2. Im Schatten des Hakenkreuzes geboren

Ich wurde im Schatten des Hakenkreuzes geboren, im Jahr der berüchtigten „Nürnberger Gesetze“. Der NS-„Rassengrundsatz“ lautete: „Die im nationalsozialistischen Denken verwurzelte Auffassung, dass es oberste Pflicht eines Volkes ist, seine Rasse von fremden Einflüssen rein zu halten und die in den Volkskörper eingedrungenen fremden Bluteinschläge wieder auszumerzen, gründet sich auf der wissenschaftlichen Erkenntnis der Erblehre und Rassenforschung.“ Der zynische Gehalt dieser pseudowissenschaftlichen Rassenlehre wurde bald in der staatlich organisierten Vernichtung sichtbar.

Ich gehöre als Jahrgang 1935 zu einer „Zwischen“-Generation, einer Generation zwischen der, die in ihrer Mehrheit dem Nationalsozialismus erlegen war, und der sogenannten Nachkriegsgeneration, die den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit nur mehr vom Hörensagen kannte. Mich prägten in den 1940er und 1950er Jahren die Nazi-Zeit, der Hunger, eine vom Krieg zerstörte Welt und die Widersprüchlichkeiten der Nachkriegszeit. Die Zeit zwischen Stalingrad und Währungsreform, zwischen Kriegsende und Koreakrieg, das war die Zeit meiner Kindheit und Jugend.

Kinder der NS-Generation und der NS-Mitläufer wollten keinen Schatten auf ihre Väter und Mütter fallen lassen. Sie legten sich nach ihren Wünschen ein Idealbild der Väter zurecht, deuteten deren Handlungen um und rückten sie in ein milderes Licht, um sich mit ihnen identifizieren zu können. Ich will nicht in diese Wunschbild-Falle laufen, sondern mich der Wahrheit stellen. Wir haben gelernt, man solle über den Verstorbenen nicht schlecht, sondern in würdiger Weise reden („De mortuis nil nisi bene“). Wie soll ich also mit der NS-Vergangenheit meines Vaters umgehen? Ich folge der Auffassung Voltaires: „Dem Lebenden schulde man Rücksicht, dem Toten die Wahrheit.“ Ich habe versucht, die Wahrheit herauszufinden, und werde mit Rücksicht auf die Würde einer Person berichten, sei sie Täter oder Opfer, sei sie nur widerwilliger Mitläufer oder erklärter Mitträger des Unrechtsregimes gewesen. Es steht uns heute nicht unbedingt zu, über die Verirrungen und Verwicklungen dieser politischen Generation mit unserem heutigen Geschichtswissen auftrumpfend Gericht zu halten. Aber wir müssen mit den immer noch wirksamen Tabus brechen, die uns zurückhalten, sich mit den Untaten unserer Väter und Großväter öffentlich auseinander zu setzen.

Das fränkisch-protestantische Bürgertum war mehrheitlich dem Nationalsozialismus und dem Führer verfallen. Alle um die Jahrhundertwende 1899/1900 geborenen fränkischen Mintzels gehörten zu diesen Verblendeten. Auch mein Vater war ein überzeugter und enthusiastischer Nationalsozialist. Ich müsste es um der Wahrheit willen noch schärfer ausdrücken: Mein Vater gehörte zu den Abermillionen Deutschen, die der nationalsozialistischen Ideologie verfielen und durch ihre Gesinnung und durch ihr Handeln den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der NS-Diktatur willentlich mit herbeiführten und dann faktisch die NS-Todesmaschinerie am Laufen hielten.

Schon in seinen Jugendjahren war mein Vater, Jahrgang 1906, dem Aufruf der Völkisch-Nationalen gefolgt und hatte sich früh politisch-nationalistisch engagiert. Er ging den radikalen nationalistischen Parolen Hitlers schon auf den Leim, als Hitler in der rechtsradikalen Szene Münchens noch ein fast Unbekannter war. Als am 8. März 1922 im „Völkischen Beobachter“ ein Aufruf zur Gründung von NS-Jugendabteilungen erschien, gehörte mein Vater in Franken zu den ersten, die einen Aufnahmeantrag nach München sandten. Er gründete, noch nicht einmal sechzehn Jahre alt, mit einer kleinen Schar Gleichgesinnter die Nürnberger NS-Jugendgruppe. Als Hitler 1922 mit Anhängern zum ersten „Deutschen Tag“ mit der Eisenbahn nach Coburg fuhr und dort ins Zentrum marschierte, stieg mein Vater in Nürnberg zu und schloss sich der Bewegung an. In Coburg kam es zu Schlägereien und Steinwürfen zwischen Hitler-Anhängern und Kommunisten. Mein Vater lief begeistert hinterher und beteiligte sich an den Rangeleien, wobei er kräftig verdroschen wurde. Mit geschwellter Brust kehrte er nach Nürnberg zurück und begann für die Hitler-Bewegung zu agitieren. Am 16. November 1922 wurde er zum Gauführer für Nordbayern ernannt. Er war nicht nur ein jugendlicher Mitläufer, der zufällig zur NS-Bewegung gestoßen war, sondern ein glühender Aktivist und Draufgänger. Der „Marsch auf Coburg“ wurde bald zu einem nationalsozialistischen Mythos.

Mit Hitler in Coburg 1922/1932; Abzeichen für Teilnehmer des Deutschen Tages in Coburg am 14./15. Oktober 1922; Konvex aus Bronze geprägt, 55,4 x 39 mm.
Das Coburger Ehrenzeichen gehörte zu den höchsten Auszeichnungen der NSDAP, das nur 422 bis 436 „alte Kämpfer“ erhielten.
Bearbeitete Darstellung; Bildgrundlage: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Coburger_Ehrenzeichen.jpg    Creator: PimboliDD

Die Teilnehmer, so auch mein Vater, erhielten später das Coburger Abzeichen „Mit Hitler in Coburg 1922-1932“. Noch in den 1950er und 1960er Jahren erzählte mein Vater stolz davon, am Marsch teilgenommen zu haben und dafür ausgezeichnet worden zu sein. Bei seiner „Entnazifizierung“ vor der Spruchkammer im Februar 1948 wurde diese Tat als Jugendsünde abgetan.

In seiner Studentenzeit an der Universität Erlangen und als „Alter Herr“ der schlagenden Burschenschaft „Frankonia“ nahm er an den pseudoreligösen „braunen Wallfahrten zum Heiligen Berg der Franken“ (Thomas Greif, 2008) teil, an Ausflügen zum Hesselberg. Dieser Berg, eine bewaldete Höhe, die in Westmittelfranken liegt, war zu einer Kultstätte des Nationalsozialismus in Franken geworden. Der „Frankenführer“ Julius Streicher hielt dort seine antisemitischen Hetzreden.

Ja, mein Vater hat auch noch nach dem Zusammebruch der Zivilisation und der Katastrophe, die das verbrecherische NS-Regime zu verantworten hatte, den Aufstieg des Nationalsozialismus verherrlicht. Wie gehe ich damit um? Achtung vor dem Menschen und seinen Irrtümern gebietet sich auch dort, wo Zweifel an der Haltung oder sogar ein böser Verdacht aufkommt, er könnte noch mehr in die unsäglich grausamen Vorgänge verwickelt gewesen sein. Mein Vater war es meines Wissens nicht. Er war im Krieg an keinen Exekutionen beteiligt, er stand wohl nicht im Dienst der Geheimen Staatspolizei, er lieferte wohl niemanden ans Messer der NS-Mörder. Dennoch war mein Vater, ein gescheiter und belesener Mann, engagierter Mitläufer und Maulheld-Propagandist der Nazis, ein rassistischer Antisemit, der seinen Antisemitismus lauthals kundtat. Meine Mutter redete meinem Vater nach dem Munde und hielt für richtig, was der Haustyrann als „reine Wahrheit“ verkündete. Warum? Immer wieder quält mich diese Frage, wenn ich an die Jahre der NS-Zeit und an den Krieg zurückdenke. Meine Kindheit wurde dadurch geprägt.

Hätte nicht auch mir später die ideologische Verblendung zum Verhängnis werden können, wäre ich nur einige Jahre älter gewesen? Hätte nicht auch aus mir ein Täter werden können, wäre ich am Anfang des 20. Jahrhunderts geboren worden? Auch in meiner Persönlichkeitsentwicklung gab es „dunkle Vorgänge“, verwerfliches Handeln und viel Fragliches. Die eigene Schwachheit einzugestehen, auch wenn es sich nicht um Gewalttaten gedreht hat, dazu ermahnt im Alten Testament, im Ersten Buch von den Königen, der vierte Vers des 19. Kapitels: „Ich bin nicht besser denn meine Väter.“

Im September 1941 wurde ich in Nürnberg in die „Hans-Schemm-Schule“ am Bielingplatz eingeschult, benannt nach dem ersten NS-Gauleiter des Gaues Bayerische Ostmark. Vor dem Schulgebäude steht eine Reihe hochgewachsener Pappeln mit silbergrauen Herzblättern. Im Zweiten Weltkrieg musste ich nach Siegen der deutschen Wehrmacht auf dem Schulhof zum nationalsozialistischen Flaggenappell antreten und das Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“ singen. Ich wurde im Elternhaus und in der Schule noch ganz im Sinne des Nationalsozialismus indoktriniert. Mein Werdegang zu einem forschen HJ-Führer war geradezu vorgezeichnet, wäre ich ein paar Jahre älter gewesen. In den letzten Kriegsmonaten wurden schon Fünfzehnjährige zu den Waffen gerufen und in sinnlosen Kampfaktionen verheizt. Ich hatte das Glück, zwei Tage nach meinem zehnten Geburtstag von der US-Armee „befreit“ zu werden; doch diese Einsicht war späteren Jahren vorbehalten.

Das Verschwinden der Juden

Ich erinnere mich noch daran, obgleich nur ein blasses Erlebnisbild zurückgeblieben ist: Es war zur Zeit meiner ersten Einschulung im September 1941. Ich war sechseinhalb Jahre alt. Es könnte auch erst im Oktober 1941 gewesen sein, als ich den letzten Juden verschwinden sah. Meine Erinnerung deckt sich jedenfalls mit den Angaben der Zeitgeschichte: Im September/Oktober 1941 begann die Deportation der Juden.

Nürnberg–Nord. Rieterstraße, eine Straße mit alten Häusern aus der letzten Jahrhundertwende. Das Wohnhaus, in dem meine Familie lebt, ist 1906 erbaut worden. Später hörte ich, dass dieses Haus und andere in der Straße in jüdischem Eigentum gestanden haben soll. Ich sehe mich noch als kleinen Jungen auf der Straße laufen. Als Ältester von fünf Geschwistern schickt mich meine Mutter im Spätsommer oder Herbst 1941 mal wieder zu den nächstgelegenen Läden zum Einkaufen: Zum Milchmann Wasner in der Bucherstraße, zum Gemüseladen Schmittlutz und zum Bäcker Albin, der in unserer Straße schräg gegenüber im Hinterhaus seine Bäckerei und im Vorderhaus seinen Laden führt. Der Einkauf in diesen drei Läden gehört zu meinen ersten Pflichten, meine Mutter schickt mich häufig mit vorher abgezählten Pfennigen und einem Merkzettel hin, mit einem Aluminiumkrug zum Milchhändler, mit einer Netztasche zum Gemüsehändler, mit einer Einkaufstasche zum Bäcker. Ich sehe mich aus dem Haus auf die Straße treten, eine Leinentasche in der Hand. Ich sehe mich die Straße überqueren, die damals noch mit Kopfsteinpflaster belegt ist. Auf dem Weg hinüber zum Gehsteig auf der anderen Seite schaue ich, von den Eltern als Verkehrsregel eingeschärft, nach rechts. Die Gefahr von einem Auto überfahren zu werden, war damals noch sehr gering. So sehe ich, wie in wenigen Metern Abstand von mir ein Jude über die Straße geht. Der gelbe Davidstern an seiner Jacke sagt mir augenblicklich: Das ist einer! Mit sechseinhalb Jahren weiß ein Kind, der mit dem Davidstern, das ist ein Jude. Und mir ist wohl die Verhaltensregel eingeimpft worden: Halte dich fern! Mit „denen“ haben wir nichts zu tun! Der Jude ist hager, sein Gesicht ist fahl, seine Kleidung ärmlich. Er trägt einen grauen zerknitterten Anzug, der an der dürren Gestalt hängt. Er geht nicht aufrechten Ganges, er huscht etwas geduckt, verängstigt. Sein Blick streift mich kurz, als dürfe er mich nicht ansehen. Ich nehme sein verunsichertes Verhalten wahr, seine Scheu, seinen bedrückten Gesichtsausdruck. Mehr kann ich nicht sehen. Ich weiß nicht, wie entrechtet, ausgegrenzt und gedemütigt dieser Jude bereits ist. Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie wird ihn vermutlich bald auslöschen. Ich begegne das letzte Mal einem Juden auf der Straße – plötzlich sind sie alle „verschwunden“. Ich glaube nicht, dass ich damals gefragt habe, wohin die mit dem Davidstern gegangen sind. „Die“ waren einfach nicht mehr da. Aus meiner Kinderperspektive ergaben sich daraus keine Fragen. Ich hatte ja keinen persönlich gekannt, kein gut nachbarschaftliches Miteinander erlebt. Also fehlte keiner von „denen“ in meiner kleinen Lebenswelt. Als ich eingeschult wurde, war die Schule schon arisiert. Wir hatten keine jüdischen Mitschüler mehr.

Die Sprache der Nazi-Propaganda

Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels machte Rundfunk und Film zu Medien nationalsozialistischer Propaganda. Die Kriegswochenschauen, die in Lichtspielhäusern und Filmpalästen liefen, waren gut besucht. Es gab noch kein Fernsehen. Ich erinnere mich noch an diese Wochenschauen, obschon diese Besuche über sechzig Jahre zurückliegen. Ich sehe mich 1942 als kleiner Junge in Nürnberg auf dem Weg zur „Bilderbühne“ am Tiergärtner Tor. Ich gehe von der Rieterstraße über die Bucherstraße zur Jagdstraße und dann hinauf zum Tiergärtner Tor. Gegenüber der Burgmauer öffnet die so genannte „Bilderbühne“, ein Kino, wöchentlich am Sonntagvormittag um elf Uhr ihren Einlass zur Wochenschau über das Kriegsgeschehen. Der Eintritt kostet fünfzig Pfennig. Meine Eltern gestatten mir – das verrät ihre politische Einstellung – diesen Kinobesuch. Es gehört zu meinen Sonntagsvergnügen, die Kriegsfilme der UfA zu verfolgen. Ich erinnere mich an die bequemen Sitze des Lichtspielhauses. Spannung. Es ist aufregend, das Kriegsgeschehen mitzuerleben. Die Kriegsberichterstattung ruft in mir jedes Mal ein starkes Kriegserlebnis hervor. Am meisten imponieren mir die Angriffe der „Stukas“, der deutschen Sturzkampfbomber, auf feindliche Ziele, das Dröhnen der Motoren, der entschlossene Blick der Piloten, der Befehl, das Aufheulen der Motoren, der Sturzflug, das Ausklinken der Bomben, die Einschläge irgendwo unten. Ich sehe im Film die Panzer rollen, Infanterieeinheiten vorwärts marschieren und höre die Soldaten singen: „Die Räder, sie rollen nach Osten! Die Räder, sie rollen für den Sieg!“ So zumindest ist mir der Text im Gedächtnis geblieben. So etwas geht ein Leben lang nicht aus dem Kopf. Die Wirkung der NS-Propagandafilme erfahre ich am eigenen Leib. Ich bin begeistert und werde von der Bildersprache mitgerissen: „Großkampftag“, „Helden“, „Heldentod“, „Endsieg“, die Kampfparolen hallen nach. Zuhause spiele ich meine Kriegserlebnisse mit Spielsoldaten nach, mit deutschen Wehrmachtsoldaten aus Bakelit in Kampfuniform. Die einen werfen Handgranaten, andere mähen imaginäre Gegner mit Maschinengewehren nieder, wieder andere marschieren in voller Ausrüstung selbstverständlich nur vorwärts und gegen Osten. Die Nürnberger „Bilderbühne“ wurde bald von einer Bombe getroffen und zerstört.

In den Nachkriegsjahren nahm ich wahr, wie tief die Nazi-Propaganda in meine Sprache eingedrungen war. Ich erkannte sie in allen Ritzen meines Denkens wieder. Ich sprach vom „inneren Reichsparteitag“, wenn mir eine Sache gut gelungen war und mich zufrieden machte. Ich ärgerte mich über Dinge und Vorgänge „bis zur Vergasung“. Ich nannte Tage, an denen mühsame Arbeiten verrichtet werden mussten „Großkampftage“. Bei Geheimniskrämereien legte ich den Zeigefinger auf die Lippen und sagte „Pst, Feind hört mit“! Ich hatte noch lange die Nazi-Lieder im Ohr, das Horst Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt“ und die Soldatenlieder, die im Krieg jeden Tag im Volksempfänger zu hören waren. Ich schmetterte, wenn ich fröhlich war, das Fliegerkampflied von den „Bomben auf Engeland“ vor mich hin: „Hörst du die Motoren? Ran an den Feind! Bomben, Bomben, Bomben auf Engeland!“ Die Kampf- und Propaganda-Sprache der Nazis hatte in vielen Redewendungen und Begriffen von unseren Köpfen Besitz ergriffen. War vom Jazz die Rede, schwang immer das Vorurteil mit, es handle sich um lärmende „Negermusik“. Mein Vater hatte uns strikt verboten, zuhause „Negermusik“ zu hören. War von „den Russen“. „den Pollacken“, „den Juden“ und von „den Zigeunern“ die Rede, schwang immer mit, das seien „Untermenschen“ oder zumindest schmutzige, übelriechende Kreaturen, die man sich am besten vom Leib hält – wie Ungeziefer. Entsprachen Gemälde und Bilder nicht den Spießernormen, dann war es „entartete Kunst“. Vieles wurde auch nach dem Krieg noch für „entartet“ gehalten. Es war deprimierend zu bemerken, wie leicht uns die Sprache der Nazis von den Lippen ging. Ich verpflichtete mich später selbst dazu, in einem reflektierten Reinigungsprozess mein Gehirn sprachlich vom Nazi-Wortschatz zu befreien. Noch immer treibt er in meinen Erinnerungen sein Unwesen.

Morgen kommt der Weihnachtsmann“

Jeder hatte es gekannt, jedes Kind hatte es gesungen: „Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben“. Eine alte Volksweise, wie es so hübsch und harmlos hieß. Ich höre sie noch heute aus dem Mund meiner Mutter klingen, die uns in der Weihnachtszeit dieses Lied vorsang. Die Volksweise war ein kriegerisches, militaristisches Lied. Der Text stammt von Hoffmann von Fallersleben, der auch das Deutschlandlied schrieb. Von Fallersleben unterlegte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der alten Volksweise in patriotischem Geist einen kriegerischen Text, der später zur Weihnachtszeit nationalliberale, deutschnationale wie überhaupt patriotische Herzen höher schlagen ließ:

Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben:
Trommel, Pfeifen und Gewehr,
Fahn‘ und Säbel und noch mehr,
ja ein ganzes Kriegesheer
möchte ich gerne haben.
Bring uns lieber Weihnachtsmann,
bring auch morgen, bringe:
Musketier und Grenadier,
Zottelbär und Panthertier,
Ross und Esel, Schaf und Stier,
lauter schöne Dinge!
Doch du weißt ja unsern Wunsch,
kennst ja unsere Herzen!
Kinder, Vater und Mama,
auch sogar der Großpapa,
alle, alle sind wir da,
warten dein mit Schmerzen.

Alle haben, so will es das Lied glaubhaft machen, den Wunsch, vom Weihnachtsmann bewaffnet zu werden, sogar die Frau Mama. So war es das damals tatsächlich. Am „Heiligen Abend“ bekam ich Bakelit-Soldaten, Panzerwagen und Kriegsschiffe. Deutschland musste erst die zweite Katastrophe erleiden, um den Weihnachtsmann zu entwaffnen, die „alte Volksweise“ zu entmilitarisieren und schließlich den Wirtschaftswunder-Kindern einen neuen Text auf den Leib zu schreiben:

„Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben.
Puppen, Pferdchen, Sang und Spiel,
und auch sonst der Freude viel.
Ja, o welch ein Glücksgefühl
Könnt´ ich alles haben.

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