Großdemonstrationen gegen den Vietnamkrieg
Der Eintritt der USA in den Vietnamkrieg (1963) und die grausamen Auswüchse der US-amerikanischen Kriegsführung lösten an vielen Universitäten heftige Proteste aus. Westberlin, wo wir wohnten und studierten, wurde zu einem der großen Brennpunkte antiamerikanischer Protestaktionen und Großdemonstrationen. Die Anti-Kriegsbewegung, die 1965 in den USA ihren Anfang nahm, verbreitete sich rasch auch in Westeuropa. Aus verschiedenen Gruppierungen formierte sich eine internationale Studentenbewegung, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre infolge der Eskalation des Vietnamkrieges radikalisierte. An den Westberliner Hochschulen, insbesondere an der Freien Universität, kam es zu schweren, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Führungsorganen der Universitäten, mit der Polizei und mit Westberlins politischer Führung. Den Höhepunkt der studentischen Revolte gegen den Vietnamkrieg bildete der vom Sozialistischen Studentenbund organisierte Internationale Vietnamkongress, der am 17./18. Februar 1968 im Auditorium der Technischen Universität Berlin stattfand. An dieser Konferenz nahmen 44 Delegierte aus vierzehn Staaten und schätzungsweise 5000 weitere Personen teil. Zu den prominenten Sprechern und Aktivisten aus Kultur und Wissenschaft gehörten Peter Weiss, Erich Fried, Ernest Mandel, Gaston Salvatore und Giangiacomo Feltrinelli. Aus Westberlin war der Studentenführer Rudi Dutschke einer der Hauptakteure. Die Konferenz endete mit einer Großdemonstration von rund 12.000 Teilnehmern, die Ho-Chi-Minh-Rufe skandierten. Obwohl ich zu dieser Zeit zum SDS bereits auf Distanz gegangen war und mich nicht mehr an Demonstrationen beteiligt hatte, nahm ich aus politischem Interesse als Zuhörer am Internationalen Vietnamkongress teil. Die Stadt brodelte, es herrschte eine explosive Stimmung. Die große Mehrheit der Berliner Bevölkerung hatte nicht das geringste Verständnis für den Widerstand gegen den von den USA geführten Vietnamkrieg. Sie sah seit der Blockade Berlins von 1948 und nach der gerade erlebten Bedrohung durch die Kuba-Krise in den USA ihre Schutzmacht und einen Garanten der Fortexistenz des freien Berlins. Bevölkerung und Studentenbewegung standen sich aggressiv gegenüber. Provokationen und Gegendemonstrationen schaukelten sich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen hoch. An der Freien Universität Berlin war der Lehrbetrieb weitgehend lahmgelegt. Das ostasiatische Institut, Inge Lus Arbeitsplatz in der Universität, wurde besetzt, auf dem Dach des Gebäudes die rote Flagge gehisst und das Lehrpersonal ausgesperrt. Wir beide wurden Augenzeugen der studentischen Aktionen und Demonstrationen. Ich drehte mit meiner Kamera einen Dokumentarfilm über diese Vorgänge. Trotz aller Turbulenzen versuchte ich meine wissenschaftliche Arbeit mit eiserner Konzentration, Disziplin und Zielstrebigkeit fortzusetzen. Der Kontrast zwischen meinem empirisch-analytischen CSU-Projekt, das ich 1967 begonnen hatte, und den Berliner Ereignissen konnte nicht krasser sein.
Alf Mintzel, Heinrich Albertz nach seinem Sturz, karikierende Portraitskizze, Kugelschreiber, 7. Juni 1972
Heinrich Albertz (1915–1993) war ein evangelischer Pastor, Mitglied der SPD, 1966/67 Regierender Bürgermeister von Westberlin. Er billigte und unterstützte den harten und scharfen Polizeieinsatz gegen die studentischen Protestdemonstrationen, bei denen am 2. Juni 1967 der Student Peter Ohnesorg von einem Polizeibeamten rücklings erschossen wurde. Die Protestdemonstrationen hatten sich gegen den Besuch des Schahs von Persien und dessen Frau gerichtet. Noch in der Nacht zum 3. Juni 1967 ließ Albertz verlauten: »Die Geduld der Stadt ist am Ende«. Im Herbst 1967 wandelte sich seine Haltung zum Polizeieinsatz. Er habe, so bekannte er nun, in jener Nacht des 2. Juni »objektiv das Falsche getan«. Sein Gesinnungswechsel und andere Faktoren führten noch im Herbst zu seinem Sturz.
konkret EXTRA BLATT, Titelseite, wohl 3. Juni 1967 (undatiert)
2. Juni 1967: die sogenannten Prügelperser beim Schah-Besuch waren Auslöser für den folgenden Gewaltexzess; konkret EXTRA BLATT, wohl 3. Juni 1967 (undatiert), S. 2
FU-Spiegel 58, offizielle Studentenzeitschrift der FU Berlin, Sonderdruck, wohl 3. oder 4. Juni 1967 (undatiert), S. 1
FU-Spiegel 58, offizielle Studentenzeitschrift der FU Berlin, Sonderdruck, wohl 3. oder 4. Juni 1967 (undatiert), S. 4
Der endgültige Bruch
Als in Berlin und anderswo an den Universitäten 1967/68 die sog. APO-Zeit angebrochen war, hatte ich mein Soziologie-Studium bereits abgeschlossen. Die linken ›Kinderkrankheiten‹, Orthodoxie und eine linke Form der Inhumanität, entfremdeten mich den linken Eiferern, obwohl ich die Revolte gegen den Biedersinn der Adenauer-Ära gut verstehen konnte. ›Abschied von der autoritären Demokratie?‹ Diese Frage beschäftigte mich genau wie die anderen. Die linken Aktivisten nahmen mir jedoch übel, dass ich mich mit der CSU beschäftigte. Zu politischen Seismographen-Gruppen wie den sog. Linkskatholiken hatte ich ein verbindliches intellektuelles Verhältnis. Dagegen blieb mein Verhältnis zu den katholisch- konservativen Machern und Apologeten ambivalent.
Am 13. August 1966, dem 5. Jahrestag des Berliner Mauerbaus, vollzog ich mit einer stillen Aktion den Bruch mit der sozialistischen Studentenschaft und ihren Aktivisten. Es war am Tage unseres Umzugs von der Zehlendorfer Hammerstraße 34 nach Lichtenrade im äußersten Süden Westberlins. Ich verbrannte im Garten des Häuschens, in dem wir seit Februar 1964 gewohnt hatten, alle Materialien, die ich als Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes an der Freien Universität Berlin in meinen Händen gehabt hatte: Mitgliederlisten, Beschlüsse, Protokolle, Korrespondenzen, Plakate, universitätsamtliche Dokumente, die den SDS betrafen. Damit entzog ich alle Verbandsunterlagen einem späteren Zugriff, sodass meine Mitgliedschaft und Aktivität in der Geschichte des SDS nicht vorkommen. Ich war letztendlich zu keinem bekennenden ›68er‹ und Aktivisten der ›APO-Zeit‹ geworden. Ich war, wie linksradikale Aktivisten es damals abfällig nannten, ein bürgerlicher ›Seminar-Marxist‹ gewesen. Ich hatte nicht an ›Go-Ins‹ und ›Sit-Ins‹ teilgenommen und die Ereignisse aus der Distanz beobachtet. Als Demonstrationen die Freie Universität und die Berliner Öffentlichkeit erschütterten, hatte ich meine in den ersten Studentenjahren angenommene marxistische Weltsicht bereits wissenschaftstheoretisch auf den Prüfstand gestellt und zu korrigieren begonnen. Eine profunde Kenntnis des Theoriegebäudes von Karl Marx und späterer marxistisch-theoretischer Positionen war im Berliner Lehrbetrieb unerlässlich für die Auseinandersetzungen. Man konnte sich nicht in ein bequemes konservatives Gehege zurückziehen. Meine linke, akademisch-theoretische Vergangenheit war dem schwierigen trial and error geschuldet, das die Welterfahrung eines jungen Menschen ausmacht. Letzte Gewissheiten, insbesondere religiös-konfessioneller Art, blieben mir fremd. Ich war, um es mit Max Weber zu sagen, religiös unmusikalisch, obwohl mich das Phänomen ›Religion‹ als Sozialwissenschaftler in seinen menschheitsgeschichtlichen Ausprägungen und als evolutionäre Gegebenheit immer interessierte. Mein genuines Interesse an der Wissenschaft und meine berufliche Entscheidung für sie bewahrten mich vor einem wilden Protestaktionismus. Nur das Attentat auf Rudi Dutschke brachte mich am 12. April 1968 auf die Beine. Die Empörung war zu heftig, sie brauchte ein Ventil – die Großdemonstration.
Mitte der 60er Jahre setzte ich mich intensiv mit der modernen Wissenschaftslehre auseinander. Ich las Karl R. Popper, Max Weber, Ernst Topitsch, Carl Hempel, Hans Albert und andere. Poppers Werk über ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ wurde für mein Denken und Handeln maßgebend. Seine Empfehlung, in der gesellschaftspolitischen Praxis eher auf vorsichtige, im Notfall wieder korrigierbare Einzelschritte zu gehen und auf den ›piece-meal-approach‹ statt auf den ›großen Wurf‹ zu setzen, schien mir zumindest für unsere westlichen liberalen Demokratien der humanere Weg der Gesellschaftsgestaltung. Ich befasste mich mit dem Werturteilsstreit in der Sozialwissenschaft und wurde skeptisch gegenüber den Ismen. Max Weber stand später im Zentrum meiner Lehrtätigkeit. Ein Übriges bewirkten meine empirischen Forschungen, vor allem meine Untersuchungen der Entwicklungsgeschichte der CSU und Bayerns. Diese Wende in meiner politischen und wissenschaftlichen Biografie schlug sich 1966/67 in meinen zahlreichen Bücherkäufen nieder. Ich datierte meine Käufe, so dass ich den Zeitraum dieser Wende genau belegen kann. Es kam übrigens nicht ganz von ungefähr, dass ich just in dem Jahr, in dem ich mich vom SDS distanzierte, mit dem Rauchen aufhörte. Ich war seit Mitte der 1950er Jahren zu einem notorischen Vielraucher geworden, dem es nicht gelungen war, sich von dieser Sucht zu befreien. Mitte des Jahres 1966 hörte ich von einem Tag auf den anderen auf zu rauchen und rührte niemals mehr eine Zigarette an.
Freigeist und ›freischwebender Intellektueller‹
Meinem Rückzug aus dem studentischen Verbandsleben folgte im Jahre 1967 der Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der ich 1959 zu Beginn meines Studiums der Rechtswissenschaften in Hamburg beigetreten war. Ich war im Bezirk Berlin-Tempelhof im SPD-Kreisvorstand gewesen und hatte mich als Beisitzer eine Weile vor Ort engagiert. Parteiarbeit hatte mich aber nicht zufriedengestellt. Ich wollte mich von engeren politischen Organisationsbindungen lösen und von programmatischen Verbindlichkeiten und Festlegungen befreien. Mir schwebte im Grunde die Rolle eines ›freischwebenden‹ Intellektuellen und Wissenschaftlers vor, der sich in seinem normativen und analytischen Denken relativ unabhängig sieht und der sich einer festen gesellschaftlichen Zuordnung entzieht. Diese Selbstverortung entsprach in etwa dem Konzept der sozial freischwebenden Intelligenz Karl Mannheims, der ihr 1929 die Charakteristika ›ungebunden, kritisch und sensibel‹ zugeschrieben hatte. Es sollte sich allerdings erweisen, dass meine soziale Herkunft aus einer alten protestantischen Buchdrucker- und Verlegerfamilie und meine familiäre Sozialisation einen fränkischen ›Kulturprotestanten‹ hervorgebracht hatten. Meine ›basic personality‹ trug, wie es damals in APO-Kreisen beschimpft wurde, viel ›bürgerlichen Scheiß‹ mit sich herum. Der Bruch mit dem SDS, der Austritt aus der SPD und das Kappen von politischen Banden verschafften mir ein Stück weit neue innere Handlungsfreiheit in Bezug auf meine sozialwissenschaftlichen Forschungsinteressen. Ich musste keine Zugehörigkeit mehr verbergen oder gar lügen. Bei meiner Erforschung der CSU und ihrer Politik konnte ich ungeniert den gebürtigen Bayern aus Franken hervorkehren und auch zum Beispiel dialektal an Gegebenheiten anpassen, wenn es meiner Forschung förderlich war,. Mit der Zeit erwies sich aber meine Selbstbestimmung als Freidenker und ›freischwebender Intellektueller‹ als problematisch.
Kampfblatt der ›Roten Zellen‹, Westberlin, Dezember 1970; verso Aufruf zur Massendemonstration: »Amerika ist in die Fußstapfen von Nazi-Deutschland getreten. Amerika ist in Wirklichkeit heute in der Welt das Hindernis Nr. 1 für den Fortschritt der Menschheit.«, JK der Roten Zellen PL/PI
Persönlicher Kontakt zu Mitgliedern der RAF: Horst Mahler und Jan-Carl Raspe
Ich greife im Folgenden bis in die siebziger Jahre vor, weil zu der Zeit, als ich mich fast ausschließlich mit der Erforschung der CSU und der Nachkriegsgeschichte Bayerns befasste, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien von Gewalttaten terroristischer ›Stadtguerrillas‹ heimgesucht und erschüttert wurden. Die Jahre von 1972 bis 1977, von der sogenannten ›Mai-Offensive‹ der ›Baader-Meinhof-Bande‹ bis zum sogenannten ›Deutschen Herbst‹ des RAF-Terrors, erlebte ich in Westberlin zum Teil aus nächster Nähe. Ich kannte einige Mitglieder der späteren Roten Armee Fraktion nicht nur flüchtig, sondern aus persönlichen Begegnungen und aus Konfliktsituationen besonders heikler Art. Hier begnüge ich mich mit einem Stenogramm der Ereignisse und Vorgänge und konzentriere mich auf die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Weitere biografische Informationen über die genannten Personen finden sich reichlich anderswo.
Mit Horst Mahler (geboren 1936), dem späteren Mitbegründer der Roten Armee Fraktion, war ich von 1962 bis 1966 als Vorsitzender des SDS an der Freien Universität Berlin eng verbunden. Mahler war stets gut gekleidet. Er trat nur im gut gebügelten Anzug auf und trug dazu eine passende Krawatte. Er war ein Kontrasttypus zu den Kommunarden wie Fritz Teufel und Rainer Langhans. Bei deren öffentlichen Auftritten musste ich immer an Max und Moritz denken. »Dieses war der dritte Streich, und der nächste folgt sogleich«. Ich amüsierte mich über diese Bürgerschrecke. Sie sprachen meine unbotmäßige und provokative Lust an. Bei Mahler verhielt es sich anders. Niemand hätte ihn seiner äußeren Erscheinung nach für einen gehalten, der sich der Westberliner ›Stadtguerilla‹ anschließen würde. Er schien eine Figur des Establishments zu sein. Mahlers Eloquenz, politisch-ideologische Versiertheit und sein imponierendes Auftreten machten ihn im Berliner Landesverband zu einer Art ›grauen Eminenz‹, deren Wort galt. Er befürwortete, rechtfertigte und initiierte politische Aktionen. In meiner Zeit als Vorsitzender schaltete er sich wiederholt als ›Berater‹ und ›Agitator‹ in laufende Verbandsaktivitäten ein, beispielsweise in die inhaltliche Gestaltung der von mir an der Freien Universität organisierten und thematisch vorbereiteten Pressekonferenzen des SDS. Mahler war Befürworter und Hauptakteur in der Organisation einer Gegendemonstration zur antikommunistischen Massenveranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der SPD am 1. Mai, für die ich mit ihm Tage zuvor vor den Siemens-Werken Flugblätter verteilte. Die Arbeiter und Angestellten gaben uns, nebenbei bemerkt, mit ihren Beschimpfungen eine kräftige Lektion. Selbst ein politisch Blinder konnte sehen, dass die Arbeiterklasse aufgehört hatte, ein ›historisches Subjekt‹ zu sein. Aber Mahler beschwor beredt dieses ideologische Phantom. Am Himmel über Westberlin kreisten sowjetische MIG 15 und durchbrachen die Schallmauer. Die Fensterscheiben klirrten. Aber Mahler schien sich an den Drohgebärden der Sowjetmacht nicht zu stören. Gemessen an Mahlers rhetorischen und politisch-ideologischen Fähigkeiten hielt ich mich für ein politisches ›Leichtgewicht‹, um nicht zu sagen für ein ›Greenhorn‹, das aus idealistischen und politisch-generationsspezifischen Gründen zum SDS gestoßen war. Ich sah mich jedenfalls Mahler nicht gewachsen und von ihm wiederholt zu Dingen und Taten veranlasst, die ich eigentlich nicht mittragen wollte. Zwischen uns beiden gab es heftige theoretische und politisch-praktische Kontroversen. Mich beängstigte die zunehmende Radikalisierung seines Denkens und Handelns, insbesondere, dass er zusehends Positionen vertrat, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) eingenommen wurden. Mahler nahm an einer Veranstaltung der ›Völkerfreundschaft‹ in der DDR teil. Daraufhin beantragte ich Mahler wegen verbandsschädigenden Verhaltens auszuschließen, wurde aber energisch zurechtgewiesen und zurückgepfiffen. Ausschlussverfahren seien sozialdemokratische Praktiken, nicht Methode und Stil des SDS. Der SDS schließe niemanden aus, sondern diskutiere die Dinge so lange, bis die Ansichten geklärt seien. Man dürfe vor der Berichterstattung der bürgerlichen Presse nicht zurückweichen. Mahler setzte sich mit seinen radikalen Ansichten durch, ich nahm meinen Ausschlussantrag zurück. Mit meiner Abkehr vom SDS endete 1966 vorerst unser Kontakt.
Anfang Juni 1972 spürten die Fahnder die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Holger Meins und Jan Raspe in Frankfurt/Main auf. Wenige Tage später wurde Gudrun Ensslin in Hamburg festgenommen. Horst Mahler wurde Baaders Strafverteidiger und begann selbst Militante um sich zu scharen, die das ›System‹ mit Waffengewalt bekämpfen wollten. Mahler wurde in Prozessen gegen prominente APO-Aktivisten wie Beate Klarsfeld, Rudi Dutschke, Peter Brand (den Sohn des damaligen Bundeskanzlers) und gegen Mitglieder der Berliner Kommune Fritz Teufel und Rainer Langhans ein Staranwalt der linksradikalen Szene. All diese Namen werden dem heutigen Leser wenig sagen, weil das Jahr 1968 und die Folgejahre zu einer Legende verblasst sind.
Ein letztes Mal trat ich mit Mahler 1975 in Kontakt, diesmal um seinen juristischen Rat einzuholen. Als ich kurz vor der Veröffentlichung meiner ersten großen Studie über ›Die CSU‹ 1975 in eine brenzlige Situation geraten war, weil CSU-Generalsekretär Gerold Tandler mit einer einstweiligen Verfügung das Erscheinen des Buches zu verhindern drohte, konsultierte ich Horst Mahler in seiner Anwaltspraxis. Ich wollte wissen, wie ich Tandlers Drohung erfolgreich abwehren könnte. Er beriet mich gut. Ich solle die Behauptung Tandlers zurückweisen, bestimmte von mir geschilderte Vorgänge und Schlussfolgerungen entsprächen nicht den Tatsachen oder seien zumindest fehlerhaft, und die Beweislast umkehren. Die Landesleitung der CSU müsse nachweisen, wo ich möglicherweise geirrt hätte und dies mit entsprechenden Dokumenten belegen. Das funktionierte. Danach brachen die Kontakte zu Mahler endgültig ab. Ich hatte damals nicht den Eindruck, als stünde er kurz davor, in den Untergrund abzutauchen, und war überrascht, als ich davon hörte. Er ließ sich, wie später bekannt wurde, einen zünftigen Rauschebart wachsen und beteiligte sich an Terroraktionen. Mahlers späterer Seitenwechsel ins rechtsradikale Fahrwasser war nach meiner Ansicht nicht vorauszusehen, hatte jedoch eine innere Logik. Er mauserte sich theoretisch von einem Linkshegelianer zu einem Rechtshegelianer. Heute sehe ich seine Persönlichkeit noch sehr viel schärfer. Mahler war eine autoritäre Persönlichkeit, und dies in so extrem ausgeprägter Weise, dass er immer zu wissen glaubte, welches historische Subjekt vom Weltgeist ausersehen war, den Gang der Geschichte zu bestimmen. Theodor W. Adorno hatte damals geglaubt, dass zwischen den autoritären Persönlichkeiten der Studentenbewegung und den autoritären gesellschaftlichen Strukturen, die von der Außerparlamentarischen Opposition bekämpft wurden, ein innerer Zusammenhang zu erkennen sei. Horts Mahlers autoritärer Charakter, an dem ich mich gerieben hatte, kippte gewissermaßen vom linksextremen Syndrom ins rechtsextreme. Er wandelte sich zu einem rechtsradikalen Kämpfer und Antisemiten.
Jan-Carl Raspe als regelmäßiger Student: Anwesenheitsliste 30. Nov. und 7. Dez. 1964; Namen der Kommilitonen sind aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht
Jan-Carl Raspe (1944–1977) gehörte an der Freien Universität Berlin zu meinen ersten Studenten. Er stammte aus einer Fabrikantenfamilie, wuchs in Ost-Berlin auf, wechselte Anfang der 1960er Jahre nach Westberlin und lebte dort bei Verwandten. Er studierte nach bestandenem Abitur (1963) an der Freien Universität Berlin zunächst Chemie und wechselte dann ins Fach Soziologie über. Als Student der Soziologie lernte ich ihn persönlich kennen. Er nahm an meiner Einführung in Methoden und Techniken des sozialwissenschaftlichen Arbeitens teil. Im Jahre 1967 trat er dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund bei. Später wurde er Mitglied der ›Kommune 2‹. Raspe radikalisierte sich, fand zu den Gesinnungsgenossen, die als ›Stadtguerilla‹ ihren Kampf gegen das kapitalistische System im Untergrund fortführen wollten, und wurde zu einem führenden Mitglied der ersten Generation der Roten Armee Fraktion. Seine technischen Fähigkeiten ermöglichten es ihm, Bomben herzustellen. Er war 1972 an fünf Bombenschlägen beteiligt, bei denen vier Menschen ums Leben kamen und über fünfzig verletzt wurden. Ihm wurde des Weiteren mindestens ein Banküberfall zur Last gelegt. 1972 wurde er zusammen mit Andreas Baader und Holger Meins in Frankfurt am Main verhaftet. Am 28. April 1977 wurde er in dem sogenannten Stammheim-Prozess nach fast zweijähriger Verhandlung zu lebenslanger Haft verurteilt.
Vom 5. September bis zum 19. Oktober 1977 ereigneten sich eine Reihe von dramatischen Terroraktionen: RAF-Terroristen des ›Kommandos Siegfried Hausner‹ überfielen am 5. September den Personenwagen von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, erschossen dessen Fahrer und drei Sicherheitsbeamte und verschleppten Schleyer. Am 6. September schickten die Entführer ein Foto Schleyers und stellten das Ultimatum, bis zum nächsten Tag unter anderem die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe im Austausch gegen Schleyer freizulassen. Am 13. September wurde die Lufthansa-Maschine ›Landshut‹ mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern von zwei Männern und zwei Frauen auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt am Main entführt. Auch hier verlangten die palästinensischen Entführer in einem Ultimatum die Freilassung der »Genossen der RAF aus westdeutschen Gefängnissen« und die »palästinensischer Genossen aus dem Gefängnis in Istanbul«. Die ›Landshut‹ flog währenddessen über Rom, Zypern, Bahrein, Dubai bis nach Aden im Süd Jemen, von dort aus am 16. September nach Mogadischu. Am 17. September landete nach Einbruch der Dunkelheit eine Sondermaschine der Lufthansa mit einem GSG-Kommando an Bord in Mogadischu und stürmte nach Mitternacht die ›Landshut‹. Drei der Entführer wurden getötet, Passagiere und Besatzung in Sicherheit gebracht. Nachdem die Austauschforderung der Terroristen erfolglos geblieben war, begingen am Morgen des 18. Oktober 1977 Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe mit einer ins Stammheimer Gefängnis eingeschleusten Pistole Suizid.
Ich hatte Raspe als einen schlanken, ja hageren, schmalgesichtigen Studenten wahrgenommen, der sich leicht nervös verhielt. Als ich die Studentengruppe zum Abschluss meiner Lehrveranstaltung einmal zu mir nach Hause eingeladen hatte, nahm er in unserem großen, alten Thonet-Schaukelstuhl Platz. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, zerbröselte zwischen Daumen und Zeigefinger die Kippen und wippte unablässig mit den Kufen, die den Aschenbecher zu streifen und umzukippen drohten. Meine Frau beobachtete sein Verhalten mit Unbehagen. Er kam wohl aus einem gutbürgerlichen Milieu und wirkte eher schüchtern. Raspe war, so wie wir ihn erlebten, keiner, der aufmüpfige Reden hielt, geschweige denn ein auftrumpfender ›Revoluzzer-Typ‹. Wie es kam, dass er sich später radikalisierte, kann ich nicht sagen. Nach Abschluss seines Diplomexamens im Fach Soziologie zog Raspe mit seiner Freundin Marianne Herzog zusammen. Beide gehörten zur ersten RAF-Generation. Ihre Wohnung diente der Baader-Meinhof-Gruppe als konspirativer Treffpunkt und als Zufluchtsort. (Der Spiegel 31/1972; http://de.wikipedia.org/wiki/Jan-Carl_Raspe; http://de.wikipedia.org/wiki/Marianne Herzog)
Das geplatzte Seminar in Kiew über den ›Aufbau des Sozialismus‹
Einen anderen politisch äußerst heiklen Vorgang sollte ich ebenfalls nicht verschweigen. Von sowjetischer Seite erging 1964 oder 1965 an den (Bundes-)SDS eine Einladung zu einem Seminar in Kiew über den ›Aufbau des Sozialismus‹. (Zwar fehlen mir hierzu die einschlägigen dokumentarischen Materialien, die ich am 13. August 1966 verbrannte, auf meine Verhandlungen in der sowjetischen Botschaft und ihr Scheitern wies Kurt Leo Shell 1966 jedoch in seinem Buch ›Berlin. Bedrohung und Bewährung‹ in einer Fußnote hin.) Die SDS-Führung schlug für die Teilnahme daran auch Mitglieder des Westberliner SDS vor, was in den Verhandlungen wegen des Vier-Mächte-Status’ Berlins Komplikationen mit der sowjetischen Seite mit sich brachte. Mit aus heutiger Sicht entsetzlich blauäugiger Naivität glaubte ich tatsächlich, den sowjetischen Machthabern in Ostberlin eine Entscheidung in unserem Sinne abringen zu können. Was mich antrieb, waren natürlich Neugier und das große Interesse daran, einmal hinter den ›Eisernen Vorhang‹ schauen zu können. Als sei es eine Einladung zu einer bildungsbürgerlichen Informationsreise, führte ich in der Sache für den Westberliner SDS die Gespräche in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin und bestand auf der gleichberechtigten Teilnahme der Westberliner Studenten. Natürlich scheiterte ich, da diese Entscheidung dem Vier-Mächte-Status Berlins entgegengestanden hätte.
Später war ich froh, dass die Verhandlungen über die Teilnahme Westberliner Studenten geplatzt waren, denn sicher führte die sowjetische Seite etwas im Schilde. Wäre die Teilnahme an dem Seminar zum Aufbau des Sozialismus in Kiew zustande gekommen, hätte das auf eine geheimdienstartige Zusammenarbeit hinauslaufen sollen. In lebhafter Erinnerung blieb mir, wie ein KGB-Offizier mir am Beispiel einer kleinen Zündholzschachtel beizubringen versuchte, wie man in Kassibern Informationen verstecken konnte. Ich hatte dazu schon konkrete Erfahrungen in der Zeit der Nürnberger Kriegsprozesse gesammelt und war daher darüber eher amüsiert als erstaunt. Der sowjetische Geheimdienst hatte uns sicher für blauäugige Esel gehalten, die er im Kalten Krieg beliebig benutzen wollte.
Weder Sympathisanten noch Gegner rechneten damals damit, dass der Sowjetkommunismus 1989/90 untergehen würde. Die Koryphäen unter den Deutern weltgeschichtlicher Entwicklungen hatten kapitalistische Gesellschaften und sowjetkommunistische Geschäfte in einem evolutiven Wettbewerb gesehen, dessen Ausgang je nach Standort und ideologischer Sicht gegensätzlich vorhergesehen wurde. Ich hielt die Einladung für besonders interessant, versprach sie doch einen Blick hinter den Eisernen Vorhang. Es waren mehr Neugier und ein sensationelles Gefühl als sozialistische Überzeugung, die mich antrieben. Im Grunde fühlte ich mich entlastet und befreit, als Mitte der 1960er Jahre die geplante Exkursion nach Kiew am Vier-Mächte-Status der besonderen Einheit Berlin scheiterte. Manche meiner intellektuellen und tatsächlich durchgeführten Exkursionen glichen eher Blindflügen in eine unbekannte Wirklichkeit statt hellsichtigen Erkundungen.
Antiautoritäre Kinderladen-Bewegung, 1968–1975
In den 1960er Jahren nahm die Zahl von Studierenden zu, die schon vor dem Abschluss ihrer Examina und vor dem Einstieg in ein Berufsleben Ehen schlossen und Kinder bekamen. Auch wir hatten ja von 1964 bis 1967 eine Studentenehe geführt, unser Verantwortungsgefühl für die nächste Generation gebot es uns jedoch, erst dann Kinder in die Welt zu setzen, wenn die beruflichen und damit die finanziellen Voraussetzungen für eine Familiengründung gegeben waren. Dies war 1967 nach bestandenem Examen mit der Übernahme der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten am Institut für politische Wissenschaften gegeben.
Unsere drei Töchter kamen alle in Westberlin zur Welt: Anne Katharina am 13. April 1968, Theresa Florentine am 1. Oktober 1971 und Caroline Isabel am 6. September 1975. Erst in den siebziger Jahren wurde es üblich, dass die Väter der Geburt beiwohnten. So durfte ich nur Carolines Geburt als einen aufregenden, aber doch wunderbaren Vorgang erleben. Anne wurde einen Tag nach der großen Demonstration gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke geboren. Rund 35.000 Studenten waren am 12. April 1968 durch die Innenstadt gezogen. Die politische Stimmung war hoch aufgeheizt, es herrschten Aufruhr und Gewalt. Anne wurde zu einem Kind der APO-Zeit, der antiautoritären Erziehung, der Kinderladen-Bewegung und der sogenannten sexuellen Revolution. Wir wurden Mitglied und Mitträger einer privaten Kinderladen-Initiative, die in der Darmstädter Straße in Berlin-Charlottenburg einen Krämerladen gemietet hatte, und beteiligten uns an den endlosen Diskussionen über die richtigen Erziehungsmaximen und ihre praktische Anwendung. Die Gruppe machte alle akademischen und theoretischen ›Kinderkrankheiten‹ dieser Zeit mit, Inge Lu und ich bezogen dabei allerdings keine Extrempositionen. Betreuung und Versorgungsdienste wurden unter den Eltern aufgeteilt. Auch ich wurde wöchentlich zum Kinderdienst verpflichtet. Theresa weigerte sich vehement einen Kinderladen zu besuchen, sie wollte zu Hause bleiben und nach eigenen Ideen spielen. Als Caroline ins Kindergartenalter kam, hatten sich in der antiautoritären Kinderladen-Bewegung die Verhältnisse beruhigt. Caroline besuchte von 1979 bis 1981, bis zu unserem Umzug nach Passau, einen Kinderladen in der Wexstraße, der von einer Eltern-Kind-Gruppe privat geleitet wurde. Dieser Kinderladen wurde von einer ausgebildeten Kindergärtnerin geführt, die von einer jungen Frau in Ausbildung und einer Mutter oder einem Vater in der Betreuung unterstützt wurde. Auch diese Kinderladen-Initiative verlangte selbstverständlich eine aktive Beteiligung aller Eltern, wir konnten die Kinder nicht einfach abgeben und allein der Kindergärtnerin überlassen. Meistens brachte ich Caroline dorthin, weil die Wexstraße auf dem Weg zu meiner Dienststelle gut zu erreichen war. Das Institut für politische Wissenschaft lag unweit vom Volkspark in der Babelsberger Straße. Ich stieß nachmittags, wenn es meine Arbeit erlaubte, dazu und machte beim Spiel mit den Kindern mit. Einmal in der Woche trafen sich die Eltern abends im Kinderladen, um über die aktuellen Fragen der Führung und Betreuung zu sprechen und Beschlüsse zu fassen. Die finanzielle Unterhaltung der Läden und die Bezahlung der Betreuer kostete uns eine beträchtliche Summe Geld.
Die ›Berliner Freiheiten‹ der antiautoritären Erziehung waren heiß umstritten und in konservativen Kreisen verpönt, insbesondere in Bayern. Berliner Kinder erlaubten sich Frechheiten, die dort als Ausdruck einer fehlgeleiteten Erziehung angeprangert wurden. Unsere drei Töchter hatten bei unseren Besuchen in Bayern rasch herausgefunden, mit was und wie sie dort Erwachsene schockieren konnten und machten sich einen Spaß daraus, mit ›Berliner Freiheiten‹ ihre Großeltern und andere Verwandte zu ärgern. Wenn wir auf Autoreisen von Berlin zu den Großeltern nach Würzburg fuhren, trichterten wir unseren Kindern am Grenzdurchgang von der DDR nach Bayern jedes Mal ein, dass wir in ein anderes Land kommen, in dem andere Sitten herrschen. Sie dürften sich nicht nackt ausziehen, keine ›zotigen Knaller‹ loslassen, nicht vorlaut Gespräche stören, sie müssten zum Gruße die rechte Hand reichen, die Großeltern artig begrüßen, zu Fremden höflich sein, ihre Kleidchen sauber halten, in der Mittagsruhe nicht stören und was sonst noch Kinder in Bayern zu beachten hätten. Meine Mutter und mein Vater störten sich an Berliner ›Unsitten‹. Inge Lus Eltern waren hingegen toleranter. Heute beobachte ich amüsiert, wie meine Töchter ihren Kindern ähnliche Verhaltensregeln mit auf den Weg geben, wenn sie die Großeltern in Bayern besuchen.