11. Studium der Freien Malerei und Grafik, 1955-1957

„Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir herauswollte – Warum war das so schwer?“
(Hermann Hesse: Demian)

Nach dem Schockereignis des Jahres 1954 stand mein Entschluss unumstößlich fest: Raus aus der Familie! Raus aus dem elterlichen Haushalt! Ich brach die Schule ab, bestand an der Werkkunstschule Hannover die Aufnahmeprüfung und das Probesemester und suchte im Studium der Freien Malerei und Grafik nach einem anderen Weg der Lebensgestaltung. Mein Bruder hatte seine Niederlagen mit dem Leben bezahlt, ich schwang mich auf und begab mich auf einen abenteuerlichen Weg der Selbstfindung. Ich hatte Glück im Unglück. Die Flucht nach Hannover zur Werkkunstschule war kein zweiter Irrweg, Zeichnen und Malen waren keine plötzlich entdeckten Fähigkeiten, ich hatte mich damit schon über viele Jahre beschäftigt. Nun hatten mich eine unbändige Lust und Neugier gepackt, auf künstlerischem Wege eine neue Freiheit zu gewinnen. Dass ich Talent dazu hatte, bezweifelten in meiner Umgebung selbst die nicht, die in mir einen Nichtsnutz sahen, einen kleinen verwilderten Abenteurer, der auf keinen grünen Zweig mehr zu kommen schien.

Alf Mintzel, Selbst beim Malen, 1955, Tintenzeichnung

Mein Vater war meinen künstlerischen Träumen nicht abgeneigt. Er stimmte meinem Entschluss zu, die Schule zu verlassen und die Werkkunstschule Hannover zu besuchen, unterstützte mich allerdings nur mit einem monatlichen Betrag in Höhe von 107 Deutschen Mark. Davon waren 74 Mark für den Lebensunterhalt vorgesehen – inklusive Malutensilien wie Leinwände, Farben, Stifte und anderes mehr. Das war viel zu wenig. Ich musste monatlich mit Gelegenheitsarbeiten mindestens das Doppelte hinzuverdienen, um über die Runden zu kommen. An Wochenenden fuhr ich zum Continental-Reifenwerk, das in Hannover-Stöcken seinen Standort hatte, und arbeitete dort von Samstagnachmittag bis Sonntagmittag in der sogenannten industriellen Reinigung. Ich schabte zusammen mit Arbeitern in den noch erhitzten Kesseln die Gummireste aus. Wir kamen rußverschmiert aus der Fabrik. Ich war spindeldürr, wog nur knapp über fünfzig Kilogramm, aus dem blassen schmalen Gesicht stachen zwei Augen hervor. In der kalten Jahreszeit trug ich einen schwarzgefärbten ausgedienten Soldatenmantel und eine ebenso gefärbte Pelzmütze aus Hasenfell. Letztere hatte ich 1950 von meinem Großvater übernommen. In der Zeit des ungarischen Aufstandes, im Herbst 1956, wurde ich in der Straßenbahn angesprochen und gefragt, ob ich vom Aufstand käme. Offensichtlich hinterließ ich den Eindruck eines grimmig dreinschauenden Revolutionärs. 1956 hielt ich in meinem Tagebuch meine generelle Einschätzung der politischen Weltlage und der gesellschaftlichen Systemkonkurrenz zwischen West und Ost fest, die im Nachhinein von einer gewissen Hellsichtigkeit zeugen: „Die Idee eines Welthumanismus wird uns und kommende Generationen mehr und mehr bewegen, ja bewegen müssen. Die Lösung, sofern eine solche überhaupt möglich sein wird, liegt in ferner Zukunft. Der Sozialismus, zumindest in seiner heutigen Form, dürfte sich eines Tages als Irrtum herausstellen, da er die Realität verkennt.“ (Notiz vom 03.02.1956)

Der Saufheilige, Damenbesuch und Bruder Hunger

Vom Herbst 1955 bis zum Frühjahr 1959 wohnte ich in Hannover-Linden in der Badenstedterstraße 10 in einem alten Backsteinhaus, das vom Bombenkrieg verschont geblieben war. Zur Werkkunstschule ging ich etwa dreißig Minuten zu Fuß. Einen Fahrschein der Straßenbahn konnte ich mir selten leisten. Das große graue Gebäude der Schule lag in der Köbelingerstraße rings umgeben von Ruinen der ehemaligen Altstadt. Der Wiederaufbau hatte gerade erst begonnen. Das Gebäude der Werkkunstschule, das einsam aus den Trümmerfeldern herausragte, war selbst nur notdürftig restauriert worden.

Meine Vermieter führten in der kleinen Dachwohnung im vierten Stock eine damals sogenannte Onkelehe. Es handelte sich also um eine Witwe, die unverheirateter Weise mit einem Mann zusammenlebte. Sie verließen am frühen Morgen die Wohnung, gingen ihrer Arbeit nach, kehrten am Abend erschöpft zurück und waren auf meine monatliche Mietzahlung angewiesen. 35 Deutsche Mark waren damals viel Geld. Einmal in der Woche kam die Tochter der Vermieterin, eine junge, flotte Frau, und putzte mein muffiges Zimmer. Mein kleines Dachzimmer war das erste, direkt am Wohnungshaupteingang gelegene Zimmer, das von der Hauptwohnung durch eine Zwischentür getrennt war. Ich hatte zur Hauptwohnung nur zu bestimmten Zeiten Zugang. Die Vermieter sperrten, wenn sie morgens zur Arbeit gingen, die Zwischentür ab, so dass ich kein fließendes Wasser hatte, das nur in der Küche floss. In meinem Zimmer standen auf einer Anrichte eine Waschschüssel und ein Krug. Bevor meine Vermieter am frühen Morgen die Wohnung verließen, holte ich aus der Küche frisches Wasser, mit dem ich über den ganzen Tag über auskommen musste. Die primitiven sanitären Anlagen spendeten nur kaltes Wasser. Heißes musste auf dem Küchenherd zubereitet werden. Am Morgen musste ich mich, wenn überhaupt, mit einer Katzenwäsche begnügen. Bis zum Abend war das wenige frische Wasser aufgebraucht. In der Waschschüssel blieb eine graugeschäumte Brühe zurück. Es gab kein Bad, keine Dusche, geschweige denn eine Waschmaschine. Meine schmutzige Wäsche sandte ich etwa alle drei bis vier Wochen nach Hause. Meine Mutter schickte sie gewaschen wieder zurück. An der Rückwand meiner Bude stand ein Kohlenofen, den ich im Winter mit Briketts beheizen konnte. Meistens reichte mein Geld dafür nicht aus, so dass ich mich an kalten Tagen ins Bett verkroch. Die Toilette lag außerhalb der Wohnung auf dem Zwischenstockwerk zur nächsten Etage. In dem Außentrakt zum Haus waren Plumpsklos mit hölzernem Deckel eingebaut. Als Klopapier diente geschnittenes Zeitungspapier, das in Bündeln fein säuberlich neben dem Loch auf dem Holzsitz lag. Das Treppenhaus war nicht beheizt und nur mäßig beleuchtet. Wehe dem, der einmal dringend musste! Schicksalhaft füllte sich die Hose. Kurzum, die Zustände waren, gemessen am heutigen Komfort, vorsintflutlich und unappetitlich.

Der Fußboden meines Zimmers hatte einen damals üblichen Linoleumbelag, bräunlich, piefkefarben und mit dem typisch.en Geruch. Die Tapeten waren zart rosafarben und gaben dem Raum eine besonders hübsche Note. Unter der Dachschräge stand ein Eisenbett, das Bettzeug lag meistens unordentlich darauf. In einem Wandschrank unterhalb der Dachschräge bewahrte ich meine Utensilien und Wäsche auf. Auf einem Sims, der die Dachschräge entlang lief, hatte ich bis zu meinem Auszug den Ausschnitt aus einer Lithografie aus der Werkkunstschule gestellt, auf der eine Art Priesterfigur abgebildet war. Ich nannte die kleine „Ikone“, die ich bis heute aufbewahrt habe, meinen „Saufheiligen“. Im Jahr 1958 lag ich einmal krank im Bett, als es klingelte und ein katholischer Geistlicher in schwarzer Amtstracht um ein Gespräch bat. Ich führte ihn, mich für meinen Zustand entschuldigend, in mein Zimmer. Er nahm auf dem einfachen Holzstuhl Platz und versuchte mit allerlei Fragen herauszufinden, was ich treibe und wie es mir gehe. Er fragte, ob ich noch zur Kirche ginge. Er hatte wohl aus meinen Antworten herausgehört, dass ich aus Bayern komme, und daraus geschlossen, dass ich ein Katholik sein müsse. Mit einem Unterton der Ermahnung äußerte er dann: „Nun ja, von Bayern und von zu Hause weg, und schon ist der Kirchgang vergessen“. Ob ich wisse, wo in Hannover-Linden die Kirche liege? Er meinte natürlich die katholische. Ich könne im Kirchenchor mitsingen. In diesem Moment fiel sein Blick auf meine „Ikone“, auf den „Saufheiligen“. Er erkundigte sich, was das Bildchen darstelle. Ich ließ eine Silbe weg und machte aus meinem „Saufheiligen“ einen „Heiligen“. Der Pfaffe meinte, also seien Religion und Kirche doch noch in mir lebendig. Als ich ihm daraufhin offenlegte, dass ich kein Katholik sei, brach er mit wenigen Worten das Gespräch ab, erhob sich und strebte zur Türe. Es muss ihm peinlich gewesen sein, am Ende zu erfahren, dass ich nicht zu seinen Schäflein zählte. Anscheinend hatte er mich mit jemandem verwechselt. Mein „Saufheiliger“ symbolisierte übrigens kein Säuferleben. Dazu hatte ich zu wenig Geld. Die abgebildete menschliche Figur trug wie ich asketische Züge (Notizen & Skizzen, Band 4, 12.07.1997).

In der Nähe zum Fenster der Dachgaube stand meine große Staffelei so aufgestellt, dass möglichst viel Tageslicht auf die Leinwand fiel. Daneben diente ein weiß lackiertes Nachtschränkchen als Auflage für Farben, Pinsel und Terpentinöl. Maler Mintzel saß auf einem einfachen Holzstuhl vor seiner Staffelei. Das Ambiente ähnelte im Genre dem berühmten Bild Carl Spitzwegs, nur war es noch kärglicher und erbärmlicher.

Alf Mintzel; links: Straßenszene, 1955;  rechts: Pariser Straßenszene, Paris 1955; Tuschskizzen

„Damenbesuch“ war nicht erwünscht, und wenn schon einmal eine „Dame“ zu mir in den vierten Stock gefunden hatte, musste sie spätestens um 22 Uhr das Zimmer verlassen. Sonst hätte meinen Vermietern der Kuppeleiparagraf gedroht. Sie drückten aber schon einmal ein Auge zu, wenn Inge Lu Schaltenbrand, meine „Verlobte“, aus Würzburg kam. Inge Lu riss ein paar Mal von zu Hause aus, um mich in Hannover zu besuchen. Sie gaukelte ihren Eltern vor, sie müsse Schuhe zum Schuster bringen, packte ein Paar Schuhe und einen Rock ein und fuhr mit der Eisenbahn zu mir. Inge Lu lebte dann zwei Tage mit mir auf meiner Bude. Wir „pflegten“ unsere abenteuerliche Liebe. Das gut behütete Mädchen aus einem großbürgerlichen Elternhaus hatte Mut! Am 18.04.1957, an meinem 22. Geburtstag, – Inge Lu war zu einem Kurzbesuch nach Hannover gekommen – , notierte ich folgendes Malheur: Mit Inge Lu 2 Liter Chianti [getrunken]. Sie musste nach Mitternacht ans Fenster, um >vorm Mond die Reiher vorbeiziehen zu sehen<“. Und am nächsten Tag: „Frau Seifert vom 1. Stock beschwerte sich, weil die Reiher auf ihrem Fenstersims eingefallen waren. Sie nannte das eine Schweinerei und glaubte, ich hätte die Vögel geschickt – Ein zoologischer Irrtum!“

„Bruder Hunger“, wie ich ihn nannte, begleitete mich fast durch die ganze Hannoveraner Zeit hindurch, auch wenn Inge Lu mich des öfteren, wenn ich wieder einmal am „Existenzminimum“ lebte, mit kleinen Fresspaketen und Geldbeträgen versorgte. In meinen Tagesnotizen und Briefen finde ich zahlreiche Klagen. Ich greife ein paar heraus:

20.03.1957: „Jede freie Stunde habe ich mit Malen verbracht und ein paar leidliche Bilder produziert, dabei aber so viel Geld für Farben und Materialien ausgegeben, dass ich nun abends mit leerem Magen dasitze.“

18.05.1957: „Wie so oft klimpert kein Heller mehr in meiner Tasche. Und der Brotkorb hängt in unerreichbaren Höhen. Meine Mutter hat mir versprochen, zum Wochenende fünf Mark zu schicken, sie hat mich jedoch in Stich gelassen. Bruder Hunger hat sich also als Gast eingestellt und lebt mit mir auf meiner Bude. Das gibt allemal einen recht ernsthaften Dialog. Mein Magen, das heißt, Bruder Hunger knurrt, und da es sich geziemt in der Sprache seines Gastes zu reden, knurrte ich eben auch. Leider ist diese Art von Gesellschaft nicht gerade labend, sie zeigt vielmehr auf einen tiefen sozialen Stand hin. (…). Doch soll man über den anderen nicht nur schlecht reden. Eine gute Seite hat selbst Bruder Hunger, er gibt geselligen Gefühlen wieder neue Impulse. So bin ich gestern Abend zur Familie Krengel gegangen, natürlich gerade zur Abendbrotzeit, um auch gewiss eingeladen zu werden.“

[Ohne Datum; 1957]: „Heute Morgen, als ich aufwachte, klopfte jemand an die Türe. Ohne erst auf mein >Herein!< zu warten, kam er wieder herein, mein Bruder Hunger. Er kam zu mir ans Bett und ließ mich nicht mehr einschlafen. Er redete unaufhörlich auf mich ein. Ich hatte nicht einmal eine Zigarette, um ihn zum Schweigen zu bringen (…)“

30.05.1957: „Am Freitag, den 24. Mai abends in Hannovers Unterwelt abgetaucht und erst am Morgen des 25. wieder an die Sonne gekommen. Der Gang war faszinierend, abstoßend und von >großem geistigen Ertrag<. Hat jedoch mein ganzes Geld verschluckt. Deshalb in den letzten Tagen Hunger und Stillung durch Almosen. Morgens aß ich einige Zwiebäcke, die den größten Hunger stillten und mich von dem Gedanken abbrachten fortzugehen, um irgendwo Essen zu bekommen. Ich setzte mich an die Arbeit (…)“

18.04.1958, [allein in meiner Bude]: „Geburtstag: 23 Jahre. Nichts zum Essen! Warum feiern? Und diese Gedanken!! Noch keine Post von Inge Lu. Was kommt? Memento vivere!“

Im Nachtzug zu meiner Amour fou

Besonders an lebensprallen Sommertagen, wenn am Abend von den Hauswänden die Wärme zurückstrahlte und die Menschen draußen saßen, hielt ich manchmal unsere „Fern-Liebe“, die „paper love per Post“ nicht mehr aus. Mich packte die Sehnsucht nach Nähe so mächtig, dass ich am Wochenende zum Hauptbahnhof in Hannover eilte, mit geliehenem Geld eine Fahrkarte löste und mit dem Nachtzug nach Würzburg fuhr. Der Schnellzug legte die Strecke in etwa fünf-sechs Stunden zurück. Es war noch die Zeit der großen Dampflokomotiven, die fauchend und pfeifend durch die Landschaft fuhren. Lokführer und Heizer standen im Führerhaus, der Heizer schippte die Kohlen aus dem Tender in den qualmenden Feuerrachen. Die langen Wagen des Zuges waren noch voneinander durch Stahlplatten getrennt, über die man außen von einem Wagen zum anderen gelangte. Wer den Wagen wechseln wollte, musste auf den Plattformen Wind und Wetter in Kauf nehmen. Rußpartikel reizten die Augen und bildeten auf weißen Hemden kleine Schmutzflecken. Voll innerer Anspannung trat ich nachts auf den Perron des Wagens, schaute in die Dunkelheit hinein, rauchte eine Zigarette und ließ die Lüfte durch meine Haare streichen. Der Zug hielt nur an den großen Stationen, in Kassel, Bebra und Fulda, dann fuhr er mit stoßend-rhythmischem Fauchen wieder an, nahm rasch Fahrt auf und rollte in die Nacht hinein. Die Schienen waren noch nicht verschweißt. sodass die gleichweiten Nahtstellen einen Takt schlugen, wenn die Stahlräder über sie hinwegfuhren. Ein endloses Tamdada, Tamdada, Tamdada. Die heutigen silbernen Schlangen der Intercity-Züge fahren fast lautlos auf den neuen Schienen. Die raue Romantik der alten Dampflokzeit wird nur noch auf nostalgischen Strecken in Erinnerung gebracht.

Frühmorgens kam ich in Würzburg an. Die Stadt schlief noch. Sonntägliche Stille. Der Main schimmerte im Morgenlicht, auf die Festung Marienberg fielen die ersten Sonnenstrahlen. Ich ging zu Fuß über den Stadtring hoch zur Wittelsbacher Straße und bog weiter oben in die Zeppelinstraße ein. Das Wohnhaus Nr. 43, ein Einfamilienhaus, gehörte Inge Lus Eltern. Inge Lu bewohnte im Hochparterre das linke vordere Eckzimmer. Ich hob kleine Kieselsteine auf und warf sie vorsichtig an ihr Fenster. In der Morgenstille war jeder Wurf ein Wagnis, er konnte unerwünschte Zuschauer alarmieren. Das Klackern der Steine weckte Inge Lu, sie ahnte, wer da unten stand. Sie öffnete das Fenster, gab mir pantomimisch zu verstehen, dass sie herauskommen würde, und verschwand flugs wieder hinter den Vorhängen. Wenige Minuten später stand sie vor mir. Geglückte Überraschung! Unbeschreibliche Wonne! Eine sanfte Umarmung, Küsse, noch immer schüchtern, wie eben jugendliche Küsse der 1950er Jahre waren. Dann nichts wie weg vom Hause, um nicht entdeckt zu werden. Wir wanderten in der Morgenfrische hoch zum Sieboldswäldchen und hinüber zu den Weinbergen zwischen dem Frauenland und Randersacker. Feldlerchen stiegen quirilierend ins Blau. Goldammern begrüßten den anbrechenden Tag mit ihrem hellen Izizizibiii. Wir wanderten leichten Schritts weiter, hielten inne, küssten uns und sprachen über alles, was uns gerade in den Sinn kam. Ein Gezwitscher der Liebe. Die Stadt erwachte, erste Motorengeräusche drangen herauf. Die Glocken der sechsunddreißig Würzburger Kirchen läuteten den Sonntag ein. Wir mussten zurück, damit Inge Lu noch rechtzeitig zum späten sonntäglichen Frühstück erscheinen konnte. Ein paar Straßen von ihrem Elternhaus entfernt ein wehmütiger Abschied. Danach besuchte ich meine Eltern. Meine Mutter versorgte mich mit frischer Wäsche und einer kräftigen fränkischen Mahlzeit. Gegen Abend fuhr ich mit dem Schnellzug nach Hannover zurück – ins Stadium der „Fern-Liebe“, aber mit dem Proviant der wunderbaren frühmorgendlichen Begegnung.

Hubert Elsässer, Johannes Itten, Erich Rhein, Hinnerk Schrader und Jürgen Krengel

Im folgenden Abschnitt erzähle ich detailliert von meinem Studium der Werkkunstschule. Diejenigen, die sich nur wenig für moderne Kunst und deren renommierte Vertreter interessieren, mögen dieses Kapitel getrost überspringen.

Der Besuch der Werkkunstschule brachte eine „ästhetische Wende“ mit sich. Mein Kunstverständnis wandelte sich unter dem Lehrprogramm und den neuen Eindrücken zu einer modernen Auffassung. Ich war in eine konservativ-traditionelle, bildungsbürgerliche Anschauung von Kunst hineingewachsen. Mein Vater, ein guter Zeichner und Kolorist, war der alten Kunst und der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts verhaftet. Anfang der 1950er Jahre war bei uns zu Hause vom „Verlust der Mitte“ die Rede. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr hatte mit dieser kunstkritischen Streitschrift 1948 dem bildungsbürgerlichen radikalen Antimodernismus im Nachhinein Argumente geliefert, die auch die NS-Aktionen gegen die „entartete Kunst“ rechtfertigen konnten. Sedlmayrs Anklageschrift gegen die vermeintliche Herabsetzung und Zerstörung des Menschenbildes in der (klassischen) Moderne diente meinen Eltern dazu, die „Kunst der Schmierfinken“ pauschal abzulehnen und zu verspotten. An den Wänden unserer Wohnräume hingen teure Reproduktionen alter Kunst, die Alexanderschlacht von Altdorfer, Watteaus Einschiffung nach Kyrene, der Rembrandt zugeschriebene Mann mit Goldhelm, ein niederländisches Blumenbild und Albrecht Dürers fränkische Landschaftsaquarelle. Ich selbst war in diesem Milieu in den Sog einer stockkonservativen Kunstauffassung geraten und hatte in der Nachkriegszeit beim Zeichnen und Malen stets das „schöne Abbild“ angestrebt. Allerdings muss ich meinem Vater zugute halten, dass er mich schon früh zum Zeichnen und Malen anhielt und diese Begabung förderte. Im ohnehin nur marginalen und wenig anschaulich gestalteten Kunstunterricht am Gymnasium mussten wir irgendwelche Gegenstände abzeichnen oder naturalistische Fantasiebilder malen. Weil ich gut zeichnen konnte und unser Kunstlehrer mich für ein Naturtalent hielt, schickte er mich zu Beginn einer jeden Zeichenstunde zu einer Würstchenbude am Rathenau-Platz, um für ihn frisch belegte Brötchen zu kaufen. Das war das Privileg eines „Begabten“. Während wir über unseren Zeichenblättern saßen, aß er genüsslich seine Semmeln.

In den Jahren 1953/54 versuchte ich meine zeichnerischen Fähigkeiten unabhängig von Schule und Elternhaus über ein bloßes Hobby hinaus weiterzuentwickeln. Ich lernte in Würzburg Hubert Elsässer kennen, der zu dieser Zeit schon fest entschlossen gewesen war, Bildhauer zu werden. Wir trafen uns an vielen Nachmittagen, um miteinander zu zeichnen, wobei wir uns besonders im Porträtzeichnen übten. Unsere Freundschaft hielt bis an sein Lebensende im Jahr 2009 an. Elsässer wurde später in Deutschland mit seinen architekturbezogenen Skulpturen und Altarraumgestaltungen zu einem der bedeutendsten Bildhauern in diesem Bereich. Im Jahre 2004 entwarf er auf meine Anregung hin die Erzplatte auf dem historischen Familiengrab Mintzel im alten Sankt Johannisfriedhof in Nürnberg. Das Grab steht wie alle alten Gräber auf dem einstmaligen mittelalterlichen Pestfriedhof unter Denkmalschutz und gehört zum Weltkulturerbe. Ich werde darin also „ewig“ ruhen können.

Von Beginn meines Kunststudiums an wollte ich, so paradox das klingen mag, kein Kunstmaler werden, sondern Bühnenbildner an großen Theatern, also in ein Fach der angewandten Künste gehen. Mir schwebte eine umfassende Ausbildung vor, umfassend in dem Sinne, auch etwas von Tanz, Choreografie und Theatereffekten zu verstehen. Deshalb schrieb ich mich 1955 zugleich als Gast an der Hannoveraner Akademie für Musik und Theater ein. Diese Begeisterung war in mir vor allem durch den französischen Schauspieler und Pantomimen Jean-Louis Barrault (1910-1994) entfacht worden.

Jean Louis Barrault als Baptiste in „Die Kinder des Olymp“

Alf Mintzel, Brief an Jean Louis Barrault, 12. Aug. 1955

Barraults Auftritte als Pantomime in dem Film die „Kinder des Olymp“ (Les enfants du paradis, 1945) hatten mich so stark mitgerissen, dass ich 1955 kurz vor Beginn meines Kunststudiums einen Brief an ihn schrieb, in dem ich darlegte, ich wolle mein Talent zum Malen und Zeichnen mit dem Theater verbinden. Mein handschriftlicher Brief vom 12. August 1955 versetzt mich noch heute in Staunen über meine Naivität und Courage, mich an den weltberühmten Schauspieler zu wenden. Ich weiß nicht mehr, ob ich den Brief tatsächlich abschickte.

Alf Mintzel, Pierrot mit Tod, 1955, Öl gespachtelt auf Hartfaserplatte

Diese innere Beziehung zu Barrault und zu seiner Rolle als Pierrot fand in einem Ölbild, das ich 1955 mit einer Spachtel ausführte, ihren Ausdruck. Meinen Eltern verschwieg ich diese Kombination, mein Vater hätte ohnehin keinen einzigen Pfennig dazugelegt. Die Ausbildung an der Akademie für Musik und Theater brach ich jedoch schon bald ab. Ich hatte mir zu viel vorgenommen. Was blieb, waren die Liebe zum Tanz und ein verrückter tänzerischer Freistil.

Meine Ausbildung an der Werkkunstschule Hannover  (https://de.wikipedia.org/wiki/Kunstgewerbeschule-_und_Handwerkerschule_Hannover) fiel genau in die Zeitspanne zwischen der ersten und der zweiten Dokumenta in Kassel, zwischen die Jahre 1955 bis 1959. Die heftig geführten Auseinandersetzungen über die angeblichen Gegensätze zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst unter Kunsttheoretikern und bildenden Künstlern näherten sich ihrem Höhepunkt. Ich stolperte unvorbereitet, wenngleich wissbegierig in diese Kontroversen hinein und versuchte mich darin zurechtzufinden. Die Auseinandersetzungen wurden mehr oder weniger offen auch an der Werkkunstschule ausgetragen. Es schien im Jahr der zweiten Dokumenta so, als hätte die „Weltsprache der Abstraktion“ (Grohmann, 1955) endgültig den Sieg über die gegenständlichen Strömungen errungen. Allerdings arbeiteten die meisten Künstler in einem Zwischenbereich und in Nischen. Der Leiter der Abteilung der Freien Malerei und Grafik, Prof. Erich Rhein (1906-1956), verfolgte ein nach beiden Seiten offenes Lehr- und Arbeitsprogramm. Er wollte den schroffen Gegensatz nicht mitmachen, wie überhaupt die meisten Hannoveraner Künstler und Lehrer an der Werkkunstschule sich auf der Nahtstelle zwischen dem Gegenständlichen und Abstrakten bewegten, so auch Gerhard Wendland (1910-1986). Die Verunsicherung war allenthalben zu beobachten. Ich ergriff Partei für das figurative Credo, ohne den möglichen Zugang zur Welt über die Abstraktion grundsätzlich infrage zu stellen. Ich blieb der gegenständlichen Malerei treu.

Ich hatte keine Ahnung, wer der neue Lehrer war, woher er kam und welche Bedeutung ihm in der Kunst des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wurde, als er, ein hagerer, großer Mann, als Gastdozent an der Werkkunstschule Hannover vor uns stand. Es muss im Sommersemester 1956 oder im Wintersemester 1956/57 gewesen sein. Wahrscheinlich hatte ihn ein Mitglied des Lehrergremiums zu Beginn des Kurses vorgestellt und etwas über seine Verdienste als Maler, Kunsttheoretiker und Kunstpädagoge gesagt. Es war Johannes Itten (1888-1967), der vor uns stand und einen Kurs über die Farben in der Kunst abhielt. Erst später wurde mir klar, welch wichtiger Mann in der Geschichte der „Klassischen Moderne“ mich in „Die Kunst der Farbe“ eingeführt hatte. Ich bin heute noch stolz darauf, ein Schüler Ittens gewesen zu sein. Ich gehörte zu den wenigen, die aus der Abteilung für „Freie Malerei und Grafik“ kamen. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Itten uns – ganz entgegen der üblichen Abläufe von „Normal-Kursen“ – vor Beginn einer jeden Sitzung zu gymnastischen Übungen aufstehen ließ. Zur Einstimmung auf die Übungen in der Farblehre sollten wir uns aufrichten, unsere Arme rhythmisch schwingen und kreisen lassen, tief durchatmen und uns auf diese Weise körperlich lockern und in Schwung bringen. Diese Lockerungsübungen sollten sich dann auf den Duktus unserer Arbeit mit Farben übertragen.

Ittens großartiges Werk über die „Kunst der Farbe“ erschien in erster Auflage 1960. Ich bin sicher, dass Itten zur Zeit des Kurses, an dem ich unter seiner Leitung teilgenommen hatte, schon an diesem prächtigen kunsttheoretischen und kunstpädagogischen Werk gearbeitet hatte. Unser Kurs hatte wohl zu den „Vorkursen“ gezählt, in denen Itten seine Farbenlehre darstellte, weiterentwickelte und erprobte. Seine Einführung in verschiedene Aspekte der „Kunst der Farbe“, in die Farbenkontrastlehre, in impressive und expressive Wirkungen von Farben und Farbkompositionen sowie in die Wirkungen von Farbstufungen und Tonwerten öffneten mir die Augen und schärften meinen Blick für Bildbetrachtungen. Ich gewann zuverlässige Kriterien für die Qualität von Bildwerken. Allein schon dieser Kurs bereicherte mein ästhetisches Wissen, Sehen und Erleben in so hohem Maße, dass mein Besuch der Werkkunstschule mitnichten ein Irrweg, sondern ein großer Gewinn war. Ich habe diese nur scheinbar verlorenen Jahre nie bereut und lange davon gezehrt. Diese fruchtbare Passage lässt sich schwerlich in finanziellen Bilanzen, materiellen Bereicherungen und Karrierevorteilen bemessen.

Zu Ittens Farbenlehre gehörte auch eine Farbpsychologie, die sich unter anderem mit der individuellen Wahl von Farbklängen befasst. Jeder Kunstschüler wähle, so Itten, in seinem bildnerischen Schaffen Farbklänge aus, die er für sich stimmig und harmonisch halte. Itten glaubte aus einem subjektiv gewählten Farbakkord, aus seinem Gesamtklang, aus der Stellung der Farben zueinander, aus ihrer Richtung und aus den Mengenverhältnissen auf die psycho-physische Konstitution und Befindlichkeit ihres künstlerischen Urhebers schließen zu können. Er sah in diesen gestalterischen Momente objektive Gegebenheiten und Kriterien für die Beurteilung subjektiver Vorlieben. Er demonstrierte die von ihm behauptete psycho-physische Aussagekraft von Farbakkorden und Farbkompositionen an Schülerarbeiten, die während des Kurses entstanden waren. Die esoterischen Neigungen und gewagten Deutungsversuche von Künstlern im Umkreis des Bauhauses waren mir damals nicht bekannt. Was Itten aus den Farbakkorden künstlerischer Bildwerke herauslas, seine Interpretationen und Deutungen, schien mir plausibel zu sein.

Alf Mintzel, Selbstportrait, 1956, Öl auf Pappkarton

Nach Ittens Kurs begann ich von Neuem Porträts zu malen. Einem Porträtierten Farbe zu verleihen, bedeutet jedes Mal, sich mit seiner Persönlichkeit und Lebenswelt zu befassen. Es geht nicht nur um die äußere, abbildhafte Ähnlichkeit, sondern auch um das, was man nicht sieht, um den individuellen Farb-Charakter. Platt formuliert: Welche Farben und Farbkompositionen entsprechen der „inneren“ Person? Es geht zudem um zwei verschiedene Annäherungen: um die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Anderen oder mit der eigenen Person beim Selbstporträt. Wer ist der Andere wirklich? Wer bin ich im Augenblick meiner Selbstdarstellung? Mein Selbstporträt aus dem Jahre 1956, ein hochformatiges Ölbild auf Pappe, war in seiner farbigen und farbkompositorischen Machart höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss der Ittenschen psychisch-physischen Farbenlehre entstanden: Ich trete mit hoch aufgerichteter Körperhaltung von links nach rechts ins Bild. Es ist ein beunruhigender Auftritt in einer imaginären Räumlichkeit. Mein skeptisch prüfender Blick ist auf den Betrachter gerichtet. Damals fühlten sich Menschen, die mir begegneten, von meinem stechenden Blick unangenehm berührt. Diese Fremdbeobachtung habe ich wohl intuitiv erfasst und festgehalten. Hinnerk Schrader (1932-1989), der spätere Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, der zu meiner Zeit noch an der Werkkunstschule Hannover bei Erich Rhein Freie Malerei und Grafik studierte, sagte zu meinen Porträts: „Der Mintzel, der kann malen.“ Hinnerk gehörte damals schon zu den arrivierten Kommilitonen, deren Urteil wir Jüngeren und Anfänger gern hörten.

Alf Mintzel, Mein Bruder Reinald, 1956, Öl auf Holzfaserplatte

Professor Erich Rhein (1902-1956) leitete von 1947 bis zu seinem frühen Tod die Abteilung Freie Malerei und Grafik. Ich erinnere mich an einen kleinen, höchst agilen Mann, der während des Semesters wöchentlich mehrmals am Arbeitsplatz erschien, in dem großen Saal der Abteilung von einer Staffelei zur anderen schritt und mit seinen Schülern deren Arbeitsergebnisse besprach. Wenn er an meine Staffelei trat, blieb es bei wenigen Worten. Nur einmal, so erinnere ich mich, blieb er länger stehen und befasste sich eingehend mit der Machart eines Ölbildes, das ich gerade malte. Es zeigte eine Straße entlang hoher Hausmauern und einen knappen Himmelsausschnitt. Auf dem schmalen, horizontal verlaufenden Gehsteig gingen ein paar Leute. Das war für den eher dekorativ-verspielt arbeitenden Rhein zu öde. Er wollte auf den Farbflächen der hohen Mauern wenigstens ein paar Kratzspuren sehen. Mit dem Pinselende Eingraviertes sollte etwas Leben ins Bild bringen. Seine Empfehlung entsprach aber nicht meiner Bildidee, und so blieb es in diesem Fall bei der etwas „trostlosen“ Malerei. Ein anderes, von mir mit kräftigem Pinselstrich und dynamischem Duktus ausgeführtes Ölbild, ein Halbakt, fand dagegen sein Gefallen. Mehr als von Rhein selbst lernte ich im Grunde von dessen älteren Schülern, denen er sich vornehmlich zuwandte.

Alf Mintzel, Straße in einer Großstadt, 1956, Öl

In den Jahren 1955/56 arbeitete Rhein an der Endfassung seines Lehrbuches über „Die Kunst des manuellen Bilddrucks“, einer „Unterweisung in den graphischen Techniken“. Die von dem Druckermeister Erich Jaeckel geführte Druckwerkstatt bot ihm eine ideale Möglichkeit, sich auf „Die Kunst des manuellen Bilddrucks“ zu konzentrieren, die technischen Probleme durchzuspielen und in Lehrbeispielen aufzuzeigen. Sein Standardwerk zeugt zugleich davon, wie offen er gegenüber den künstlerischen Spielarten seiner Schüler war. Er ließ uns gewähren. Wir durften Techniken und Stile frei wählen und erproben, welche Technik wir gerade bevorzugten. Er unterrichtete nicht doktrinär eine Machart, weder die „abstrakte“ noch die „gegenständliche“. Er sah in den beiden, damals in einen scharfen Gegensatz geratenen großen Strömungen gleichermaßen künstlerische Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten. Ich lernte in seiner Abteilung vor allem die „grafischen Zwischenverfahren“ anzuwenden, insbesondere die Technik der Monotypie und des Linolschnitts. Die theoretische und praktische Ausbildung diesen Techniken vermittelte mir solide handwerkliche Kenntnisse, mit denen ich später bei der Betrachtung von Kunstwerken auf objektive Qualitätsmaßstäbe zurückgreifen konnte. Rhein aß im Dezember 1956 in den vorweihnachtlichen Tagen ungewaschene italienische Weintrauben und ging an den gespritzten Giftstoffen zugrunde.

Mein Kommilitone und enger Freund Jürgen Krengel (http://www.prof-dr-alf-mintzel.de/essay-ueber-den-kuenstler-juergen-krengel/einleitung/) brachte es schon damals zu einer erstaunlichen Fertigkeit. Er schuf großformatige Lithografien von hoher technischer und bildnerischer Qualität.  Sein künstlerisches Schaffen dokumentierte ich erst kürzlich in meinem Essay „Fundsache Stillleben“, den ich zeitnah auf meiner Homepage veröffentlichen werde. Jürgen Krengel hat sich zeitlebens seiner Kunst gewidmet, lebte jedoch äußerst zurückgezogen und machte von seiner Person und seinem Werk nicht viel Aufhebens. So kommt es, dass der bedeutende Künstler bei Wikipedia nicht einmal als Schüler der Werkkunstschule Hannover geführt wird. Auch sonst gibt es im Internet kaum Spuren seines Schaffens.

Alf Mintzel, Halbakt, 1957, Öl

Aus meiner ursprünglichen Absicht, das Handwerk eines Bühnenbildners zu erlernen, wurde nichts. Die Werkkunstschule Hannover war dafür nicht die richtige Ausbildungsstätte gewesen. Es gab keine Kursangebote, die in dieses Metier eingeführt hätten. Insofern hatte ich 1955 blauäugig die falsche Wahl getroffen. Nur einmal wurde ich vor eine bühnenbildnerische Aufgabe gestellt, und diese Aufgabe hatte nicht im Lehrprogramm der Werkkunstschule gestanden. Es war die Verwandlung der großen Räume auf den Stockwerken der Hannoveraner Akademie für Musik und Theater in eine riesige Faschingsbühne. Studierende der Werkkunstschule und der Akademie richteten jährlich zusammen ein mehrtägiges Faschingsfest aus. Die Studierenden der Werkkunstschule fanden sich hierzu mit meterlangen Papierrollen, vielen Farbkübeln und Pinseln ein, um die Akademie in eine Riesenbühne zu verwandeln. Die dekorative Malerei musste großflächig angelegt werden, um die gewünschte optische Wirkung von Kulissen zu entfalten. Es war Hinnerk Schrader, der mir einen breiten Borstenpinsel in die Hand drückte und mich in die großflächige Kulissenmalerei einwies. Zwei Tage lang malte ich wild drauflos und war schon fix und fertig, bevor der Faschingsball begann. Auf dem Fest tobte ich mich bis zur endgültigen Erschöpfung aus. „Da ist ein Verrückter“, sagte mein späterer Künstlerfreund Jürgen Krengel zu Kommilitonen und deutete auf mich. Am Ende der vier Tage und Nächte halluzinierte ich und sah auf dem Heimweg an den dunklen Häuserfronten schwarze lange Flaggen wehen. Das war das Ende meiner „Bühnenmalerei“.

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