46. Über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion

Es mag verwunderlich erscheinen, dass ich mich immer wieder auf Erkundungsgänge begab, die mich in umstrittene Grenzgebiete hineinführten. Solange ich in der vormaligen weltpolitischen „Frontstadt Berlin“, in der späteren Hauptstadt der „Heidenrepublik Deutschland“ (Michael Wolffsohn, Passauer Neue Presse Nr. 295, 2.12.2017, S.3), wohnte und arbeitete, ging es in Bereichen der Parteienforschung unter anderem um den „Faktor Konfession“ in Gesellschaft und Politik. Fragen der Abgrenzung von Wissenschaft und Religion spielten, wenn überhaupt, in meinen politikwissenschaftlichen Forschungsbereichen nur eine marginale Rolle. Über religiös-konfessionelle Zugehörigkeiten und Bekenntnisse wurde so gut wie nicht gesprochen. Sie galten als private Angelegenheit. Mit keinem meiner Kollegen, die an der Freien Universität Berlin am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung und am Otto-Suhr-Institut (OSI) mitgearbeitet hatten, führte ich jemals ein Gespräch über religiöse Themen, es sei denn, sie hatten mit dem sozialwissenschaftlichen Faktor Konfessionszugehörigkeit zu tun. Die kirchliche Sphäre blieb in der Berliner Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar.

Da ich in meinen ersten zwanzig Lebensjahren an verschiedenen Orten Bayerns aufgewachsen und sozialisiert worden war, wusste ich aus eigener, hautnaher Lebenserfahrung und Anschauung, dass es dort mit dem Faktor Konfession und dem kirchlichen Leben anders bestellt ist als im „heidnischen“ Berlin. Auch noch im Nachkriegsbayern war zudem der antipreußische Affekt stark religiös-konfessionell eingefärbt. Die Berliner „Heiden“ waren den christlich-sozialen und altbayerischen Parteiführern und Anhängern höchst suspekt. Die erlebten bayerischen Verhältnisse waren es wohl, die mich später in der Themenwahl und Forschung wiederholt auf „Abwege“ führen sollten. Ausgerechnet an der Freien Universität die CSU in Bayern und damit zugleich die Bayernpartei zum Forschungsgegenstand zu machen, war dort schon als recht exotische Themenwahl angesehen worden, ebenso wie mein Habilitationsvortrag zum Thema „Sozialdemokratie und Katholische Kirche“ (1978).

In meinem Beitrag „Aktuelle Herausforderungen des säkularisierten Staates: Schwächelndes Christentum, erstarkender Islam“ (2007), abgedruckt in der Festschrift für Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, habe ich mich zum wiederholten Male mit Aspekten der Beziehung zwischen Religion und Säkularisierung auseinandergesetzt. Die Konflikte haben sich seither fraglos in globaler Hinsicht wie auch innereuropäisch verschärft. Die Auseinandersetzungen sind immer von Machtverhältnissen bestimmt. Die römisch-katholische Kirche steckt aus mehreren Gründen in einer Glaubens- und Verfassungskrise. In Europa laufen ihr die Gläubigen in Scharen davon. Auf einer eher akademischen beziehungsweise dogmatischen Ebene unterliegen Kernstücke der Glaubenslehre dem allgemein erhöhten und wissenschaftlich verschärften Säkularisierungsdruck.

Zur Kontroverse Martin Rees/Richard Dawkins

 Martin Rees – A „compliant qisling“?

Die Kontroverse, die in jüngster Zeit zwischen den beiden weltweit bekannten britischen „top scientists“, zwischen Martin Rees und Richard Dawkins und ihren jeweiligen Mitstreitern über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion entbrannte, erregte abermals mein großes Interesse an dieser Frage. Ich hatte sie selbst in den 1990er Jahren im sogenannten Madonnen-Streit an der Universität Passau öffentlich zur Diskussion gestellt und damit eine heftige Debatte ausgelöst (ausführlich hierzu die Blog-Kap.29, 30, 31). Britische Wissenschaftler sind für ihre hohe Debatten-Kultur bekannt, sie pflegen sich auf ihren Podien in eleganter Weise, also gentleman like, zu bekriegen. Ich hatte auf meinen wissenschaftlichen Vortragsreisen nach London, Oxford, Cambridge und Warwick diesen Debatten-Stil zu schätzen gelernt. Meine Vorträge schlugen sich in einer Reihe englischsprachiger Veröffentlichungen nieder.

Mit Martin Rees und Richard Dawkins traten in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts zwei Kontrahenten auf, die diese Debatten-Kultur unterliefen, Dawkins, der Evolutionsbiologe, mit scharf stechender Herausforderung und gewohnter Aggressivität, Rees, ein exzellenter Astronom, Astrophysiker und Futurologe, mit Ironie und süffisanter Nichtbeachtung. Ihre gegenseitige Verachtung ließ nichts zu wünschen übrig. Dawkins fulminante evolutionsbiologische Streitschrift „Der Gotteswahn“ (englisch: The God Delusion, 2007) erregte international die Gemüter. Rees, der „Astronomer Royal“(seit1995) und Präsident (2005-2010) der altehrwürdigen Royal Society, der ältesten Gelehrtengesellschaft der Welt, löste Unverständnis und Widerspruch aus, als er 2011 den in britischen Wissenschaftlerkreisen umstrittenen Templeton-Preis annahm, der für außerordentliche Beiträge zur Erforschung der spirituellen Seite menschlichen Lebens vergeben wird. Dawkins publizierte daraufhin einen gehässigen Wutausbruch („ugly outburst“), in dem er Rees einen „compliant quisling“ nannte, einen beklagenswerten Verräter an der Sache der Wissenschaft. Dawkins bezichtigte Rees in der großen Streitfrage ein „fervent believer in belief“, also ein glühender Gläubiger des Glaubens zu sein. Rees konterte diplomatisch und empfahl, den Äußerungen Dawkins kein großes Gewicht einzuräumen. (Rees: „Richard Dawkins on his website calls me…What did he call me?“).

„Praktizierender, aber kein gläubiger Christ“

Seither kam diese Kontroverse nicht zur Ruhe. Interviewpartner konfrontierten Rees mehrmals mit dem Gerücht, er besuche regelmäßig Gottesdienste. Der Astronom antwortete jedes Mal darauf: „Ich wurde als Mitglied der Kirche von England erzogen und befolge einfach die Gebräuche meines Stammes. Die Kirche ist Teil meiner Kultur, ich mag die Rituale und die Musik. Wäre ich im Irak groß geworden, ginge ich in die Moschee.“ Auch andere Menschen praktizierten religiöse Rituale, ohne an einen Gott zu glauben. Auf die Zusatzfrage, ob er darin keinen Konflikt mit seinem wissenschaftlichen Weltbild empfände, erklärte Rees: „Überhaupt nicht. Mir scheint, dass Leute die die Religion angreifen, sie nicht wirklich verstehen. Wissenschaft und Religion können (und sollten) friedlich nebeneinander existieren. Allerdings denke ich, dass sie einander nicht viel zu sagen haben. Am liebsten wäre mir, Wissenschaftler würden das Wort >Gott<gar nicht gebrauchen. Ich weiß doch, dass wir noch nicht einmal das Wasserstoffatom verstehen – wie könnte ich da an Dogmen glauben? Ich bin ein praktizierender, aber kein gläubiger Christ.“ (http://www.zeit.de/2008/1/Klein-31,abgerufen am 07.02.2018).

Interviewpartner und Kollegen gaben sich mit Rees´ Antworten nicht zufrieden und drängten ihn, sich doch genauer zu äußern, wie er das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion sähe. Doch Rees wich jedes Mal mit „weichen“ Antworten aus. Er könne dazu wenig sagen, schon gar nichts zur Gottesfrage. An Gott zu glauben und eine Kirche zu besuchen, seien allgemeine traditionelle Rituale und als solche Teil einer Kultur. „I participate in occasional religious services which are the customs of the society I grew up. I´m not allergic to religion.” (https://www.theguardian.com/science/2011/apr/astronome… 22.02.2018). Mehr wolle er nicht dazu sagen, außer dass seiner Meinung nach beide Bereiche, Wissenschaft und Religion, in friedlicher Koexistenz existieren könnten. Beide unterschieden sich freilich sehr in ihren Aktivitäten. Er habe großen Zweifel, ob beide Bereiche überhaupt in einen konstruktiven Dialog eintreten könnten und sich etwas zu sagen hätten. Er vermiede es, sich an dieser Debatte zu beteiligen. Den Äußerungen der Atheisten Stephen Hawking und Richard Dawkins messe er kein besonderes Gewicht zu. Hawking habe, so wie er ihn kenne, zu wenig über Philosophie und erst recht zu wenig über Theologie gelesen. Er halte es für ziemlich verrückt, wenn Wissenschaftler behaupten, die Entstehung des Universums hätte keines Gottes bedurft. Darüber ließe sich schwerlich diskutieren. „I´ve got no religious beliefs at all.“ Sein wiederholtes „Bekenntnis“, ein „praktizierender, aber kein gläubiger Christ“ zu sein, beließ es bei dieser argumentativen Unschärfe. Kritiker waren sich nicht ganz sicher, wie sie Rees´ Position einschätzen sollten.

Rees wird gelegentlich für einen Atheisten gehalten. Ich meine jedoch, dass alle seine „weichen“ und „ausweichenden“ Äußerungen ihn mehr als einen vorsichtigen Agnostiker und friedfertigen Pragmatiker ausweisen, der sich scheut, sich überhaupt auf solche grundsätzlichen Fragen einzulassen.

Rees´ argumentative Unschärfe

Genau an dieser Unschärfe der Rees´schen Argumentation gegen religiösen Fundamentalismus und jegliche religiöse Dogmatik setzt auch meine Kritik an. Ein praktizierender Ungläubiger zu sein, der sich nicht an Religion störe – wie ist das möglich? Macht Rees es sich mit seiner „weichen“ Unentschiedenheit und mit seinem Lavieren zwischen den Frontlinien nicht allzu leicht?

Die britischen Streitigkeiten erinnerten mich lebhaft an die Auseinandersetzungen an der erst 1978 gegründeten Universität Passau darüber, ob eine jesuitische gegenreformatorische Kampfmadonna im Logo und als Identifikationsprodukt einer modernen wissenschaftlichen Institution akzeptabel sei. Im sogenannten Madonnen-Streit war es auf bayerischer lokaler und regionaler Ebene im Grunde um die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion gegangen. (siehe Blog-Kapitel 29, 30, 31). Ich hatte in dieser Frage den Präsidenten der Universität Passau, Prof. Dr. Karl-Heinz Pollok, und die damaligen Vizepräsidenten, die Professoren Helmut Schmalen und Klaus Dittmar Haase, und andere für Verräter an der Wissenschaft gehalten – für „beklagenswerte „Quislinge“. Die Passauer Debattenkultur hatte sich zudem unter dem intellektuellen Niveau einer Universität abgespielt. Selbst der jüngst verstorbene CDU-Politiker Heiner Geißler hatte in seiner provokativen Auseinandersetzung mit theologischen Dogmen eine intellektuelle Sehschärfe, welche die der Universitätsleitung bei Weitem übertraf (Blog-Kapitel 44).

Rees zog bei all seinem Respekt gegenüber der Religion für sich zwei Grenzen: Er sei grundsätzlich gegen jeden religiösen Fundamentalismus und Fanatismus eingestellt und er habe mit religiösen Dogmen nichts am Hut. Fundamentalismus sei eine wirkliche Gefahr, gegen den wir mit allen möglichen Verbündeten zusammenstehen müssten, auch mit der Kirche von England. Der Kreationismus zum Beispiel könne von Astronomen, Astrophysikern und Biologen nicht akzeptiert werden. Daneben ziehe auch die Bioethik rote Linien, die etwa reproduktives Klonen von Menschen nicht erlaube. Man müsse sich die rote Linie als ein Kontinuum vorstellen, an dem mehrere Kulturen mitwirkten, seien es religiöse, rationalistische oder technologische, seien es atheistische oder theistische. Sie müssten sich aus ihren jeweiligen kulturellen Blickwinkeln gegen Fundamentalismus, Dogmatismus und unethischen Tendenzen stellen. Rees fordert Toleranz gegenüber den „Kulturen“, gerade auch gegenüber „Religion“, soweit sie nicht dogmatisch seien (https://www.theguardian.com/science/2011/apr/06/astronome…aaberufen am 22.02.2018; https://www.theguardian.com/commentisfree/belief/2011/apr…25.02.2018; Reith Lectures 2010: Scientific Horizons, Lecture 3).

Rees´ Antworten und Erläuterungen hörten sich angenehm, sympathisch und hoch reflektiert an, blieben aber, gerade was die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion betrifft, alle im Ungefähren und Ungenauen. Seine Ausführungen liefen auf einen schwammigen politischen Pragmatismus hinaus. Es waren Appelle an die verschiedenen Kulturen, Streitfragen tolerant und friedfertig zu behandeln. Seinen Erläuterungen fehlte es an erkenntnistheoretischer und analytischer Schärfe, was zum Beispiel die beiden Kulturen Wissenschaft und Religion tatsächlich verbindet oder trennt. Was heißt es genau, beide Kulturen könnten zwar in einer friedlichen Koexistenz nebeneinander bestehen, hätten sich aber wenig zu sagen? Zwischen beiden, so Rees, sei kein konstruktiver Dialog möglich. Liegt es an den Dogmen der Religionen? Welcher Religionen? Wissenschaftler sollten zwar die Religionskulturen tolerieren und als mögliche Verbündete respektieren, aber sich gefälligst von dem religiösen Territorium fernhalten, weil sie davon zu wenig verstünden. Der Astronom, Astrophysiker und Futurologe Rees blieb seinen Kritikern präzise Antworten schuldig. Richard Dawkins Vorwurf, Rees verrate mit seinen Stellungnahmen die Wissenschaft, hatte folglich zutreffende Gründe.

Im Folgenden will ich das Verhältnis von Religion und Wissenschaft aus meiner Sicht am Beispiel der dogmatischen Erbsündenlehre der römisch-katholischen Kirche fokussieren und erörtern.

Katechismus der Katholischen Kirche – Ein Handbuch religiöser Tollheiten

„Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.“ (Mose 2:17)

„Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserem Herrn.“ (Aus dem Brief des Paulus an die Römer, 6: 23)

Der aufmüpfige Katholik und Kritiker der Glaubenslehre seiner Kirche, der jüngst verstorbene CDU-Politiker Heiner Geißler, nannte die dogmatische Lehre von der Erbsünde einen Wahnsinn und einen Super-GAU aller faulen Ausreden (H. Geißler 2017:  Kann man noch Christ sein, S.32; siehe Blog-Kapitel 44). Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Wolfgang Wickler, schrieb im Blick auf die römisch-katholische Glaubenslehre, sie verkünde naturwissenschaftlich unhaltbarer Unsinn. (Wolfgang Wickler 2010, 106). Ich halte den Katechismus der Katholischen Kirche für ein „wahrhaftiges“ Handbuch religiöser Tollheiten. Dass an staatlichen Universitäten und Hochschulen noch immer Professuren für katholische Dogmatik angesiedelt sind und mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, halte ich für ein Skandalon des staatlichen Wissenschaftsbetriebes. „Glaube und Vernunft“ (Papst Benedikt XVI., 2006; siehe Blog-Kapitel 43) stehen hier zweifellos in einem unversöhnlichen Widerspruch. Außerhalb der Universitäten und (kirchlichen) Hochschulen möge das Dogma von der Erbsünde, schlimm genug, unter anderen Fahnen als denen der Wissenschaft „gelehrt“ und verbreitet werden. In der Wissenschaft haben ewige Wahrheiten und dogmatische Verbohrtheit keinen Platz.

Nach allgemeinchristlicher Glaubenslehre waren es angeblich unsere „Stammeltern“ Adam und Eva, die durch ihren Ungehorsam wider Gott der gesamten Menschheit die Erbsünde aufgebürdet haben. Ihr Ungehorsam sei es gewesen, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben. Auch die evangelische Kirche hält noch immer an der theologischen Erbsünden-Lehre fest, allerdings mit modifizierten und modernisierten Versionen. (evangelischer Glaube.de DIE ONLINE-DOGMATIK). Die römisch-katholische Lehre geht jedoch noch einen großen Schritt über die allgemeinchristliche Version hinaus: Nach herrschender katholischer Dogmatik, 1993 festgeschrieben im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK 1993), haben die beiden paradiesischen Nackedeis mit ihrem Ungehorsam nicht nur gesündigt, sondern mit ihrem Ungehorsam erstmals den Tod in die Menschheitsgeschichte gebracht. Ihnen hätten wir es zu verdanken, Sterbliche zu sein.

Die evangelische Theologie verwirft diese abstruse Behauptung. Die Empörung des prominenten Katholiken Heiner Geißler über den, von ihm wörtlich so gesagt, Irrsinn dieser theologischen Erfindungen und das naturwissenschaftliche Verdikt gegen diesen Unsinn haben mich zu einem weiteren Grenzgang herausgefordert, um die Quellen dieses Irrsinns zu erkunden und dazu Stellung nehmen zu können. Könnte es sein, dass ich mich an einer Theologie abarbeite, an deren Dogmen inzwischen selbst viele katholische Kirchenmitgliedern nicht mehr glauben?

Die Genese des Todes als Strafe für Ungehorsam

Die theologische Lehre von der Ursünde oder Erbsünde stellt ein Kernstück des „Katechismus der Katholischen Kirche“ (KKK, Absatz 7, 385-421) dar, der im Jahre 1993 als offizielle und für jeden Katholiken verbindliche Glaubenslehre veröffentlicht wurde. Darin wird „die Sünde auf dem Leben und der Geschichte des Menschen“ so dargestellt (KKK 1993, 387 – 404):

Der Sündenfall sei ein Urereignis gewesen, das zu Beginn der Menschheitsgeschichte tatsächlich stattgefunden habe. Die ganze Menschheitsgeschichte sei bis auf den heutigen Tag (und bis zum Ende aller Tage) durch die Ursünde gekennzeichnet und belastet, die von den Stammeltern der gesamten Menschheit, von Adam und Eva, freiwillig begangen worden sei. Die freiwillige Ursünde habe darin bestanden, sich gegen Gott gewandt zu haben. Ihr Ungehorsam gegenüber Gott habe sich so zugetragen:

„Eine verführerische widergöttliche Stimme“ sei es gewesen, die sie dazu verleitet habe, die Stimme des Teufels oder Satans. Gott habe Satan zunächst zwar als einen guten Dämon geschaffen, doch habe sich dieser „durch sich selbst“ böse und zum Widersacher Gottes gemacht. Adam und Eva seien seinen Einflößungen erlegen und hätten damit die Sünde ein für alle Male in die Welt gebracht. Dieser Sündenfall habe eine „unwiderruflichen Charakter“ (KKK 1993,393).

Bei der Erbsünde handele es sich nicht um eine in der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen persönlich begangene Sünde, sondern um eine, die mit der biologischen Geburt eines jeden Menschen automatisch übertragen und weitergegeben werde. Es sei also eine Sünde, die man von Anfang an miterhalten habe. Sie sei „ein Zustand, keine Tat“ (KKK 1993, 404). In diesem Sinne seien wir Menschen von Adam und Eva an alle unabhängig von unserem persönlichen Tun stets Sünder. Seit Adams und Evas Ursünde habe sich „eine wahre Sündenflut über die Welt ergossen“. Das begründe die „Universalität der Sünde und des Todes“ (KKK 1993, 402). Zu den verhängnisvollen Folgen des „ersten Ungehorsams“ gegen Gott gehöre die „Tatsache“, dass der Mensch hierdurch sterblich geworden sei: „Wegen des Menschen ist die Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen“ (KKK 1993, 400; Röm. 8, 20). Im Katechismus der Katholischen Kirche wird felsenfest behauptet: „Der Tod hält [mit dem Sündenfall] Eingang in die Menschheitsgeschichte“ (KKK 1993, 400).

Diese Darstellung wird keinesfalls für einen symbolischen Deutungsversuch ausgegeben, sondern als eine unverbrüchliche Wahrheit hingestellt. Im Umkehrschluss gesagt heißt das: Vor ihrem Abfall von Gott seien die Stammeltern der Menschen in ihrer „ursprünglichen Heiligkeit“ (KKK 1993, 399) unsterblich gewesen. Im Katechismus der Katholischen Kirche wird ausdrücklich festgestellt:

„Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (KKK 1993, 402). Die Erbsünde oder Ursünde habe „die Herrschaft des Todes“ in die Welt gebracht. (KKK 1993, 407).

Satan sei es gewesen, durch dessen bösartige Verführung der Stammeltern sei „der Tod in die Welt gekommen.“ (KKK 1993,413). Und in einer heilsgeschichtlichen Folgebehauptung wird dann erklärt, der Tod werde erst durch die Auferstehung Christi überwunden. Erst durch das Opfer Christi gewönne der Mensch seine Unsterblichkeit zurück. Ohne die Erbsünde wären die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und dessen Kreuzestod nicht erklärbar. Allein die Gottesmutter Maria sei nach Gottes Heilsplan als Mensch ohne Erbsünde geboren worden, so dass auch ihr Sohn Jesus frei davon gewesen sei. (Mit der römisch-katholischen Mariologie habe ich mich schon in den Blog-Kapiteln 29 und 30 aus Anlass des sogenannten Madonnen-Streits an der Universität Passau auseinandergesetzt). Auf einer äußerst schmalen biblischen Basis haben der Kirchenvater Augustinus (354-430) und das Konzil von Trient (1545-156) die Lehre von der Erbsünde entfaltet, die noch heute als gültiges Glaubensgut aufrechterhalten und verkündet wird.

Es wäre ja ein wunderschöner vorwissenschaftlicher Erklärungsversuch aus antiken und mittelalterlichen Zeiten, gäbe die Katholische Kirche in ihrem Katechismus dieses Dogma nur als verbindliche Glaubenswahrheit aus. Sie hält aber daran fest, dass es sich auch um eine historische Tatsache handele. Im Katechismus werden alle Ereignisse und Vorgänge so dargestellt, als hätten sie sich tatsächlich so zugetragen. An keiner Stelle wird diesen Aussagen auch nur andeutungsweise ein bloß symbolhafter oder mythologischer Charakter zugesprochen. Ganz im Gegenteil, im Katechismus wird ausdrücklich bekräftigt: „Der Bericht vom Sündenfall verwendet [zwar] eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewissheit, dass die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeltern freiwillig begangen haben.“ (KKK 1993, 390) Kritikern wird entgegnet, die Weitergabe der Erbsünde (sei) „ein Geheimnis, das wir nicht völlig verstehen können“ (KKK 1993, 404).

Gegen alle modernen naturwissenschaftlichen und paläoanthropologischen Erkenntnisse und Wissensbestände wird an der aberwitzigen Behauptung festgehalten und von einem „Geheimnis“ gesprochen, das unserer „Verstandesschwäche“ nicht ganz zugänglich sei. Kardinal Ratzinger orakelte im Jahre 2000 „in bemerkenswerter Denk-Akrobatik“: „Hier stehen wir wieder vor einem abgründigen Problem“ (zit. n. Wolfgang Wickler 2010, S. 109). Ich frage mich, wie kann ein halbwegs aufgeklärter Mensch solchem „Mysterium“ Glauben schenken?

Die offizielle katholische Glaubenslehre gesteht zwar ein, dass heutzutage viele Christen Schwierigkeiten damit hätten, die Lehre von der Erbsünde anzunehmen, weist aber umso entschiedener daraufhin, dass diese Lehre „das zentrale Geheimnis des christlichen Glaubens unmittelbar“ berühre. Die grundsätzliche Wahrheit der Erbsünde könne anhand des Zustandes des Menschen und der Welt [empirisch!] erkannt werden, auch wenn die genaue historische Einordnung [man höre!] dieses vor allem übernatürlichen Ereignisses auf Schwierigkeiten stieße. (http://www.kathpedia.com/index.php?title=Erbs%C3%BCnde, 07.01.2018).

Im Erwachsenenkatechismus der deutschen Bischöfe heißt es, dadurch, dass „die Menschheit bereits an ihrem Anfang das Heilsgebot Gottes ausgeschlagen“ habe, sei eine „heillose Situation“ universale Wirklichkeit geworden. Zur Schwindel erregenden Denk-Akrobatik kommt heute noch eine Wortklauberei hinzu. In die argumentative Defensive gedrängt und unter Anpassungsdruck wird statt von der Erbsünde von einer „allgemeinen Sündhaftigkeit“ oder von der „Erbschuld“ des Menschen gesprochen. Theologen, Geistliche aller Ränge und Glaubenshüter eiern um angebliche Wahrheiten herum, die von der modernen Wissenschaft und ihren Erkenntnissen längst als unhaltbare religiöse Konstrukte und Fiktion angesehen werden.

Der Sinn des „Unsinns“

Doch ist das fabulöse Spintisieren von Priestern und Theologen nicht völliger Unsinn. Ihr Sinn ergibt sich nach modernem Wissen und Verständnis vielmehr aus der sozialen Funktion solcher dogmatischen Doktrinen. Der immanente Sinn und die Logik dieser Konstrukte liegen ganz anders, nämlich in einer totalitären theologischen Lehre vom Menschen. Es dreht sich um eine religiöse Herrschaftsideologie. Dem Menschen wird nach katholischer und allgemein christlicher Sicht generell Sündhaftigkeit unterstellt. Alle Menschen seien seit Adam und Eva Sünder. Aus katholischer Sicht können sich die Sünder nur in, durch und mit der Kirche gemäß eines von Kirchenvätern und anderen Theologen ausgedachten Heilsplanes befreien.

„Versöhnung aus dem Ganzen der Vernunft“?

Papst Benedikt XVI. (der ehemalige Kardinal Joseph Ratzinger) hat im Jahre 2006 in seiner umstrittenen Regensburger Rede 2006 der modernen Wissenschaft, insbesondere den Naturwissenschaften vorgeworfen, einer „positivistischen Vernunft“ zu erliegen und eine Hinwendung zu einem ganzheitlichen Vernunftbegriff angemahnt. „Glaube und Vernunft“ sollen nicht als Gegensätze verstanden, sondern „im Ganzen der Vernunft“ versöhnt werden. Die Theologie stehe an staatlichen Universitäten und Hochschulen „in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten [man höre!] Gebrauch der Vernunft, indem sie nach der Vernunft des Glaubens“ fragt. In diesem Sinne gehöre die Theologie „nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft an die Universität und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein“ (siehe Blog-Kapitel 43).

Der Papst hat mit seinen Ausführungen und Postulaten für die römische Kurie nichts weniger als die Wahrheit und das richtige Weltverstehen reklamiert und die moderne Wissenschaft auf seine Wahrheit zu verpflichten versucht (siehe auch Blog-Kapitel 43). Die kirchenamtliche Erbsündenlehre und ihr aberwitziger Wahrheitsanspruch liefern ein eklatantes Beispiel, warum diese angemahnte „Versöhnung in einem Ganzen der Vernunft“ nicht möglich ist. Die katholische Priester-Oligarchie tradiert noch immer ein Gemisch aus antiker Metaphysik und mittelalterlichem Denken (Alf Mintzel: Passauer Papiere zur Sozialwissenschaft. Begleitheft zur Lehre 2, Soziologische Exkurse in die Antike. ISSN 094-0733). Ihre „Heilige Ordnung“ wirkt bis auf unsere Tage in der katholischen Glaubenslehre und Praxis nach. Auf katholischen Lehrstühlen für Dogmatik werden an den staatlichen Universitäten weiterhin auf Kosten der öffentlichen Hand gehorsam diese abstrusen Lehren tradiert. Ich plädiere dafür, alle Dogmatik-Professuren, die ja sowieso der kirchlichen Autorität unterstellt sind, aus dem Wissenschaftsbetrieb staatlicher Universitäten und Hochschulen auszugliedern und kirchlichen Einrichtungen anzuschließen, die von den Kirchen selbst finanziert werden.

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Wissensbestände

Ich muss es mir hier selbstverständlich ersparen, die neueren und neuesten Forschungsergebnisse der verschiedenen einschlägigen Wissenschaftszweige zu referieren, um diese schauerlichen Lehrbehauptungen über die Erbsünde (und andere Kernstücke der Glaubenslehre) bloßzustellen. Solche „ewigen Wahrheiten“ zu entkräften dürfte allerdings angesichts der Dauerhaftigkeit und Virulenz religiös-konfessioneller Sinnwelten schwer gelingen. In der Menschheitsgeschichte hat es am Anfang nicht einmal in einem metaphorischen oder symbolischen Sinne das Stammelternpaar Adam und Eva gegeben. Und mitnichten ist mit dieser ihnen angedichteten Ursünde der Tod in die Menschheitsgeschichte gekommen. Der Tier-Mensch-Übergang beginnt vor etwa vierzig Millionen Jahren. Frühe Hominiden tauchen vor etwa vier Millionen Jahren auf, die Stammesgeschichte der Gattung Homo setzt vor rund zwei Millionen Jahren ein. Es gab fließende und verzweigte Übergänge, phylogenetische Sackgassen und klimatisch bedingtes Sterben und Aussterben. Die menschlichen Vorfahren haben über Jahrhunderttausende höchstwahrscheinlich keinen Gott gekannt, von dem sie hätten abfallen können. Sie sind als Sammler und Jäger in Gruppen umhergezogen. Sie starben wie seit Milliarden Jahren alle Lebewesen.

Ich halte es für viel ergiebiger, sich in die seit den 1990er Jahren erschienene evolutionswissenschaftliche Literatur einzuarbeiten. Ich weise hier nur auf ein paar Neuerscheinungen hin, die zur Entstehung, zu den Funktionen, zur Dauerhaftigkeit und zum Wandel religiöser Weltanschauungssysteme und religiöser Institutionen luzide, evolutionstheoretisch basierte Erkenntnisse beitragen: „Darwin`s Cathedral. Evolution, Religion and the Nature of Society“(D. S. Wilson, 2002), „Gott, Gene und Gehirn“(Rüdiger Vaas und Michael Blume, 2009, 3. Aufl. 2012), „Die Schöpfungslüge“(Richard Dawkins, 2012), „Evolution in Natur und Kultur“(Gerhard Schurz, 2011) und „The Divine Archetype: The Sociobiology and Psychology of Religion“(B. Wenegrat).

Sie entzaubern die aus der Spätantike und aus dem Mittelalter überkommenen Glaubenslehren und religiösen Institutionen, zumindest in aufgeklärten westlichen Gesellschaften, und setzen sie zunehmend einem Legitimationsdruck aus.

Die Wissenschaft, dem übergeordneten Beurteilungsmaßstab aufgeklärter Rationalität verpflichtet, muss unhaltbare Positionen räumen. Kirchen können dagegen an ihren tradierten Lehren und damit an angeblichen Glaubenswahrheiten festhalten, seien sie unter wissenschaftlichen Wahrheitskriterien noch so obsolet und absurd. Ich weise hier nur auf die Zeugungs- und Vererbungslehren der griechischen Antike hin, insbesondere auf die von Aristoteles. Auch die Lehre des mittelalterlichen Kirchenvaters Thomas von Aquin (1225/26-1274) von der biogenetischen Minderwertigkeit des Weibes ist aus moderner wissenschaftlicher Kenntnis und Beurteilung pseudowissenschaftlicher Unsinn und obendrein eine unhaltbare Rechtfertigungslehre des maskulinen Primats. Papst Leo XIII. erhob Thomas von Aquin 1879 zum ersten Lehrer der römisch-katholischen Kirche und 1880 zum Patron aller katholischen Schulen.

Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit von Religion

Der Verhaltensphysiologe Wolfgang Wickler gibt zu bedenken, „dass nachweislich dummes und falsches Argumentieren jede, auch die kirchliche, Autorität untergräbt, und zwar auch für den Fall, dass sie berechtigte Anliegen vertritt.“ (Wickler 2010, 117). Die Glaubens-Spaltung zwischen denen, welche die Achsel zucken oder den Kopf schütteln, und denen, die gehorsam glauben, was mit päpstlicher Billigung verkündete wird, gäbe dem modernen Atheismus kräftig und nachhaltig Hilfestellung (ebd., S.119). In Wicklers These, dass nachweislich ignorantes und unhaltbares Argumentieren in the long run selbst auch kirchliche Autorität untergraben wird, steckt natürlich generell die Frage, wie lange sich solche religiös-konfessionellen Fiktionen und Lehren halten werden und wann sie als evolutionäre Tatsachen nicht mehr den Gegenkräften aufgeklärter Rationalität standhalten können. Trotz und ungeachtet der vielfältigen rational-aufklärerischen Bemühungen und Säkularisierungstendenzen erweisen religiös-konfessionelle Glaubensvorstellungen und ihre institutionellen Repräsentationen, wie weltweit zu beobachten ist, eine zähe Widerstandskraft und Dauerhaftigkeit. Die „irrationale“ Kraft von Religionen scheint schwer zu brechen. Die evolutionstheoretische Frage ist, wie lange ihre selektive „Eignungsprüfung“ anhalten wird. Es kann noch Jahrhunderte und länger dauern, bis sie einzelne ihrer Effekte verlieren werden.

Religiöser Glaube generiert gemeinsame Werte und Regeln und stabilisiert hierdurch eine Glaubensgemeinschaft. Er fördert Kooperation und Gegenseitigkeitsverpflichtungen. Die religiöse Glaubens- und Wertegemeinschaft wird durch ihren Glauben an eine höhere Macht, an einen Gott, nach innen abgesichert und bestärkt. Glaube hat einen stark kohäsiven Effekt. Dem regelkonformen Gläubigen wird im Christentum eine ewige Belohnung versprochen:

„Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben“ (Römer 5, 7)

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen…“ (Johannes 5, 24,9,40)

„Und das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat: das ewige Leben“ (1. Johannes 2: 25)

Dagegen wird dem Regelbrecher, Abtrünnigen oder Ungläubigen mit ewiger Verdammnis gedroht:

„Weh den Gottlosen! Denn sie haben es übel, und es wird ihnen vergolten werden, wie sie es verdienen“ (Jesaja 3:11)

„Und sie werden in die Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Matthäus 25:46).

Eine religiöse Glaubens- und Wertegemeinschaft folgt einem mehr oder weniger institutionalisierten Straf- und Belohnungssystem. Die Priesterkaste verwaltet das von ihr kodifizierte Heilsgut und kontrolliert die Einhaltung der Regeln. Auch im Islam funktioniert dieses Bestrafungs- und Belohnungssystem. Wenn du im Kampf gegen die Heiden stirbst, kommst du direkt ins Paradies, wo dich 78 Jungfrauen erwarten. Konvertierst du zum christlichen Glauben, wirst du mit dem Tod bestraft. Medien führen uns diese Effekte im Positiven wie im Negativen täglich vor Augen.

Gerhard Schurz gibt in seinem Werk über „Evolution in Natur und Kultur zu bedenken (2011, S. 399f): „Die erläuterten Selektionsgründe für Religionen haben D. S. Wilson (20002, 220ff) und in noch stärkerem Ausmaß Wenegrat (1990, 144ff.) dazu veranlasst, sich insgesamt für Religionen auszusprechen. Dieser Einstellung folge ich nicht, sondern bleibe Anhänger eines geläuterten Aufklärungsprogramms. Denn Religionen besitzen ein Janusgesicht: Die Kehrseite ihrer wohltuenden Placebo-Effekte ist ihr hohes Gefahrenpotenzial. Dennoch halte ich es für äußerst wichtig, die Selektionsgründe von Religionen, ihre positiven Eigenschaften für Menschen, herauszuarbeiten: erstens, um die evolutionäre Nachhaltigkeit von Religionen erklären zu können, und zweitens, um im Sinne einer Metaaufklärung die Illusionen eines überzogenen Aufklärungsprogramms aufzuzeigen. Es ist wohl kaum möglich, so wie Marx oder Freud es dachten, Religionen aus der Welt zu schaffen und durch Vernunft oder Wissenschaft zu ersetzen. Wichtig wäre es (…), Religionen zu transformieren, dass sie ohne den Verlust ihrer wohltuenden Placebo-Effekte ihr Gefahrenpotenzial abstreifen. (…). Die große Gefahr aller Religionen ist ihre Tendenz zum Fundamentalismus, also zum Absolutheitsanspruch ihres jeweils eigenen Gottes und der Abwertung der Lehren anderer Religionen als Verfehlungen“.

Ich selbst teile diese Einstellung in ihren Grundpositionen und ihre Postulate. Gerade im letzten Jahrzehnt meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit (1990-2000) und in den ersten Dezennien des 21. Jahrhunderts erschienen zur Problematik der kulturellen Evolution und über polyfunktionale Effekte von Religionen erkenntnisreiche Publikationen. Ich selbst wandte mich in dieser Zeit von den bisherigen sozialwissenschaftlichen Entwicklungskonzepten und Theorien linearer „Höherentwicklungen“ ab und neuen evolutionstheoretischen Fragestellungen zu. Es war klar geworden, dass Vorstellungen kontinuierlicher, irreversibler unilinearer Kausal- und Höherentwicklungskonzepte nicht mehr haltbar waren. Meine Ausarbeitungen zur evolutionstheoretischen Systemtheorie Niklas Luhmanns und anderer Wissenschaftler blieben allerdings in der Schublade.

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