3. Und am nächsten Morgen fehlen Kinder

Luftangriffe auf Nürnberg

1942. Nürnberg im dritten Kriegsjahr. Ehemalige Freie Reichsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, jetzt „Stadt der Reichsparteitage“, ein Zentrum des Nationalsozialismus in „Großdeutschland“.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohnen direkte Nachkommen der Druckerdynastie Mintzel, die Familie meines Vaters und Verwandte, in der alten Reichsstadt. Wir wohnen in Nürnberg-Nord in der Rieterstraße 6 oben im dritten Stock. Die Straße liegt etwa einen halben Kilometer außerhalb der Stadtmauern, quer zur Bucherstraße, die hinausführt in das so genannte Knoblauchland. Das Wohnhaus ist wie die meisten an dieser Straße gelegenen im Jahre 1906 erbaut. Das vierstöckige Gebäude aus massiven grauen Keupersandsteinen ist mit Ziegelsteinen unterkellert. Ein großräumiges Bürgerhaus mit repräsentativen hohen Zimmern, die Decken stuckverziert, in jedem Wohnraum ein hoher Kachelofen. Im Hinterhaus eine Waschküche für alle Mieter. Es heißt, das Haus sei vor 1937 in jüdischem Eigentum gewesen. Das hohe, massiv gebaute Bürgerhaus erweckt den Eindruck, unverwüstlich zu sein. In den Jahren 1941 bis 1943 erlebe ich hier erste vereinzelte Angriffe auf Nürnberg, verbringe Bombennächte in den dunklen, verwinkelten Kellerräumen. Der Luftkrieg ist noch nicht weit ins Reich vorgedrungen. Wir haben die Schrecken schwerer Luftangriffe noch nicht erlebt; wir wissen noch nicht, was auf uns zukommen wird. Auf die Idee, eine Fliegerbombe könnte bis zum Keller durchschlagen und alle Hausbewohner töten, kamen wir noch nicht. Nur die Vorbereitungen des organisierten Luftschutzes lassen uns spüren, dass eine tödliche Bedrohung irgendwie in der Luft liegt. Am Ende des Jahres 1942 beginnen sich die Luftwarnungen zu häufen. Es gibt, nach Einflugzonen gestaffelt, drei Alarmstufen: Erste Vorwarnung, zweite Vorwarnung, Hauptwarnung. Wenn die feindlichen Bombergeschwader in das Stadtgebiet einfliegen, gilt es, so rasch wie möglich die Schutzräume in den Kellern aufzusuchen. Schon wir Volksschüler werden über die Luftschutzvorkehrungen unterrichtet und mit Verhaltensmaßregeln bekannt gemacht. Der eingeübte „Ernstfall“ bleibt nicht lange aus.

Im dritten Kriegsjahr werden die Angriffe heftiger. Über die kleinen schwarzen Volksempfänger, das Jedermannsradio von damals, werden die sogenannten Luftlagemeldungen durchgegeben: Anflug der Feindmaschinen auf Luftkorridor drei, zwei, eins. Die Bevölkerung wird aufgerufen, sich sofort in die Luftschutzräume zu begeben. Meine Eltern, ihre fünf kleinen Kinder, Großvater, Dienstmädchen und Kindermädchen, packen ihre Bündel. Wir eilen drei Stockwerke hinunter zum Keller. Die anderen Hausbewohner tun das Gleiche. Wir treffen uns dort alle, schlaftrunken und verstört, und harren der Dinge. Die ersten Angriffe verlaufen glimpflich, die Trefferquote der Bombenabwürfe ist noch gering, das Feuer der Fliegerabwehrkanonen, kurz Flak genannt, noch wirksam. Wir gewöhnen uns an das nächtliche Sirenengeheul. Nicht jede Luftwarnung hat einen Angriff zur Folge.

Der Ernstfall ist gekommen: Wieder sitzen wir im Keller und horchen und horchen. Die Feindmaschinen scheinen Bomben über einem anderen Stadtgebiet abzuwerfen. Mein Vater ist ein sogenannter Luftschutzwart. Er trägt eine grüne Armbinde und muss dafür sorgen, dass die Luftschutzordnung eingehalten wird und bei Bombeneinschlägen erste Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Noch während des Angriffs nimmt mich mein Vater bei der Hand. Als ältestem von fünf Geschwistern wird mir Verantwortung übertragen, wenn es ernst wird. Mein Vater verlässt mit mir den Keller und führt mich im dunklen Stiegenhaus nach oben in den dritten Stock. Wir tasten uns durch die abgedunkelten Gänge unserer Wohnung, mein Vater voran. Licht zu machen ist streng verboten. Jeder Lichtpunkt könnte ein Ziel für die Flugzeugmannschaften sein. Das Nazi-Regime hat überall in der Stadt an Lithfaßsäulen Plakate aufkleben lassen: Ein Knochenmann reitet auf einem feindlichen Flugzeug und schleudert eine Bombe auf ein beleuchtetes Haus Die Plakate weisen drastisch auf die Gefahr hin: „Der Feind sieht Dein Licht! Verdunkeln!“

Der Feind sieht Dein Licht! Verdunkeln!; Otto Sander-Herweg, 1940/43, Plakat für das Deutsche Propaganda-Atelier.
Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg W113 Nr.0071 Bild 1
http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-196980-1

Wir gehen in den Seitengang zum hinteren Teil der Wohnung. Mein Vater öffnet das schmale, hohe Fenster im Toilettenraum. Alle Nachbarhäuser stehen im Dunkeln, nirgendwo ein Lichtschein, nirgendwo eine menschliche Stimme. Ein unheimliches Surren dringt zu uns herab, wir hören das monotone Geräusch der Fliegermotoren. Angestrengt schauen wir in den Nachthimmel. Die deutsche Flakabwehr hat Dutzende Großscheinwerfer in den schwarzen Himmel gerichtet. Mit ihren Lichtkegeln sucht sie den Himmel ab. Die Strahlenbündel wandern hin und her, sie kreuzen sich, sie tasten in die Nacht hinein: ein faszinierendes Lichtschauspiel. Irgendwo Einschläge, ganz nah eine Detonation. Plötzlich scheint in einem Lichtkegel ein Kampfflugzeug auf. In großer Höhe wirkt es wie ein silberner Winzling, wie ein harmloses Silberfischchen, das ins Dunkel zu entkommen versucht. Die Großscheinwerfer verfolgen die viermotorige Maschine, doch bleibt sie für die Flak außer Reichweite. Es fliegen viele dort oben. Das Surren wird schwächer. Wir hören nur noch gedämpftes Grollen und einzelne ferne Detonationen. Aber noch ist keine Entwarnung gegeben.

Während eines anderen Angriffs nimmt mich mein Vater abermals bei der Hand, geht mit mir zum Kellerausgang und führt mich nach draußen auf die Straße. Wir laufen auf dem menschenleeren Gehsteig zur Ecke Bucherstraße/Rieterstraße. An der Apotheke bleiben wir stehen. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben ein lichterloh brennendes Haus. Ich bin zwar erst acht Jahre alt, aber die hautnahen Kriegserlebnisse haben mich wach werden lassen. Die Bombennächte haben meine Wahrnehmungsfähigkeit geschärft. Ich weiß nun, was Angst bedeutet. Noch zehn Jahre nach Kriegsende werde ich angstvoll aufschrecken, wenn Sirenen aufheulen. Sie erinnern mich immer an Krieg, Zerstörung und Tod.

Im vierten Kriegsjahr häufen sich die Luftangriffe auf Nürnberg. Sie werden heftiger, die Zerstörungen nehmen zu. Eines Nachts heulen wieder die Sirenen. Alle Hausbewohner versammeln sich im langen Gang des Kellers. Sie hocken auf Stühlen, die sie für die Bombennächte im Schutzraum bereitgestellt haben. Im schummerigen Licht der schwachen Beleuchtung erscheinen alle fahl und grau, sie werfen kaum Schatten. Die Worte ersterben. Alle horchen, was oben geschieht. Im Keller herrschte immer eisernes Schweigen. Erste, noch ferne Detonationen, als würde irgendwo ein Feuerwerk abgebrannt. Ein dumpfes Grollen, begleitet von den Salven der Flak. Die Bombeneinschläge kommen näher, die Angst wächst. Die Detonationen hören sich an, als seien sie nur noch ein paar Straßenzüge entfernt, der Kellerboden bebt. Die elektrischen Birnen beginnen zu flackern, das Stromnetz scheint getroffen, Sekunden lange Finsternis. Die Ohren der Erwachsenen haben gelernt, die Sprengkraft von Bomben zu unterscheiden: die fast unhörbaren und deshalb so gefährlichen Einschläge von Brandbomben, die krachenden von Phosphor- und Sprengbomben, die ohrenbetäubenden Detonationen tonnenschwerer Luftminen. Plötzlich eine ungeheuer laute Detonation; eine heftige Druckwelle schleudert meine Mutter an die Wand. Wir erstarren vor Angst. Ein Aufschrei aus Dutzend Mündern, das elektrische Licht erlischt. Was ist mit meiner Mutter passiert? Meine Mutter weint. Sie scheint unversehrt geblieben zu sein. Hat es oben eingeschlagen? Wird die Kellerdecke halten? Ist der Durchbruch zum nächsten Haus gangbar? Werden wir ins Freie gelangen, sterben oder überleben? Minuten vergehen. Angespanntes Horchen. Männer gehen zum Kellerausgang und wagen einen Blick ins Treppenhaus. Die Rieterstraße 6 ist nicht getroffen worden. Die Bomben schlagen immer ferner ein. Der Luftangriff ist vorbei. Die Sirenen entwarnen mit einem langen Heulton. Alle sind erleichtert, alle streben aus dem Keller, rennen nach oben, um nach den Schäden zu schauen.

Zurück in der Wohnung. Die Luftdruckwellen der Explosionen haben alle Fensterscheiben zu Bruch gehen lassen. Auf dem Boden liegen unzählige Scherben und Glassplitter. Die Verdunklungsrollos aus schwarzem Papier sind zerrissen, die Fetzen hängen von den Fensterrahmen herab. Am Himmel ist ein heller Widerschein der Feuer zu sehen. Die Erwachsenen räumen rasch die Splitter weg und verhängen die Fenster notdürftig mit Tüchern und Decken. Wir sind einmal mehr mit dem Leben davon gekommen. Eine Riesenluftmine hat zwei Straßenzüge weiter in der Johannisstraße mehrere Gebäude in Schutt und Asche gelegt. Viele Hausbewohner sind in den Kellern umgekommen. Am Morgen fehlen in der Schule Kinder, die dort gewohnt haben.

Wir lesen am Tag darauf bizarre Bombensplitter auf. Auch ich beginne Splitter zu sammeln und tausche Stücke, kleine und große Splitter, die durch die Sprengkraft der Bomben besonders „schöne“ Formen erhalten haben. Wir haben Spaß am Tausch, wie ihn Jahrzehnte später Kinder beim Tauschen von Schlümpfen haben.

Am 2. Februar 1943 geht das grausame Gemetzel im Kessel von Stalingrad zu Ende. Der Bericht der deutschen Wehrmacht meldet den Fall von Stalingrad. Die NS-Führung sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die verheerende Niederlage der deutschen Bevölkerung so mitzuteilen, dass die Wirkungen nicht den, wie es damals hieß, Wehr- und Kriegswillen lähmen. Die Bekanntgabe der verlorenen Schlacht wird propagandistisch bis ins Detail geplant und die Verkündigung des Heldendramas pathetisch inszeniert. Die Erwachsenen hängen am Lautsprecher des Volksempfängers und warten auf die angekündigten Nachrichten. Den Programmablauf habe ich erst viel später als Wissenschaftler kennengelernt: Am 3. Februar um 14.18 Uhr knisterte es in unserem Radio: die Übertragung der Heldenfeier begann mit Beethovens Militärmarsch, dann folgte die Egmont-Ouvertüre, schließlich Liszt. Um 15 Uhr tönte die Sondermeldung aus dem Lautsprecher. Sie war in die berüchtigte Phrase gekleidet: „Sie starben, damit Deutschland lebe“. Es folgte das „Lied vom guten Kameraden“, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied in „großer Fassung – ohne Gesang“. Dann war drei Minuten lang Funkstille. Die pompöse Inszenierung dieser Heldengedenkfeier klang mit dem Trauermarsch aus Richard Wagners „Götterdämmerung“ und Beethovens fünfter Symphonie aus. Die medial inszenierte Verwandlung des Massensterbens in einen Mythos des kollektiven Opfertodes hatte ich selbstverständlich als Kind nicht begreifen können.

Ich erinnere mich noch an diesen Nachmittag. Die Gefühlsbewegungen im Kreise der Erwachsenen sagten mir, dass weit draußen auf einem Kriegsschauplatz etwas Schreckliches passiert sein musste. Wir hatten uns im kleinen Wohnzimmer versammelt, mein Großvater, meine Mutter, unser Dienstmädchen Emmi, unser Kindermädchen Theresa, meine jüngeren Geschwister und ich – mein Vater ist zu dieser Zeit im Rathaus im Dienst. Großvater Mintzel sitzt auf dem alten abgewetzten grauen Sofa, das aus seinem früheren Haushalt stammt. Vorne in der Ecke, nahe am hohen Fenster, steht der schwarze, mattglänzende Volksempfänger auf einem Buffet. Alle lauschen. Theresa lehnt am Buffet und weint. Sie bangt um das Schicksal eines Freundes oder Verlobten. Im Wohnzimmer herrscht Niedergeschlagenheit. Irgendwelche Wortfetzen hängen im Raum. Der hohe weiße Kachelofen strahlt wohltuende Wärme ab. Die Bedeutung des Falls von Stalingrad konnte ich als knapp Achtjähriger nicht einmal erahnen. Dass im russischen Winter die gefangenen deutschen Soldaten den Todesmarsch in die Lager antraten, wusste ich damals noch nicht. Ich spürte aber, dass sich etwas Ungeheuerliches zugetragen haben musste. Der 3. Februar 1943 verbindet sich in meiner Erinnerung mit Theresas Tränen. Ich habe nie erfahren, ob sie den Menschen, um den sie geweint hatte, jemals wiedergesehen hat.

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