9. Schulschwänzer, Ausreißer, Gefängnisinsasse

Es war ein Gemisch unterschiedlicher Ursachen, das mich nach dem Krieg zu einem Schulversager werden ließ: direkte Kriegsfolgen wie Raumnot, Unterernährung und Zukunftsängste, schwierige familiäre Verhältnisse, die autoritäre Droh- und Prügelpädagogik meiner Eltern und eine heftig einsetzende Pubertät. Die Verhältnisse waren buchstäblich zum Davonlaufen.

In meiner Volksschulzeit, in den Jahren von 1941 bis 1945, hatte ich keine Schul- und Lernschwierigkeiten. Von 1943 an hatte ich sogar in jedem Schuljahr, trotz der Kriegsereignisse und trotz eines zweimaligen kriegsbedingten Orts- und Schulwechsels, nur noch gute und sehr gute Noten mit nach Hause gebracht. Ich war gern zur Schule gegangen, hatte große Freude gehabt am Schreiben und Rechnen wie generell am Unterricht. In der Rubrik Führung hatte immer eine „sehr gut“ gestanden. Ich kann mich an keine nennenswerte Aufmüpfigkeit oder sonst eine Verhaltensauffälligkeit erinnern. Die Volksschuljahre von 1943 bis zum Kriegsende waren die schönsten meiner Kindheit. Die Misere begann erst nach Kriegsende mit der Rückkehr in die Trümmer- und Elendswüste Nürnbergs.

Die humanistische Kadettenanstalt

Ich wurde Anfang Dezember 1945 in das Melanchthon-Gymnasium eingeschult, das für einen eingeschränkten Unterricht notdürftig wieder instand gesetzt worden war. Der Wechsel aus der oberpfälzischen Schulidylle in die graue, verstaubte Kadettenanstalt des Humanistischen Gymnasiums und die familiären Nöte machten mir schwer zu schaffen. Das dortigeLehrpersonal war überaltert und steckte selbst in Nöten. Da die meisten Lehrer Nazis gewesen und kalt gestellt worden waren, wurden statt ihrer „alte Krauterer“ aus ihrem Pensionsdasein zurückgeholt und Aushilfslehrer herangezogen. Die autoritativ-vorbildhafte, humanistische „Heile-Welt-Pädagogik“ stand in einem krassen Gegensatz zu unserer schrecklichen Alltagswirklichkeit. Als habe es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, als stünde noch das alte Nürnberg, als sei Ludwig Richters Kinderwelt noch gegenwärtig, setzten die Gymnasiallehrer ihr altes Unterrichtsprogramm fort. Die Schulbücher dazu mussten erst „entnazifiziert“ werden. Bis dahin schrieben die Lehrer den jeweiligen Stoff auf die große Wandtafel, und wir mussten die Texte in unsere Schulhefte übertragen. Diese notgedrungene Art der Stoffvermittlung war wenig ansprechend und im Vergleich zu heutigen Angeboten an Lehrmaterial katastrophal.

Die wenigen Volksschulen, die nicht oder nur gering zerstört waren, öffneten ihre Tore am 1. Oktober, die Oberschulen und Gymnasien aber erst Anfang Dezember 1945. Die engen räumlichen Verhältnisse der provisorisch renovierten Schulgebäude und die Engpässe beim Lehrpersonal ließen nur einen Schichtunterricht zu. Es gab nicht genügend Heizmaterial, um die Räume warm zu halten. Kaum hatte der Unterricht im Winter begonnen, musste er im Februar 1946 aus Kohlenmangel bereits wieder für vierzehn Tage eingestellt werden. Nach den „Kohlenferien“ wurden die Verhältnisse nicht besser. Am Morgen wurde der Unterricht klassenweise unterbrochen, um die US-amerikanische Quäkerspeisung an die ausgehungerten Schüler austeilen zu können. Meistens ging damit eine volle Unterrichtsstunde verloren. Ich war jedesmal erleichtert, wenn dadurch ein Fach ausfiel, in dem ich mich nicht vorbereitet hatte. Kurzum, im ersten Nachkriegsschuljahr 1945/46 konnte das Lehrprogramm für diesen Jahrgang nicht erfüllt werden. Wir mussten 1946/47 die erste Gymnasialklasse wiederholen. Es war kein individuelles Sitzenbleiben, sondern der allgemeine Verlust eines Schuljahres, der sich aus den ungeheuerlichen Nöten der Nachkriegssituation ergab. Bis zum dritten Gymnasialjahr lief dann für mich das Schulleben leidlich befriedigend ab, danach setzte die Leidensspirale ein, aus der ich nicht mehr herauskam.

Meine Mutter, die ihre fünf Kinder allein erziehen musste – mein Vater kümmerte sich wenig um uns -, war völlig überfordert, hatte bis zur Erschöpfung im Haushalt und mit unserer Versorgung zu tun. Sie war meinen Widerspenstigkeiten und Tricksereien hilflos ausgesetzt. Meine Tagebucheintragungen zeugen, so aufschlussreich sie heute über meine damaligen inneren und äußeren Nöte sein mögen, von einem erbärmlichen Unverständnis ihrer Situation. Es war gegenseitiges Unverständnis, was die Konflikte eskalieren ließ. Ich musste zu Hause viele Pflichten übernehmen, was zu Auseinandersetzungen und zu einem unbändigen Drang führte, dem Familienalltag zu entfliehen. Ich wurde zu einem notorischen Ausreißer und Schulschwänzer. Die Pubertät begann mächtig zu rumoren, ich begehrte gegen die väterliche Autorität auf, verweigerte von der Schule geforderte Leistungen und geriet nicht nach den Wünschen meiner Eltern. In Fächern, die mich interessierten, wie Deutsch, Geschichte und Kunst, erhielt ich gute Noten. Im Zeichenunterricht gehörte ich stets zu den Besten. In Fächern, die mich langweilten, versagte ich. Gute und schlechte Noten ließen sich bald nicht mehr ausgleichen. Die Prügel-Pädagogik meines Vaters bewirkte nur noch mehr Widerborstigkeit. Auch im Gymnasium schlugen die Lehrer, wenn wir die Vokabeln nicht oder zu schlecht gelernt hatten, mit einem Lineal auf unsere Köpfe ein. Ich simulierte Übelkeit, um nach Hause geschickt zu werden, und trieb mich irgendwo in der Stadt herum, lief über Trümmerberge, machte mir allerlei Gedanken über mich und die Welt und suchte nach Möglichkeiten, der Enge und den Konflikten des häuslichen Familienlebens zu entkommen. Meine Leistungen fielen rasch ab, der schulische Absturz war nicht mehr aufzuhalten. Mein 1950 geführtes Tagebuch enthält haarsträubende Notizen. Ich war zu jung und zu bockig, um begreifen zu können, dass ich, indem ich Fluchtillusionen nachhing, nur noch tiefer in meiner Misere versank.

In den Jahren 1950/51 wollte ich raus aus der Enge des Familien- und Schullebens, auf einem Schiff anheuern, nach Afrika, nach Polynesien, wohin auch immer, es sollte vor allem weit weg von zu Hause sein. Wasser, Meer, andere Länder, große Schiffe, kleine seetüchtige Boote- meine Tagträume waren voll sehnsüchtiger Bilder. Ich stöberte in Buchläden Literatur auf, die meine Fantasien von einem ungebundenen, abenteuerlichen Leben zur inneren Wirklichkeit werden ließ. Ich schrieb Briefe irgendwohin in die Welt, an Orte und Adressen, die ich mir aus alten Geografiebüchern und landesgeschichtlichen Werken holte, und bat darum, Brieffreundschaften zu vermitteln. Ein Buch hatte es mir besonders angetan: „Seeteufels Weltfahrt“ (1951) von Felix Graf von Luckner. Als Graf Luckner auf einer Vortragsreise 1953 in Würzburg sein Seemannsgarn sponn, war ich hingerissen. Was der „Seeteufel“ über seine Jugend erzählte, hörte sich an, als beschriebe er meine Situation: „Als ich nicht in die Quinta versetzt wurde, wie ich es nach vielen schlechten Zeugnissen immer wieder versprochen hatte, war die Geduld meines Vaters zu Ende. Ich bekam die wohlverdienten Prügel. Vater schrieb in dieser Beziehung keine schlechte Handschrift, aber ich war viel zu stolz zum Wehklagen und Schreien. Ich versuchte meine Schmerzen abzuschwächen, indem ich mir unausgesetzt eindringlich einredete: „Was geht mich das an, was hinter mir vorgeht.“ Vater aber sah diesen Zustand als ungebrochenen Trotz an und rums hatte ich wieder einen weg.“ (Luckner 1951, 6f).

Das erinnerte mich an den Vorsatz, den ich schon als kleiner Junge gefasst hatte: Ertrage stumm die Prügel deines Vaters. Mir war klar geworden, dass die Prügelorgien meines Vaters keine Ausnahme waren, sondern das pädagogische Credo der meisten Väter, Lehrer und Erzieher jener Zeit. Es hätte wohl einer sanfteren Pädagogik und behutsamen Menschenführung bedurft, um mich zu der Einsicht zu bringen, dass meine jugendlichen Träumereien wie Seifenblasen an der Wirklichkeit zerplatzen werden. Die Prügel meines Vaters bewirkte das Gegenteil.

Meine Revolte gegen den Schulbetrieb und meine Lehrerphobie amüsierten Mitschüler und Mitleidende, die sich, so schien es mir, dem Unterrichtsbetrieb anpassten und darauf bedacht waren, nicht aufzufallen. Ich zog oft den Zorn der Pädagogen auf mich. In den Augen einiger Klassenkameraden mag ich wohl zu einem extremen „Typus“ geworden sein, einem „hoffnungslosen Fall“. Diese Einschätzung hörte ich viele Jahre später aus dem Munde früherer Mitschüler, als ich sie alle beruflich überholt hatte und Assistenzprofessor geworden war. Für sie war es ein Wunder, dass ich es so weit gebracht hatte. Ich fragte mich wiederholt, wie es meinen Mitschülern trotz ähnlicher allgemeiner Lebensumstände möglich war, unauffällig die Schule zu durchlaufen, während ich fast zwanghaft revoltierte.

Ornithologisches Beobachtungsprotokoll, 1949

Was mich jedoch unabhängig von schulischen Leistungsnormen und Erwartungen fesselte, war das Beobachten, Schreiben, Zeichnen und Malen. Ich führte damals empirisch sachlich ornithologische Beobachtungshefte. Nach wissenschaftlichen Vorgaben notierte ich Ort, Zeitpunkt, Wetterlage, Vogelart, lateinischen Name, Gefieder, Verhaltensweise, Gesang, Nestbau, Färbung der Eier und andere Besonderheiten. In den Sommerferien 1949 fuhr ich mit dem Fahrrad zum Bodensee und besuchte mehrere Wochen die Vogelwarte Radolfzell, die damals auf Schloss Bodman beherbergt war. Zusammen mit den Ornithologen, beobachtete ich in den Schilfzonen Wasser- und Sumpfvögel. Wir beringten vor ihrem Abflug in den Süden über 2000 Schwalben. Ich war begeistert, wenn ein Wanderfalke im Sturzflug auf seine Beute schoss und eine Schwalbe griff. In der Schule konnte ich mit diesem Spezialwissen nicht punkten. Ich habe die Hefte aufgehoben und kann in der Rückschau mich selbst beobachten. Das ist mehr als ein Erinnern. Das ist Ausgrabung und Vergegenwärtigung, eine Art Altertumskunde meiner Persönlichkeitsentwicklung. Die Neigung, Vieles aufzuzeichnen und auch in Skizzen festzuhalten, machte es möglich, mich dem bedrückenden Alltag zu entziehen und mich in meine innere Welt zu verkriechen. Die in mir widerstreitenden mentalen Kräfte, die zwischen Verweigerung und Engagement hin und her gerissen waren, kamen so zur Ruhe. Ich fasste Selbstvertrauen und fühlte ein kreatives Potenzial in mir rumoren. In mir steckte, so deute ich heute meinen Entwicklungsgang, ein embryonaler Wissenschaftler, der in einer schwierigen Spätgeburt zur Welt kam.

Flucht bis in die Gefängniszelle 25

Eine Episode, es ist die spektakulärste aus dieser Zeit, möge genügen, um die Leidensspirale aufzuzeigen, die sich mit jedem Schuljahr weiter drehte. „Ertrag dein Leiden mit Geduld, denn dass du hier sitzt, ist deine eigene Schuld“, so war es auf die Wand der Zelle gekritzelt worden, in die mich die Polizei im Sommer 1950 eingesperrt hatte. Ich saß drei Tage lang im Stadtgefängnis Bremens in Zelle 25 in Haft. Wie war ich dorthin gekommen?

In verschiedenen Schulfächern war es üblich, in unregelmäßigen Abständen eine so genannte „Ex“, eine Extemporale, über den Stoff der letzten Lektionen schreiben zu lassen. Unser Geschichtslehrer war seinem Auftreten nach ein ehemaliger Offizier der deutschen Wehrmacht mit Allüren eines schneidigen Kommandeurs. Er kam mit flottem Schritt ins Klassenzimmer herein. Wir erwiesen pflichtgemäß unsere Referenz und setzten uns gehorsam wieder auf unsere Bänke. Da kam aus seinem Mund mit kerniger Stimme: „Wir schreiben heute eine Extemporale“. Das gefürchtete Wort ließ mich zusammenzucken, denn ich hatte den Stoff der letzten Stunden nicht gelernt. Wahrscheinlich handelte es sich um Lektionen über altgriechische Geschichte. Ich mochte diese Episoden aus dem alten Griechenland und hörte gern zu, wenn von ihnen die Rede war. Das hieß aber nicht, dass ich von Stunde zu Stunde die Lektionen lernte. Also musste ich dieses Mal bei meinem Banknachbarn spicken. Möglicherweise hatte der Lehrer schon während der Prüfungsarbeit meine Stielaugen beobachtet. Als er in der folgenden Unterrichtsstunde die korrigierten Arbeiten besprach, händigte er mir meine Arbeit aus und sagte: „Du hast abgeschrieben! Du hast eine Fünf!“ Ich log ihm ins Gesicht, nicht abgeschrieben zu haben. „Doch! Du hast abgeschrieben!“ „ Nein! Das habe ich nicht!“ Ein heftiges Wortgefecht folgte. Das Lehrer-Schüler-Drama eskalierte. Wahrscheinlich war es ein Schamgefühl, das mich hartnäckig abstreiten ließ, gespickt zu haben. In mir stiegen Aggressionen auf, ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Der Lehrer fühlte sich wohl in seiner Autorität herausgefordert und drohte mit „Arrest“, ähnlich dem heutigen Nachsitzen. Im mehrstufigen Strafarsenal der Gymnasien war der Arrest damals ein besonders hartes Strafmaß, das vom Rektor genehmigt und bestätigt werden musste, und natürlich zogen Lehrer und Rektor am gleichen Vollzugsstrick. Der „Übeltäter“ musste außerhalb der regulären Unterrichtszeiten zu einem festgesetzten Termin in die Schule kommen, wo er in einen Klassenraum eingesperrt und mit einer Aufgabe beschäftigt wurde.

Mein Geschichtslehrer hatte den verlogenen und widerständigen Schüler mit seiner Autorität zur Raison bringen wollen. Meine störrische Auflehnung und die im autoritären Denken befangene Holzhammer-Pädagogik des Lehrers verstärkten sich wechselseitig. Am Ende des Zusammenpralls war für mich der angedrohte Arrest zu einer Frage von Unterwerfung oder Freiheit geworden. Eine sanftere, psychologisch geschulte Pädagogik, ein Appell an mein Ehrgefühl, ein Lob für mein reges Interesse am Fach hätten den Konflikt womöglich entschärfen können. Die Eskalation endete für mich jedoch in einem Desaster.

Ich ging nach Hause und überlegte, wie ich der Strafe entgehen könnte. Pubertäre Schübe wischten rationale Handlungsimpulse beseite und der Plan war rasch gefasst. Ich studierte in einem alten Atlas die Route zur Nordsee, holte den Rucksack meines Großvaters hervor, packte einen Kanten Brot und Wäsche hinein, ein Hemd, ein Handtuch, eine Unterhose, ein Paar Strümpfe und einiges mehr, fuhr mit meinem Fahrrad, ohne eine Zettel zu hinterlassen, gegen Norden, um dem angeordneten Arrest-Termin zu entgehen. Mein Fluchtweg führte mich über Würzburg, Fulda, Hersfeld, Celle, Gifhorn und Verden nach Bremen. Die warmen Sommertage erleichterten dem Ausreißer die Tour auf dem alten, schweren Fahrrad, das noch nicht mit einer Gangschaltung ausgerüstet war. Aus jeder Etappe könnte ich eine kleine aufregende Geschichte erzählen, Angenehmes und Unangenehmes, ja sogar gefährliche Situationen. In der Rhön half ich eine Woche lang einer bäuerlichen Familie bei der Heuernte. Die Bauerntochter schlich sich in der ersten Nacht, in der ich in der Scheune schlafen musste, zu mir ins Heu. Der Bauer gab mir am Ende der Arbeitswoche ein paar Mark Taschengeld und eine Brotzeit mit auf den Weg. Dann war ich Gast der Adelsfamilie von Bülow, die mich für ein paar Tage auf ihrem Gut Triangel bei Gifhorn aufnahm. Ich aß an ihrem Tisch, schlief in einem kleinen Gästezimmer und erhielt Reiseproviant für die nächsten Tage. Die freundliche Aufnahme lässt mich schlussfolgern, dass ich nicht den Eindruck eines verwahrlosten Ausreißers machte. Für die Fragen, woher ich käme und wohin ich wolle und was der Grund dafür sei, so weite Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen, hatte ich mir eine ergreifende, aber glaubwürdige Geschichte ausgedacht: Ich müsse zu einem alten Onkel nach Bremen fahren. Meine Eltern hätten nicht genug Geld, um eine Reise zu bezahlen.

Es waren etwa fünf Wochen vergangen, als ich in Bremen ankam. Mein letztes Ziel war der Bremer Binnenhafen, wo große Handelsschiffe lagen. Ich trieb mich im Hafengelände herum und beobachtete, wie die Frachter be- und entladen wurden. Ich musterte die Seeleute, die von Bord gingen und die vom Landgang zurückkehrten. Welches Schiff würde bald auslaufen? Ein schwedischer Frachter schien bald die Taue einzuholen. Das Schiff hieß „Muskoe“. Ich nahm mir ein Herz und stieg über die ausgefahrene Bordleiter ans Deck. Keiner der Schiffsoffiziere und einfachen Seeleute fragte mich, was ich auf dem Schiff wolle. Sie schienen keine Notiz von mir zu nehmen. Vielleicht hielten sie mich für einen frisch angeheuerten Schiffsjungen. Niemand sprach mich an, niemand jagte mich von Bord, Ich schaute den Seeleuten bei der Arbeit zu, überlegte, wie ich mich einreihen und so vortäuschen könnte, irgendwie zur Mannschaft zu gehören. So verging der Tag. Als die Nacht hereinbrach, sah ich mich nach einem Winkel um, in dem ich mich verbergen und schlafen konnte. Jetzt würde sich zeigen, ob ich mit hinauskäme auf die hohe See, sei es als vermeintlicher Schiffsjunge oder in meinem Versteck als blinder Passagier. Niemand sollte mich in einen schulischen Arrest zwingen können. Ich wollte nicht mehr in die autoritäre Kadettenanstalt des Humanistischen Gymnasiums zurückkehren. Aus! Vorbei! Freiheit!

Mitten in der Nacht hörte ich lautes Gerede. Von Seeleuten geführt kamen zwei Polizisten an Bord, spürten mich in meinem Winkel auf, nahmen mich fest, brachten mich nach einem kurzen Wortwechsel über meine Identität von Bord und fuhren mich in einem Polizeiwagen zur Wache, wo ich in den nächsten Tagen mehrmals verhört wurde. Es hieß, der Schiffszimmermann habe in der Nacht seiner Frau erzählt, ein schmächtiger Junge sei an Bord gekommen, den er für einen Ausreißer halte. Seine Frau habe ihm geraten die Polizei zu benachrichtigen. Die Polizei fuhr mich zum Stadtgefängnis und steckte mich kurzer Hand und „sicherheitshalber“ in die Zelle Nr. 25. Diese Art der Sicherheitsverwahrung verstieß zwar gegen das Jugendstrafgesetz, aber die Polizei schien in dieser Nacht keine gesetzesgemäße Alternative zu haben.

In der Zelle saß bereits ein anderer jugendlicher Ausreißer, der es angeblich als blinder Passagier bis nach Afrika geschafft hatte. Am nächsten Morgen wurde ich von einer Polizistin „entlaust“, obwohl ich keine Läuse hatte. Mit einer großen Pumpe stäubte sie vorne am Kragen und hinten im Nacken ein weißes Desinfektionsmittel über meinen Körper. Das waren hygienische Vorsorgemaßnahmen, die jeder Neuankömmling über sich ergehen lassen musste. Die enge Zelle hatte die damals übliche karge Ausstattung: ein einfaches Bettgestell, eine Kloschüssel, einen Stuhl und einen kleinen Holztisch, ein Schränkchen, ein schmales Brett für wenige Hygieneartikel, eine Blechschüssel und einen Löffel. Ich lernte meinen Zellengenossen näher kennen. Er erzählte seine Geschichte, ich die meine. Ich konnte ein wenig mithalten. Auch er sei, wie er sagte, von einer Frau verpfiffen worden. Ich hatte in meiner Leidensgeschichte die Frau des Schiffszimmermanns vorzuweisen. Der angebliche Verrat hatte uns beide zu Opfern „weiblicher Perfidie“ gemacht. Wir erlitten in der Zelle 25 ein gemeinsames Schicksal.

Das Schönste in meinem neuen Domizil waren die Dekorationen auf den grau verputzten Wänden. Die früheren Insassen hatten auf den Wänden Sprüche und Flüche gekritzelt und tief eingeritzt. Sie hatten mit Strichlisten die Tage und Wochen ihrer Inhaftierung gezählt, kleine Graffitis und sexuelle Zoten hinterlassen. Das größte Dekor stellte eine nackte Frau dar, die mit satten Umrisslinien auf das Grau gezeichnet war. Als Wärter mittags uns mit Linsen- oder Erbsensuppe gefüllte Blechschüsseln in die Zelle hereinreichten, nahmen wir Ausreißer die nackte Frau ins Visier, genau gesagt, ihre Scham, und bespritzen sie mit Suppe, die über ihre Schenkel herunterlief. Wir setzten unsere Esslöffel als treffsichere Katapulte ein und hatten einen Heidenspaß. Die Wächter hatten dafür leider kein Verständnis und schimpften lauthals. Sie trennten uns Übeltäter, mein Mitbewohner wurde kurzer Hand in eine andere Zelle gesteckt. Ich blieb bis zu meiner Entlassung in Zelle 25 allein und dachte viel über meine Lebenssituation nach. Aus der Höhe eines vergitterten Fensters fiel ein fahler Schein auf mich herab. Mein Blick fiel plötzlich auf einen der Sprüche an der Wand, es war der zitierte: „Ertrag dein Leiden mit Geduld, denn dass du hier sitzt, ist deine eigene Schuld.“ Worte, die mir mein Leben lang in Erinnerung blieben.

Die drei Nächte, die ich in Gefangenschaft ausharren musste, waren für mich erstaunlich unterhaltsam. Meine Zelle lag offenbar auf der Seite zum Innenhof des Gefängnisses. In der Nacht standen viele Insassen unter ihren vergitterten Fenstern, die in den heißen Sommertagen leicht aufgeklappt waren. Von Zelle zu Zelle erscholl lautes Rufen. „Hans, hörst du mich?“ – „Fritz, wann kommst du raus?“ – „Hella, du Süße, wie geht es dir? – „Wenn ich rauskomme, mache ich dich zur Schnecke!“- Die Stimmen verrieten, dass auch Frauen einsaßen. Es hörte sich an, als würden in einer Voliere gefangene unsichtbare Nachtvögel verstörte Schreie ausstoßen.

Die Polizei hatte meinen Eltern mitgeteilt, ich sei aufgegriffen worden und könne nach den polizeilichen Ermittlungen aus dem Gewahrsam entlassen und nach Hause geholt werden. Mein Vater weigerte sich jedoch, wie nicht anders zu erwarten war, mich in Bremen abzuholen. Er wollte, dass ich von einer Aufsichtsperson des Bremer Jugendamtes nach Nürnberg begleitet werde. So geschah es. Die polizeilichen Recherchen bei den Stationen, wo ich auf meinem Fluchtweg nach Norden eingekehrt war, hatten ergeben, dass ich nichts ausgefressen hatte. Das Ergebnis entsprach den Tatsachen, ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen. Ein Aufpasser des Jugendamtes holte mich am Gefängnistor ab, brachte mich mit einem Schnellzug nach Nürnberg und übergab mich meinen Eltern. Entgegen meinen Erwartungen tobte mein Vater nicht und es setzte keine Prügel. Im Gegenteil, meine Eltern empfingen mich mit Kaffee und Kuchen. Offensichtlich waren sie heilfroh, dass ich unversehrt und ohne ein strafrechtliches Vergehen zurückgekehrt war. Die „Nürnberger Nachrichten“ berichteten, ich sei „als ein zweiter Karl May“ von einer abenteuerlichen Fahrt zurückgekommen. Das war ein erster zweifelhafter medialer Ruhm.

Was hatte ich also am Ende meiner „Irrfahrt in die Freiheit“ erreicht? Ich hatte meine Weigerung, eine Stunde Schularrest abzusitzen, mit drei Tagen Gefängnisaufenthalt bezahlt. Gegen den polizeilichen Freiheitsentzug war ich machtlos gewesen. Aber es kam noch schlimmer: Die Schule ließ mich wegen meiner Eskapaden und Versäumnisse nicht auf die nächste Klassenstufe vorrücken. Ich verlor ein Schuljahr. Ein bitteres Ergebnis. Ich erkannte, dass die Irrfahrt in die Freiheit keine Lösung für meine existenziellen Schwierigkeiten gebracht hatte.

Heute ist es keine Schande mehr, ein schlechter Schüler gewesen oder gar sitzengeblieben zu sein, obgleich es auch noch heute ungern zugegeben wird. Die starren Strukturen der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre sowie die rigide autoritäre Praxis der älteren Pädagogik gehören der Vergangenheit an. Die Prügelstrafe wurde abgeschafft, auch die Strafe, für eine kleine Unfolgsamkeit in der Ecke stehen zu müssen, bis die Lehrkraft den „Sträfling“ aus der Schandecke holte. Der Kommandoton der Kriegsheimkehrer-Lehrerschaft und das autoritäre Gehabe der alten Gymnasialprofessoren ist einem konzilianteren Umgang mit Schülern gewichen. Doch noch immer ruft Sitzenbleiben Ärger, Scham und Tränen hervor. Aus dem Teufelskreis von schlechten Schulnoten, versiegendem Selbstwertgefühl und weiter absinkenden Leistungen herauszukommen, ist ohne glückliche Umstände und Hilfe nach wie vor schwer möglich. Viele „Versager“ machen wenig spektakuläre Karrieren, sie bleiben in der Berufswelt irgendwo hängen. Noch heute, nach mehr als sechzig Jahren, bedrängen mich Albträume mit Versagensängsten. Meine eigene Schulmisere und die Albträume wirkten sich auf meine spätere Rolle als Vater und Großvater aus: Ich versuchte geduldiger, einfühlsamer, weniger streng und vorsichtiger zu sein, wenn meine Töchter und Enkelkinder mit Schulproblemen nach Hause kamen oder unter Konflikten mit Lehrern litten.

Es war aber ein ganz anderer Schock, der mich kurz danach aus dem elterlichen Haus und aus der Schule trieb: der Tod meines Bruders Heinrich, von dem ich im nächsten Kapitel berichten werde.

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