51. Wahre Geschichten des träumenden Gehirns

Traumerlebnisse

Ich, ein noch jugendlicher Mann, besuchte meine Schwiegereltern, Lulu und Georges Schaltenbrand. Beide wohnten in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt. War es in Hannover? Oder in Berlin? Wir saßen zusammen in ihrem Schlafzimmer, das mit ein paar Stühlen wohnlich eingerichtet war. Ich hatte eine Doktorarbeit mitgebracht und daraus vorgelesen. Lulu verwickelte mich, wie sie das oft tat, in ein Gespräch. Sie wollte hören, wie ich die Arbeit beurteile.

„Was hältst du davon?“

Ich weiche aus und antworte nicht direkt.

„Es handelt sich um ein biografisches Werk, in dem der Werdegang und die wissenschaftliche Leistung eines mir gut bekannten Kollegen abgehandelt werden.“

Lulu: „Ist die Dissertation interessant?“

Über unserem Gespräch wird es spät am Abend. Mein Schwiegervater will zu Bett gehen und beginnt sich auszuziehen. Bevor ich gehe, frage ich ihn, ob er noch Doktorarbeiten annehme und betreue. Der alte Emeritus, eine weithin bekannte Koryphäe seines Faches, lächelt müde und gibt zu verstehen, dass er damit aufgehört habe. Ich entschuldige mich, so lange geblieben zu sein, packe die Dissertation und einiges andere in meinen Tragebeutel, verschließe sorgfältig den Sack, hänge ihn mit einem Gurt über meine Schulter, verabschiede mich und gehe aus dem Raum. Durch einen engen Vorraum verlasse ich etwa um 23 Uhr die Wohnung.

Draußen ist es dunkel. Die Straßenlampen werfen im Außenbezirk der Großstadt einen fahlen Lichtstrahl auf Straßen und Wege. Ich gelange im Universitätsviertel zu einer schummerigen Studentenkneipe, in der ein paar Studenten sitzen, und nehme an einem Tisch Platz. Ich spreche am Tisch einen Studenten an:

„Ich habe die Orientierung verloren. Ich weiß nicht, in welcher Stadt und wo genau in der Stadt ich mich befinde. Können Sie mir Auskunft geben?“

Der angesprochene Student sieht mich zweifelnd an und antwortet:

„Sie haben die Orientierung verloren? Das glaube ich Ihnen nicht!  Sie sehen so fit und präsent aus, Sie wissen doch genau, was Sie tun und wo Sie sind. Ich nehme Ihnen nicht ab, orientierungslos zu sein.“

Und er argwöhnt: “Sie machen doch ein philosophisches Experiment!? Da mache ich nicht mit.“

Er lässt sich auf meine Bitte nicht ein, mir zu helfen und Auskünfte zu geben. Er wolle nicht mein Proband sein. Auch Studenten an Nebentischen winken ab. Daraufhin stehe ich auf und gehe im Lokal zu einem Zigarettenautomaten. Mit meinem letzten Kleingeld ziehe ich eine Packung Zigaretten aus dem Automaten und verlasse, auf diese Weise mittellos geworden, das Lokal. Suchend laufe ich in den nächtlichen Straßen umher, immer mit der Frage im Kopf, wo befinde ich mich und welche Richtung muss ich einschlagen, um mein Ziel zu erreichen? Welches?

Nach einer Weile betrete ich das Werksgelände einer Firma. Im Büroraum sitzt ein älterer, weißhaariger Herr in blauer Monteurkleidung. Er trägt einen Dreitagebart und betrachtet mich neugierig. Ich bitte ihn, wie vorher den Studenten, mir zu sagen, wo ich mich befände, in welcher Stadt und wo genau in der Stadt. Ich hätte die Orientierung verloren, bräuchte dringend Hilfe. Auch er will mir keine Auskunft geben. Auch er scheint mir nicht zu glauben, dass ich nicht wüsste, wo ich mich befände.

Ich wandere weiter durch die Stadt, irre in Straßen umher und suche nach Ortsangaben, die mich aufklären könnten, in welcher Richtung ich wohin gelangen könnte. Straßen und Gassen sind in ein graues Dämmerlicht getaucht.

Der Morgen bricht an. Ich stoße auf einen kleinen Platz, auf dem eine Reihe Verkaufsstände für Haushaltswaren auf den Tag warten. Noch ist niemand unterwegs. Auf dem Platz heben sich am Boden mehrere flache rechteckige Objekte hell vom Pflaster ab. Sie bilden insgesamt ein kleines Quadrat, das etwa den Umfang eines normalen Kopfkissens hat. Eine Frau läuft über den Platz, sie kommt auf mich zu und legt sich bei den Objekten nieder, die sie als Kopfstützen benutzt. Ich sage ihr, das seien meine Objekte, sie solle vorsichtig mit ihnen umgehen. Gestalt und Aussehen der Frau bleiben vage, sie ist einfach gekleidet. Auch sie will oder kann auf meine Frage, wo ich sei, anscheinend keine Antwort geben. Ich gehe weiter.

Den Gedanken, mit der U-Bahn oder S-Bahn zu fahren, lasse ich wieder fallen. Ich hatte mein restliches Geld für eine schädliche Ware ausgegeben und war hierdurch völlig mittellos geworden. Mir fehlt das Geld für ein Ticket, also die Möglichkeit, schnell irgendwohin zu kommen. In meiner Orientierungs- und Ratlosigkeit fällt mir ein, eine Polizeistation aufzusuchen, um den wachhabenden Polizisten meine Lage zu schildern und um Fahrgeld zu bitten. Die müssten mir doch von Amts wegen helfen. Sie seien zur Auskunft und Hilfe verpflichtet. Irgendetwas bringt mich jedoch von dem Gedanken ab. Ich wandere weiter durch Stadtteile, in denen halbzerstörte und baufällige Häuserzeilen stehen, an alten, heruntergekommenen Bürgerhäusern vorbei, dazwischen stehen repräsentative Gebäude. Doch bleibt weiterhin ungewiss, in welcher Stadt ich mich aufhalte und wohin ich mich wenden solle. Da ich kein Geld habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß weiter durch die Straßen zu irren.

Am Ende erreiche ich einen Punkt, von dem aus ich einen Panoramablick auf die Stadt werfen kann. Ich sehe über ein Häusermeer hinweg und entdecke in der Ferne ein hohes Gebäude, das ähnlich wie der Berliner „Europa-Center“ über den Dächern herausragt. Ich habe einen Orientierungspunkt gefunden, der mir die Richtung zeigt, in die ich gehen soll. Ich muss sie um 180 Grad ändern und auf das Center zulaufen. Da fällt mir ein, dass dort in der Nähe die Kufsteinerstraße liegt, in der das befreundete Arztehepaar Antje und Friedrich W. wohnt. Sie werden mir sicher für die Rückreise Geld leihen und die Gelegenheit für ein Telefongespräch mit Inge Lu bieten. Ich werde Inge Lu beruhigen und ihr sagen, dass ich nach Hause fahren kann. In dem Moment habe ich meine volle Orientierung und Zielgewissheit zurückgewonnen.

Deutungen und Wahrheitsgehalte

Diese Erlebnisse träumte ich in der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 2018, also einen Tag, nachdem ich mein 50. Blog-Kapitel endgültig abgeschlossen hatte. Ich schrieb den Traum vor dem Frühstück sofort nieder, um den Ablauf und möglichst viele Details festhalten zu können. Es war einer der luziden Träume, die auf einer anderen, einer zweiten Bewusstseinsebene bildhafte Aufschlüsse vermitteln und so Antworten auf existenzielle Fragen geben. Im Traum trete ich an fünf verschiedenen (Stand-) Orten mit verschiedene Personen in einen Dialog: Mit meinen Schwiegereltern in deren Schlafzimmer, in der Studentenkneipe mit einem Studenten, auf einem Werksgelände mit einem Monteur, auf einem kleinen Platz mit einer einfachen Frau  und schließlich in spe – im Sinne einer zu erwartenden Hilfe – mit dem befreundeten Arztehepaar W. Ich sehe und erlebe mich als eine orientierungslose Person, dabei bleibt allerdings ungewiss, ob es sich um eine von mir nur vorgegebene oder eine tatsächliche Orientierungs- und Hilflosigkeit handelt. Die drei Personen, die ich um Auskunft bitte, um dahin zu kommen, wohin ich wolle oder müsse, trauen meiner Aussage nicht, ich sei orientierungs- und hilflos. Ich hinterlasse bei ihnen jedenfalls einen gegenteiligen Eindruck. Auch „Ordnungshüter“, Polizisten, kommen in Betracht, sie werden aber von mir als potenzielle Helfer nicht in Anspruch genommen.

Einen Schlüssel für die Erschließung der Traumbotschaft geben die Anfangs- und Ausgangssituation im Traum, mein Besuch bei den Schwiegereltern und das Gespräch in deren Schlafzimmer. Ich halte eine Dissertation in den Händen, welche „die Biografie eines mir gut bekannten Wissenschaftlers“ zum Gegenstand hat. Ich nehme an, ich selbst bin es, über den gesprochen wird. Ich lenke das Gespräch auf meinen autobiografischen Blog. Meine längst verstorbene Schwiegermutter (gestorben 1999) fragt mich, ob die Dissertation, also mein Blog, interessant sei. Vom Traum synchronisierter Genrationswechsel. Jetzt bin ich ein alter Emeritus, der keine Doktorarbeiten mehr betreut und sich zur Ruhe legen will. Mein Schwiegervater starb schon 1979 im Alter von fast 82 Jahren. Im Gespräch habe ich die Toten ins Leben zurückgerufen, für einen Augenblick vergegenwärtigt und sie mit meinem Blog bekannt gemacht. Ich habe vor ihren Augen darin geblättert und auf einer der ersten Seiten, so meine ich mich vage erinnern zu können, mein Geburtsdatum gelesen, den 18. April 1935. Kurz vor Mitternacht habe ich meinen Blog und andere Sachen in einen Tragebeutel gepackt und die Wohnung verlassen. Ich bin in die Nacht hinausgegangen.

Draußen, in der nächtlichen Stadt, finde ich mich nicht zurecht. Es geht um eine genaue Orts- und Wegbestimmung. Keine der Personen, die ich um Auskunft und Hilfe bitte, kann oder will dies tun. Nachdem der Student meine Bitte entschieden abgelehnt hat, weil er dahinter ein philosophisches Experiment vermutet, ziehe ich aus einem Zigarettenautomaten ein Droge, Tabak. Ein Rückfall! (Ich habe schon 1966 endgültig zu rauchen aufgehört!)   Sicher scheint nur eines zu sein: Ich bin in einer Universitätsstadt. Auf dem Werksgelände, das ich betrete, scheinen Metallwaren produziert zu werden. Am nächsten Ort, auf dem kleinen Platz, liegen meine Objekte. Sie sind aus Stein. Auf ihnen lässt sich schwerlich ausruhen. Sie eignen sich nicht als Kopfkissen, genügen aber offensichtlich der Frau als Kopfstütze. Wer ist sie? Tritt sie im Sinne von C.G.Jung (1875-1961) als ein unbewusster Komplex meines Ich-Bewusstseins auf, als Anima? Repräsentiert sie meine Objektkunst? Ich wandere weiter durch die Stadt.

Der Morgen zieht auf, der Tag bricht an. Ich gelange zu einem (erhöhten) Standort, von dem aus ein weiter Panoramablick eine Orts- und Wegbestimmung ermöglicht. „Mir dämmert“: Das Europa-Center steht in Berlin. Von der Peripherie her gelange ich ins Zentrum. Europa ist meine geistige und psychisch-mentale Mitte.

Die Botschaft meines Traumes lautet etwa:  Keiner kann oder will dir sagen („vorschreiben“), wo du dich existenziell befindest. Du musst selber den Standort finden, von dem aus du einen Überblick (über das Große und Ganze) gewinnst. Dann wird dir auch geholfen werden. Wahrscheinlich sind alle Personen ein Teil von mir und an meiner Selbstfindung beteiligt. Es sind Begegnungen mit meiner innerlichen Wirklichkeit. Das träumende Gehirn ist ein faszinierendes Organ, das mit einer frappierenden Logik sowie mit Bildern und Bildsequenzen unsere Befindlichkeiten vorführt und Wege weist. Es erzählt uns so viel über unsere Ängste, Hoffnungen, Wünsche, Fähigkeiten, Unfähigkeiten und Beziehungen. Das träumende Gehirn nimmt in meinem Blog einen festen Platz ein.

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