12. Doppelleben zwischen Kunst und Schule

Im Spätsommer 1956 ergriff mich plötzlich der Wunsch, zur Schule zurückzukehren und das Abitur nachzuholen. Ich hätte mir zu Beginn des Studiums nicht vorstellen können, jemals wieder in eine Schule zurück zu wollen. Das Kunststudium begeisterte mich, und ich brachte es zu Ergebnissen, die hoffen ließen, in diesem Metier weiterzukommen. Es gab also keinen aktuellen Anlass, dieses abzubrechen. Und doch war etwas in meinem Kopf in Gang gekommen, das vom Kunststudium wegstrebte. Es brauchte Zeit, bis der Wunsch zu einem festen Entschluss reifte. Was trieb mich zu einer erneuten Wende an? Ein starker Impuls ging, dessen bin ich absolut sicher, von dem Mythenforscher Joseph Campbell (1904-1987) aus, dessen Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ ich in den Jahren 1956/57 verschlang. Das Motiv der Heldenreise beeindruckte mich tief. In den Proben, die ein Held auf seiner langen Reise von Station zu Station bestehen muss, um eine neue Freiheit zu gewinnen, erkannte ich meine eigene Lebensreise wieder.

Eine ehemalige Waldorfschülerin, die an der Werkkunstschule studierte, brachte mich auf den Gedanken, mich an einer Waldorfschule zu bewerben. Ich hatte von meiner Absicht erzählt, das Abitur nachzuholen und über die Schwierigkeiten berichtet, diesen Plan umzusetzen. Der Weg über eine Abendschule war mir versperrt, weil hierzu eine abgeschlossene Berufsausbildung erforderlich war. Als Schulabbrecher ohne Beruf hatte ich keine Chance. Auch das an der Werkkunstschule begonnene Studium war kein Ersatz, weil ich noch keinen Abschluss hatte, der als Beruf hätte gewertet werden können. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Ahnung von der Anthroposophie und ihren staatlich anerkannten Privatschulen. Ohne Vorurteile bewarb ich mich im August 1956 in die Oberstufe der Freien Waldorfschule Hannover. Offenbar hatte ich im Vorstellungsgespräch überzeugend vermittelt, dass ich nun doch einen akademischen Lebensentwurf anstrebte. Die Schulleitung hatte sich allerdings vertraglich abgesichert. Sie konnte aus schwerwiegenden pädagogischen Gründen das Vertragsverhältnis beenden. Denn das „Waldorf-Experiment Mintzel“ konnte fehlschlagen. Und tatsächlich stand mir, wie sich bald herausstellen sollte, eine schwere persönliche Krise bevor.

Die elfte Klasse, in die ich aufgenommen wurde, beäugte neugierig den Neuling. Wer ist dieser schmächtige, ausgehungerte junge Mann? Er ist schon volljährig, lebt allein auf einer Bude in Hannover-Linden. Alle anderen wohnen noch zu Hause in ihren Familien. Er kommt von der Werkkunstschule, hat wohl schon viel erlebt. Ist er wirklich ein Künstler? Die Klasse ist mir gewogen, sie nimmt mich in ihre Gemeinschaft auf. Komme ich ohne Frühstück in die Schule schenken mir Klassenkameradinnen ihre Pausenbrote, und Klassenkameraden helfen mir in Fächern, in denen ich mir schwer tue,

Meine Rückkehr an die Schule fiel mir anfangs mental und psychisch schwerer, als mein Auftritt in der Klasse vermuten ließ. Bis weit in das Jahr 1957 hinein besuchte ich sowohl die Werkkunstschule als auch die Waldorfschule. Erst am Ende des Sommersemesters 1957 ließ ich mich an der Werkkunstschule exmatrikulieren. Bis dahin kam vor, dass ich vierzehn Tage lang ohne Entschuldigung an der Staffelei saß, weil mich die Malerei wieder in ihren Bann gezogen hatte. Um zu überleben musste ich nach wie vor an den Wochenenden in den Continental-Werken in Hannover-Stöcken Kessel reinigen. Am Montag kam ich dann rußverschmutzt in die Schule. Zweifel plagten mich, ob ich diese Belastungen aushalten würde, und fraglich war, inwieweit Schulleitung und Lehrkräfte mein Doppelleben dulden würden.

Alf Mintzel, Sterbender Zentaur, 1956, Öl auf Leinwand, 65 cm x 95 cm

Im Herbst 1957 geriet meine seelische Verfassung in einen Notzustand. Mich ergriff eine unfassbare Unsicherheit. Mich plagten wieder schwere Zweifel, ob meine Entscheidung richtig war, das Studium der Malerei und Grafik abzubrechen und das Abitur nachzuholen. Meine Versagensängste kehrten zurück. Die Erinnerungen an meinen Bruder Hein und an das Schuldesaster, das ich an bayerischen Gymnasien erlitten hatte, lösten immer noch Albträume aus. Nachmittage wurden zur Hölle. Kopfschmerzen drückten stundenlang auf mein Hirn, als wollten sie die Schädeldecke aufsprengen. Ich war handlungsunfähig, konnte nichts unternehmen, musste mich aufs Bett legen und warten, bis die Schmerzen nachließen. Es hätte ja alles wiederum als Zeichen einer Leistungsschwäche und Unfähigkeit gedeutet werden können. Auch hatte sich in der Beziehung zu einem Lehrer wieder ein Autoritätskonflikt entwickelt. Er war mir als persönlicher Betreuer zur Seite gestellt worden, hatte jedoch eine allzu knöcherne und oberlehrerhafte Art, „mein Bestes“ zu wollen. Diesmal aktivierte der Autoritätskonflikt nicht wie früher meine aufmüpfige und rebellische Handlungsbereitschaft. Stattdessen ergriff mich lähmende Verzweiflung und Resignation.

Aus dieser desaströsen Lebenssituation konnte ich ohne sachkundige fremde Hilfe nicht herausfinden, daher suchte ich in Hannover das „Psychotherapeutische Institut für das Land Niedersachsen“ auf, das auf meinem Schulweg lag, und fand in der Nervenärztin Frau Dr. med. Ursula Zenke eine Therapeutin, die mir in zehn Sitzungen aus dem Schlimmsten heraus half. Sie gab mir in den Gesprächen Handlungsanweisungen auf den Weg, die schrittweise zu einer erfolgreichen „Realitätsanpassung“ zu führen schienen. Die Gespräche führten zurück in meine Kindheit, in die Kriegs- und Nachkriegszeit, thematisierten meine Stellung und Rolle in der Familie, das Verhältnis zu meinem Vater und meine aktuellen Verhaltensweisen. Die Ärztin diagnostizierte vier zentrale (Schmerz-)Punkte meiner Leidensgeschichte: die frühe Überforderung meiner kindlichen und jugendlichen Kräfte in der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Rolle meines Vaters als prügelnde Erziehungsinstanz, den elenden Tod meines Bruders und die extrem knapp bemessenen Mittel für meinen Hannoveraner Lebensunterhalt. Nach mehreren Sitzungen wandte sich die Therapeutin am 18. Dezember 1957 an meinen Vater und fügte ihrem Schreiben eine ärztliche Bescheinigung bei. Beides bekam ich erst nach dem Tod meines Vaters zu Gesicht.

„Sehr geehrter Herrr Regierungsdirektor! Ihr Sohn Albrecht hat mich im November 1957 aufgesucht, um sich zu erkundigen, ob es eine Hilfe in seinen seelischen Schwierigkeiten gäbe. Ich habe wegen der auffallenden Ratlosigkeit, die Ihr Sohn ausstrahlte, sofort eine eingehende Untersuchung durchgeführt, und ich muß ehrlich sagen, daß ich verwundert bin, daß Ihr Sohn so lange mit seiner schweren neurotischen Störung, die doch schon seit dem achten Lebensjahr in dem dauernden depressiven Davonlaufen für die Umwelt sehr auffällig geworden ist, ohne Behandlung geblieben ist. Vor allen Dingen war ich auch von dem tragischen Schicksal, das ja der jüngere Bruder sicherlich aufgrund der gleichen Störung genommen hat, sehr beeindruckt. Auch unter Berücksichtigung dieser Tragik habe ich dann sofort eine Behandlung eingeleitet, und ich habe den Eindruck, daß Ihr Sohn Albrecht doch besten Bemühens ist, eine bessere Realitätsanpassung zu bekommen, und daß er sich Schritt für Schritt sozialisieren wird. Für die Durchführung einer seelischen Behandlung bei Ihrem Sohn wäre es natürlich auch sehr wesentlich, wenn ich einmal hörte, wie eigentlich Ihr Sohn in der elterlichen Familie steht. Außerdem müßte ich die Kostenfrage für die seelische Behandlung klären. Ihr Sohn meint, daß er in einer Krankenkasse ist. Ich habe dafür eine ärztliche Bescheinigung ausgestellt. Bei der gesamten seelischen Situation Ihres Sohnes konnte man ihn nicht ohne eine Behandlung lassen. Er selber wird ja keine Kosten dafür aufbringen können. Ich habe den Eindruck, daß er doch unter geldlich sehr eingeengten Verhältnissen lebt. Falls die Kasse nicht die Kosten für die Behandlung übernehmen sollte, bitte ich baldmöglichst um eine Mitteilung. Mit vorzüglicher Hochachtung gez. Dr. med. Ursula Zenke Nervenärztin, Hannover.“

Die Antwort meines Vaters kennzeichnete seinen Unwillen und seine Abwehr. Ich fand sie erst in seinem Nachlass. Er könne keine psychische Störung entdecken, die eine psychotherapeutische Behandlung notwendig mache. Er begründete seine Meinung mit einem Hinweis auf Inge Lus Vater, Professor Georges Schaltenbrand, der eine international anerkannte Koryphäe der Neurologie sei und bisher nichts gegen meine Beziehung zu seiner Tochter eingewandt habe. Dieser hätte sich doch dazu geäußert, falls sich bei mir eine gravierende neurotische Störung gezeigt hätte. Die Blindheit meines Vaters war wohl auch darauf zurückzuführen, dass ich mich ihm mit meinen Problemen niemals anvertraut hatte. Wir Geschwister hatten es vermieden, viel aus unserem Innenleben preiszugeben. Jeder litt schweigend vor sich hin.

Pädagogische Wende

Nach den anfänglichen massiven Schwierigkeiten lernte ich an der Waldorfschule Hannover eine zutiefst humane Pädagogik kennen, die auf die individuellen Eigenarten und Fähigkeiten eines jeden Schülers einfühlsam einging. Auch störrische und schwierige Kandidaten wurden nicht kurzer Hand abgekanzelt, hängen gelassen und entmutigt, wie ich das früher auf der Kadettenanstalt des bayerischen Gymnasiums erlebt und erlitten hatte, sondern geduldig und emphatisch gefördert. Das oberste Prinzip war nicht das einer strikten Auslese nach hochgesteckten kognitiven Leistungskriterien, sondern individuell unterschiedliche Fähigkeiten und Leistungspotenziale von Stufe zu Stufe zur Entfaltung zu bringen. Dabei wurde auf kreative Fähigkeiten besonders geachtet. Ich spürte den anderen pädagogischen Geist und fühlte mich in besonderer Weise angenommen, Meiner Arbeitsweise entsprach zudem der sogenannte Epochenunterricht, in dem der Stoff einzelner Fächer über mehrere Wochen schwerpunktmäßig geboten und erarbeitet wurde. Die von Rudolf Steiner begründete kreativ-tänzerische Kunstform „Eurythmie“, ein Zusammenfließen von Bewegung und Sprache, machte ich aus Freude an der Bewegung mit. Die Esoterik des anthroposophischen Menschenbildes blieb im Unterrichtsbetrieb der Waldorfschule Hannover weit im Hintergrund und störte mich nicht. Aus meinen Textfragmenten aus dem Jahr 1957 geht hervor, dass ich damals Wiedergeburt und Inkarnation für mögliche übersinnliche Geschehnisse hielt. „Alles wandelt sich“, so schrieb ich nieder. „Mein Geist schweift umher, von dort hierher, von hier dorthin. Er bemächtigt sich dieser und jener Glieder. Es wird weiterhin eine endlose Kette von Tod und Geburt sein, Geburt freilich nicht nochmals der alten Verhältnisse, sondern eines Neuen. Unsere Lebensreise vollzieht sich auf einem inneren dunklen Weg, in Tiefen, wo finstere Widerstände überwunden und lange verlorene und vergessene Kräfte wiederbelebt werden. Ich war ein Suchender und bin es noch.“

Es war die Waldorflehrerin Frau X, die mir die positive Wende ermöglicht hatte. Ihre Pädagogik veränderte mein Verhältnis zur Schule und zu Lehrern. Frau X gehörte der NS-Generation der Frauen an, die bitter an den Begleiterscheinungen und Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatten. Als Hitler und seine Generäle 1939 Deutschland in den Zweiten Weltkrieg führte, war sie achtzehn und am Ende des Krieges dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Sie war in das Erwachsenenalter eingetreten, als die wehrdienstfähigen Männer ihrer Generation an den Fronten im Westen und Osten und weit weg von Europa zu Hunderttausenden ihr Leben für den Führer und ein nationalsozialistisches Großdeutschland gelassen hatten. Der vermeintliche Heldentod hatte die Alterskohorten der Wehrpflichtigen schrecklich dezimiert. An der Heimatfront waren die wartenden Frauen in der Wirtschaft und Rüstungsindustrie arbeitsverpflichtet worden. Frau Dr. X war, wie sie Jahrzehnte später zugab, ein begeisterte Anhängerin Hitlers gewesen. Im „Bund Deutscher Mädchen“ (BDM) hatte sie an dessen Veranstaltungen mitgewirkt. Erst am Kriegsende und in der Nachkriegszeit dämmerte ihr, welchem Verbrecher sie gefolgt war. Sie litt unter dem Männermangel der Nachkriegszeit und blieb unverheiratet. 1957 übernahm sie die Klasse, in die ich aufgenommen worden war, als Klassenleiterin. Das war für mich eine entscheidende Wende. Ohne die Hilfe dieser Frau hätte das „Waldorf-Experiment Mintzel“ schon nach kurzer Zeit scheitern können. Ihrem pädagogischen Engagement und ihrer herzlichen und couragierten Zuneigung verdanke ich, alle inneren und äußeren Widerstände überwunden und mein Ziel erreicht zu haben.

Aus meinen Notizen vom 18. Mai 1957 ging hervor, dass ihr Verhalten nicht ganz im Einklang mit waldorfpädagogischen Grundsätzen und Leitlinien gestanden haben könnte: „Frau X [so bezeichnete ich sie in meinen Niederschriften] kam in der Pause zu mir und sagte, ich möge nach dem Unterricht ein Buch abholen, das ich ihr geliehen hatte. Da sich gerade niemand [im Lehrerzimmer] aufhielt, ließ sie mich schnell hereinkommen, eilte zu ihrem Schrank und förderte daraus ein Paket Brot, eine Tüte Knäckebrot, Senf, Butter usw. ans Tageslicht. Es passte nicht alles in meine Tasche. >Ziehen Sie die Bibel heraus<, sagte sie, >machen Sie Platz<, und im Augenblick war meine Tasche mit Essen überfüllt. […] Zu Hause besah ich die Dinge näher und bemerkte beim Herausnehmen der Knäckebrottüte ein Geräusch wie von Geld. Ich nahm das Knäckebrot heraus und entdeckte auf dem Boden der Tüte zwei Markstücke und eine angebrochene Zigarettenschachtel, in der sich noch vier Glimmstengel von einer guten Sorte befanden.“

So sorgte Frau X dafür, dass Spannungen zwischen meiner Lebensführung und den Schulpflichten meine Schullaufbahn nicht gefährdeten. So viel Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendung war mir früher von keinem Lehrer geschenkt worden. Daraus entwickelte sich ein lebenslange Freundschaft.

Im Februar 1959 bestand ich das Abitur. Es war kein anthroposophisches Sonderabitur. Die Waldorfschule musste das Abitur unter staatlicher Aufsicht und nach staatlichen Vorgaben durchführen. Wegen der strengen Auflagen und um ihres Rufes wegen durften am Ende der 12. Klasse, die noch nach Regeln der Waldorfpädagogik geführt wurde, nur die leistungsstarken Schüler in die 13. Klasse aufrücken. Die Schulleitung wollte sicher gehen, dass ihre dem staatlichen Schulamt gemeldeten Abiturienten die Prüfungen bestanden. Die Auswahl war unerbittlich und löste bei Schülern und Eltern Protest aus, schließlich hatten die Eltern über viele Jahre den Besuch der Waldorfschule bezahlt. Ich gehörte zu denjenigen, die zugelassen worden waren. Zum ersten Mal in meiner albtraumhaften Schullaufbahn hatte ich das gute Gefühl, die Hürde nehmen und das gewünschte Ziel erreichen zu können, obgleich in letzter Minute eine schmerzhafte Komplikation auftrat: In der Nacht vor der schriftlichen Prüfungsarbeit im Englischen hatte mich ein Weisheitszahn so gewaltig geschmerzt, dass ich am frühen Morgen zum Zahnarzt gehen und ihn ziehen lassen musste.

Geholfen hatte mir nicht zuletzt auch ein Gönner, dessen Namen ich nie erfuhr. Er hatte im letzten halben Jahr vor dem Abitur meinen Lebensunterhalt finanziert, so dass ich am Wochenende nicht mehr in den Continental-Werken arbeiten musste und mich ganz auf die Abschlussprüfungen vorbereiten konnte. Eine „fremde“ Person hatte an mich geglaubt und gehofft, dass aus mir noch etwas werden könnte.

Nach dem bestandenen Abitur hoffte ich nicht mehr von Versagensängsten gequält zu werden, doch sie verfolgten mich mein Leben lang, machten meine Nächte schwer, schlichen sich gerade auch in Erfolgsmomenten ein. Viele Dutzend Male scheiterte ich im Traum in einem Fach an einer Abiturfrage. Ich sehe mich im Traum, wie ich verzweifelt eine Aufgabe zu lösen versuche, aber die Lösung nicht finde. Ich stiere auf das Blatt Papier, mir fällt nichts ein. Die Zeit läuft ab.

Alf Mintzel, Drei Zentauren in südlicher Landschaft, 2. Kompositionsgedanke, 29.2.1956, Federzeichnung mit Tusche und Bleistift, 20 cm x 35 cm

Kunstakademie oder Universität?

Warum ging ich nach dem Abitur, das ich mit großer Anstrengung nachgeholt hatte, nicht nach Hamburg auf die Kunsthochschule? Warum begann ich im Mai 1959 in Hamburg Rechtswissenschaften zu studieren? Ich bin sicher, dass ich an der Kunsthochschule aufgenommen worden wäre. Ich hätte genug qualifizierte Arbeiten unterschiedlicher Machart einreichen können. Hatte ich mir nicht mehr zugetraut, in der Freien Malerei und Grafik voranzukommen und später einmal Bedeutendes hervorzubringen? Meine künstlerischen Fähigkeiten und ästhetischen Bedürfnisse wollte ich zwar weiterhin pflegen, aber nur im Sinne einer schönen und anerkannten Nebentätigkeit, als Hobby.

Es stellte sich 1959/60 heraus, dass meine Annahme nicht zutraf, allein von ureigenen, selbstgesetzten Zielvorstellungen geleitet zu sein. Erst später, als Soziologe, erkannte ich, wie tief Milieu, Vorbilder, spezifische Erziehungsmaximen und gesellschaftlichen Strukturen unsere vermeintlich autonomen Entscheidungen und inneren Befehle prägen und spezifische individuelle und überindividuelle Konflikte hervorrufen. Unser Handeln folgt sehr viel mehr verinnerlichten Normen, als wir wahrhaben wollen, und dies gerade auch in Entscheidungssituationen wie der Wahl eines bestimmten Fachstudiums. Die Tücke gegenseitiger Verwicklungen liegt ja eben gerade darin, dass wir im Moment unseres Verwickeltseins nicht oder nicht scharf genug wahrnehmen, wie verwickelt wir gegenseitig sind. Was sich als unsere ureigene sachliche Entscheidung ausnimmt, ist gerade in lebensgeschichtlich entscheidenden Situationen Ergebnis unterschwelliger psychisch-mentaler Wechselbeziehungen in der Familie. Die von meinen Eltern eingeimpften Imperative bestimmten letztendlich meinen Weg in die Universität und die Wahl meines Studienfaches. Mit dieser Wahl konnte ich meinen Vater besänftigen. Er hatte ja schon kurz nach meiner Geburt meinen Weg in einen akademischen Beruf vorbestimmt. Ich, der „notorische Versager“, würde keine mentalen Prügel mehr beziehen, weil ich nun funktionierte, wie es sich meine Eltern und designierten Schwiegereltern gewünscht hatten.

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