19. Jubiläum 350 Jahre Mintzel-Druck – Reise nach Leipzig, 1976

Mein Vater hat mich nach dem Buchdrucker und Verleger Johann Albrecht Mintzel (1600–1653) benannt, dem Gründer der Mintzelschen Buchdruckerei. Schon als Jugendlicher hatten mich die Lebensgeschichten meiner Vorfahren, von denen ich in direkter Linie abstamme, in ihren Bann gezogen. Ich identifizierte mich besonders mit dem genannten Begründer der Buchdrucker- und Verlegerdynastie Mintzel sowie mit dem letzten Buchdrucker und Verleger, Johann Heinrich Mintzel (1763–1840). Ihnen widmete ich meine großen Studien über die CSU (1975/78; 1977), weil sie mich als innere Autoritäten ermutigt hatten, kritische Situationen zu bewältigen. Beide mussten schwere Zeiten durchstehen, Johann Albrecht Mintzel im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), Johann Heinrich Mintzel zur Zeit der Freiheitskriege 1814/15 und in der nachfolgenden Periode der Restauration.

Buchdruckerei in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Abbildung aus der Jubiläumsschrift der Leipziger Buchdrucker-Innung, 1640

1967 begann ich mit der Niederschrift der Geschichte der Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel, die in fünf aufeinander folgenden Generationen über 224 Jahre dieses „gebildete Handwerk“ betrieb. Mintzel-Druck war in Deutschland die älteste Buchdruckerei, die seit 1625 ununterbrochen in Familienhand geführt worden war. Johann Albrecht Mintzel hatte sie in Leipzig gegründet und im Jahre 1642 aus dem vom Krieg schrecklich heimgesuchten Leipzig nach Hof an der Saale überführt.

Im Juni 1976 wurde – allerdings mit einem Jahr Verspätung – das 350jährige Jubiläum ihres Bestehens gefeiert. Die Firma lud mich als namensgleichen direkten Nachkommen des Gründers und als Kenner der Firmengeschichte dazu ein, vor versammelter bayerischer Prominenz den Festvortrag zu halten. Simon Nüssel, Staatssekretär im bayerischen Landwirtschaftsministerium, hielt im Namen der bayerischen Staatsregierung eine Rede und überraschte die Zuhörer und mich mit einem Lobpreis auf meine große Studie über die „Anatomie einer konservativen Partei“: „Nun“, so sagte er, „wir haben ja alle die neuesten Forschungsergebnisse von Dr. Alf Mintzel gelesen, dem ich im Übrigen für seine hervorragende >anatomische< Arbeit über meine eigene Partei meine Anerkennung aussprechen möchte.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Solche parteioffiziellen öffentlichen Belobigungen lösten in mir jedes Mal zwiespältige Gefühle aus, weil ich um meine unabhängige Rolle als freischwebender Intellektueller und Parteienforscher besorgt war. Ich befürchtete zudem, dass sich ein solches (Partei-)Lob bis Berlin herumsprechen und dort meine Berufschancen als Wissenschaftler beeinträchtigen könnte. Die CSU und ihr Parteivorsitzender Franz Josef Strauß hatten an der FU Berlin den Ruf eines Stoßtrupps der Reaktion.

Die Einladung der Firma Mintzel-Druck veranlasste mich zu einer Inspektionsreise nach Leipzig, um meine Forschungen über die Leipziger Druckerei- und Gewerbegeschichte und meine topografischen Kenntnisse vor Ort zu vertiefen. Ich wollte mir ein Bild machen von den Verhältnissen im 17. Jahrhundert, von der ehemaligen Lage des Wohnhauses und der Mintzelschen Druckerei. Dazu leisteten mir originale Stadtansichten Leipzigs aus den Werkstätten der Kupferdrucker Georg Braun/Franz Hogenberg und Matthäus Merian gute Dienste. Ich hatte sie eigens zu diesem Zweck in Antiquariaten gekauft. Da Leipzig auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik lag, musste ich 1976 einen Einreiseantrag stellen und auf die Genehmigung warten. Ich musste mein Reiseziel, die Zeit meines Aufenthaltes, die Wohnadresse, die Kontaktperson, den Zweck meines Besuches und den mitgebrachten Geldbetrag genau angeben. Dies alles wurde druckförmlich abgefragt, registriert, kontrolliert, abgestempelt und von Stellen und Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes beobachtet und protokolliert. Eigentlich hätte ich als Bürger der besonderen politischen Einheit Westberlin nach den Bestimmungen der ostdeutschen Machthaber gar nicht einreisen dürfen. Doch besaß ich, wie viele Westberliner Bürger, die aus Westdeutschland nach Berlin übergesiedelt waren, noch einen zweiten, halblegalen Pass, den der Bundesrepublik Deutschland. Es war damals eine gängige und westbehördlich geduldete Praxis, eine Art doppelte deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen, eine westberliner und eine westdeutsche, um die ostdeutschen Einreisebestimmungen zu unterlaufen. Wer kann sich heute noch diese Zustände und Umstände vor Augen führen?

Ost-Bürokratie; oben: Berechtigungsschein zum Empfang von Visa, unten: Transitvisum (verso)

Das Wohnhaus in Leipzig, 1627 bis 1631

In Leipzig angekommen schritt ich Gebäude für Gebäude ab, um die Wegstrecken wiederzuerkennen, die Johann Albrecht Mintzel rund dreieinhalb Jahrhunderte zuvor zurückgelegt haben musste. Mit Hilfe von alten Berichten und Originalkupferstichen begleitete ich ihn auf seinen Gängen, beobachtete durch seine Augen das imaginäre Vorstadttreiben auf dem Grimmaischen Steinweg und das alte grafische Viertel. Die Mintzelsche Druckerei hatte ihren Sitz in der Querstraße, die noch heute diesen Namen trägt.

Die Stadt Leipzig, um 1615, nach einem Kupferstich von Andreas Bretschneider; Kennzeichnung: Lage des Mintzelschen Wohnhauses

Aus der Höhe und Perspektive des Kupferstiches von Andreas Bretschneider schaue ich auf die Stadt hinunter. Die ganze ummauerte Stadt samt den Vorstädten liegt schräg unter mir, im Vordergrund das mächtige Grimmaische Tor mit seinem Vorwerk. Links vorne das Peterstor, rechts außen die große Eckbastei, im östlichen Mauerabschnitt.

Bereich um Grimmaische Straße und Grimmaischen Steinweg heute

Ein Blick auf den heutigen Stadtplan lässt sofort erkennen, dass der ehemalige Mauerring mitsamt seinen Basteien und Toren längst einem modernen Verkehrsring gewichen ist. Wo früher die Befestigungsmauern die Stadt schützten, laufen heute breite Ringstraßen um die ehemalige Innenstadt: Georgiring, Tröndlinring, Goerdelerstraße, Dittrichring, Martin-Luther-Ring, Rossplatz

Auf einer Planskizze, die Arthur Schlichter 1974 von der Lage des ehemaligen Arnolt/Mintzelschen Wohnhauses für mich angefertigt hat, erkenne ich die Lage des Wohnhauses der Druckerfamilie. Es liegt vor dem Grimmaischen Tor gleich linker Hand (wenn wir vom Tor aus stadtauswärts sehen, ganz vorne), mit direkter Sicht auf den Stadtgraben und die Stadtmauer, und grenzt an den breiten, unbebauten Streifen und Fahrweg, der rund um Leipzig entlang der Mauer führt. Zur Einmündung des Grimmaischen Steinweges – der Straßenabschnitt heißt heute noch so – sind es nur dreißig bis fünfzig Meter, das Haus der Mintzels liegt zwei Häuser von der Ecke entfernt. Die Familie hat freien Blick auf die Zollschranke und das Zollhäuschen, die noch vor der Holzbrücke liegen.

Grimmaisches Tor mit Teilen der Vorstadt, Kupferstich aus Braun und Hogenberg, um 1617 (Ausschnitt); Kennzeichnung: Lage des Mintzelschen Wohnhauses

Über die Brücke geht es in die Stadt hinein. Vor dem Grimmaischen Tor herrscht reger Verkehr, Pferdegespanne ziehen schwerbeladene Leiterwagen in die Stadt. Knechte transportieren Waren auf Schubkarren aus der Stadt hinaus und in die Stadt hinein. Eine Reitergruppe sprengt heran, die Hufe wirbeln Staub auf, die Pferde wiehern und schnauben, es geht heimwärts in die Stadt. Ein Hund rennt einem Reiter hinterher. Fußgänger kommen des Wegs, Tragekörbe auf dem Rücken und in der Hand einen Stock. Bundhosen, zerschlissene braune Kittel. Am Zollhaus entsteht Gedränge, die Kontrolle der Passanten ist streng nach Vorschrift, nur Stadtbürger und bekannte Beisassen dürfen schnell passieren, bei den anderen dauert es länger. Jeder Fremde muss sich ausweisen, wird gefragt, woher er kommt und wohin er in Leipzig gehen will, welche Waren er einführt; er muss eine Zollgebühr entrichten, die Akzise. Jeder Fremde bedeutet eine potentielle Gefahr, es könnte ein Gauner sein, ein Hasardeur, ein gesuchter Mörder, ein verkleideter Spion, ein Hexer. Gefahr! Gefahr! Jeder Fremde wird von der Torwache argwöhnisch gemustert, seine Papiere werden in Augenschein genommen – und, falls er Waren einführt, sein Geldbeutel erleichtert. Ein Gutteil der städtischen Einnahmen stammt aus den Zollgebühren, die an den Stadttoren erhoben werden. Johann Albrecht Mintzel ist ein stadtbekannter Bürger, Buchdrucker und Vorsteher der Buchdrucker-Innung, er darf frei passieren. Er wechselt ein paar scherzhafte Worte mit den städtischen Zollschreibern. Er kennt sie alle beim Namen und sie kennen ihn, denn Mintzel hat fast täglich in der Stadt zu tun, er muss häufig mit Verlegern Druckaufträge besprechen und auch mit Autoren Gespräche führen. Die Zollschreiber und das Wachpersonal winken ihn durch.

All das sah ich vor mir. Eine illusionistische Spiegelung, eine historische Fata Morgana. Vorbei! Plötzlich stand ich wieder an Leipzigs Hauptpostamt, an der Ecke Georgiring und Grimmaischer Steinweg. Das große, modernistische, erst nach dem Zweiten Weltkrieg hochgezogene Postgebäude befindet sich genau auf der Fläche linker Hand, wo bis 1631 die Vorstadthäuser vor dem Grimmaischen Tor gestanden hatten, exakt auf dem ehemaligen Gelände des Wohnhauses der Buchdruckerfamilie Mintzel. Nichts erinnert mehr an die alte Stadtmauer, an den Wassergraben, an das Vorwerk, an das Zoll- und Wachhaus, an die Brücke zum Torturm, an die ein- bis zweistöckigen Vorstadthäuser. Alles ist verschwunden, zum Teil schon im Dreißigjährigen Krieg zerstört und abgetragen worden.

Langsam wanderte ich zu der Stelle, an der das Wohnhaus der Buchdruckerfamilie Mintzel gestanden haben musste. Hier ist der Innungsmeister Mintzel gegangen, hier an dieser Stelle. Selbst mit größter Phantasie hätte er sich nicht vorstellen können, wie es dort 350 Jahre später ausschauen wird. Seine Welt ist untergegangen.

Unter Beobachtung des Staatsicherheitsdienstes

Erst über meine Stasi-Akte, die mir Anfang Mai 2002 die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) übermittelt hat, erfuhr ich, dass meine Forschung bespitzelt worden war. Tatsächlich wurde ich wegen meiner sozialwissenschaftlichen Tätigkeit als Soziologe und meiner Kontakte in die DDR über Jahre beschattet. So auch auf dieser Reise: Ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes beobachtete mein merkwürdiges Abschreiten und optisches Vermessen. Er wird der HA XX/5, einer Hauptabteilung des Stasi, einen Bericht über seine Observation geben. Er wird niemals wissen, was ich observiert habe. Ich betreibe mutmaßlich, wie es später im Bericht über die operative Maßnahme gegen die Zielperson Mintzel heißen wird, „Geneaontologie“. Urkunden und firmen- und gewerbegeschichtliche Dokumente aus DDR-Archiven zu beschaffen, war in der Tat wegen der äußerst scharfen Bestimmungen ein riskantes und beschwerliches Unternehmen. Das Ratsarchiv der Stadt Leipzig unterlag seit 1974/75 außerordentlich verschärften Benutzungsbestimmungen Ich hatte in Leipzig und Ost-Berlin heimliche Helfer, die in meinem Auftrag nach Dokumenten und Quellen zur Leipziger Gründungsgeschichte der Mintzelschen Buchdruckerei gesucht hatten – für Dr. Adalbert Brauer, Arthur Schlichter, Ruth Spindler und Rudolf Waldmann müsste ich ein kleines Denkmal des Dankes setzen. Brauer war der Archivleiter des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Schlichter der verpflichtete Protokollant des Kirchenbuchamtes Leipzig, Ruth Spindler stammte aus einer Künstlerfamilie, Waldmann war Angestellter eines Ostberliner Museums. Über sie erhielt ich auf Schleichwegen Kopien der Gründungsurkunden von 1625 und des Hauskaufes von 1627. Über Jahre bezahlte ich die Beschaffung genealogischer und gewerbegeschichtlicher Daten mit Naturalien aller Art: Bananen, Feigen, Datteln, Orangen, Kaffee, Schokolade, Zigaretten, Haushaltsartikel. Alles, was sich Ostberliner und DDR-Deutsche so sehnlichst wünschten. Über Transfereinrichtungen des Handels zwischen der BRD und der DDR lieferte ich für Mikrofilme, die auf verborgenen Transportwegen in die BRD gebracht worden waren, eine Badewanne nach Ost-Berlin. Durch den von der DDR-Seite streng bewachten Übergang Friedrichstraße ging ich selbst wiederholt in den Ostteil Berlins, um meine Helfer mit Waren aus dem Westen zu versorgen und damit zu bezahlen. Heute mag das alles abenteuerlich klingen und fast unglaubhaft erscheinen.

Oben: „Erklärung über mitgeführte Gegenstände und Zahlungsmittel“; unten: Beleg über ausgeführte Zahlungsmittel und „in der DDR als Geschenk erhaltene oder durch Kauf erworbene Gegenstände“

Die jüngere Forschergeneration kann sich kaum vorstellen, wie schwierig und mühsam im geteilten Deutschland solche Recherchen waren. Im vordigitalen Zeitalter hatten zudem die Bibliotheken viele Druckwerke des 17. Jahrhunderts noch nicht erfasst und reproduziert. Über den nationalen und internationalen Bibliotheksdienst nach alten Drucken zu suchen, war zeitraubend und häufig vergeblich. Wer heute über die digitalen Dienste nach Druckwerken der Buchdrucker und Verleger Mintzel sucht, findet in Sekundenschnelle viele Hunderte Nachweise und Reproduktionen. Umso ärgerlicher ist der arrogante und ignorante Habitus von jungen Kritikern, die in ihren buchwissenschaftlichen Besprechungen in einer Art von selbstgefälliger Korinthenkackerei drucktechnische und buchgeschichtliche Mängel nachweisen. Ein Musterbeispiel der Arroganz und Ignoranz bietet der Mainzer Drucktechniker und Buchwissenschaftler Dr. Dipl.-Ing. Christoph Reske, der sich in seiner handwerklichen Beckmesserei auf drucktechnische und buchgeschichtliche Aspekte kapriziert, die ich in meinem Konzept ausdrücklich vernachlässigt habe. Er lässt dagegen meine gesellschaftlichen, politischen und personengeschichtlichen Ausführungen, die den eigentlichen Kern und die inhaltliche Substanz meiner gewerbe- und firmengeschichtlichen Studien ausmachen, weitgehend außer Acht. (Mintzel: Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie. Die Buchdruckerei Mintzel und ihr Zeitungsverlag, 2 Bände, Berlin 2011). Ich schildere Erfolg und Misserfolg, Hoffnungen, die sich manchmal nicht erfüllen, Ereignisse, die eine glückliche Wende herbeiführen, Einquartierungen und Brände, Krankheit und Leid, den Tod von Kindern, Sorgen, Nöte und Mühen. Das alles interessiert den Drucktechniker bestenfalls nur am Rande. Die politischen Umstände der Forschung im geteilten Deutschland werden mit keinem Wort erwähnt. (Historische Zeitschrift 294/2012, S. 157–159).

Friedhofbegehung: Kindersterben und Elternleid

Buchdrucker Mintzels Ehefrau hatte elf Kindern das Leben geschenkt. Nur zwei überlebten, Florentina und Gottfried. Alle waren noch vor dem gefährlichen Umzug nach dem markgräflich-brandenburgischen Hof in Leipzig zur Welt gekommen, drei Mädchen und acht Buben. Allein zwischen dem 18. September und dem 9. Oktober 1633 starben kurz hintereinander fünf Kinder. In Leipzig war die Pest ausgebrochen, eingeschleppt von der Soldateska des Dreißigjährigen Krieges. Das Sterben war so groß, die Zahl der dahingerafften Kinder so schrecklich hoch, dass bei der kirchenamtlichen Buchführung nicht einmal mehr die Namen der Kinder genannt wurden. Es heißt im Ratsleichenbuch nur „ein Knäblein“, „ein Mägdlein“, „zwey Kinder“, sie werden zu Nummern einer namenlosen Registratur. Lediglich der Vater wird verzeichnet, der Buchdrucker und Verleger Johann Albrecht Mintzel.

Alle neun in Leipzig verstorbenen Kinder der Buchdruckerfamilie Mintzel wurden auf dem Sankt Johannisfriedhof in der Grimmaischen Vorstadt begraben. In stiller Trauer beschritt ich mit meinem Stadtplan den gleichen Weg, auf dem Johann Albrecht Mintzel und seine Frau Maria in den Jahren von 1627 bis 1642 neun Kinder zu Grabe getragen hatten.

St. Johannes-Kirche in Leipzig, Kupferstich von Johann Stridbeck jun., 18. Jahrhundert

Bei jedem Begräbnis zieht der kleine Leichenzug vom Wohn- und Druckhaus auf dem Neuen Markt, wo die Buchdruckerfamilie seit 1631 lebt, hinaus aus der Stadt. Sie durchquert auf dem Grimmaischen Steinweg die 1631 fast völlig zerstörte Vorstadt bis zum Friedhof. Dieser ist ummauert, in seinem Geviert steht eine kleine gotische Kirche, die wie ein Wunder im Kriegsjahr 1631 die Verwüstung der Vorstadt überstanden hat. In der Kirche segnet der Prediger die Kinder ein. Das Elternpaar Mintzel steht mit Verwandten und Druckereigehilfen am Grab. Der Pastor erinnert an die Verheißungen des Glaubens, Wiedersehen im Himmel, Gott liebt die Kindlein und weiß, warum er sie zu sich genommen hat. Alles hat seinen göttlichen Sinn. Leid ist Gottes Prüfung. Die himmlischen Freuden sind Gottes Lohn für Gottesfurcht und Gottvertrauen.

343 Jahre später, im Jahr 1976, ist der Friedhof seit langem aufgelassen und in eine Parkanlage umgewandelt. Die Kirche steht nicht mehr, sie wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Im Rasen erinnern ein paar Steinplatten an die frühere Lage der Gräber. Niemand kennt mehr die verstorbenen Kinder, die hier einstmals begraben wurden. Es ist, als hätten sie niemals existiert. Nur noch die Registriernummern vergangener Zeiten zeugen von ihnen. Alles ist Windhauch.

Nur ein Sohn überlebte die Leipziger und Hofer Kriegsjahre: Gottfried Mintzel war 1642 noch in Leipzig geboren worden. Er machte als Säugling den Umzug seiner Eltern nach dem markgräflich-brandenburgischen Hof an der Saale mit und übernahm dort im Jahre 1662 in zweiter Generation die Mintzelsche Buchdruckerei. Schon auf ihrer riskanten Übersiedlung hätte die Familie von marodierenden Söldner umgebracht werden können. Kaum hatte Mintzel und die Seinen sich in Hof niedergelassen, wurde Gottfried bei einem Überfall kaiserlicher Truppen schlimm gemartert. Soldaten schmissen ihn im Wohnhaus so heftig gegen eine Wand, dass er zeitlebens hinkte. Meine Existenz verdanke ich genealogisch auch dem Zufall, dass Gottfried den Überfall überlebte und 1664 eine Familie gründen konnte.

Wie haben damals die Eltern den Verlust von elf kleinen Kindern verkraftet? Wie haben sie sich getröstet? Was haben sie darüber gesprochen? Mögen Eltern in jenen Zeiten hoher Kindersterblichkeit mit dem Tod mehrerer Kinder gerechnet haben, mögen sie durch die Lebens- und Zeitumstände vielleicht auch abgehärtet gewesen sein, so machte sie doch jeder Kindstod um ein Stück Zukunft ärmer und ihre Altersversorgung noch unsicherer, als sie es schon ohnehin war. Mit dem Ableben jedes Kindes schwand auch ein weiteres Stück Hoffnung, die Buchdruckerei später einem Spross übergeben zu können. Den Eltern half nur die Ergebenheit in das unabwendbare, von oben auferlegte Schicksal und die Tröstungen des christlichen Glaubens über ihr Leid hinweg. Johann Albrecht Mintzel drückte seine persönliche Leidenserfahrung in einem seiner zahlreichen Gelegenheitsgedichte 1649 so aus: „Was uns allhier kann erfreuen, was lieb und angenehm: Das führt der Tod an den Reigen des Totentanzes, ganz grausam und geschwind, macht Witwen, Waisen viel und manch betrübtes Kind! Dies haben wir leider! Ach! Mit Herzensschmerz erfahren, was er verübt an uns sogar in kurzen Jahren.“

Die hohe Kindersterblichkeit hatte Eltern nicht stumpf werden lassen, sie litten an dem Hinscheiden ihrer Kinder. Ihr Glaube verhieß ihnen, ihre unschuldigen Kinder fänden im Himmel gnädige Aufnahme. Die Kinder würden vom Chor der Engel erwartet und dort oben keine Qualen mehr erleiden. Diese Bilder gründeten in einer ungebrochenen Glaubensgewissheit.

Schicksal oder Zufall?

Ein Zufall? Im Jahre 1953 begegneten Inge Lu und ich uns in Würzburg zum ersten Mal. Es war am 27. März 1953 gegen siebzehn Uhr, bei trüben Wetter im Hofgarten der Würzburger Residenz. Inge Lu war erst fünfzehn Jahre alt, ich stand kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag. Drei junge Burschen und drei Mädchen, darunter sie und ich, hatten sich an diesem Spätnachmittag auf einer barocken Balustrade getroffen, um eine gemeinsame Radtour zu verabreden. Uns hatte anscheinend ein Zufall zusammengeführt An diesem Tag hatte sich zwischen Inge Lu und mir eine schüchterne Zuneigung entwickelt, aus der ein literarisch-versponnenes Liebesverhältnis werden sollte. Meine Tagebücher sind voller überschwänglicher und gefühlvoller Eintragungen.

Es mag im Jahre 1954 gewesen sein, als Inge Lu ihre Großmutter besuchte. Die Mutter ihrer Mutter verbrachte nahezu erblindet ihre alten Tage in einem Altersheim. Großmutter und Enkelin kamen ins Gespräch.
Die Großmutter fragte:
„Hast Du schon einen Freund?“
Die Enkelin hatte Hemmungen darüber zu sprechen, gab sich aber nach kurzem Zögern einen Ruck:
„Ja“.
Die Großmutter war neugierig, wollte wissen, wer es sei, und fragte weiter:
„Wie heißt denn dein Freund?“
„Alf Mintzel.“
Die Großmutter stutzte:
„Den Namen kenne ich, das ist eine alte Hofer Familie.“
„Die Mintzels kommen, glaube ich, aus Hof. Alf hat das mehrmals erwähnt.“,
erwiderte die Enkelin.

Großmutter Luise stammte aus Hof an der Saale. Sie erinnerte sich: „Ja, dort ist die alte Hofer Buchdruckerei Mintzel.“ Sie hatte nichts mehr gegen den Freund einzuwenden, der Name Mintzel war ihr vertraut. Inge Lu war froh, dass ihre Großmutter mütterlicherseits nicht negativ über „die“ Mintzels sprach. Ihre Großmutter väterlicherseits hatte sie vorher mit der abschätzigen Frage in rheinischer Tonart verunsichert: „Was willst Du mit diesem halben Portiönchen?“

Der Clou der kleinen Geschichte: Großmutter Luise war eine geborene Militzer und stammte aus dem Hofer Militzer-Clan. Beide Familien lebten seit Jahrhunderten nebeneinander im oberfränkischen Hof, sie kannten sich, allerdings ohne je versippt oder verschwägert gewesen zu sein. Die Großmutter meiner späteren Ehefrau stammte aus der Hofer Arztfamilie Militzer, die im Jahre 1848 das vormalige Mintzelsche Stammhaus gekauft hatte. Die Buchdrucker- und Verlegerfamilie hatte in diesem Haus von Trinitatis 1642 bis 1760/61 gewohnt. In diesem Haus hatte die Druckerei ihren Standort. In der Reihe späterer Eigentümer und Bewohner des Hauses begegnet uns Dr. Georg Militzer, ein praktischer Arzt, der mit seiner Familie bis 1858 dieses Haus bewohnt. Inge Lus Vorfahren, die Militzer, lebten in dem gleichen Haus, in den gleichen Zimmern, in denen meine Vorfahren Mintzel fast 120 Jahre lang gelebt hatten. Ein Zufall? Eine hintergründige Einmischung der Ahnen? Im Jahre 1953 begegneten sich zwei Nachkommen zweier alter Hofer Familien und begannen ein Liebesverhältnis, ohne von den gemeinsamen familiären Hintergründen zu wissen. Jahre verstrichen, ehe ich in alten Quellen diese Geschichte entdeckte. Sie gehört seitdem zur magischen Seite unserer Beziehung.

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