44. „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ Zum Tode des CDU-Politikers Heiner Geißler, 12.09.2017

Heiner Geißler (1930–2017), ein CDU-Politiker, der die Provokation als Mittel des politischen Streits liebte, starb vor wenigen Tagen, am 12. September 2017, im Alter von 87 Jahren. Sein Tod traf mit der Niederschrift dieses Blog-Kapitels merkwürdig zusammen. Ich kannte ihn nicht persönlich, war aber mit seiner Person aus der Politik und meiner Parteienforschung gut vertraut. Über Jahrzehnte beobachtete ich seine öffentlichen Auftritte. Seinen Lebenslauf und seine steile politische Karriere können im Internet bei Wikipedia im Detail nachgelesen werden. Nur so viel sei in diesem Blog-Kapitel als Kurzinformation zum Verständnis vorangestellt: Geißler war Zögling der Jesuitenschule Kolleg St. Blasius im Schwarzwald. Nach dem Abitur trat er 1949 als Novize dem Jesuitenorden bei und studierte auf der jesuitischen Ordenshochschule in München Philosophie. Nach vier Jahren verließ er den Orden, weil er sich, wie er sagte, nicht für den Zölibat geeignet sah, studierte Rechtswissenschaften in München und Tübingen und erwarb 1960 den juristischen Doktorgrad. Er heiratete und hatte drei Kinder. Seine politische Karriere führte ihn von 1967 bis 1977 in die Landesregierung von Rheinland-Pfalz. Er war Minister unter den Ministerpräsidenten Peter Altmeier, Helmut Kohl und Bernhard Vogel. Von 1982 bis 1985 war er Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett Kohl, von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU. Gegen Ende der 1990er und zu Anfang des 21. Jahrhunderts wechselte Geißler seine politisch-ideologischen Einstellungen und Überzeugungen. Er bezog auf mehreren Politikfeldern linke Positionen.

Der konservative Christdemokrat Geißler galt lange Zeit in seiner eigenen Partei, aber auch in den Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern als Scharfmacher, Querdenker und rebellischer Unruhestifter. Seine scharf zugespitzten Wortattacken und verbalen Entgleisungen gegen links waren gefürchtet. Er war in vielen Auseinandersetzungen ein „wortmächtiger Hetzer“ (Peter Reinhardt in: Mannheimer Morgen, 13.09.2017 https://www.morgenweb.de/mannheimer-morgen_artikel,-politik-vom-grossen-zuspitzer-zum-verbindlichen-schlichter-_arid,1111812.html.) Ein paar Beispiele: Im sogenannten Deutschen Herbst 1977 (siehe Blog-Kap.15) hatte er bei der Abwehr der Terroraktionen der Roten Armee Fraktion in einer von ihm verantworteten Broschüre linke und liberale Kulturschaffende und Politiker der Bundesrepublik Deutschland (Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz, Günter Wallraff, Herbert Markuse, Bundesminister Werner Maihofer und andere) als „Sympathisanten des Terrors“ hingestellt. 1983 hatte Geißler, als es um die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa gegangen war, die SPD als „Fünfte Kolonne der anderen Seite“ bezeichnet, gemeint war der Ostblock. Er hatte dem „Pazifismus der dreißiger Jahre“ eine Mitschuld am Massenmord in Konzentrationslagern zugeschrieben, weil angeblich „dieser Pazifismus (…) Auschwitz erst möglich gemacht“ habe. Sein Auschwitz-Pazifismus-Vergleich hatte Empörung hervorgerufen. 1985 hatte Willy Brandt Geißler vorgeworfen, „seit Goebbels der schlimmste Hetzer im diesem Land“ zu sein. Die Liste der verleumderischen Entgleisungen Geißlers ließe sich unschwer fortsetzen. Auch nach seinem politischen Positionswechsel hatte der streitbare CDU-Politiker und nunmehrige Linkskatholik seine Neigungen zu kritischen Zuspitzungen und angriffsbereiten Stellungnahmen beibehalten. Er hatte zum Beispiel die Wirtschaftspolitik der von der CDU geführten Bundesregierung als „ultrakonservativ“, „turbokapitalistisch“, „neoliberal“, „rückwärtsgewandt“ oder „von gestern“ bezeichnet. „Das gegenwärtige Wirtschaftssystem (sei) nicht konsensfähig und zutiefst undemokratisch, es (müsse) ersetzt werden durch eine neue Wirtschaftsordnung“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Heiner_Gei%C3%9Fler..17.09.2017 2016 hatte er die CSU als „Totengräberin der Union“ beschimpft und die CDU aufgefordert, in der Flüchtlingspolitik schärfer entgegenzutreten (http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_7…28.09.2017).

Seine späte Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie ließ ebenfalls nichts an Schärfe zu wünschen übrig. In seinem kritischen Rundumschlag gegen den christlichen Glauben und die christlichen Großkirchen fand ich die vielen Gedanken wieder, die mich seit Jahren beschäftigen.

 

Geißlers Abrechnung mit der christlichen Theologie, 2015/2017

Es wäre eine intellektuell unverantwortliche Verharmlosung, zu sagen, wie es in der Wikipedia-Biografie unter „Sonstiges“ steht, „Geißler (habe) sich mehrfach kritisch zur katholischen Kirche“ und selbstkritisch und zweifelnd zu seinem katholischen Glauben geäußert. Nein! Geißler wandelte sich in späteren Jahren, pointiert formuliert, von einem Paulus zu einem Saulus. Aus dem Jesuitenzögling und tiefgläubigen praktizierenden Katholiken wurde ein Agnostiker und radikaler Kritiker nicht nur der katholischen Kirche, sondern allgemein der christlichen Theologie. In zweien seiner letzten Buchveröffentlichungen setzte er zu einer radikalen und rabiaten Abrechnung mit dieser an: in seiner Broschüre „Was müsste Luther heute sagen“ (2015) und noch drastischer in seiner letzten Schrift „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifelt?“ (2017). Noch zwei Wochen vor seinem Tod sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (Nr. 211, 13.09.2017, S. 11): „Es muss Streit geben über das Gottesbild der katholischen und protestantischen Theologie. Solch einen Gott kann es nicht geben. Auf der einen Seite erschafft er die Welt so, wie sie ist, was ja im Glaubensbekenntnis betont wird. Gleichzeitig hat er solch einen Pfusch geschaffen, dass er seinen eigenen Sohn in einem etwas komplizierten Manöver mit Hilfe einer Jungfrau auf die Welt gebracht hat, der dann in solidarischem Auftreten und Handeln sich an die Seite der leidenden Menschheit gestellt und alle Mühen und Leiden durchlitten hat, die andere auch erleiden, und dadurch die Welt erlöst hat. Was soll das für ein allmächtiger Gott sein, der erst eine Welt schafft, die dann aber so schlecht ist, dass sie vom eigenen Sohn wieder erlöst werden muss?“

Im Blick auf die protestantische Theologie setzt er hinzu: Auch „die [Protestanten] müssen dringend theologische Veränderungen vornehmen, etwa die Erbsündenlehre von Luther auf den Abfall der Geschichte schmeißen.“ (SZ, 13.09.2017, S. 11)

Geißler übt in den beiden oben genannten Schriften einen wuchtigen Rundumschlag gegen die christliche Theologie und ihre speziellen Ausprägungen aus (Sündentheologie, Droh- und Straftheologie, Moraltheologie, Gnadentheologie). Er fragt: „Ist die christliche Religion nicht ein großes Theater, zu dem die Theologen das Drehbuch geschrieben haben? Ist sie nicht ein Täuschungsunternehmen, eine Drogenfabrik?“ (Geißler 2017: Kann man noch Christ sein, S. 9).

Man könnte versucht sein dagegenzuhalten, mit diesem Rundumschlag käme wiederum der alte Polemiker und Zuspitzer zum Vorschein, einer, der mit fraglichen Vereinfachungen und böswilligen Unterstellungen arbeite, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. In der Tat riefen Geißlers Streit- und Glaubensschriften unter Theologen und Kirchenmännern heftige Erwiderungen aus. Beide Schriften führten „erhebliche Verwerfungen und Zerwürfnisse in der katholischen Kirche“ und auf protestantischer Seite „einen Verriss der übelsten Sorte“ herbei (so Geißler in: SZ 13.09.2017, S. 11). Geißler gibt zu: „Einem Ratzinger würde ich gerne theologisch wehtun.“ (ebd.)

Die katholische Kirche hat allerdings einen großen Magen, der allerhand verdaut. Die Nachrichtenagenturen melden, Geißler werde nach katholischem Ritus in der Kirche ausgesegnet. Vor vierhundert Jahren hätte ihn die katholische Inquisition auf einem Scheiterhaufen zu Tode gebraten.

Geißler stellt in seiner Abrechnung mit der christlichen Theologie all die Fragen der Theodizee, die auch ich hier in meinem Blog stelle. Er gibt auf sie ähnliche Antworten, nur noch radikaler, noch aggressiver, noch direkter. Die Moraltheologie der katholischen Kirche sei „eine Moraltheologie der Scharia“, die Lehre von der Erbsünde eine „theologische Erfindung, deren Wahnsinn den Irrsinn jeder Rassenideologie weit“ übertreffe. Die Rechtfertigungslehre sei „der Super-Gau aller faulen Ausreden“, nämlich, dass sich nicht Gott rechtfertigen müsse, sondern der Mensch. Und überhaupt: Die christliche Theologie böte nur faule Ausreden auf die wirklich drängenden Grundfragen des menschlichen Seins und Leidens an und verletze und beleidige die menschliche Würde (Geißler 2017: Kann man noch Christ sein, S. 15, 22, 32, 34f). Wenn es Gott gibt, wie ihn die christliche Theologie beschreibt, dann müsse er auch in Auschwitz, in der Hinrichtungsstätte Plötzensee, in Guantanamo und in allen Folterkammern der Welt anwesend gewesen sein.

Aber den Gott der christlichen Theologie gäbe es nicht. Geißler meint dies an empirischen Tatsachen demonstrieren zu können. Er führt zahlreiche Beispiele an. Die raffinierteste Erfindung der Theologie, um das Übel der Welt zu erklären“, (sei), so Geißler, „der ,freie Wille‘: dass nämlich Gott von den Menschen geliebt werden wolle und dies nur dann wertvoll sei, wenn sie auch die Freiheit hätten, ihn nicht zu lieben (…) und ihre Freiheit zu Ungeheuerlichkeiten [zu] missbrauchen in Auschwitz, durch Pol Pot, den ,Islamischen Staat‘, Terrorakte mit schweren Lkws [Lastkraftwagen] in Nizza und auf dem Berliner Weihnachtsmarkt“  (ebd. S. 26f).

Obschon ich in Geißlers Rundumschlag gegen die christliche Theologie und ihre Gottesbegriffe eine Reihe argumentativer Schwächen sehe, laufen seine Auslassungen doch in die gleiche Richtung wie meine Kritik an der christlichen Theologie und den Kirchen. Ich kann seine Wut, seinen Zorn, seine Empörung und seine Lust an der radikalen Attacke gut verstehen und nachvollziehen. Sie sind auf jeder Seite seiner Streitschriften zu spüren und meiner Person nicht fremd.

Als Sozialwissenschaftler teile ich allerdings nicht seine Hoffnung, über ein elementares Christsein die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und den Weg in eine friedlichere und freundlichere Weltgesellschaft finden zu können. (ebd. S. 73f). Ich komme am Schluss noch einmal darauf zu sprechen. Geißlers Vorschläge und Forderungen unterschätzen und verkennen die Funktionen von Großorganisationen in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften.

Geißler kommt in seinen Antworten letztendlich zu einem ebenso fundamentalen wie radikalen Ergebnis: Die christliche Theologie und ihre Kirchen haben „keine ehrlichen Antworten“ auf die grundlegenden Fragen der Menschheit (ebd., S.62). „Mit Sicherheit steht fest: „Den Gott, wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen beschreibt, kann es [aus logischen und empirischen Gründen – A.M.] nicht geben“ (ebd., S. 67). Die christliche Theologie und ihre Dogmen „sind nicht maßgebend für das Christsein und versperren [sogar – A.M.] den Weg zu einem möglichen Gott“ (ebd. S. 74).

Alles theologische Gerede über Gott sei müßig. Geißler und ich hören auf der gleichen Wellenlänge. Schon in früheren Jahren fragte ich mich im Stillen, wie es klänge, wenn alle bestialisch ermordeten und durch Naturkatastrophen aus dem Leben gerissenen Menschen in einem einzigen Augenblick ihr Leid und ihren Schmerz hinausbrüllen würden. Alle Trommelfelle würden in dem ohrenbetäubenden Brüllorkan platzen und die Welt würde durch die akustischen Druckwellen zerbersten. Ich war erstaunt, als ich in Geißlers letzten Streitschrift vom März 2017 (ebd., S. 11) las: „Könnte man die Schreie dieser gequälten, gesteinigten, gedemütigten, geschlagenen, ermordeten Menschen – die Schreie der Tiere mitgerechnet – alle gleichzeitig hören, würde dieser unerträgliche Schrei alles Leben auslöschen.“

Und Geißler wiederholt an dieser Stelle seinen Zweifel und seine dringliche Frage: „Der Gott, der so etwas nicht nur möglich macht, sondern es in jeder Minute zulässt, soll auch noch ein liebender, gnädiger, gerechter Gott sein?“

 

Heiner Geißlers religiös-fundamentale Antwort und Forderung

„Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ Heiner Geißler bleibt ein Zweifler und überzeugt davon, dass es keinen Gott gibt, „wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen beschreibt.“ (ebd., S. 67, auch 39). Er halte die Existenz eines „anderen, von der christlichen Theologie weitgehend bereinigten Gott“ für möglich (ebd., S.39). Die Lehren und Dogmen der christlichen Theologie seien auf alle Fälle hinderlich, weil diese auf antiquierten, heute nicht mehr akzeptablen Positionen und Sichtweisen verharren. „Die Theologie beider Kirchen bleibt bei der unverschämten und unglaublichen Behauptung, die Menschen müssten sich für Unglück und Leid, die ihnen milliardenfach seit Tausenden Jahren widerfahren, vor Gott rechtfertigen und nicht umgekehrt Gott vor den Menschen. Gott, der doch als ,der Schöpfer des Himmels und der Erde‘, so das Credo des ersten Konzils von Nicäa, eigentlich den Menschen und den Tieren ohnehin Rechenschaft ablegen müsste, weil er sie gar nicht gefragt hat, ob sie so ein Leben haben wollen“ (ebd., S. 10). Geißler dreht die Rechtfertigungslehre, so wie er sie versteht, einfach um. Sein Argument, Gott hätte bei seinem Schöpfungsakt Menschen und Tiere fragen müssen, ob sie die von ihm zugedachten Lebensweisen haben führen und Lebensumstände haben hinnehmen wollen, scheint mir absurd zu sein. Ein Schöpfungsmythos einer göttlichen Urdemokratie. Solche gedanklichen Eskapaden sind ebenso schnurrig wie müßig. Das mag ausgebuffte und ausgekochte Theologen zur Weißglut bringen. Es wäre jedoch Zeitverschwendung, sich weitere Gedanken darüber zu machen.

Ob ein Gott existiert oder nicht und welche Qualitäten er haben könnte oder gar müsste, darüber kann man, so Geißler, nur spekulieren und als Christ hoffen, dass es einen gäbe. In dieser Gottesfrage gäbe es keine Gewissheit. Eines sei aber absolut sicher und empirisch erwiesen, dass Jesus gelebt und gelehrt hat. Er habe die sinnvollste Botschaft hinterlassen, die je ein Mensch verkündet hat, die Botschaft der Nächstenliebe (ebd., S. 71, 73). „Dieser Jesus“, so fasst Geißler seine Gedanken zusammen, verkörpert das Ideal der Glaubwürdigkeit, das heißt der Einheit von Idee, Reden und Handeln, der Einheit von Anspruch und Wirklichkeit. So wie er damals die Menschen gegen die Machthaber sowie Sitten- und Glaubenswächter vertreten hat – unabhängig, freimütig, selbstbewusst, furchtlos -, müssten auch heute Bischöfe, Kirchenpräsidenten und charismatische Führer mit dem Widerstandsgeist eines Martin Luther zur treibenden Kraft für eine neue und gerechte Welt-, Friedens-, und Wirtschaftsordnung werden“ (ebd., S. 74). Dieser historische Jesus und seine revolutionäre Lehre müssten unbedingt vor der christlichen Theologie, insbesondere vor der Sünden- und Gnadentheologie gerettet werden, um wieder voll wirksam werden zu können.  Die Botschaft Jesu sei eine der „Befreiung mitten im Leben“ (ebd., S. 37). Geißler kämpfte sich in seiner radikalen Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie und den Kirchen zu einer Art fundamentaler Befreiungstheologie durch, die auch ohne Gott denkbar sei. „Wir haben als Christen“, so schließt er seine Streitschrift ab, „keine bessere Sinndeutung des Leidens in der Welt als jeder andere auch. Deswegen wird das Leiden für viele immer mehr zum ,Fels des Atheismus‘ “ (ebd., S. 69, siehe auch S. 22.)

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