16. Parteienforschung in Bayern

Anfang 1967 schloss ich mein Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie ab und begann als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für politische Wissenschaft an der Freien Universität meine Forschungsarbeiten über die CSU und die Geschichte Bayerns nach 1945. Bevor ich über einige Abenteuer während meiner empirischen Parteienforschung berichte, über Schwierigkeiten und dramatische Situationen, über Spitzel und Anwerbungsversuche, über Unterstellungen und Diffamierungen, muss ich in ein paar Bemerkungen Grundsätzliches zu den Zwecken und Aufgaben der Parteienforschung im Nachkriegsdeutschland voranstellen. Ich forschte nicht in der Stille wohlgeordneter Archive und gut betreuter öffentlicher Bibliotheken, sondern unternahm wissenschaftliche Expeditionen in politischen Landschaften, die von der Parteienforschung erst erkundet werden mussten. Nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland und während der deutschen Teilung ging es um die Neuetablierung eines demokratischen Parteiensystems. Parteienforschung war, so wie ich und andere prominente Parteienforscher sie verstanden und betrieben, Demokratieforschung. Es ging nicht darum, Mächtigen und Prominenten, Mitgliedern und Sympathisanten, Gegnern und Feinden gefällige Darstellungen und Interpretationen zu liefern, sondern um die wertbezogene Beobachtung, Transparenz und Unterstützung demokratischer Prozesse. Zu den Kernfragen zählte, ob es gelingen würde, in der neuen Bundesrepublik Deutschland auf Dauer eine Parteiendemokratie nach westlichem Muster zu etablieren.

Damals waren die Parteiarchive selbst für hochrangige Vertrauenspersonen noch verschlossen und der Wissenschaft erst recht schwer zugänglich. Es waren die Jahre der Außerparlamentarischen Opposition (APO), der Studentenunruhen und des Terrors der Roten Armee Fraktion (RAF), als ich meine Forschung über die Christlich Soziale Union betrieb. Ich kam von der Freien Universität Berlin und nicht von einem bayerischen Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte. Heute vergisst die viel jüngere Forschergeneration allzu leicht jene politischen Rahmenbedingungen und Umstände zur Zeit des Kalten Krieges und des geteilten Deutschlands. Die Forschungssituation stellte sich damals ganz anders dar als heute. Die Stiftungen und Forschungseinrichtungen der Unionsparteien, die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung, waren gerade erst gegründet worden und noch im Aufbau begriffen. Gleiches galt für die Friedrich-Naumann-Stiftung. Das Archiv für Christlich- Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung wurde erst 1976 gegründet. In der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung gab es noch kein Archiv für Christlich-Soziale Politik und noch keinen Fundus an Unterlagen zur Geschichte der CSU. Die CSU hatte bis zum Jahre 1970 niemals Parteitags- und Kongressberichte vorgelegt und nur einmal, im Jahre 1954, ein eigenes Jahrbuch der Partei herausgebracht. Der Union-Kurier, eine Beilage zum Bayernkurier mit organisationspolitischen Nachrichten für Parteimitglieder, wurde erst 1967 ins Leben gerufen Regelmäßige und fortlaufende Organisationsberichte gab es nach heutigen Maßstäben nur in rudimentärer Form. Auch fehlten die Hilfsmittel heutiger Kommunikations- und Informationstechnik. Es gab noch kein FAX, keinen PC, kaum digitale Speichermöglichkeiten. Wissenschaftliches Recherchieren hieß, auf kostspieligen Informationsreisen, die oft wochenlang dauerten, handschriftlich aufzuzeichnen, was einem in die Hände kam. Günstigenfalls durften ein paar Blätter kopiert werden. Sozialwissenschaftliche Parteienforschung war also nicht „historiografische“ Forschung in professionellen Archiven und gut geführten Forschungsabteilungen von Stiftungen, so wie wir sie heute vorfinden.

Spannende Feldforschung vor Ort

Parteienforschung war in erster Linie langwierige, aufregende Feldforschung vor Ort. Ich musste über viele Jahre monatelang nach Bayern reisen und in den Geschäftsstellen der CSU-Bezirksverbände und in der Landesleitung vorsprechen, um an Datenmaterial heranzukommen. Erhielt ich Zugang zu Aktenbeständen, stand ich in dem einen oder anderen Fall vor neuen Problemen, weil zum Teil desolate Archivverhältnisse herrschten. Die dezentrale Archivierung von Parteiakten war lange Zeit als eine lästige Organisationsarbeit angesehen worden, die nebenher und ohne ausgefeilte Systematik, geschweige denn nach zentralen Vorgaben betrieben wurde. Jeder Bezirksverband erledigte die Archivierung nach eigenem Gutdünken und Bedarf. Auch die Vernichtung von Akten lag im Belieben von CSU-Bezirksverbänden. Die Akten des Bezirksverbandes München, zu denen mir Prinz Konstantin von Bayern den Zugang vermittelt hatte, lagen in der Widenmeyerstraße in einer Badewanne. Sie waren nach einem Umzug dort einstweilen deponiert worden. Einen Gutteil der Aktenbestände aus der Gründungszeit zwischen 1945 und 1948/49 hatte der erste Landesvorsitzende der CSU, Dr. Josef Müller, in seiner Wohnung in der Münchner Gedonstraße 4 „privatisiert“ und unter Verschluss gehalten.

Parteien, insbesondere die CSU, waren damals aus verständlichen Gründen äußerst sperrige Forschungsgegenstände. Die Grenzgänge zwischen Westberlin und Bayern erschwerten die Forschung noch zusätzlich. Zur hochorganisierten und kommunikationstechnisch gut ausgestatteten Partei wurde die CSU nach zaghaften Ansätzen erst seit Mitte der 1960er Jahre. Dabei hatten die Kampagnenfähigkeit und die Wahlagitation bei Weitem den Vorrang. Die zur Mobilisierung der Partei erarbeiteten statistischen Daten waren schon aus strategischen Gründen streng vertraulich und nur für den inneren Gebrauch bestimmt. An solche Materialien heranzukommen, war für Parteienforscher so gut wie unmöglich. Parteienforschung war – daran dürfte sich allerdings nicht viel geändert haben – bei aller Zweckrationalität sozialwissenschaftlicher Methodik gerade unter damaligen Verhältnissen ein hoch empfindlicher und eminent politischer Vorgang. Wer damals innere Verhältnisse, Entscheidungsstrukturen, Gruppenbildungen, Gegner- und Seilschaften, Vorstandswahlen, Arbeitsgemeinschaften, taktische Koalitionsbildungen und erst recht Finanzverhältnisse untersuchen wollte, musste hohe Hürden überwinden und Abwehrmaßnahmen unterlaufen. Türen gingen zu, Auskünfte wurden verweigert. Dem Forscher wurden politische Absichten unterstellt.

Eine charakteristische Episode: Der Bezirksvorsitzende der CSU Oberbayern und damalige Landwirtschaftsminister Alois Hundhammer hatte mich auf meine Bitte hin, mir für meine Analysen der Entwicklungsgeschichte der CSU in Oberbayern Einsicht in parteiinterne Materialien zu gewähren, ins Landwirtschaftsministerium zu einem Gespräch eingeladen. Er zeigte sich für mein Forschungsprojekt zunächst aufgeschlossen. Plötzlich fragte er mich, als wolle er sich noch einmal vergewissern, von welcher Universität ich komme. Als ich ihm wahrheitsgemäß antwortete, von der Freien Universität Berlin zu kommen, richtete er sich im großen Sessel hinter seinem Riesenschreibtisch wie ein Prophet aus dem Alten Testament auf – er trug einen imposant langen, eckig gestutzten Kinnbart – und sagte barsch zu seinem Geschäftsführer des Bezirksverbandes Oberbayern: „Herr Mintzel kriegt nichts, was nicht gedruckt ist!“ Er brach das Gespräch abrupt ab. Allein schon die Nennung der Freien Universität Berlin ließ sofort die Zugbrücke hochgehen.

Dr. Dr. Alois Hundhammer, 1900–1974; langjähriger Vorsitzender des Bezirksverbandes Oberbayern der CSU, 1946–1950 bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, 1957–1969 Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten; aus: Historisch-politische Schriftenreihe des Neuen Presseclubs, München, Bayerische Profile, Heft 1, München 1965

Dr. Dr. Alois Hundhammer; Legende auf der Rückseite: „Der Vorsitzende des Katholischen Männervereins, Staatsminister Dr. Hundhammer, begrüßte die deutsch-französische Aussöhnung“; Photo Stadler, Bad Aibling

Verständlicherweise wurden unausgesprochen oder laut Fragen nach der Parteizugehörigkeit oder nach dem politischen Standort des Forschers gestellt. Der Vorweis eines wissenschaftlichen Grades und Status‘ reichte keinesfalls aus. Über Jahre hinweg musste durch kontinuierliche Kontaktpflege erst ein Vertrauensverhältnis zu Schlüsselpersonen aufgebaut werden, um an harte Informationen zu gelangen und aktuelle Daten zu erhalten. Es bedurfte unter Umständen verdeckter Methoden, der zeitweisen Übernahme der politischen Sprache der beobachteten Partei und der landsmannschaftlichen Rückversicherung, um am Ende ein empirisch gut abgesichertes Forschungsergebnis zu erzielen.

Eine überaus große Rolle spielte, dass ich ein gebürtiger Bayer aus Franken war und mich in der Geschichte der bayerischen Traditionszonen gut auskannte. Meine zum Teil intimen Kenntnisse lokaler Verhältnisse und „landsmannschaftliche“ Verbindungen erleichterten mir den sozialen Prozess des sozialwissenschaftlichen Recherchierens eminent. Einem „Preußen“, zumal einem aus Berlin, hätte man nichts anvertraut. Über Beschlüsse von Parteigremien und Geschäftsstellen hätte ich niemals so tief in das Innenleben der CU eindringen können wie über einzelne Schlüsselpersonen. Der erste Landesvorsitzende der CSU stammte aus Oberfranken. Nach dem Krieg hatte es in den Jahren 1947/48 hintergründige pressepolitische Drähte der Seniorchefs der Mintzelschen Buchdruckerei zum „Ochsensepp“ gegeben, wie Josef Müller genannt wurde. Die US-Militärregierung hatte die Mintzelsche Buchdruckerei beschlagnahmt und das Wiedererscheinen des „Hofer Anzeigers“ untersagt. Ich gehörte zu den wenigen, denen Müller gestattete, in seiner Kanzlei uneingeschränkt Akten auszuwerten. Ich durfte tagelang in seinem „Parteiarchiv“ arbeiten und fand in ihm einen auskunftsfreudigen Parteipatriarchen. Müller war in den dramatischen Gründungs- und Aufbaujahren der CSU ein scharfer Gegner der erzkonservativen und fast fundamentalistisch katholischen CSU-Parteigranden Alois Hundhammer und Fritz Schäffer gewesen, die ihm den Parteivorsitz streitig gemacht hatten. Andere Schlüsselpersonen neben dem schon genannten Prinz Konstantin von Bayern waren Leo Wagner, der langjährige Vorsitzende des CSU-Bezirksverbandes Schwaben, der schwäbische Landtagsabgeordnete Dr. Richard Keßler sowie leitende Angestellte in der CSU-Landesleitung, die ihren Sitz in der Lazarettstraße hatten. Wagner war von 1963 bis 1975 Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe in Bonn und gehörte zum Establishment der Union. Später wurde er verdächtigt, konspirative Verbindungen zum Staatssicherheitsdienst der DDR unterhalten und Informationen geliefert zu haben. Nach dem Fall der Mauer (1989) und der Vereinigung beider deutscher Staaten (1990) kam heraus, dass Wagner in der Kampfabstimmung über eine Kanzlerschaft des CDU-Politikers Rainer Barzels Verrat am Kandidaten der Union geübt hatte. Die Staatssicherheit der DDR hatte ihn bestochen.

Am 9. August 1977 schloss ich mein Manuskript zur CSU ab. Anfang Oktober 1977, als Hanns Martin Schleyer ermordet wurde, erschien das fünfhundert Seiten starke Buch in einer Auflage von 1200 Exemplaren auf dem Markt. Innerhalb der ersten vierzehn Tage nach seinem Erscheinen wurden 604 Exemplare verkauft. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse war drastisch: Auf der einen Seite mein überaus großer Kraftakt der Niederschrift, auf der andere Seite die terroristischen Aktionen der Roten Armee Fraktion und ihrer palästinensischen Helfer.

Dokumentarischer Anhang

Aus meiner Korrespondenz mit Dr. Josef Müller, 1972/73; ich gehörte zu den wenigen, denen er Zutritt zu seinem umfangreichen Parteiarchiv gewährte und eine uneingeschränkteAuswertung gestattete.

Brief von Dr. Josef Müller, 24. März 1972

Brief von Dr. Josef Müller, April 1973

 

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