47. ›On th sunny side of the street‹ (I) – Die Jahre im Tessin

»Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen.«

So prangerte der sozialdemokratische Protestkünstler Klaus Staeck 1971 auf einem Plakat die soziale und gesellschaftspolitische Widersprüchlichkeit in Westdeutschland an, das Leben der Wohlhabenden und Reichen im Gegensatz zur ökonomischen Lebenswelt der Arbeiterschaft. Das provokative Plakat hatte eine Auflage von 70 000 Stück und hing so gut wie in jeder Studentenbude der 1968er Generation. Der Tessin war zum Inbegriff eines paradiesischen Lebensstils wohlhabender und reicher westdeutscher Bürger geworden. Wer in die Südschweiz reiste und am Luganer See oder am Lago Maggiore eine Villa besaß, zählte zu den Privilegierten.

Zur Landtagswahl 1972 in Baden-Württemberg entwarf und publizierte Staeck ein Plakat, das die Gesellschaftspolitik der CDU attackierte: »Die Reichen müssen noch reicher werden. Wählt christdemokratisch.« Es vermittelte eine ähnliche Botschaft: Auf dem Plakat wurde das Matthäus-Prinzip »Wer da hat, dem wird noch gegeben« zum Muss eines christdemokratischen Imperativs erhoben.

Mein Schwiegervater in spe, Georges Schaltenbrand, hatte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre gleich zwei mondäne Villen gebaut, eine am Ort seines beruflichen Wirkens, in Würzburg, und eine im Tessin am Lago Maggiore. Die Familie Schaltenbrand war im Oktober 1961 in die neue Würzburger Villa eingezogen (siehe Blog-Kap. 13), die Tessiner war 1962 bezugsfertig. Casa Lu, so war das Anwesen an Anlehnung an den Vornamen meiner Schwiegermutter getauft worden, lag oberhalb Locarnos in Orselina am Hang an der Via Patocchi 88. Der Panoramablick reichte vom nördlich gelegenen Bellinzona bis zu den Isole di Brissago in Italien und weit darüber hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lago ragten die bewaldeten Massive des Tamaro und des Gambarogno ins durchsonnte Himmelblau. Vom Balkon der Villa konnten wir in gerader Linie hinunter auf den Hafen von Locarno schauen und die ein- und abfahrenden Schiffe beobachten. Das Hanggrundstück umfasste 2600 Quadratmeter. Der obere Teil, einstmals ein terrassierter Weinberg, war bewaldet. Auf dem unteren Teil lag an den Hang gelehnt das neue, modern gestaltete Haus mit seinen lichtdurchfluteten Räumen. Im oberen Stockwerk residierte ›die Herrschaft‹, meine Schwiegereltern, im unteren wohnten in drei Zimmern die Abkömmlinge, also wir, unsere Töchter Anne, Theresa und Caroline und später auch die Enkelkinder.


CH, Orselina sopra Locarno, Casa Lu, Via Patocci 88, in den 1990er Jahren

Das Tessiner Haus war so geplant, gebaut und eingerichtet, dass es als dauerhafter Wohnsitz dienen konnte. Mein Schwiegervater hegte in Gedanken die Hoffnung, sich nach seiner Emeritierung dorthin zurückziehen zu können. Im Gartengelände beider Häuser lud ein Swimmingpool zur Erfrischung ein. Gegenüber Freunden und Bekannten wurde das Schweizer Domizil als bescheidenes ›Ferienhaus‹ kleingeredet, um nicht allzu viel Neid zu erwecken. Innerhalb so kurzer Zeit gleich zwei Villen und eine sogar oberhalb des Lago Maggiore bauen und bewohnen zu können, rief eine gewisse Scham hervor, sich solches leisten zu können und zu den Reichen gezählt zu werden. Ambivalente Gefühle verlangten nach Rechtfertigung, wenn offen oder versteckt danach gefragt wurde, wie es möglich gewesen sei, so rasch nach dem Krieg wieder zu Reichtum zu gelangen. Ein Professorengehalt und selbst hohe Arzthonorare könnten wohl kaum für den Bau zweier Villen ausgereicht haben. Meine Schwiegermutter in spe erklärte damals mir gegenüber, sie konnten sich die beiden Häuser nur leisten, weil mein Schwiegervater zu rauchen aufgehört und hierdurch viel Geld gespart habe. Das hörte sich grotesk an und war zugleich eine moralische Watsche, weil ich noch ein passionierter Zigarettenraucher war. Man könnte diese kuriose Rechtfertigung à la Staeck ironisch-plakativ so umformulieren: Höre zu rauchen auf und auch du kannst Dir eine Villa im Tessin leisten. Ich fühlte mich für dumm verkauft, schwieg aber dazu. Die Begründung hatte allerdings einen weltanschaulich-ideologischen Inhalt. Reichtum verdient man sich legitimer Weise nur durch Leistung, Askese und Verzicht. Doch woher kam das Geld? Und warum legten die Eltern Schaltenbrand es in einer Immobilie im Tessin an?

Eine ›bombensichere‹ Idylle – Flucht in die Illusion

Die neutrale Schweiz hatte schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein in der damaligen Welt einzigartiges, ›bombensicheres‹ Schutzraum–Konzept verwirklicht. Das allgemeine Sicherheitsbedürfnis der Eidgenossen hatte sich geradezu in einer ›Bunkermentalität‹ manifestiert. Im Ernstfall sollten alle gut sieben Millionen Einwohner in Schutzräumen Platz finden können. Mit gesetzlichen Vorschriften hatte die Schweiz durchgesetzt, dass in allen privaten und öffentlichen Gebäuden nach vorgegebenen Mustern Schutzräume eingebaut werden mussten. Als in den 1950er und 1960er Jahren das Wettrüsten der gegnerischen Militärblöcke auf einen atomaren Krieg zusteuerte, wurde es für jeden Schweizer Bauherren zur Pflicht gemacht, sein Gebäude mit einem Atombunker auszustatten. Die Bunker mussten mit massiven Schutzraumtüren, Panzerdecken, Notausstiegen und Fluchtröhren sicher gemacht und innen mit Luftfiltern, Liegen, Wasserreinigungsmittel und mit einer Überlebensration an Lebensmitteln ausgerüstet werden. Diese teuren Maßnahmen wurden damit begründet, die Schweiz sei zwar ein neutraler Staat, aber von NATO-Ländern umgeben und ein potenzielles Angriffsziel der Sowjetunion. Der Slogan der 1960er Jahre war: »Die Neutralität schützt nicht vor Radioaktivität«. Ein US-amerikanischer Fotograf namens Richard Ross, der sich auf Gefängnisse und Bunker spezialisiert hatte, spottete: »Wenn es einen Atomkrieg geben sollte, wäre der Kreis der Überlebenden klein: die amerikanische Regierung, die Mormonen, ein paar Israelis, besonders widerstandsfähige Insekten – und die Schweizer«. (Über die Schweizer Sicherheitsmaßnahmen jüngst SZ Nr. 270, 24.11.2017, S. 3).

Die gesetzlichen Bauauflagen musste natürlich auch mein Schwiegervater erfüllen, als er 1961/62 in Orselina sein Feriendomizil bauen ließ. Er tat es, obwohl er an die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten kam. Denn sein Sicherheitsbedürfnis stand der Schweizer ›Bunkermentalität‹ in nichts nach. Er hatte zwei Weltkriege erlebt, Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes, Massenvernichtung und Grausamkeit und einen politischen Gesinnungs- und Orientierungswandel durchgemacht. Er war von einem deutschnational gesinnten Freikorps-Kämpfer, der an den Grenzen Oberschlesiens Wache gehalten hatte, zu einem Pazifisten geworden, der den Slogan »Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus!« auf sein politisches Panier geschrieben hatte. Er war zu einem entschlossenen Gegner der Wiederaufrüstung Westdeutschlands geworden, hatte sich gegen das atomare Wettrüsten gewandt und sich der westdeutschen Anti-Atomkrieg-Bewegung angeschlossen. Zudem hatte er sich mit seinem Würzburger Universitätskollegen Prof. Dr. Franz Rauhut (1898–1988) zusammengetan und in Würzburg dessen pazifistische Aufrufe und Protestaktionen unterstützt. Sein Schweizer Bauprojekt fiel, auf diesen direkten Zusammenhang will ich besonders hinweisen, genau in die extrem beunruhigenden Jahre 1961/62, in denen das Regime der DDR die Berliner Mauer errichtete (1961) und die Kuba-Krise (1962) zu einer direkten atomaren Konfrontation zwischen der USA und der Sowjetunion führte. Alle Welt fürchtete, dass die Kuba-Krise eine atomare Apokalypse auslösen könnte. Inge Lu und ich verfolgten in Berlin mit Bangen die Nachrichten, weil die Kuba-Krise auch die Insellage Westberlins erneut gefährden konnte. Beobachter befürchteten, Westberlin könnte zu einem Kompensationsobjekt für den Abzug der sowjetischen Atomwaffen von Kuba werden (siehe hierzu Blog-Kap. 14). Am Himmel Westberlins kreisten täglich sowjetische MIG-Kampfjets und durchbrachen mit ohrenbetäubendem Knall die Schallmauer, so dass unten die Fensterscheiben klirrten und schepperten. Ostberliner Volkspolizisten erschossen an der Berliner Mauer flüchtende DDR-Bürger. Es herrschte in der sogenannten Frontstadt des Westens eine nervöse, beklemmende Stimmung. Inge Lu erlitt einen psychischen ›Berlin-Koller‹. Sie fühlte sich dort unentrinnbar eingesperrt und in den Orchideenfächern Sinologie und Japanologie den Launen ihrer Professoren ausgesetzt. Sie versank in eine schwere Depression und rang mit Selbstzweifeln und widersprüchlichen Anforderungen. Besorgte Briefe und Telefonate gingen zwischen unseren Eltern und uns ›Frontstädtern‹ hin und her. Vater Schaltenbrand bat einen befreundeten Berliner Kollegen, den Neurologen Prof. Dr. Arist Stender (1903–1975), sich medizinisch um Inge Lu zu kümmern. Fraglich war, ob es uns wirklich gelungen wäre, aus Westberlin herauszukommen, falls die Stadt von der Sowjetunion okkupiert worden wäre. Doch trotz aller Dramatik und Unsicherheit war mir, was meine Person und Zukunft betraf, eines klar: Für mich hatte sich 1961/62 an der Freien Universität Berlin über ein Förderungsprogramm für wissenschaftlichen Nachwuchs ein Tor zur Wissenschaft geöffnet, durch das zu gehen ich fest entschlossen war. Meine Grundstimmung blieb optimistisch.

Das Schweizer Bauprojekt, dessen Durchführung sich Ende der 1950er Jahre verzögert hatte, gewann in jenen Tagen für meinen Schwiegervater in spe geradezu eine überlebenswichtige Bedeutung. Das investierte Geld und Vermögen schien zu einer Art Lebensversicherung für den atomaren Ernstfall zu werden. Er war ein besorgter Patriarch, der seine Familie in Sicherheit bringen wollte. Ein vermögensbildender Umstand war ihm dabei zeitlich sehr gelegen gekommen, und dies anscheinend reichlich genug. Es muss um das Jahr 1960 herum gewesen sein, als Belgien bis dahin eingefrorenes deutsches Feindvermögen freigegeben hatte. Schaltenbrands Mutter hatte aus einer wohlhabenden belgischen Unternehmerfamilie gestammt, die seit Generationen Vermögen vererbt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Vermögen, um das stets ein großes Geheimnis gemacht worden war, als Feindvermögen für verloren gehalten worden. Über Herkunft und Größe kann ich nur rätseln, raunen und spekulieren. Der Patriarch und familiäre Schicksalslenker hatte sich so gut wie nie in die Karten gucken lassen und keine Auskünfte über solche Vorgänge gegeben. Kein Familienmitglied war von ihm in die tatsächliche Vermögenslage auch nur andeutungsweise eingeweiht worden, wahrscheinlich nicht einmal seine Ehefrau. Georges Schaltenbrand war, worauf ich schon an anderer Stelle zu sprechen kam, eine fast allmächtige, in den Köpfen seiner Familie stets präsente oberste Instanz, die vieles im Alleingang regelte und kontrollierte (siehe auch Blog-Kap. 13). Das Familienoberhaupt, das er nach damaligen Rollenmustern geradezu archetypisch repräsentierte, schwieg sich grundsätzlich über seine finanziellen Verhältnisse und Entscheidungen aus. Als Direktor der neurologischen Universitätsklinik Würzburg und international gefragte und geehrte medizinische Kapazität hatte er zwar ein vergleichsweise hohes Einkommen, aber es waren wohl auch Erbschaften großbürgerlicher und kapitalistischer Herkunft, die es ihm ermöglicht hatten, fast zu gleicher Zeit zwei Häuser an bezaubernd schönen Orten zu bauen. Sein Vater, Eugen Schaltenbrand (1866–1927), war einer der Generaldirektoren der Gutehoffnungshütte (Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb) gewesen, ein Stahlindustrieller also, der Aktienkapital hinterlassen hatte.

Wir, Inge Lu und ich, und später auch die Kindeskinder, unsere drei Töchter, kamen jedenfalls in den Genuss eines Lebens ›on the sunny side oft the street‹. Seit der Geburt unserer ältesten Tochter 1968 verbrachten wir jedes Jahr mehrere Wochen und später sogar Monate auf dem prato pernice, wie dieser Berghang in Orselina sopra Locarno genannt wurde. Ich schrieb dort im ›Studio‹, in dem mein Schwiegervater bis zu seinem Tode 1979 gearbeitet hatte, an Büchern, verfasste Artikel und bereitete mich auf meine Lehrveranstaltungen vor. Ruhten meine Augen vom vielen Schreiben aus, genoss ich einen fantastischen Panoramablick über dieBerge und den strahlenden See. Zähle ich diese Zeiten zusammen, dürften wir mindestens sechs Jahre im Tessin – wörtlich gemeint – zu Hause gewesen sein. Locarno und Casa Lu wurden selbst noch für unsere Enkelkinder zur zweiten Heimat.


Orselina, Casa Lu – selbst noch für die Enkelkinder zweite Heimat; von links: Julian Sperling, Carlotta Bausenwein, Theresa Sperling geb. Mintzel, Mia Bausenwein, Noah Sperling; Ostern 2009, Photo: Alf Mintzel

Doch nach dem Tode meiner Schwiegermutter, die 1999 im Alter von 101 Jahren gestorben war, stritt sich die Erbengemeinschaft, die drei Geschwister Schaltenbrand, um Möglichkeiten und Modalitäten des Erhalts sowie um die Verwaltung des Erbes.

Hätte im ›Kalten Krieg‹ 1962 der Kuba-Konflikt Europa und besonders die zwei deutschen Teilstaaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, tatsächlich in ein atomares Inferno verwandelt, wären wir höchstwahrscheinlich nicht rechtzeitig in die Schweiz gelangt, um in unserem Atombunker Schutz zu finden. Die Schweiz hätte sicher ihre Grenzen geschlossen und den Ansturm auf ihr Territorium und ihre Bunker abgewehrt. Und selbst wenn uns die Flucht gelungen wäre, hätte uns auch dort tödliche Radioaktivität dahingerafft. Die Neutralität hätte im Ernstfall vermutlich nicht vor Radioaktivität geschützt. Die ›bombensichere‹ Idylle war eine Illusion. Unser Atombunker, der von Anfang an nicht vorschriftsmäßig ausgestattet gewesen war, diente im Grunde mehr als Vorratskeller für Getränke, Lebensmittel, Gartengeräte, Farbtöpfe, Gerümpel und seit den 1990er Jahren in zunehmenden Maße als Aufbewahrungsplatz für meinen ›Schrott‹, den ich auf Flohmärkten in Locarno und Ascona für die Konstruktion von Objekten kaufte (siehe Blog-Kap. 50). Meine übervolle Schrottecke missfiel den Geschwistern Schaltenbrand, umso lieber versteckten sich dort dicke Spinnen und gut genährte Skorpione, denen die Ästhetik des Hauses nicht sakrosankt war.

Die Kosten der Idylle

›On the sunny side oft the street‹ zu leben, hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Familiengeschichte besteht aus vielen Episoden, aus bösen und guten, hässlichen und schönen, wahren und erfundenen. Wer ehrlich berichtet, kommt nicht umhin, auch allzu Menschliches aufzudecken, auf unangenehme Charaktereigenschaften zu deuten und weh zu tun. Wer nur Positives und Schmeichelhaftes erzählt, macht sich verdächtig, zu verheimlichen, was das schöne Familienbild verschandeln könnte. Plaudert man allerdings aus dem Nähkästchen, wird man rasch als Nestbeschmutzer beschimpft. Meine Schilderungen bewegen sich am Rande der Indiskretion und des Verrats von Dingen und Vorgängen, von denen man gewöhnlich sagt, sie gingen anderen Leuten nichts an. Ich nehme es in Kauf, dafür gescholten zu werden.

Wir führten in Orselina einen kompletten zweiten Haushalt mit allen Nutzgegenständen für das tägliche Leben. Bei jedem Aufenthalt war ein anstrengendes Arbeitsprogramm zu bewältigen. Casa Lu war also kein Ferienbetrieb im eigentliche Sinne, in dem man sich hätte bedienen lassen und auf die faule Haut legen können. Wir mussten uns selbst versorgen, bei der Gemeinde melden, nach Locarno hinunterfahren und Lebensmittel einkaufen, Getränke holen, Kästen schleppen, waschen, putzen, fegen, kochen, die Betten machen, Teppiche klopfen, die Fenster wieder blank wischen, Türangeln ölen und noch ein Dutzend anderer Dinge erledigen. Der Alltag mit seinen Routinen hatte uns voll im Griff. Zu den häuslichen Arbeiten kam die Gartenpflege in einer üppig wuchernden Natur. Im oberen Teil des Grundstückes schoss der Bambus zwölf Meter in die Höhe. Ich musste die unterirdischen Rhizome kappen und mich mit einer Machete durch das Unterholz kämpfen. Am Hang stand mehrmals im Jahr der Schnitt der Wiese an. Im Frühjahr und im Herbst mussten wir das Laub der Khakibäume wegräumen und in Körben hinauf zu einer Kuhle schleppen. Zweimal im Jahr stieg ich auf das Flachdach des Hauses, um in Schwindel erregender Höhe Dach und Dachrinnen zu reinigen. Einmal im Jahr holten wir für die schwersten Arbeiten einen Gärtner, was im Hochlohnland Schweiz eine Menge Geld kostete. Ich führte über viele Jahre ein Arbeitsheft, in das auch die anderen Familienmitglieder ihre geleisteten Stunden eintrugen. Ich rechnete alle Anteile am Gesamtvolumen aus und zog Bilanz. Kein Wunder, dass es Streit gab unter den Geschwistern. Stimmungen und Spannungen entluden sich in Krächen.

Nachdem die Hausherrin Lulu gestorben war, ließ sich die mühsam gehaltene Balance von Arbeit und vergnüglicher freier Zeit nicht mehr verwirklichen. Die verschiedenen Interessen, Vorlieben und Ansprüche ließen sich nicht auf den nötigen gemeinsamen Nenner bringen für eine dauerhafte gemeinsame Erhaltung und Pflege des Erbes. Inge Lu und ich waren inzwischen Großeltern geworden, vier Enkelkinder waren hinzugekommen (später kamen noch einmal zwei). Wir liebten Orselina. Casa Lu bot sich gerade für eine wachsende Familie als großräumiger Treffpunkt und paradiesisches Ambiente an. Besonders das Schwimmbad lockte die Kinderschar an. Für sie gab es in dem großen Gelände jeden Tag Neues zu entdecken. Inge Lus Geschwister, Jürgen und Else-Li, waren hingegen kinderlos geblieben. Ihre Ehen waren in die Brüche gegangen und auch andere Beziehungen waren gescheitert. Eine äußerst unangenehme Charaktereigenschaft machte sie unverträglich: ihre Pfennigfuchserei, für die sie auch unter Freunden und Bekannten bekannt waren, ja sogar Geiz bis in lächerliche Kleinigkeiten. Sie betrachteten Orselina nicht gleichermaßen als willkommenen Ort für ein vergnügliches Miteinander der Geschwister und Generationen, sondern als einen Ort des Rückzugs in ein ungestörtes Alleinleben, und dies erst recht im höheren Alter. Sie fühlten sich bedrängt, mokierten sich über die Fingerabdrücke der Kinder auf den Glasscheiben der wandhohen Schiebetüren, durch die wir ins Freie gingen, und schimpften über Schokoladenspuren an den weißen Wänden. Sie ärgerten sich über das herumliegende Kinderspielzeug. Für Jürgen und Else-Li boten sich als Einzelgänger Alternativen für Individualreisen in ferne Länder an, die wir in unserer familiären Situation nicht hatten. Inge Lu und ich nutzten dagegen mit unseren Kindern und Kindeskindern über vier Jahrzehnte das von den Eltern Schaltenbrand geschaffene Idyll. Wir fühlten uns dort wirklich zu Hause.  Für mich war Casa Lu trotz der geschilderten Mühen stets ein Ort hoher Kreativität gewesen. Noch heute kehre ich in meinen nächtlichen Träumen oft dahin zurück. Der prato pernice war mein Arkadien.


Orselina, Casa Lu, 1964, Inge Lu Mintzel, Photo: Alf Mintzel


Orselina, Casa Lu, Ostern 1989; die drei Mintzel-Töchter: Anne, geb. 1968, Theresa, geb. 1971, Caroline, geb. 1975; Photo: Alf Mintzel


Orselina, Casa Lu, 2009, Theresa Sperling mit ihrem Sohn Julian im Studio; Julian sagt, er befände sich nun in seiner monochromen Phase. Photo: Alf Mintzel

Die Größe des Wohnraumes im oberen Stockwerk mit seinen wandhohen Panoramascheiben ermöglichte es, sich auch bei schlechtem Wetter, an Regentagen und im kühlen Herbst, drinnen zu beschäftigen. Die Kinder hatten viel Platz für Spiele und Vergnügungen. Inge Lu und ich sorgten dafür, dass den Kindern stets genug Materialien zur Verfügung standen: Malblöcke, Buntstifte, Malpinsel, Wasserfarben, Malkreiden, Scheren, Klebstoff und Kinderbücher. Wir führten sie spielerisch an den realen Kunstbetrieb heran, indem wir in dem 75 Quadratmeter großen Wohnzimmer Vernissagen und Auktionen für ihre Malereien veranstalteten. Die Kinder erfanden Schätzpreise für ihre Bilder, wir boten kleine Beträge, um sie zu weiterem ›Kunstschaffen‹ anzuregen. Inge Lu und ich entwarfen selbst kleine Kinderbücher, schrieben Texte dazu und illustrierten sie mit Zeichnungen und Deckfarbenbildchen. Unsere Kinder und später auch die Enkelkinder machten begeistert mit und begannen die hochkarätige Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst, die im ganzen Haus an den Zimmerwänden hing, mit neugierigen Augen zu betrachten. Einer unserer Enkelsöhne malte ein Bild nach dem anderen und erklärte, er sei nun in seiner monochromen Phase. Ich bewahre noch heute viele Kinderbilder auf und freue mich über den Reichtum an Fantasie und das kompositorische Können. Noch immer animiere ich die Enkelkinder bei ihren Besuchen in Passau zum Zeichnen und zum Malen. Später, als die Häuser verkauft werden mussten, wurde die Beteiligung an Auktionen zur bitteren Realität. Wir lösten die großelterliche, museumswürdige Kunstsammlung schrittweise auf und verteilten sie an unsere Töchter, die in Absprache mit uns einen großen Teil veräußerten. Es war ein trauriger Abschied von der Sammlung Schaltenbrand, die auch viele wertvolle Ostasiatika enthalten hatte, die meine Schwiegereltern Ende der 1920er Jahre aus China und Japan mitgebracht hatten. Mein Schwiegervater hatte, wie ich schon an anderer Stelle hervorgehoben hatte, in den Jahren 1928/29 als Neurologe in Peking am dortigen ›Union Medical College‹ gearbeitet und geforscht (siehe auch Blog-Kap. 42). So ging die ›Welt von gestern‹, um es mit Stefan Zweig auszudrücken, für uns endgültig unter. Nur wenige Einzelstücke, die noch in unserem Eigentum geblieben sind, erinnern uns daran.

Zu Lebzeiten hatten Georges und Lulu Schaltenbrand aus ihrem Vermögen alle anfallenden Rechnungen für Casa Lu beglichen. Nach dem Tode von Lulu, der Alleinerbin von 1979, fiel das Schweizer Erbe zu gleichen Teilen an ihre drei Kinder Jürgen, Inge Lu und Else-Li. Keinem der drei war es kraft seiner ökonomischen Lage möglich, die jeweils zwei anderen auszubezahlen. Dazu wäre wohl das Einkommen eines Top-Managers im Finanz- oder Wirtschaftssektor notwendig gewesen. Selbst wenn wir unsere jeweiligen finanziellen Kräfte gebündelt hätten, wäre der gemeinsame Erhalt dauerhaft kaum zu verwirklichen gewesen. Auf uns wären bald zum laufenden teuren Unterhaltung hohe Reparaturkosten zugekommen. Meine Pension als ehemaliger Professor und Lehrstuhlinhaber nahm sich angesichts der finanziellen Gegebenheiten lächerlich gering aus. Mein Schwager Jürgen Schaltenbrand, der als angestellter Psychologe einer katholischen Einrichtung der Erziehungsberatung die schlechtesten Karten in der Hand hielt, zog sich – auch aus gesundheitlichen Gründen – völlig aus dem gemeinsamen Projekt Casa Lu zurück und zwang uns zum raschen Verkauf. Mit dem Verkauf der Würzburger Villa im Jahre 2002 und des Tessiner Domizils 2010 ging eine großbürgerliche Familienära zu Ende. Selbst unsere Enkelkinder beklagten noch lange den Verkauf, den sie, wie wir Alten, als großen Verlust erlebten. Inge Lu schenkte ihr Drittel an dem Verkauf großzügig unseren Töchtern. Wir investierten unser Vermögen in unsere Kinder und Kindeskinder, um deren Lebenschancen zu verbessern. So kam die nächste und übernächste Generation noch in den Genuss der Relikte einstmaliger großbürgerlicher Lebensverhältnisse. Großvater Schaltenbrand, der 1979 im Alter von fast 82 Jahren verstorben war, hätte es gefreut.

Mein Schwiegervater lebte aber fiskalisch noch zehn volle Jahre weiter. Nach seinem Tod war es ein kurioser Zufall, dass für die Schweizer Erbschaft, die zur Gänze an seine Frau gefallen war, keine Erbschaftssteuer bezahlt worden war. Mir ist der Vorgang nicht in Einzelheiten bekannt. Ich kann ihn nicht präzise schildern. Es muss sich etwa so zugetragen haben: Unser Locarneser Steuer- und Finanzberater hatte anscheinend vergessen, dem Schweizer Finanzamt den Todesfall zu melden. Erst um das Jahr 1990 war dem Schweizer Fiskus irgendwie aufgefallen, dass der Erbfall stattgefunden haben musste. Er forderte eine horrende Summe nach. Wir mussten den Streitfall einem Anwalt und Notar vorlegen. Doch nicht er kam darauf, sondern die schlaue Inge Lu, die herausfand, dass das Versäumnis verjährt und uns durch die Nachlässigkeit des Steuerberaters die Erbschaftssteuer erspart geblieben war. Keines ihrer geizigen Geschwister hat es ihr je gedankt. So hatten der verstorbene Patriarch und Finanzjongleur postum und seine Tochter Inge Lu dafür gesorgt, dass wir noch zwei weitere Jahrzehnte in Orselina ›on th sunny side of the street‹ weiterspazieren konnten.

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