eine tragende stabilisierende Kraft] ist allerdings, daß die Religion bei ihren Gläubigen, den Bürgern, lebendig ist und als gelebte Religion Verhaltenswirksamkeit entfalte. Das hat der säkularisierte Staat indes nicht in der Hand. Er vermag Fortbestand und Lebenskraft der Religion mit dem ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht zu garantieren, kann auch die Religion nicht zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens erklären“ (Böckenförde: Der säkularisierte Staat).

Welche Bindekräfte sind es aber dann, wenn das Christentum weiter erodiert und als Wertgrundlage entschwindet? Ein Verfassungspatriotismus allein sei kein wirklich tragender Ersatz, meinen die Befürworter einer christlich fundierten Leitkultur.

Entgegen dem Theorem Böckenfördes versucht der Staat der Bundesrepublik Deutschland besonders in den neuen Bundesländern die schwache gesellschaftliche Verankerung der beiden Großkirchen zu stabilisieren und zu kräftigen. Ich neige allerdings zur Einschätzung, dass es auf weite Sicht nicht gelingen wird, die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Wie lange der semisäkularisierte bayerische Staat die in seinen Gebieten vergleichsweise noch stark ausgeprägte Lebendigkeit und staatstragende Kraft der katholischen Glaubens- und Lebenswelt verteidigen und schützen kann, wird sich zeigen. Ich habe als junger Mann noch die Zeit des erzkatholischen und sittenstrengen Kultusminister Alois Hundhammer (CSU) und seiner katholisch-fundamentalistischen Mitstreiter kennen gelernt (siehe Blog-Kap.32). Sie hatten verbissen an den Konfessionsschulen festgehalten und katholische Macht- und Einflusspositionen verteidigt. Tempi passati!-Fragen, wie lange sich historisch festgeschriebene kirchliche Machtpositionen in verschiedenen Bereichen noch in dem bestehenden Umfang rechtfertigen und halten lassen, werden sich verschärfen. Wahrscheinlich wird es auch in den noch stark katholisch geprägten Bundesländern im Zuge des säkularen Erosionsprozesses zu Lockerungen in den bisherigen Kooperationsformen kommen. Auf der Ebene der Bundesländer werden sich wahrscheinlich laizistische Tendenzen verstärken und kraft kulturhoheitlicher Landeskompetenzen Lösungen auseinanderdriften.

Der schwindende Einfluss der christlichen Großkirchen resultiert nicht aus einem gänzlichen Schwund religiöser Bedürfnisse nach Sinn und Weltverstehen. Viele Menschen suchen im zunehmenden Maß individuell und in außerkirchlichen Gemeinschaften jenseits der kirchlichen Dogmen, Riten und Angebote nach Antworten. Religion gewinnt hierdurch einen „privaten“ und „individuellen“ Charakter. Ein anderer Faktor ist die allenthalben wachsende religiöse Indifferenz, die wahrscheinlich eine größere Bedrohung kirchlicher Ansprüche darstellt als die für die Kirchen unbequeme freischwebende Religiosität. Beobachtbare Formen der „Revitalisierung des Religiösen“ bedeuten in Europa folglich nicht eine „Rückkehr der Religion“ in ihren traditionellen institutionalisierten Formen. Der These von der Rückkehr der Religion, die von christlichen „Hoffnungsträgern“ vertreten wird, ist entgegenzuhalten, dass Dechristianisierung und Entkirchlichung nicht zwingend bedeuten, Säkularisierung/Verweltlichung schreite ungebrochen voran. Der Säkularisierungstrend folgt keinem eindimensionalen und geradlinigen Entwicklungspfad, er ist komplex und in sich widersprüchlich. Möglicherweise Zu unterscheiden sind Religion und Religiosität, also verfestigte und institutionalisierte Formen von Glauben und institutionell und dogmatisch ungebundene religiöse Bedürfnisse und Sinnsuche. Religiosität löst sich im Säkularisierungsprozeß nicht auf. Religiöse Transzendenzbedürfnisse entkoppeln sich von den Kirchen, so lautet eine plausible These der Religionswissenschaft.

„Aufgeklärte Muslime in unserem aufgeklärten Land“ (Wolfgang Schäuble)

Dem schwächelnden Christentum steht in Deutschland (und nicht nur in diesem europäischen Land) eine erstarkende und wie es scheint glaubensfeste islamische Konfessionsgemeinschaft von Einwanderern gegenüber, die den säkularisierten Staat in anderer Weise mit ihren Glaubensüberzeugungen, Riten, Konventionen und Ansprüchen (Stichworte: Kopftuch, Schächtung, Nichtteilnahme von muslimischen Schülerinnen am koedukativen Schulsport, islamischer Religionsunterricht, Leichentuch statt Sargpflicht nach christlicher Tradition) herausfordern. Demographische Extrapolationen kommen zu dem Ergebnis, dass in etwas mehr als zwanzig Jahren knapp sieben Millionen Muslime dauerhaft in Deutschland leben werden. Zwei Drittel von ihnen werden voraussichtlich deutsche Staatsbürger sein. Ein glaubensstarker, nur teilsäkularisierter Euro-Islam könnte schon bald einem weiter verblassenden Christentum konfessionspolitische Probleme bescheren und den säkularisierten Staat in religionsrechtliche Bedrängnis bringen. Die politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen über die Modalitäten der Ausbildung und der staatlichen Einsetzung von Imamen, über die Institutionalisierung des islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache, über das Tragen des Kopftuches oder über den Bau von Moscheen werden über kurz oder lang zeigen, inwieweit das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ den aktuellen Herausforderungen des säkularisierten Staates wirklich gewachsen sein wird.

Die fortschreitende Dechristianisierung und Entkirchlichung werden die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der bestehenden Privilegierung der Kirchen verstärken und Forderungen nach Revisionen drängender und lauter werden lassen. Im Stadtstaat Berlin und in den „gottlosen“ neuen Bundesländern werden andere Entscheidungen getroffen werden als in noch stark katholisch geprägten alten Bundesländern. Wie Brandenburg und Bayern zeigen, gibt es zwei parallel und quasi gegensätzlich verlaufende Entwicklungsrichtungen: Im Norden und Osten der Bundesrepublik Deutschland, in den Bundesländern mit christlichen Minderheiten, wird sich das Verhältnis von Staat und Kirche in Richtung des „Konzepts der distanzierenden Neutralität“ (E.-W. Böckenförde) entwickeln. Die religiös-konfessionellen Verhältnisse werden sich in der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls in den nächsten Jahrzehnten weiterhin stark verändern. Säkulare Indifferenz gegenüber dem institutionalisierten Christentum und „Gottlosigkeit“ werden vermutlich alle drei monotheistischen Religionsgemeinschaften in eine Minderheitenposition versetzen. Die Bunderepublik wird sich wahrscheinlich mehr in Richtung eines „etat laic“ französischen Musters verwandeln.

Der katholische Koloss bewegt sich

Analysieren, räsonieren, publizieren – was hat es gebracht? Genügte es, als wissenschaftlicher und politischer Beobachter die kritisierten Vorgänge und Entwicklungen bloß intellektuell zu verfolgen? Habe ich damit etwas bewegt? Es sah so aus, als würden alle diese intellektuellen Bemühungen ins Leere laufen. Doch der katholische Koloss bewegt sich. Er wird gezwungen sich zu bewegen!

Am 30./31. Januar 2013 traten die bayerischen Bischöfe in Waldsassen zusammen und beschlossen zur Überraschung vieler Kritiker, künftig auf ihr im bayerischen Konkordat zugebilligtes Vetorecht bei der Besetzung von 21 Lehrstühlen an bayerischen Universitäten zu verzichten. Die „geschichtlichen Rahmenbedingungen“ seien heute anders, so soll der Münchner Kardinal Reinhard Marx sich dazu geäußert haben. (http://saekulare-gruene.de/katholische-bischofe-bayerns-verz…08.09.2017.

Der Verzicht stellt allerdings nur einen halben Rückzug dar. Denn die Bischöfe gaben mit ihrem Verzicht nicht prinzipiell das ihnen mit Artikel 3 Paragraf 5 des Bayerischen Konkordats zugesicherte Recht preis. Sie erklärten sich nur bereit, von diesem Recht keinen Gebrauch mehr zu machen. Sie lassen ihr Zustimmungsrecht lediglich „ruhen“.

Im Gespräch zwischen bayerischem Staat und Episkopat ist zudem die direkte staatliche Besoldung des hohen Klerus, die von einer Pauschalzahlung an die Kirche abgelöst werden soll. Das wäre letztlich reine Augenwischerei, denn der Staat zahlt weiterhin die Gehälter, aber eben nur indirekt. Lediglich die Durchführung der Besoldung würde der Kirche übertragen. Die Besoldung aus staatlichen Steuereinnahmen, direkt oder indirekt, bleibt ein Skandalon.

Nochmals frage ich mich: Was habe ich in diesen Auseinandersetzungen mit meinen Anstößen bewirkt? Es sind viele Akteure und Faktoren, die den katholischen Koloss zwingen werden, vorsäkulare Positionen zu räumen. Ich bin nur eine einzelne Stimme, die sich an den historisch obsolet gewordenen Privilegien stört.

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