52. Begegnungen mit dem Tod

Es ist an der Zeit…

Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Die Lebenskräfte werden schwächer, der Körper zeigt die markanten Alterserscheinungen auf, ich brauche sie nicht aufzuzählen, jeder kennt sie. Doch bin ich im 83. Lebensjahr noch im Besitz meiner kognitiven Fähigkeiten oder mentalen Vigilanz, wie es meine Ärzte ausdrücken und bestätigen. Darüber bin ich froh. Ich könnte sonst nicht meinen Blog verfassen, was ja ein gutes Maß an geistiger Präsenz und Erinnerungsvermögen voraussetzt. Es ist, was das Sterben und den Tod betrifft, an der Zeit, meine Gedanken, Einstellungen und Überzeugungen dazu noch einmal zu überdenken.

Die Mitglieder der oberfränkischen Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel, der ich entstamme, hatten sich alle im Dienste des evangelischen Glaubens und des Christentums gesehen. Ein gottgefälliges Leben zu führen war für sie eine Selbstverständlichkeit. „Recht glauben, christlich leben, selig sterben“, wie die religiös-konfessionelle Formel im „theologischen Zeitalter“ gelautet hatte, war für sie bis ins 19. Jahrhundert hinein eine zutiefst verinnerlichte Lebensmaxime gewesen. Sie war von Generation zu Generation weitergegeben worden. “Selig sterben“ war damals eine stehende, jedem vertraute Wendung gewesen. Der Gründer der Mintzelschen Buchdruckerei, Johann Albrecht Mintzel (1600–1653), hat 1628 die „Güldene Sterbekunst“ des geistlichen Barockdichters Johann Heermann gedruckt: „Hertzlich thut mich verlangen nach einem seligen Ende“. Für seine Drucker-Marke hat er den Spruch „Ecce Agnus Dei Qui Tollit Peccata Mundi“ gewählt (Siehe das Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt trägt). Sein Sohn, Gottfried Mintzel (1642–1713), hat 1710 Johann Heermanns „Exercitium Pietatis“ gedruckt und verlegt. Gottfried hat in seinem Druckersigel bekannt: „Jesum Fidelem Habeo“ (sinngemäß: Ich habe den treuen Christus in meinem Herzen). Mein Urgroßvater Christian Carl Mintzel (1832–1911), der Sohn des letzten Druckers (Johann Heinrich Mintzel, 1763–1840) war ein sehr gestrenger evangelischer Pfarrherr gewesen, der seine Gemeinde, wie er gesagt hatte, gen Jerusalem führen wollte. Diese religiös-konfessionelle Gebundenheit, Gewissheit und gepflegte „Ars morandi“, die „güldene Sterbekunst“, haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Familie allmählich verflüchtigt. Geblieben ist ein unverbindlicher, individualisierter Kulturprotestantismus, und nicht einmal dieser.


Güldene Sterbekunst, 1628, Titelseite


Drucker-Marke von Johann Albrecht Mintzel, 1628


Exercitium Pietatis, 1710


Drucker-Marke von Gottfried Mintzel, 1710

Im 20. Jahrhundert waren in der nächsten und weiteren Verwandtschaft die religiös-konfessionellen Schranken weitgehend zu Gunsten einer multi-konfessionellen Koexistenz gefallen. Nominell etikettiert lebten römisch-katholische Katholiken (einige traten aus ihrer Kirche aus), evangelisch-lutherische Protestanten, reformierte Protestanten, russisch-orthodoxe Christen und eine zunehmende Zahl von Atheisten nebeneinander her. Der allgemeine Säkularisierungsprozess fand auch im familiären Rahmen statt. Dies traf wohl noch stärker auf die konfessionslose Herkunftsfamilie und Verwandtschaft meiner Frau zu, in der nicht einmal mehr der Typus des indifferenten Anpassungschristen vorkommt. Anders betrachtet: Jede konfessionelle Dogmen-Spielart war verpönt. Mein hypothetischer Atheismus wurde als eine mögliche Weltsicht toleriert. Die Religionsfreiheit und Distanz zur institutionalisierten Religiosität gehören seit Jahrzehnten in der Familie und Verwandtschaft zur gängigen Praxis. Diese Atmosphäre religiös-konfessioneller Gleichgültigkeit und Indifferenz wirkte sich ohne Zweifel auf den individuellen Umgang mit Sterben und Tod aus. Vor diesem familiären Hintergrund gewinnen meine Begegnungen mit dem Tod ein spezifisches, individuelles Kolorit.

Mehrmals habe ich schon über meine Begegnungen mit dem Tod berichtet (Blog-Kapitel 10, 19, 36, 37, 40). „On the sunny side of the street“ (Blog-Kapitel 48) habe ich den Schattenmann beobachtet, wie er in vielen Winkeln gestanden und in verschiedenen Erscheinungsformen auf seinen Auftritt gewartet hat. Kein Lebewesen entrinnt ihm. Ich selbst bin ihm mindestens einmal knapp entkommen, als ich 1958 auf einer Fahrt nach Südfrankreich bei Cassis zu weit ins Mittelmeer hinausgeschwommen und von einem Sog erfasst worden bin. Der Hannoveraner Künstler Eberhard WP Eggers (1939–2004), mit dem ich befreundet war, ein kräftiger und geübter Schwimmer, hatte am Strand die Gefahr rechtzeitig erkannt und mir geholfen, mit letzter Kraft gegen den Sog ans Land zurück zu gelangen. Ich hätte meinen Leichtsinn beinahe mit dem Leben bezahlt.

Der Tod hat mich in Angstträumen verfolgt und überwältigt. Ich habe in luziden Traumbildern mich sterben sehen und meinen Tod erlebt. Aus solchen Träumen ins wache Leben zurückzukehren hinterlässt eine Vorahnung, wie es sein könnte, niedergefahren in das Reich des Todes und Auferstehung.

Seit Alters haben Menschen über Sterben und Tod nachgedacht, Totenkulte hervorgebracht, Unsterblichkeitsideen entwickelt und sich grandiose religiöse Weltanschauungen ausgedacht. Geburt, Sterben und Tod gehören, wie zahllose kulturelle Artefakte beweisen, zu den Ur-Themen der Menschheitsgeschichte. Das Panorama kultureller Manifestationen und Traditionen ist viel zu weit und vielfältig, als dass ich es hier skizzieren könnte. Ruft man im Wikipedia-Lexikon einschlägige Stichwörter auf, wird man von der Informationsflut schier weggerissen. Wikipedia registrierte für den Zeitraum von neunzig Tagen (08.11.2017–06.02.2018), um nur einige Beispiele anzuführen, für das Stichwort „Tod“ insgesamt 38 650 Seitenaufrufe, für das Stichwort „Leben nach dem Tod“ 21 017, für „Unsterblichkeit“ 9 086, für „Adam und Eva“ 59 305, für „Dogma“ 36 564 und für „Glaube“ 12 848 Aufrufe. Wie immer wir diese Zahlen interpretieren mögen, sie bezeugen jedenfalls ein vergleichsweise hohes Interesse an diesen Themen und Fragestellungen. Selbst wenn wir die uferlosen Wiederholungen und aberwitzigen Beiträge unbeachtet lassen, haben wir es mit einer Informationsmasse zu tun, die sich schwerlich bewältigen lässt. Was also könnte ich in meinem Blog-Kapitel Originelles und vielleicht sogar Maßgebliches noch hinzufügen oder dem entgegensetzen?

Es sind ja in der Regel nicht die Todesanzeigen und Nachrufe in Medien, die uns besonders berühren oder gar erschüttern, geschweige denn allgemeines Räsonieren über Sterben und Tod, sondern die konkreten persönlichen Begegnungen mit Sterbenden und der endgültige Abschied von Menschen, die uns nahegestanden haben.

„Tapfer sterben“

Ihre Antwort ist mir bis zum heutigen Tag in Erinnerung geblieben. Tante Mariechen, wie wir sie nannten, war eine kleine, pummlige Person (Julie Maria Mintzel, 1866–1955). Sie war die Schwägerin meines Großvaters Otmar Mintzel (1870–1950). 1944 hatte sie bei einem Luftangriff auf Nürnberg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Sie war, als die Sirenen heulten, in den nahe gelegenen mittelalterlichen Neutor-Turm geflüchtet, der zu einem Luftschutzbunker ausgebaut worden war. Als sie nach dem Angriff herauskam, lag das Haus am Neutorgraben, in dem sie gewohnt hatte, in Schutt und Asche. Völlig mittellos war sie im Alter von 78 Jahren zu meinem Vater gegangen, um in unserer Nürnberger Wohnung Unterschlupf zu finden. Meine Eltern erbarmten sich der alten Frau und boten ihr in unserer Familie eine Bleibe an. Tante Mariechen machte sich im Haushalt nütze. Sie flickte Kleider, stopfte unsere Socken und Strümpfe, nähte Knöpfe an, säumte Stoffe und half meiner Mutter, soweit es ihre Kräfte zuließen, auch sonst im Haushalt. Dies waren in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, in den Zeiten des Mangels und der Not, lebensnotwendige Handarbeiten. Ich erlebte die alte Frau als eine sehr genügsame und freundliche Person. Sie war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, und fügte sich anpassungsfähig in unser Familienleben ein. Wir mochten sie alle gern. Sie wohnte bei uns bis zum Jahre 1955, bis zu ihrem Tod. Besonders wegen einer Antwort behielt ich sie tief im Gedächtnis.

In den ersten Nachkriegsjahren – es war wohl in der Zeit, in der ich konfirmiert wurde – besuchte uns eines Tages ein protestantischer Pfarrer. Er wollte mit Tante Mariechen, sie war eine Nürnberger Protestantin, ein seelsorgerisches Gespräch führen. Nachdem der Pfarrer gegangen war, stellte ich ihr als Konfirmand, der gerade mit Glaubensfragen vertraut gemacht worden war, unverblümt und direkt die Frage, wie sie es mit der Kirche und mit dem Tod halte. Es stellte sich heraus, dass sie mit der Kirche nichts am Hut hatte. Sie antwortete auf meine etwas taktlose Frage ohne zu zögern: „Ich will tapfer sterben. Ich brauche keinen Pfarrer. Ich mag keinen Pfarrer an meinem Grab.“ Ich staunte. So eine klare Willenserklärung hatte ich von der alten Frau nicht erwartet. Frauen, so glaubte man allgemein, seien eher treue Mitglieder ihrer Kirche und religiöser eingestimmt als Männer. Ihre lapidare Antwort, „tapfer sterben“ zu wollen, erschien mir wie ein in Stein gemeißelter Vorsatz und Protest zugleich gegen das Pastoren- und Sonntagschristentum. Sie starb im Alter von 89 Jahren an einem Gehirnschlag. Ob ihr Wille respektiert wurde, weiß ich nicht. Ich hatte zu dieser Zeit mein Elternhaus bereits verlassen und habe auch an ihrer Beerdigung nicht teilgenommen. Später hätte mich interessiert, was der Grund für ihre energische Abwehr kirchlichen Beistandes und religiös-konfessioneller Rituale gewesen war.

Chapeau Tante Mariechen! Ihre Antwort wurde später zu einer meiner Maximen.

Dank Tante Mariechen? Das wäre eine Verniedlichung meiner Maxime. Noch zu ihren Lebzeiten war ich zweimal direkt mit Sterben und Tod konfrontiert worden, im Jahr 1950, als mein Großvater Mintzel starb, und 1954, als mein Bruder Hein sich das Leben nahm (Blog-Kapitel 10). In dieser Zeit war ich, obschon völlig undogmatisch, noch religiös empfindsam gewesen. Ich war noch von einem naiven Gottesglauben beseelt gewesen und hatte ernsthaft gefragt, ob es ein Leben nach dem Tod gäbe. Ich hatte nachts gehört, wie mein verstorbener Großvater durch die Gänge der Wohnung schlurfte. Ich war sicher gewesen, dass er an meiner Zimmertüre vorbeiging. Mein Bruder Hein war mir viele Male in meinen Träumen erschienen. (Blog-Kapitel 10 und 50). Er war mir so greifbar nahegekommen, dass ich ihn für noch existent hätte halten konnte (Blog-Kapitel 50). Numinoses Fühlen und Denken hatten mich bis weit in die 1950er Jahre hinein manchmal schauern lassen. Mir hatte das wissenschaftliche Wissen gefehlt, die Erkenntnisse der Psychologie, der Gehirnforschung, der natur- und kulturwissenschaftlichen Anthropologie und anderer Fächer, um rationale Antworten auf numinose Anwandlungen und Fragestellungen geben zu können. Ich hatte mich quasi auf einer Zwischenstation zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Religion und Säkularismus bewegt. Das sollte sich erst mit meinem Universitätsstudium ändern. Wie meine geschilderten Begegnungen mit dem Tod bezeugen, veränderte sich mit den Jahren mein Verhältnis zum Geschehen um Sterben und Tod. Stoische Gelassenheit wurde zu einer Grundhaltung.

„Was ich noch sagen wollte…“

Wie es so meine Art als Wissenschaftler und Chronist der Familie war, „protokollierte“ ich nach dem Ableben meiner Mutter ihre letzten Tage, ihre körperliche und geistige Verfassung, einzelne Vorgänge wie letzte Besuche und Gespräche, und insbesondere die Sterbestunden und den Eintritt des Todes. Im Folgenden handelt es sich um eine komprimierte Zusammenfassung meiner Aufzeichnungen.

Meine Mutter, eine von Grund auf religiös eingestimmte Frau, verlangte in den letzten Monaten und Wochen nicht nach einem geistlichen Beistand. Ihr Sterben ereignete sich außerhalb des kirchlich-religiösen Raumes. Was immer sie gedacht, empfunden oder geglaubt haben mochte, sie hatte niemals ausdrücklich um ein christliches Begräbnis gebeten. Jedoch nach christlich-traditioneller Art und evangelischem Ritus beigesetzt zu werden, war für sie selbstverständlich. Und sie wollte, was sie wiederholt als einen festen Wunsch geäußert hatte, nicht eingeäschert werden. Davor hatte sie eine untergründige Angst, die vermutlich aus dem überkommenen leiblichen Auferstehungsglauben herrührte. Von den protestantischen Kirchenliedern waren es zwei gewesen, die sie besonders mochte und an hohen kirchlichen Feiertagen mit religiöser Innigkeit mitsang: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“. Mein Bruder Kurt (1941–2016) hatte dafür gesorgt, dass unsere Mutter kurz vor ihrem Tod in einem Würzburger Pflegealtersheim einen Platz erhalten hatte. Sie lebte dort nur noch vierzehn Tage. Meine Mutter wusste, dass ihr Lebensende gekommen war, sie hatte sich damit abgefunden und wartete gefasst auf ihr Ende. Sie wollte sterben und verweigerte am Schluss die Nahrungsaufnahme. Am 5. März 1994 endete ihr Leben.

Inge Lu und ich hatten sie am Abend des Vortages ein letztes Mal besucht und mit ihr gesprochen. Wir hatten Fotografien mitgebracht von den Dingen, die sie so sehr geliebt hatte: Ihre alte Nussbaumkommode, ein Glasschränkchen mit Porzellan, eine antike Vitrine und andere Antiquitäten. Über ihr Gesicht war der Anflug eines Lächelns geglitten. Mit einem wehmütigen Blick auf die Bilder hatte sie Abschied von ihren „Preziosen“ genommen. „Das waren schöne Sachen“, hatte sie geflüstert, und am Ende mit kaum mehr hörbarer Stimme die Worte gehaucht: „Was ich noch sagen wollte…“  Der Satz brach ab, sie blickte uns unverwandt an und schwieg. Sie schien irgendwo den verlorenen Einfall zu suchen, richtete dann ihren Blick auf mich, er kam aus einer für mich nicht fassbaren Tiefe. Von weit her schien sie mich anzusehen, sie war anscheinend schon weit weg. Ich sah in ihrem Gesicht keine Anzeichen von Todesangst, nur Gefasstheit und Bereitschaft zum Sterben. Es war ihr wichtig gewesen, ihren Nachlass an schönen Dingen in guten Händen zu wissen. Sie hatte darin offenbar eine kleine Garantie gesehen, in Erinnerung zu bleiben und in den Dingen fortzuleben. Als wir gingen, verabschiedete sie sich stumm mit einem verlorenen Blick, hob leicht ihren Arm und winkte uns einen Gruß zu.

Es sollte ihr letzter sein. Meine Mutter starb tags darauf am Abend des 5. März.


Käthe Mintzel, geb. Pöller, 1913–1994

Als Inge Lu und ich benachrichtigt wurden, dass meine Mutter im Sterben liege, war es schon zu spät, sie noch einmal bei vollem Bewusstsein anzutreffen. Sie war bereits ins Koma gefallen. Das Pflegepersonal hatte, als die letzte Sterbephase eingesetzt hatte, auf einem Tisch eine Kerze angezündet und ein Kreuz dazugelegt. Niemand von uns wäre allerdings auf die Idee gekommen, ein Gebet zu sprechen, jedenfalls kam aus keinem Munde eine Anregung dazu. Wir traten ans Bett und beobachteten den Fortgang des Sterbeprozesses. Die Augen, die bereits gebrochen waren, bewegten sich unruhig hin und her, als suchten sie nach einem letzten Blickkontakt. Die Pupillen schienen wie von einer Mattscheibe unterlegt zu sein. Sie sah uns nicht mehr. Das Pflegepersonal hatte das Gerät, das ihr das Atmen erleichtern sollte, abgenommen. Meine Mutter atmete schwer und stoßweise, was allmählich schwächer wurde. Ich setzte mich an ihr Bett und nahm ihre schon leblose Hand in meine Hände, um sie zu beruhigen und ihr das Gefühl zu geben, dass wir bei ihr waren. Ich streichelte ihre Wangen, strich sanft über ihre Stirn, küsste sie und sprach mit ihr leise ein paar Worte. Es schien anfangs, als hörte sie mich noch. Ein ungeheuer tiefer Ernst lag auf diesem Moment. Ich notierte: „Am Spätnachmittag hatte auf der Westseite des Hauses der Raum im matten Licht gestanden. Kalendarischer Sonnenuntergang 18.09 Uhr. Draußen ein winterblauer Abendhimmel, durchzogen von dunklen Wolkenstreifen. Der Strahl der untergehenden Sonne traf ins Innere des Raumes (…). Im Gelände vor dem Zimmer standen Büsche und Bäume. Eine Meise flog zu einem Futterhäuschen. Im Raum der leiser werdende Atem der Sterbenden. Beklemmende Stille im Familienkreis. Unsere jüngste Tochter, Caroline, die an diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war, stahl sich, überwältigt von ihren Gefühlen, leise aus dem Zimmer. Abendhimmel, Sonnenuntergang, letztes Licht des Tages, ein verlöschendes Leben. Kaum war die Sonne hinter dem Horizont versunken, starb Mama ruhig und friedlich um 18.04 Uhr.“

„Du warst tapfer, Mutter“

Wir Geschwister waren tief beeindruckt, wie gefasst, klar und ergeben unsere Mutter ihrem Tod entgegengegangen war. Mein Bruder Kurt sagte zu ihr, als der Tod schon eingetreten war: „Du warst tapfer, Mutter! Du hast Dich tapfer durchs Leben geschlagen.“ Und weinte. Unsere Mutter hatte in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein entbehrungsreiches Leben durchgestanden, mit äußerst knappen Mitteln auskommen, Demütigungen ertragen und häusliche  Gewalt aushalten müssen. Die schlimmen Zeiten hatten an ihren Kräften gezehrt. Sie hatte im Haushalt unter engen Raumverhältnissen unseren Großvater und zwei alte Tanten mitversorgt. Erst seit den 1960er Jahren hatte sie in einer relativ entspannten Familiensituation zu sich kommen und bisher unterdrückte Neigungen entfalten können. Mit großem Vergnügen war sie in den 1970er Jahren bei ihren Besuchen in Berlin stundenlang im Bayerischen Viertel und in den Straßen rund um den Kudamm in Antiquitätenläden auf Schnäppchen-Jagd gegangen. Meiner Mutter war eigentlich eine Frohnatur mit in die Wiege gegeben worden, gesellige Lebensfreude und Verspieltheit. War sie bei schönem Wetter ausgegangen, hatte sie nach Art prominenter Filmdiven stets einen ihrer breitkrempigen Hüte getragen. Sie hatte ihren Hut, worüber ich mich geärgert hatte, auch im Kino nicht abgesetzt, so dass Personen in den Reihen hinter ihr die Sicht auf die Leinwand genommen war. Bei Regenwetter hatten ihr ein halbes Dutzend alter, plüschiger Damenschirme an der Tür zur Auswahl gestanden. An Zimmerwänden hatten goldgerahmte Modebilder gehangen, kolorierte Reproduktionen, die vergangenen Damenmoden zeigten. Ihre Lust am „Kostümieren“ hatte sogar ihre Enkelinnen amüsiert. Besuchten wir Großmutter Mintzel, hatten sie Spaß daran, in Omas „Requisiten“ aufzutreten.

Meine Mutter hatte gern Freunde und Bekannte um sich geschart und am Nachmittag die Türe für Besucher offengehalten. Sie hatte mit hellem Lachen und heiterem Plaudern ihre Gäste so manchen Kummer vergessen lassen. Diese relativ unbeschwerte Lebensphase war in den 1980er Jahren zu Ende gegangen. Sie war mit der Versorgung und Pflege meines Vaters überfordert gewesen, der 1986 in einem Rotkreuzheim einsam gestorben war. Eine äußerst schmerzliche Arthritis und Altersgebrechen hatten sie selbst zu einem Pflegefall werden lassen.

Meinem Bruder Kurt, der mit seiner Familie in der Nähe gewohnt hatte, war die Rolle des Helfers und Pflegers zugefallen. Er hatte sich in rührender Weise um unsere Mutter gekümmert und seine Betreuung als selbstverständliche Sohnespflicht wörtlich so begründet: „Als wir Babys waren, hat unsere Mutter unsere Popos abgewischt und die Windeln gewaschen. Jetzt, wo sie alt und hilflos ist, wische halt ich ihren Po ab.“

Kurt war der vom Leid geprüfte Vater gewesen, dessen Sohn Christian zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern am 26. Dezember 2004 vom Tsunami in den Tod gerissen wurde (Blog-Kapitel 36 und 37). Seine jüngste Enkelin, Jule Mintzel (2001-2004), wurde bis heute nicht gefunden. Sterben und Tod als geophysikalisches Zufallsereignis! Sinnfragen drängten sich auf. Kurt zerbrach seelisch an dem schauderhaften, sinnlosen Verlust. Er wollte, wie er später einmal sagte, zu seinen Kindern gehen, deren Urnen in Nürnberg auf dem Sankt Johannisfriedhof im Familiengrab Mintzel 2005 beigesetzt wurden.

Ich war bei aller Trauer und Bedrücktheit froh, dass ich meiner Mutter in ihren Sterbestunden zur Seite stehen konnte. Ich war ihr erster und ältester Sohn. Sie hatte mich liebevoll und geduldig aufgezogen, dabei hatte ich ihr viel Kummer bereitet. Sie hatte große Ängste ausgestanden, als ich in den ersten Nachkriegsjahren zu einem notorischen Schulschwänzer und Ausreißer geworden war (Blog-Kapitel 6 und 9). Ich hatte ihr wiederholt übel mitgespielt. Später, nachdem ich zu beruflichen Ehren gekommen war, hatte ich mir zu wenig Zeit für ihre Lebensfragen genommen, ihre Gebrechlichkeit nicht ernst genug eingeschätzt und ihr nicht beigestanden, als sie meine Hilfe gebraucht hätte. Ich kann nicht mehr gutmachen, was ich ihr an Sorgen bereitet und mit meinem Unverständnis angetan habe. Der Tod macht alles endgültig.

Ein Sträußchen verblichener Kunstblumen für das Reich des Todes

Eine Krankenschwester kam herein, und ich band mit ihrer Hilfe das Kinn hoch. Im Beisein von Kurt und Inge Lu zog ich meiner Mutter behutsam einen schmalen silbernen Ring vom Ringfinger und nahm ihn an mich. Inge Lu gab ihr einen kleinen Strauß Kunstblumen, der irgendwo im Zimmer gestanden und aus Mutters Wohnung gestammt hatte, in die Hände und legte einen kleinen Engel dazu. Der Engel hatte meiner Mutter viele Jahre als Weihnachtsschmuck gedient – kleine, an sich wertlose, aber emotional hoch besetzte Dinge, die nun ihren letzten Sinn und Zweck erhielten. Sie sollten meine Mutter ins Grab begleiten. Es war eine spontane Ehrenbezeugung wie sie schon vor vielen Jahrtausenden gepflegt worden war, dem Toten Dinge mit hinüberzugeben in die ewige Vergessenheit. Zwei Pflegeschwestern und ich schoben das fahrbare Totenbett aus dem Zimmer in einen anderen Raum hinein, wo die Verstorbenen verbleiben bis sie eingesargt und abgeholt werden. Inge Lu und Kurt gingen hinterher. Wir wurden gebeten, den Raum für einen Augenblick zu verlassen. Mama wurde in eine Art „Gefriertruhe“ [eine Art Kühlbox – A. M.] gelegt und der Plexiglasdeckel geschlossen. Als wir noch einmal den Raum betreten durften, bemerkte ich, dass noch eine zweite „Gefriertruhe“ im Raum stand, in der eine andere Tote lag. Diese hatte runde, weiße Watteschscheibchen auf ihren Augenlidern, die im dämmerigen Licht des Raumes wie gespenstisch-starr aufgerissene Augen wirkten.  Meiner Mutter waren ebenfalls solche Scheibchen aufgelegt worden. Ich kenne nicht die Bedeutung dieser Vorkehrung. Die Pflegeschwestern hatten Inge Lus Sträußchen verblichener Kunstblumen in die gefalteten Hände gelegt und den kleinen Weihnachtsengel dazu gegeben. Wir warfen einen letzten, wehmütigen Blick auf unsere Mutter und verließen den Raum. Die Schwestern schlossen die Flügeltüren zum dunklen Reich des Todes.

Meine Mutter wurde, wie sie es gewünscht hatte, auf dem Nürnberger St. Johannisfriedhof kirchlich begraben. Ich gab dem Pfarrer für seine Aussegnungspredigt eine Lebensbeschreibung zur Hand. Als die Friedhofangestellten den Sarg an Gurten ins Grab hinabsenkten, entglitt einem der Männer für einen Moment der Gurt. Der Sarg geriet in eine Schieflage und drohte zu kippen. So wurde meine Mutter, wie oftmals in ihrem Leben, selbst noch im Tod durchgeschüttelt.

Ganz anders verstarb, um es hier kurz einzufügen, 1999 Inge Lus Mutter, Luise Schaltenbrand (1898–1999), im Alter von 101 Jahren. „Das Sterben ist so schwer“, sagte sie in ihren letzten Lebenstagen und stemmte sich seufzend und röchelnd gegen den Tod. Sie hatte eine ungewöhnlich zähe Vitalität und wollte nicht sterben. Im Methusalem-Alter hatte sie gewitzelt, der Tod habe vergessen sie abzuholen, und als er dann kam, sträubte sie sich mitzugehen. Inge Lu ließ mich – sie war in Würzburg, ich in Passau – an dem Geschehen telefonisch teilnehmen. Erst ganz am Schluss gab Inge Lus Mutter mit zwei Stoßseufzern auf. Am 5. Februar 1999 wurde die Urne nachmittags um 15.00 Uhr bei stürmischen Wetter beigesetzt. Ein Orkan zog über Unterfranken hinweg in Richtung Südostbayern. Um 15.19 Uhr erhellte ein Blitzstrahl Passau. Darauf folgte ein heftig knallender Donnerschlag. Es war, als wäre meine Schwiegermutter aus der Urne gefahren, um sich mit Blitz und Donner noch extra von mir zu verabschieden. Ich hatte mit ihr so manchen Strauß ausgefochten. Das gleichzeitige Naturschauspiel fand ich einer besonderen Notiz Wert (Notizen & Skizzen, Band 6), obschon mir eine magische Weltsicht fremd ist. Knall und Fall aus dem Leben zu scheiden, wäre mir lieber als ein tagelanges qualvolles Ringen mit dem Tod. Das möge mir erspart bleiben.

„Wir alle sind Sternenstaub“

Für alle diejenigen, die nicht an ein Leben nach dem Tod und an die verheißene Auferstehung glauben, halten die Astrophysik und moderne Kosmologie eine griffige und elegante Formel und in gewisser Weise eine schöne Tröstung bereit: „Wir alle bestehen aus Sternenstaub.“ Der Körper des Menschen besteht im wahrsten Sinne des Wortes zur Gänze aus Sternenstaub, der aus der Asche explodierender Sterne stammt. Das Universum steht uns doch näher, als unser irdischer Alltag vermuten lässt (Harald Lesch). In lokalen Verdichtungen unvorstellbar riesiger Sternenstaubnebel sind vor etwa fünf Milliarden Jahren auch unsere Sonne und ihre Planeten geboren worden. Sämtliche chemische Elemente sind in Sternen durch Kernfusion aus Wasserstoff und Helium entstanden. Der menschliche Körper besteht zu fast 100 Prozent aus den gleichen chemischen Elementen, wie sie in der Materie der Sterne vorkommen. Alle Objekte unseres Sonnensystems und somit jedes Lebewesen unserer Erde bestehen aus Atomen aus dem Kosmos. Das Eisen in unseren Blutzellen, der Sauerstoff in der Luft, die wir einatmen, der Kohlenstoff und Stickstoff in unserem Gewebe und das Kalzium in unseren Knochen haben ihren Ursprung in zahlreichen Sonnen. Es gäbe uns nicht, wenn sich nicht vor Milliarden von Jahren Sonnen zu Supernovae aufgebläht hätten und explodiert wären. Kraft neuester Erkenntnisse der Astrophysik und Kosmologie werden uns auf die großen Lebensfragen alternative Erklärungen geboten, die unseren modernen Bedürfnissen nach einer aufgeklärten Weltsicht mehr entsprechen als die alten Schöpfungsmythen und heilsgeschichtlichen Verheißungen. Die moderne astronomische Forschung geht davon aus, dass jedes Atom unseres Körpers im feurigen Kern eines Sterns entstanden ist. Die geradezu poetische Formulierung, wir seien „Sternenkinder“, erleichtert es uns, fast heiter zu sagen, dass unser menschliches Dasein, Geborenwerden, Wachsen, Sterben und Tod einer kosmischen Gesetzlichkeit folgen. Sternenleben und stellare Zyklen und irdisches Leben und seine Zyklen stehen in einem unaufhebbaren Zusammenhang.  Die poetische Formulierung zaubert uns zurück in unseren kosmischen Ursprung. Ich muss gestehen, dass diese Vorstellung bei mir eine stoische Gelassenheit bestärkt. Manche Naturwissenschaftler setzen der astronomischen und astrophysikalischen Sternenstaub-These vorsichtig ein „im weitesten Sinne“ hinzu, um die Ursprungsthese nicht sprachlich ganz zu verniedlichen. Der prominente britische Astronom und Astrophysiker Martin Rees (http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Rees – abgerufen am 22.02.2018), der seit 1995 das prestigereiche Amt des „Astronomer Royal“ innehatte und Präsident der ältesten Gelehrtengesellschaft der Welt war, der Royal Society (2005–2010), nahm in einem Interview der Formel ihren poetisch-romantischen Nimbus, indem er sie negativ umformulierte: Wir könnten uns auch als „stellaren Atommüll“ bezeichnen (http://www.zeit.de/2008/31/Klein-31 – abgerufen am 07.02.2018). Mit unserem Sterben und unserem Tod zerfallen wir in unsere atomaren und molekularen Bestandteile und kehren als solche in den kosmischen Kreislauf zurück.

Was aber geschieht mit der Person Alf Mintzel, mit meinem „Ich“? Es zerfällt ebenso wie sein materielles Substrat. Was auf der Ebene der kulturellen und individuellen Evolution von mir bleibt, ist der Anteil und Niederschlag meines kulturellen Daseins und Wirkens, der Meme, wie gering sie auch immer sein mögen.

Also: Tapfer sterben! Kein Sträuben, kein Hadern und Aufbegehren, kein Jammern und Klagen! Keine theologischen Placebos! Gelassenheit.

Ein Kommentar

  1. Eine „runde“ Geschichte darüber, wie der Tod geboren wird, geboren werden kann – Danke fürs Teilen und Teilhaben lassen!

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