Die Entwicklung meines um gut drei Jahre jüngeren Bruders Heinrich verlief schrecklich. Es schien, als hätten sich in ihm alle bösen Mächte einquartiert, um ihn ins Unglück zu treiben. Er geriet wie ich in den Jahren zuvor in pubertäre Turbulenzen, schloss sich einer Jugendbande an, beteiligte sich an Einbrüchen und Diebstählen, strauchelte und nahm sich 1954 nach einer ungeheuerlichen Tat kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag das Leben. Hein, so war sein familiärer Kosename, endete elend durch das Gift E 605, das damals jedermann im Handel kaufen konnte. Sein unglückliches Leben und elendes Sterben hinterließen in meinem Leben tiefe Spuren. Ich fühlte mich lebenslang schuldig, weil ich ihm in seiner Not nicht hatte beistehen können.
Meine Eltern hatten mir, dem Ältesten in der Geschwisterrunde, die Aufsicht über die Jüngeren übertragen und mich zum verlängerten Arm ihrer zweifelhaften Autorität gemacht. Meine Mutter hatte mich wiederholt beauftragt, Hein von der Straße nach Hause zu holen und ihn, falls er sich widersetzen sollte, zu verprügeln. Das hatte das brüderliche Vertrauensverhältnis zerstört. Hein hatte in der Familie keinen liebevollen Hort, niemand konnte sich wirklich in seine Nöte einfühlen, einen hilfreichen Zugang zu ihm finden. Sein Freitod, um diese euphemistische Bezeichnung zu gebrauchen, war eine auf sich selbst gerichtete Extremisierung von Gewalt, der Untaten vorausgegangen waren.
Heinrich „Hein“ Mintzel, um 1950/51; geb. 19.10.1938, gest. 18.09.1954
Der Schwererziehbare
Hein wurde am 19. Oktober 1938 geboren, am Geburtstag unserer Mutter. Zwei Geschwister wurden vor, zwei nach ihm geboren. Heins Start ins Leben wurde vom Krieg überschattet. Er wurde im September 1944 eingeschult, konnte aber wegen der Kriegsereignisse fast ein Jahr lang nicht zur Schule gehen. Trotzdem wurde die verlorene Schulzeit nach dem Krieg mitgezählt, als sei sie absolviert worden. Hein blieb durch alle Volksschulklassen hindurch ein schlechter Schüler. In seinen Zeugnissen wurden wiederholt sein schlechtes Betragen und seine Faulheit gerügt. In seinem Entlassungszeugnis aus der Volksschule stand: „Fleiß und Aufmerksamkeit des Schülers entbehrten der Stetigkeit. Sein schulisches und außerschulisches Betragen gab zu Tadel Anlass.“ Mein Vater sah in ihm einen Versager und ließ ihn seine Enttäuschung, ja Verachtung deutlich spüren. In seinen Augen war ein Mensch ohne Abitur und Universitätsstudium weniger wert.
Nach dem Umzug meiner Familie nach Würzburg schloss sich Heinrich dort einer Jugendbande an. Die Jugendlichen machten sich einen Spaß daraus, abends im Stadtpark Mädchen aufzulauern und zu bedrängen. In der beim Luftangriff vom 16. März 1945 in Schutt und Asche gelegten Stadt wurden in vielen Straßen die Wohnhäuser wieder aufgebaut, eines nach dem anderen. An den Grundstücken standen Bauwagen, die den Handwerkern tagsüber als Unterkunft dienten und in die über Nacht Geräte eingeschlossen wurden. Die Bauarbeiter, kräftige Biertrinker und Raucher, deponierten darin auch Alkohol und Tabak. Die Jugendbanden brachen auf ihren nächtlichen Streifzügen diese Bauwagen auf und stahlen Bierflaschen und Zigaretten.
Nachdem Hein 1953 die Volksschule abgeschlossen hatte, schoben ihn unsere Eltern in ihrer Ratlosigkeit in das bei Nürnberg gelegene evangelisch-lutherische Erziehungsheim Rummelsberg ab. In diesem Heim, das eigene Werkstätten unterhielt, konnten „Fürsorgezöglinge“ verschiedene Handwerke erlernen. Fanden die Zöglinge keinen Ausbildungsplatz oder wurden sie aus der Werkstatt verwiesen, mussten sie als Knechte in der Landwirtschaft mitarbeiten. In diesen kirchlichen Anstalten war psychische und physische Gewalt gegen Kinder und Jugendliche an der Tagesordnung. Hein ging es dort nicht gut. Die strengen Heimregeln wurden damals brachial durchgesetzt. Schon aus geringen Anlässen zu prügeln, war damals rechtens und gang und gäbe. Was mag meinem Bruder in dieser evangelischen Erziehungsanstalt widerfahren sein? Worüber traute er sich nicht zu sprechen? Mein Bruder wollte nach Hause zurück, riss mehrmals aus und brach seine Lehre ab. In Briefen flehte er meinen Vater an, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. Noch heute erschüttern mich sein Bitten, Flehen, sein fast völlig gebrochenes Selbstwertgefühl und sein Wille, den Teufelskreis von Willkür, Gewalt, Versagen und Flucht zu durchbrechen. Ein paar Auszüge aus seinen Briefen mögen dies veranschaulichen.
06.01.1954: „Lieber Papa! (…) Ich will jetzt unbedingt aus dem Heim. Du zahlst Dein Geld sowieso umsonst, denn wenn man nicht selbst zur Vernunft kommt, nützt das Heim auch nichts. Durch das Heim ist das nur beschleunigt worden. Wenn man sich mit den anderen abgibt, wird man noch blöder. Wenn nicht, dann wird man immer verachtet. Bis jetzt habe ich Euch noch nichts sagen trauen. Vor dem Essen muß man sich erst um einen Stuhl und einen Teller raufen, denn meistens fehlt etwas, wenn dann einer keinen Stuhl oder Teller hat, dann nimmt er ihn vom anderen. Zum Schluss habe ich dann keinen Teller, weil ich mich ausschließe und nicht überall mitmache. (…) Wenn man was sagt, dann soll man woanders hin oder heim gehen. So bin ich angeredet worden. Im Zimmer singt der eine lauter als der andere (…) Jetzt haben die anderen wieder eine Wut auf mich (…). Wenn ich in der Gruppe etwas sage, bekomme ich eine auf den Mund. Solls einen da gefallen? Es ist auch nicht so, daß man wegen der Lehrstelle im Heim bleibt, denn in der Schlosserei sind 32 Lehrlinge, wenn 20 beschäftigt sind, sind es sehr viele, die neuen Lehrlinge kommen überhaupt nicht an die Arbeit. Wie [als] ich nach Arbeit fragte, sagte der Gehilfe: was kannst du schon, du hast ja noch nie gelernt. Nach Weihnachten ging ich zum Meister und sagte, er soll mich so einteilen, dass ich was lerne. Die Antwort, wenn dir was nicht passt, gehst raus. Auf alle Fälle ist es nicht mehr zu meinem Guten, wenn ich noch länger im Heim bleibe. Natürlich habe ich daheim [in Würzburg] keine Lehrstelle, aber ich kann ja 1 – 2 Monate als Bäcker lernen, da stehen alle Tage ein paar [Stellenangebote] in der Zeitung. Bis ich eine andere Stelle habe, könnte ich vielleicht auch Mama helfen. Wenn ich noch länger im Heim bleiben muss, dann kann ich mich nicht mehr beherrschen. Oft könnte ich sämtliche Sachen zum Fenster raushauen. Bei jeder Gelegenheit wollte ich durchgehen [aus dem Heim flüchten], dann geht alles wieder von vorne an. Dein Hein.“
18.01.1954: „Meine Lieben! (…) Ich glaube. dass mir die Lehrzeit nicht anerkannt werden kann, weil ich noch nicht allzu viel weiß. Deshalb könnt Ihr, wenn es möglich ist, eine Lehrstelle als Elektriker besorgen. (…). Alf möchte so gut sein und das Buch, das Inge Lu von mir hat, auch mitschicken (…). Mit herzlichen Grüßen! Euer Hein.“
02.02.1954: „Meine Lieben! (…) Wie geht es Euch und Tante? Mir geht es zur Zeit nicht besonders gut, ich habe immer Magenschmerzen. In der Werkstatt ist jetzt auch immer Arbeit für mich (…). Ich freue mich auf einen Brief von Euch. Mit herzlichen Grüßen. Euer Hein.“
04.02.1954: „Lieber Papa! Heute muss ich Dich nochmals enttäuschen (…). Nachdem ich aber schon zwei Mal ohne Erlaubnis nicht in der Werkstatt war (weil ich heimgefahren bin), hat mich der Meister heimgeschickt [er meint wohl: aus der Werkstatt verwiesen]. Nun bin ich wieder einfacher landwirtschaftlicher Knecht. Wenn Du jetzt auch aufgibst, ich gebe noch nicht auf. (…) Ich werde jetzt bis April noch in der Landwirtschaft arbeiten. Wenn Du nicht mehr willst, dann kannst Du es mir schreiben. Bei mir ist Hopfen und Malz verloren, da kann man nichts mehr ändern. Schreibe mir bitte sofort. Ich bin es nicht wert, dass Ihr für mich die 115 DM im Monat zahlt. Grüße bitte Mama von mir. Mit herzlichen Grüßen. Dein Hein.“
26.02.1954: „Meine Lieben! (…) Habt Ihr schon eine Lehrstelle für mich in Aussicht oder ist es ganz aussichtslos bis April eine Lehrstelle als Elektriker zu bekommen? Wegen der Lehrstelle mache ich mir große Sorgen! Hoffentlich wird alles klappen. (…) Ich freue mich sehr, wenn ich wieder bei Euch in Würzburg wohnen darf! Mit herzlichen Grüßen an alle. Euer Hein.“
Trostlosigkeit, Hilferufe, Verzweiflung, Wut. Hein hatte keine Chance, aus diesen Missständen im Heim ohne schwerste Blessuren herauszukommen. Am 11. Januar 1954 sandte der Anstaltsleiter Dr. Schaubert an unseren Vater ein Telegramm folgenden Inhalts: „Heinrich heute Morgen ohne Grund entwichen.“ – „Ohne Grund“? Hein hatte in seinem Brief vom 06.01.1954 seine Absicht, aus dem Heim auszureißen mitgeteilt und seine Beweggründe ausführlich geschildert. Wer hätte ihm aber schon geglaubt? Die Aufdeckung von offenem und verschwiegenem Machtmissbrauch, von autoritärer Willkür und möglicherweise auch sexueller Übergriffe wäre damals, wie später eine haarsträubende Missbrauchsaffäre an den Rummelsberger Anstalten ans Tageslicht brachte, so gut wie unmöglich gewesen (http://www.suedeutsche.de/bayern/affaere-an-den-rummels 05.04.2016).
Meine Eltern sahen schließlich wohl ein, dass sein Aufenthalt im Erziehungsheim nicht die gewünschte „Resozialisierung“ brachte, sondern den Jungen zu zerbrechen drohte. Sie holten ihn im Juni 1954 zurück. Er wohnte wieder bei uns zu Hause. Hein und ich teilten uns ein Zimmer als Schlaf- und Arbeitsraum, doch lebten wir mehr nebeneinander als miteinander. Hein der Sündenbock der Familie geworden.
Brüderlicher Sommer
In den Sommermonaten Juli und August 1954 führten uns dann zwei Unternehmungen ein letztes Mal wirklich brüderlich zusammen. Wir arbeiteten beide auf dem Würzburger Kilianifest in einer Wurfbude, um Geld für eine gemeinsame Anhalter-Tour durch Bayern in die Alpen zu verdienen. Wir trampten im August bis nach Garmisch-Partenkirchen, übernachteten häufig in freier Natur oder in Scheunen und genossen das „wilde Leben“ von Trampern. Dabei fielen mir durchaus fragliche und kleinkriminelle Verhaltensweisen Heins auf, etwa sein Diebstahl einer vollen Zigarettenpackung aus dem Fond eines Autos, dessen Fahrer uns mitgenommen hatte. Auf dem Weg zurück wurde ich krank. Hohes Fieber veranlasste mich, in Kaufbeuren ein Krankenhaus aufzusuchen. Hein fand bei einer bäuerlichen Familie Unterschlupf, bei der wir genächtigt hatten. Mein Krankenhausaufenthalt zog sich hin, in einer blutigen Operation wurde ein Teil meiner Nasenscheidewand entfernt, weil die Ärzte dahinter eine Vereiterung vermuteten. Das medizinische Ergebnis: Ich konnte seither besser durch die Nase atmen. Ich hoffte, dass Hein bis zu meiner Entlassung bei der bäuerlichen Familie bleiben könnte. Es kam anders. Unerwartet besuchte mich der Bauer und berichete besorgt über Heins Verhalten. Hein mache sich an die Mädchen heran, stifte Unfrieden und störe bei der Arbeit. Er müsse nach Hause geholt werden. Der im Grunde gutwillige Bauer wollte nicht mehr die Verantwortung für Hein übernehmen. Eigentlich wären nun meine Eltern, allen voran mein Vater, am Zuge gewesen, sich um uns zu kümmern und uns zurückzuholen. Mein Vater weigerte sich jedoch, nach Kaufbeuren zu kommen. An dieser schroffen Weigerung zerbrach sogar die Freundschaft mit seinem besten Jugendfreund, der 1935 mein Patenonkel geworden war. Er hatte es für unverantwortlich und erbarmungslos gehalten, Hein und mich nicht zu besuchen und uns nicht mit nach Hause zu nehmen. Mein Vater hatte wieder nach dem Grundsatz gehandelt, wer seine Söhne liebt, der behandelt sie mit ganzer Härte. Seine finanziellen Kräfte wurden allerdings auch wiederholt durch Sonderausgaben belastet, die unsere Eskapaden mit sich brachten. Wir Söhne waren eine kostspielige Brut, die die Geduld und elterliche Liebe auf harte Proben stellte.
Hein gewann im Mai 1953 beim Jugendbuch-Ausschreiben der Franck’schen Verlagsbuchhandlung den 3. Preis, ein Paar Skier. Er war zu dieser Zeit Schüler der Pestalozzischule Würzburg. Im Beisein seiner Schulklasse und des Rektors der Schule wurden ihm in er Universitätsbuchhandlung Schöningh die Skier überreicht. In seinem kurzen Leben vermutlich das letzte Erfolgserlebnis.
Nichts von all dem, was passiert war, ließ jedoch Heins dramatische Kurzschlusshandlung erwartenen. Doch nach der Rückkehr nach Würzburg nahm das Drama seinen Lauf: Heins größter Wunsch war es in den Jahren 1953/54 gewesen, sich einen Plattenspieler und Schellackplatten kaufen zu dürfen. Er hatte eine Vorliebe für amerikanischen Jazz. Mein Vater hatte jedoch nicht das geringste Verständnis für diesen Wunsch, er war strikt gegen „Negermusik“. Als Hein sich auf kriminellem Wege einen Plattenspieler zu beschaffen versuchte, geriet er in eine für ihn auswegslose Situation. Er irrte in der Stadt umher, rief ein letztes Mal meine Mutter aus einer Telefonzelle an und fand kein Gehör. Meine Mutter soll gesagt haben: „Du brauchst erst gar nicht mehr nach Hause zu kommen!“ Er ging daraufhin, so wurde berichtet, in ein Musikgeschäft, ließ sich ein Schallplatte reichen, verschwand in einer Hörkabine, legte die Platte auf, drehte die Lautstärke hoch und nahm ein Gift ein, das rasch wirkte. „Helft mir!“ schrie er im Todeskampf, so wurden mir seine letzten Worte zugetragen. Doch niemand konnte ihm helfen. Nach einer anderen Version des Hergangs soll meine Mutter ihn inständig gebeten haben, wieder heimzukommen. Was war wirklich geschehen? Ich war zu dieser Zeit nicht in Würzburg, ich war nicht dabei.
Sensationsberichte, Spießrutenlauf und Beerdigung
Berichterstattung in der Münchner Illustrierten
Für meine Eltern und uns Geschwister wurde Heins Tod zu einem Spießrutenlauf. Jeder wusste, was passiert war. Die Würzburger „Main-Post“, das „Würzburger Volksblatt“, der „Stern“, die “Münchner Illustrierte“, „Die Bunte“ und andere Presseorgane und Magazine hatten mit bebilderten Sensationsberichten auf das Familiendrama aufmerksam gemacht und hierdurch Neugierige angelockt. Ich erlebte die mediale Berichterstattung als eine persönliche Katastrophe, fühlte mich mit der Familie an den öffentlichen Pranger gestellt. Wir schämten uns. Die Würzburger „Main-Post“ schilderte am 24. September 1954 in ihrem Bericht unter dem Titel „Bei Schallplattenmusik tödliches Gift getrunken“ den Hergang. reißerisch so:
„Am Samstag hat sich ein junger Mensch das Leben genommen. Wir haben über diese Tatsache in unserer Montag-Ausgabe kurz berichtet und wollten es bei dieser Notiz bewenden lassen, wenn die polizeilichen Ermittlungen nicht eine furchtbare Tragödie im Hintergrund dieses Selbstmordes ergeben hätten. Der 16 Jahr alte Schüler, der als letzten Ausweg das Einnehmen von Gift sah, ist der mißratene Sohn einer anständigen Familie, der er schon immer viel Kummer bereitet hat. Heinz hatte am Tage vorher seine 81 Jahre alte Tante, der er 250 Mark gestohlen hatte, mit einem Pflanzenschutzmittel vergiften wollen, damit dieser Diebstahl nicht aufkommen sollte. Wie durch ein Wunder ging sein teuflischer Anschlag fehl. Der Kriminalpolizei ist der Bursche nicht unbekannt gewesen. Er gehörte einer Rotte von Halbwüchsigen an, die mehrere Diebstähle begangen, Autos geknackt hatten und auf dem besten Weg waren, Berufsverbrecher zu werden. Die Eltern versuchten ihren Sohn in einer Erziehungsanstalt zu bessern. Aber Heinz war wohl schon zu sehr auf die schiefe Bahn gekommen. Vor etwa drei Wochen aus der Anstalt zurückgekehrt, sann er, wie er zu Geld kommen könnte. Die alte Tante, die bei der Familie wohnt, hatte Geld. Er stahl es, kaufte davon einen Plattenspieler und Jazzplatten. Jazzmusik war seine große Leidenschaft. Dann reifte in ihm der Plan, die alte Frau aus dem Wege zu schaffen, damit sie den Diebstahl nicht bemerken sollte. Beim Mittagessen tröpfelte er unbemerkt ein Planzenschutzmittel in den Suppenteller der Frau. „Das riecht doch so komisch“, meinte die Tante, als Heinz, seine Schwester und die Mutter um den Tisch saßen. Heinz gab keine Antwort. Als seine Mutter einen Löffel kostete, tat er auch nichts, sie daran zu hindern, obwohl er wusste, daß die Suppe tödliches Gift enthielt. Seine Mutter musste sich sofort übergeben, die Suppe wurde weggeschüttet und es wurde weitergegessen. Noch ahnte niemand, daß hier ein Anschlag gegen das Leben einer alten Frau vorbereitet war. Später entdeckte die Tante, daß aus ihrer Tasche 250 Mark fehlten. Als Heinz weggegangen war, angeblich wollte er zu einem Freund, und der Vater kam, fiel es allen bei der Unterhaltung über das verschwundene Geld und den Vorfall beim Mittagessen wie Schuppen von den Augen. Heinz wollte die Tante umbringen! Der Junge blieb die ganze Nacht aus und rief erst am nächsten Morgen an. Ob alles in Ordnug sei, wie es der Tante gehe, wollte er wissen. Die Mutter tat, als sei nichts weiter vorgefallen. Er solle ruhig nach Hause kommen. Heinz kam aber nicht mehr. Er ging in ein Radiogeschäft, ließ sich mehrere Schallplatten geben und ging damit in eine Abhörkabine, wo er sie abspielen ließ. Der Geschäftsinhaber wurde stutzig, als die Musik plötzlich laut wurde. Er sah nach, fand die Tür der Kabine weit offen und den Jungen zitternd auf einem Hocker sitzen. Am Boden war eine Limonadenflasche mit einem kleinen Rest darin und ein Tintenglas, das, wie sich später herausstellte, auch noch Reste des gleichen Pflanzenschutzmittels enthielt, mit dem Heinz seine Tante hatte ermorden wollen. „Ich habe Gift getrunken“, sagte der Junge mit tonloser Stimme, „in fünf Minuten bin ich tot.“ Ein Kunde, der sich zufällig im Geschäft befand, steckte Heinz sofort einen Finger in den Mund, worauf sich der Bursche übergeben mußte. Aber es war zu spät, kurze Zeit nach seiner Einlieferung in ein Krankenhaus starb Heinz, obwohl die Ärzte alles daran gesetzt hatten, um ihn noch zu retten. Als dem Vater die Nachricht überbracht wurde, daß sein Sohn sich das Leben genommen hatte, sagte er: „Das war wohl das beste, ich hätte ihn ja doch wegen Mordversuchs anzeigen müssen.“ (Main-Post Nr. 221, 24.09.1954).
Hein starb erst einen Tag später an den grässlichen Wirkungen, die das Gift auf die inneren Organe hatte. Die Ärzte hatten, wie meine Schwester erzählt, meinen Eltern geraten, ihn sterben zu lassen.
Die Printmedien hatten „Das Drama von Würzburg“, wie es die „Münchner Illustrierte“ in großen Lettern tituliert hatte, in ihren Berichten noch mit drastischen Formulierungen und angeblich wörtlichen Zitaten ausgeschmückt. Die „Münchner Illustrierte“ hatte sogar zu einer großformatig nachgestellten Situation auf der abgegildeten Fotografie „Die Schallplatte des Todes“ laufen lassen und ein Coca Cola-Flasche und das angebliche Giftgläschen daneben gestellt. Bildkommentar: „Die Schallplatte des Todes drehte sich gespenstisch, als man den 16jährigen Heinz Mintzel fand. Eine verglommene Zigarette klebte zwischen seinen Fingern, das hübsche Gesicht war starr. Aus dem Lautsprecher dröhnte es: ,Cock a Doodl doo‘. “
Das Wort Trauma wird in solchen Fällen rasch im Munde geführt. Es war aber so, jeder einzelne der Familie war traumatisiert. Mein Vater und ich gingen als einzige Familienmitglieder vor seiner Beisetzung in das Leichenschauhaus, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen. Er lag aufgebahrt im Raum. Sein blass-wächsernes Gesicht verriet nichts mehr von seinem dramatischen Todeskampf. Aus seinem linken Mundwinkel quoll eine dunkele, sirupfarbene Flüssigkeit der Verwesung. Ich war innerlich erstarrt, wechselte mit meinem Vater kein Wort und schaute unverwandt auf meinen Bruder. Er lag unerreichbar vor uns, als habe er nichts mehr mit uns zu tun. Die rituelle Formel „von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!“ gewann in diesem Augenblick einen kosmischen Sinn. Wir verließen tief bedrückt den Raum. Das Bestattungsamt stellte für den letzten Blick auf den Verstorbenen eine „Leichengebührerhöhung“ von einer Deutschen Mark in Rechnung (Kostenaufstellung vom 20.09.1954).
Hein wurde in Würzburg beerdigt und nicht im Nürnberger Familiengrab beigesetzt. Meine Mutter wollte ihn, wie sie sagte, in ihrer Nähe haben und jederzeit an sein Grab gehen können. Der Friedhof lag gegenüber der Straße, in der wir wohnten. An den Inhalt der Predigt des Pfarrers kann ich mich nicht mehr erinnern, nicht an ein einziges Wort des Trostes. Viele Fragen blieben offen. War Hein bereits im Rummelsberger Landwirtschaftsbetrieb an das Gift herangekommen? Damals waren solche Mittel leicht zugänglich. Hatte er sich schon in Rummelsberg mit dem Gedanken getragen, sich das Leben zu nehmen? War es dann eine Übersprungshandlung gewesen, seine Tante zu vergiften, obwohl er ihr, wie viele Briefe bezeugen, herzlich zugetan war? Er hatte sie immer grüßen lassen und sich nach ihrem Befinden erkundigt. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich darüber ernsthaft Gedanken machte. Seine rigiden Erziehungsmaximen gingen einher mit einer tiefen Verachtung der Psychologie. Meine Mutter hatte sich hingegen intuitiv um eine fachpsychologische Beratung bemüht und ein paar Adressen erhalten, war jedoch ohne Hilfe geblieben. Meine Eltern redeten sich ein, meinem Bruder seien ungünstige Charaktereigenschaften mit ins Leben gegeben worden. Unsere Eltern schrieben somit, um den Schock zu bewältigen und sich selbst zu entlasten, Hein selbst die Schuld an seinem Unglück zu. Im Jahr, in dem mein Bruder sich das Leben nahm, schrieb der Psychoanalytiker C. G. Jung: „Wenn wir an einem Kind etwas ändern wollen, sollten wir zuerst prüfen, ob es sich nicht um etwas handelt, das wir an uns ändern müssen.“
Die bitterste innere Verletzung und Demütigung, die ich nach der Berichterstattung über den Tod meines Bruders erfuhr, war das strikte Hausverbot, das die Eltern meiner späteren Frau über mich verhängten. Die Eltern Schaltenbrand drängten ihre Tochter, den Verkehr mit mir abzubrechen. Ich sei, wie die Untaten meines Bruders gezeigt hätten, kein ins Professorenhaus Schaltenbrand passender Freund. Ich käme nach allem, was man so höre, aus einer zweifelhaft beleumundeten Familie. Ich selbst sei ein schwieriger Fall und Vagabund. Der Umgang mit mir sei schädlich. Meine spätere Frau trotzte den üblen Nachreden und stand zu mir. Vom Herbst 1954 bis Anfang 1957 konnten wir uns nur heimlich treffen und schreiben. Meine Schwester, die zu jener Zeit in Würzburg eine Buchhandelslehre absolvierte, diente uns als Zwischenadresse, über die meine Briefe umgeleitet wurden. Weit über hundert Briefe stammen aus dieser Zeit, in der es noch keine digitale Kommunikation gab, die es ermöglicht hätte, unauffällig miteinander zu korrespondieren.
Tote kehren in Träumen zurück
Mein Bruder hatte auch ein empfindsames Gemüt. Diese Seite seiner zerbrechlichen Persönlichkeit war vernachlässigt und misshandelt worden. Der familiäre Alltag mit seinen Schroffheiten und Autoritätskonflikten hatte den Jungen erdrückt. Seine einfühlsame Seite war vier Jahre zuvor in den Augusttagen des Jahes 1950 zum Vorschein gekommen, als unser Großvater Mintzel im Sterben lag. Großvater war in seinen letzten Tagen aus seiner kleinen stickigen Kammer ins Kinderzimmer verlegt worden, wo ein großes, hölzernes Doppelbett stand. In dem alten Ehebett – es stammte aus dem ehemaligen Haushalt meines Großvaters – hatten Hein und ich in der Nachkriegszeit geschlafen. Wir beide hatten nun auf einer Seite zusammenrücken müssen, damit Großvater auf der anderen Platz hatte. Unsere Mutter hatte meinen Bruder und mich mit der Aufgabe betraut, nachts am Sterbebett zu wachen und zu rufen, „wenn es soweit sei“, und uns damit sicherlich psychisch überfordert. Wir hatten uns mehrere Nächte lang in der Nachtwache abgewechselt und dem Atmen des Großvaters gelauscht. Dieser starb am frühen Morgen des 30. August, nachdem Hein die Wache pflichtbewusst und still übernommen hatte. Hein war erst zwölf Jahre alt, als er neben dem sterbenden Großvater lag und dessen Todesstunde miterlebte. Großvaters letzte Atemzüge, ich höre sie noch heute, waren unerträglich. Ich nahm, um meine aufgewühlten Gefühle zu „versachlichen“, meine Armbanduhr und verfolgte auf dem Ziffernblatt den Sekundenzeiger. Nach drei schwächer werdenden Atemzügen starb er. In den nächsten Nächten meinte ich, meinen Großvater noch durch die Gänge der Wohnung schlurfen zu hören.
Meinen Bruder und mich hatten diese Tage innerlich tief verbunden. Wir hatten nach dem Hinscheiden unseres Großvaters in einem existenziellen Gespräch verabredet, dass wer von uns zuerst sterbe, sich beim anderen aus dem Jenseits melden und berichten solle. Ob diese Abmachung auf einem Jenseitsglauben beruhte oder nur eine Frage der Neugier war, ob es so etwas wie ein Jenseits geben könnte, kann ich nicht mehr beantworten. Ich glaube, dass mich damals Jenseitsvorstellungen beunruhigten. Hein meldete sich indes nicht. Stattdessen zeigte er sich Jahrzehnte lang in meinen Albträumen. Diese waren das verschlüsselte Jenseits, aus dem er hervortrat. Es scheint, als sei die Seele eines engen Familienangehörigen auch nach seinem Tod noch als Geist vorhanden, weil die innere Kommunikation mit ihm anhält. Der Verstorbene ist nach wie vor ein integraler Bestandteil des eigenen seelischen Beziehungssystems. Vielleicht rührt daher der uralte Geisterglaube. In Träumen sprach ich oft mit meinem Bruder, der in seiner Gestalt, seinen Eigentümlichkeiten und seiner Stimme so lebendig schien wie der Mensch, den ich aus den vertrauten Tagen unseres Miteinanderseins erinnerte. Es fühlte sich so an, als sei er wirklich da. Dahinter stand immer mein eingebranntes Schuldgefühl, als Bruder versagt zu haben. Sein Tod machte es unmöglich, Böses wieder gutzumachen.
Am 11. Januar 1996, rund 51 Jahren nach seinem qualvollen Tod, begegnete ich Hein nachts in einer typischen Nachkriegssituation wieder. Im Traum „kletterte ich mit ihm in den Nürnberger Ruinen umher. Wir schauten in offene Kellergewölbe bis in schuttbedeckte Winkel und Ecken hinein. Plötzlich rutschte mein Bruder über Geröll durch Engpässe hinab in einen halb verschütteten Raum. Er wurde von dem nachrutschenden Erdreich begraben. Ich konnte ihn nicht retten, und jeder Rettungsversuch wäre wohl vergeblich gewesen.“ (Notizen & Skizzen, Band 2, 11.01.1996). Dieser Albtraum verband zwei meiner Schreckensszenarien mit seinem Tod: Die Trümmerberge und ihre dunklen Höhlungen aus der Kriegszeit.
Am 17. April 1999: „Im Traum erlebe ich einen Streit mit meinem verstorbenen Bruder Heinrich (Hein). Wir raufen und schlagen uns auf einem Gehsteig. Ich treffe ihn so schwer, dass er taumelt und stürzt. Er schlägt vor mir auf der Bordsteinkante auf und bricht sich das Genick. Er ist tot. Im Traum scheine ich an seinem Tod folglich direkt schuld zu sein. Nach diesem Ereignis, das mich entsetzt, tritt im Traum meine Schwester in Erscheinung und wirft mir vor, den Tod Heins verursacht zu haben. Ich verteidige mich mit dem Hinweis, ich hätte dieses Ereignis nur geträumt, Hein sei doch schon lange tot. Ich befreie mich im Traum von dem Albtraum, indem ich das Geschehen als ein geträumtes erkläre.“ (Notizen & Skizzen, Band 6, 17.04.1999).
Aber heidschi bumbeidschi, schlaf lange,
es ist ja dein Muatter ausganga;
sie ist ja ausganga und kimmt neamer hoam
und laßt das kloan Biabele alloan!
Aber heidschi bumbeidschi bum bum,
aber heidschi bumbeidschi bum bum.
Der Heidschi bumbeidschi is kumma
Und hat ma mein Biabla mitgnumma;
er hat ma’s mitgnumma und hat’s neamer bracht,
drum winsch i mein‘ Biaberl a recht guate Nacht!
Aber heidschi bumbeidschi bum bum,
Aber heidschi bumbeidschi bum bum.
Thank you for sharing all these thoughts, recollections and difficult stories with us.