20. Von politischen Absagen und Treibjagden

Was sich in den Jahren von 1977 bis 1981 lebens- und berufsgeschichtlich ereignete, lässt sich nicht als bloße Abfolge persönlicher Erlebnisse und Entscheidungen schildern. Die Niederlagen und Erfolge, Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen hingen in jener äußerst turbulenten Zeit von unkalkulierbaren Wirkkräften ab. Gesellschaftliche, politische und institutionelle Faktoren beschleunigten Vorgänge und Abläufe. Terrorakte der Roten Armee Fraktion (RAF) erschütterten erneut das politische Gefüge der Bundesrepublik und beunruhigten die Bevölkerung. An den Universitäten verfestigten sich in besonders anfälligen Fächern Lagerbildungen und Gesinnungsgemeinschaften. Gegenorganisationen wurden ins Leben gerufen, Bewerbungen auf Professuren argwöhnisch durchleuchtet und Auskünfte auf informellen Wegen eingeholt.

Von 1962 bis 1978 hatte ich mein Studium und meinen Lebensunterhalt mit Zeitverträgen finanziert, anfangs mit Zweijahresverträgen, später mit Dreijahresverträgen, zwischendurch mit einer auf vier Jahre befristeten Anstellung als Assistenzprofessor und am Ende mit einer zweijährigen Anstellung als einfacher wissenschaftlicher Assistent. Die Situation war prekär, die Zukunft als Wissenschaftler völlig unsicher. Förderer und Freunde konnten zwar mit Gutachten Bewerbungen unterstützen, doch die Zahl der konkurrierenden Bewerber war in der Regel groß, überall gab es persönliche Flechtwerke und in Westberlin – als Gegenstück zum CSU-verfilzten Bayern – den sozialdemokratischen Filz. Ich war 1967 aus der SPD ausgetreten und hatte mich damit vom Berliner sozialdemokratischen Beziehungsgeflecht entfernt.

Mehrere institutionelle und strukturelle Wirkkräfte an den Berliner Hochschulen sowie personalpolitische Entscheidungen am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung wirkten sich auf meine Berufs- und Lebenssituation äußerst negativ aus. Dr. Peter Glotz setzte in den Jahren als Senator für Wissenschaft und Kunst (1977–1981) die Westberliner Hochschulreform durch und griff dabei energisch in die gewachsenen sozialdemokratischen Beziehungsnetze ein. Zu seinen Maximen gehörte es, die in Berlin häufig praktizierten Hausberufungen zu erschweren und möglichst zu unterbinden. Mit dem neuen Berliner Hochschulgesetz vom 1. Januar 1979 wurde an den Berliner Hochschulen eine neue Personalstruktur eingeführt, die sich auf die Gruppe der rund 250 Assistenzprofessoren hart auswirkte. Viele mussten sich am Ende ihrer „Zeitverträge-Karriere“ mit anderen Berufen begnügen. Nur eine beschränkte Zahl wurde in Hochschullehrerpositionen übernommen, die allerdings ebenfalls befristet waren. Überlebenswichtig war, in eine Anschlussstelle einrücken zu können.

So wie die Dinge liefen, stellte sich in diesen Jahren die Frage immer dringlicher und schärfer, ob ich im Berliner Wissenschaftsbetrieb bleiben und in eine akademische Dauerstelle würde einrücken können. Nachdem meine Zeit als Assistenzprofessor (1974–1978) abgelaufen war, erhielt ich zum letzten Mal einen Zeitvertrag, der mich zum vollbeschäftigten Wissenschaftlichen Angestellten degradierte. Es war eine Art Gnadenbrot für habilitierte Assistenten. Der bis zum 31. August 1980 befristete Vertrag verschaffte mir einen zweijährigen Zeitgewinn für weitere Bewerbungen. Die Mitarbeit am deutsch-amerikanischen OMGUS-Projekt in Washington D.C. (1978) und zwei Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Bochum (1979/80) und Mannheim (1980/81) ermöglichten es mir, den Berliner Arbeitsvertrag mehrmals auszusetzen und nochmals Zeit zu gewinnen. Ich hoffte zunächst trotz laufender Bewerbungen auf westdeutsche Professuren und auf Stiftungsprofessuren in den USA am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung in Berlin weiterarbeiten zu können. Wegen meiner Familie – zwei Töchter waren bereits ins schulpflichtige Alter gekommen – wäre ich auch mit einer „kleinen“ Professur zufrieden gewesen. Im Zentralinstitut musste die Stellen- und Personalplanung der Jahre 1977/78 jedoch revidiert werden. Die Einrichtung der mir zugedachten und auf meine Arbeitsfelder zugeschnittenen Professur für Politische Soziologie wurde von den zuständigen Gremien nicht genehmigt. Auf die bereits genehmigte andere Stelle wurde – wohl auch aus politischen Gründen – ein hausinterner Konkurrent berufen. Unter den konkurrierenden Mitarbeitern verschärften sich der Umgangston und die intellektuellen Auseinandersetzungen. Schwelende Missgunst und das Gerangel um Stellen riefen Animositäten hervor. Unbefristete Angestelltenpositionen im Archiv, in der Dokumentation und in sonstigen wissenschaftlichen Hilfsbereichen waren fest und dauerhaft besetzt. Kurzum, ich musste mich von dieser Forschungseinrichtung endgültig verabschieden, obwohl ich in gut einem Jahrzehnt intensiver Forschungsarbeit zu den damals am meisten bekannten Parteienforschern gezählt wurde. Das Zentralinstitut hatte mir eine Nische geboten, in der ich trotz hinderlicher Einwirkungen von außen und trotz scharfer hausinterner Konfrontationen mein großes Forschungsprojekt hatte beharrlich verfolgen können.

Wissenschaftssenator Dr. Peter Glotz greift ein

Meine Bewerbung vom Juni 1977 auf eine Professur am Otto-Suhr-Institut scheiterte an der Berufungspolitik des Wissenschaftssenators Glotz. Er sah in der von den Instituten gemeinsam vorgelegten Berufungsliste ein Ergebnis hausinterner Personalabsprachen und gab die Liste im März 1978 zurück. In seinem Schreiben betonte er, dass „Prof. Dr. Dittberner und Dr. Mintzel zwar ausgezeichnete Wissenschaftler“ seien, aber „als Hausbewerber für eine Ruferteilung nicht in Betracht kommen.“ Der Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst äußerte gegenüber Prof. Dr. Nils Diederich (SPD) in einem politischen Gespräch unter vier Augen, Mintzel solle sich auf eine Professur in Westdeutschland bewerben, weil er dort aufgrund seiner Forschungen und Publikationen wirklich gute Chancen habe. Peter Glotz lobte mich weg, so hätte ich daraus schließen können. Er wirkte jedoch, was ich nicht wusste, über seine wissenschaftspolitischen Kanäle daran mit, meine Chancen zu erhöhen. So wurde es jedenfalls kolportiert. Ich fühlte mich in dieser Zeit tief verunsichert, niedergeschlagen und gedemütigt. Als Mittvierziger war es mir immer noch nicht möglich, meiner Frau und meinen drei Töchtern eine sichere Lebensgrundlage zu garantieren. Meine Zeit in Berlin war abgelaufen. Ich musste raus aus dem Berliner Schlamassel. Dennoch setzte ich weiterhin mit hohem Einsatz alles auf eine Professur, wo auch immer, und ich hatte Glück. In dieser Zeit beruflicher Unsicherheit und Bedrücktheit taten ein paar Worte des Lobs und der Hilfsbereitschaft besonders gut. Der damalige Bundesminister für Justiz, Dr. Hans-Jochen Vogel, schrieb mir am 27.07.1978:

„Ich möchte Ihnen übrigens bei dieser Gelegenheit sagen, dass ich die (…) Monographie [Die CSU – Anatomie einer konservativen Partei 1945–1972] für eine ganz ausgezeichnete Arbeit und eine wahre Fundgrube halte. Auch aufgrund meiner eigenen, aus naheliegenden Gründen doch recht detaillierten Kenntnis der Interna der CSU habe ich kaum Ergänzungen oder Korrekturen anzubringen. Ich empfinde es auch als wohltuend, dass Sie sich bei aller erkennbaren Distanz einer nüchternen und objektiven Art der Darstellung befleißigen. Manche Kollegen Ihres Faches geraten heute schon bei der Nennung des Stichwortes CSU in einen schwer definierbaren geistigen Ausnahmezustand, der dann zu Fehlbeurteilungen und ungewollten Hilfen für die CSU verleitet.“

Absagen, Absagen, Absagen

Der schwer definierbare geistige Ausnahmezustand, in den manche Kollegen beim Stichwort CSU gerieten, wurde für mich zu einem beruflichen Problem, weil manche Mitglieder von Berufungskommissionen in dem „CSU-Mintzel“ wohl einen Parteigänger oder gar eine politische Gefahr witterten. Mein Forschungsgegenstand und mein analytischer Ansatz blieben immer ein Politikum. Ich bewarb mich im Zeitraum von 1975 bis 1980 auf mindestens elf Professuren verschiedenen Ranges für politische Soziologie und Politikwissenschaft an westdeutschen Hochschulen und Universitäten. Bei acht Bewerbungen wurde ich nicht einmal zu einem Vortrag eingeladen, geschweige denn auf eine Berufungsliste gesetzt. Jede Absage erhärtete meinen Verdacht, dass es eben auch an meinem Forschungsgegenstand lag, der unterschwellig negative Reaktionen auslöste. Wer sich einem so heiß umstrittenen Forschungsgegenstand zuwendet und in dessen Innenwelt eindringt, musste damit rechnen, in linke und rechte Schusslinien zu geraten. Ein Quell, aus dem ich in dieser zermürbenden Zeit Kraft schöpfte, waren die Partnerschaft mit meiner Frau und die Freude an unseren Töchtern.

Unsere drei Töchter im Kinderzimmer der Berliner Wohnung, Bambergerstraße 59, Anfang 1976: Anne Katharina (geb. 1968) mit Caroline Isabel (geb. 1975) auf dem Schoß, Therese Florentine (geb. 1971)

Treibjagd auf Prof. Dr. Heinrich Oberreuter

Während meine Berliner Universitätsjahre zu Ende gingen, geriet ein ehemaliger Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des bayerischen Kultusministers Hans Maier in München und Berlin in heftige Auseinandersetzungen über seine Person und Qualifikation. Dr. Heinrich Oberreuter war von Wissenschaftssenator Peter Glotz im Sommer 1978 auf die am Otto-Suhr-Institut (OSI) angesiedelte Professur für „Vergleichende Parlamentarismusforschung“ berufen worden. Oberreuter hatte auf dem dritten Platz der Berufungsliste gestanden. Eine Berufung vom dritten Platz weg war ungewöhnlich und schien verdächtig. Das mag wiederum an der von Glotz praktizierten Berufungspolitik gelegen haben, Berliner „Seilschaften“ abzuschneiden. Kraftsprüche des für seine kernigenn und saloppe Formulierungen bekannten Oberreuters in einem Fortbildungsseminar für Gymnasiallehrer in der Akademie für politische Bildung waren schließlich der Auslöser für eine Anti-Oberreuter-Kampagne des Otto-Suhr-Instituts (Fachbereich 15 der Freien Universität Berlin). Es ging besonders um zwei seiner Formulierungen, die zunächst im Bayerischen Landtag beanstandet wurden und dann in Berlin einen Sturm der Entrüstung auslösten. Oberreuter soll gesagt haben, „er sei geneigt Konzentrationslager für Bundestagsabgeordnete einzurichten, die mit falschen Informationen über den Bundestag das politische System kaputt machen wollen“. Außerdem soll er das Dritte Reich als einen Betriebsunfall bezeichnet haben, der durch die Organisationsnormen der Weimarer Verfassung verursacht worden sei. Der Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 11. Juli 1978 über die zitierten Kraftsprüche Oberreuters schlug in Berlin wie eine Bombe ein. Es führte hier zu weit, den ganzen Vorgang mit seinen Einzelheiten zu schildern und alle am Streit beteiligten Gremien und Personen zu nennen. Über die Turbulenzen informierten die Süddeutsche Zeitung (Nr. 156, 11. 07. 1978, S. 20; Nr. 163, 19. 07. 1978, S.28; Nr.164, 20. 07.1978, S.18) und der Tagesspiegel (Nr. 9977, 20. 07.1978, S. 9; Nr. 9984, 28.07.1078, S. 11, Nr. 9986, 30. 07.1978, S. 21) in mehreren Artikeln.

Oberreuter, der sich schriftlich und mündlich verteidigte, erklärte, er habe nicht Konzentrationslager gemeint, sondern das „Konzentrationszimmer“ eines Gymnasiums, in dem sich Schüler auf ihre schwierigen Aufgaben hatten konzentrieren können.

Kritiker und Gegner Oberreuters hielten dessen sachliche Beteuerungen für unglaubhaft und wiesen seine Entschuldigung zurück. Es seien nicht bloß „unbedachte Äußerungen“ und „fahrlässige Kraftsprüche“ gewesen. Die beanstandeten Äußerungen würden vielmehr eine faschistoid-autoritäre Sicht auf den Parlamentarismus und eine Verunglimpfung von Parlamentariern verraten. Er hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass seine höchst fragwürdigen Vergleiche richtig verstanden würden. Oberreuter habe sich wissenschaftlich und moralisch disqualifiziert. Am OSI sei der pluralistische Grundkonsens gefährdet, durch die Berufung drohe eine Konfrontation. Mitglieder des Fachbereichsrates, die „Sozialistische Assistentenzelle“ und Vertreter einer studentischen Initiativgruppe forderten Wissenschaftssenator Glotz auf, den an Oberreuter ergangenen Ruf zu suspendieren. Dem Präsidenten der Freien Universität Berlin wurde nahegelegt, die Ernennungsurkunde so lange nicht zu unterzeichnen, „bis die Vorgänge restlos geklärt sind.“ Oberreuter stand ein „heißes“ Wintersemester 1978/79 an der hochpolitisierten Freien Universität bevor. Man werde, so wurde angekündigt, in universitätsöffentlichen Veranstaltungen Oberreuters Demokratieverständnis, geistige Haltung und fachwissenschaftliche Eignung überprüfen. „Sit-Ins“, massive Störungen seiner Lehrveranstaltungen, Pöbeleien und Aggressionen waren vorprogrammiert. Die Scharfmacher wollten Oberreuter aus dem OSI zu vertreiben. Die Wogen der internen und halböffentlichen Auseinandersetzungen schlugen so hoch, dass die Berufung Oberreuters zu scheitern drohte. Der Berliner Wissenschaftssenator Glotz war herausgefordert, seine Entscheidung vom Mai 1978 zu revidieren.

Peter Glotz stand in einer öffentlichen Vorwärtsverteidigung zur Berufung Oberreuters, dem auch prominente Politikwissenschaftler wie Kurt Sontheimer und Hans Maier zur Hilfe kamen. Sontheimer und Maier attestierten dem designierten Professor für Vergleichende Parlamentarismusforschung, dass er keinesfalls zu rechtsextremen oder faschistischen Überlegungen neige. Glotz erklärte in einer in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Stellungnahme (SZ Nr. 163, 19.07.1078), aus der ich auszugsweise zitiere:

„In der Tat habe ich Herrn Oberreuter – und zwar von Platz 3 einer mir hier in Berlin vorliegenden Liste – nach Berlin berufen. Dies geschah, weil er – wie die SZ ja auch schreibt – >fachlich unbestritten< ist. Herr Dr. Oberreuter ist in seinen Grundauffassungen sicher eher ein Konservativer. Aber er ist eben auch ein exzellenter Wissenschaftler. Im Unterschied zu manchen konservativen Ländern werden in dem sozial-liberal regierten Berlin auch konservative Wissenschaftler (wenn sie exzellent sind) berufen. Ich habe im Zeitpunkt der Berufung keine Ahnung von den Äußerungen von Herrn Dr. Oberreuter gehabt. Sie sind auch sicherlich fahrlässig und geschmacklos – eben >Kraftsprüche<, wie Sie auch schreiben. Das berufliche Schicksal eines ansonsten untadeligen Mannes darf an solchen Kraftsprüchen aber nicht Schaden nehmen Ich habe es zu oft erlebt, wie Wissenschaftlern mit >linken< Auffassungen aus einzelnen Äußerungen, die sie irgendwann gemacht hatten, ein politischer Strick gedreht werden sollte. Ich weigere mich, Menschen nach >Zitaten< zu beurteilen, die irgendwo herausgefischt und der Öffentlichkeit mit spitzen Fingern präsentiert werden. Dies gilt nach links, dies gilt selbstverständlich auch nach rechts. Das kann selbstverständlich nicht heißen, dass Wissenschaftler Narrenfreiheit haben. Es gibt wissenschaftliche und politische Äußerungen, die einen Mann disqualifizieren können. Wir sollten uns aber hüten – und zwar alle – zu leichtfertig und auftrumpfend jeden Fehler, den ein anderer macht, gegen ihn öffentlich zu verwenden. Das, was man da mit einem politischen Gegner praktiziert, kann einem am nächsten Tag schon leicht selbst passieren…“

Diese Verteidigung der Berufung Oberreuters sprach mir, emotional ausgedrückt, aus dem Herzen. In der Sache fand ich sie angesichts der Berliner Verhältnisse mutig und verständlich. Wir gestehen uns und anderen nicht gern Fehler ein. Geirrt und gefehlt zu haben wird bei uns von Unfehlbarkeitsaposteln und Vertretern reiner Lehren mit Abschätzigkeit geahndet. Es hatte einiger Lehr- und Lernjahre bedurft, bis ich auf Wegen des trial and error angesichts einer komplexen und unüberschaubaren Welt im Denken und Handeln zu einer reiferen Sicht und fundierten Einstellung gelangt war.

Ich wurde im Sommer 1978 unmittelbar vor meiner Abreise in die USA direkt in die Auseinandersetzungen verwickelt. Kollegen aus dem Otto-Suhr-Institut und dem Zentralinstitut suchten mich an meinem Arbeitsplatz auf und forderten mich als Kenner der politischen Verhältnisse und Beziehungsgeflechte Bayerns auf, nach weiteren schriftlichen und mündlichen Äußerungen Oberreuters zu suchen, aus denen ihm ein politischer Strick gedreht werden könnte. Um Oberreuter abzuschießen, war ihnen jede Schnüffelei recht. Die Verfolgung nahm Formen einer Treibjagd an. Die Aufforderung, mich daran zu beteiligen, löste in mir größten Widerwillen aus. Soweit mir zu diesem Zeitpunkt Oberreuters Publikationen zum Parlamentarismus bekannt waren, hatte ich darin kein rechtsradikales oder gar faschistisches Denken und Argumentieren entdeckt. Ich lehnte es ab, mich in denunziatorische Aktionen verwickeln und in die laufende Diffamierungskampagne einspannen zu lassen. Es kam mir nach meinen eigenen Erlebnissen mit der Stasi und Kurieren des Kalten Krieges vor, als sollte ich wiedermal als Spitzel eingesetzt werden, obschon der Vergleich sicher hinkt. Obwohl ich Oberreuter bisher nicht auf einer akademischen Plattform getroffen hatte, entschloss ich mich, ihn brieflich über die Vorgänge zu informieren und meinen Widerwillen gegen diese Methoden verdeckter Observation auszudrücken. Es blieb bei einem kurzen Briefwechsel, der sich – zu dieser Zeit nicht hervorsehbar – erst drei Jahre später auf meinen weiteren wissenschaftlichen Werdegang auswirken sollte. Mit meiner mehrmonatigen Reise in die USA ließ ich die Berliner Querelen für einige Zeit hinter mir.

Der Tod Prof. Dr. Otto Stammers und mein Flug in die „Neue Welt“

Mein akademischer Ziehvater und Mentor Otto Stammer, der langjährige Leiter des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, starb am 12. September 1978 im Alter von 77 Jahren. Drei Tage später flog ich zum ersten Mal in meinem Leben in die „Neue Welt“. In den Tagen vor meinem Abflug hatte ich noch mitgeholfen, seine Beerdigung zu organisieren. Mein Flug nach Nordamerika war eine Reise zurück in meine Jugendzeit, in die Zeit der US-amerikanischen Reeducation-Politik, und voll von Überraschungen und neuen Erfahrungen.

Stammer hatte meinen Werdegang von der studentischen Hilfskraft über den wissenschaftlichen Hilfsarbeiter bis zum Assistenzprofessor maßgeblich bestimmt. Er hatte mir in Konfliktsituationen Rückendeckung gegeben und mir geholfen, mich gegen personelle Widerstände durchzusetzen. Er hatte mich nach bestandenem Diplomexamen im Fach Soziologie sofort als wissenschaftlichen Assistenten übernommen, er war mein Doktor- und Habilitations-Vater gewesen. Solange er als Wissenschaftlicher Leiter und Spiritus Rector dem institutsinternen Arbeitskreis Parteienforschung vorgestanden hatte, war ich sein organisatorischer Gehilfe gewesen. Was Hans Maier in München für seinen Zögling Heinrich Oberreuter gewesen war, hatte cum grano salis Stammer für mich dargestellt. Unsere Ziehväter repräsentierten zwei unterschiedliche Wissenschafts- und Forschungswelten. Stammer, Jahrgang 1900, war im Kaiserreich aufgewachsen und in der Weimarer Republik politisch sozialisiert worden. Maier, Jahrgang 1931, gehörte ein Lebensalter später der Kriegsgeneration des Zweiten Weltkrieges an. Er wuchs in der langen Prosperitätsphase der Bundesrepublik Deutschland heran. Der gläubige und seiner Kirche eng verbundene Katholik Maier ging in die Politik, avancierte zum bayerischen Staatsminister für Wissenschaft und Kultur und wurde Präsident des Deutschen Katholikentages. Stammer blieb nach dem Zweiten Weltkrieg in Distanz zur politischen Sphäre und ging ganz in der Leitung des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin auf. In Hans Maiers Autobiografie (Maier, 213, S. 135) „Böse Jahre gute Jahre“ kommen Stammer und der Schüler- und Forscherkreis um ihn – ausgenommen Peter Christian Ludz – nicht vor.

Prof. Dr. Otto Stammer im Alter von 75 Jahren, Oktober 1975; Photo: Ludwig Binder, Berlin

Mit Stolz hatte mich 1975 Stammers Dankesrede erfüllt, die er im Schöneberger Rathaus auf der offiziellen Feier seines 75. Geburtstages gehalten hatte. In einem Rückblick auf sein politisches und wissenschaftliches Leben hatte er ausdrücklich hervorgehoben, sich gewünscht zu haben, für seine Partei eine so hervorragende Studie verfasst zu haben wie ich die meine über die CSU. Er hatte, wie aus seinen Gutachten hervorgegangen war, große Stücke auf mich gehalten und mich am Ende seines Lebens als einen seiner akademischen Nachlassverwalter eingesetzt. Allerdings konnte ich diese Aufgabe aufgrund meiner beruflich unsicheren Situation nicht erfüllen. Im Zentralinstitut wurde ein anderer Weg gefunden.

Förderer und Freunde

Zu meinen persönlichen Förderern, die mich nach Westdeutschland zu Vorträgen und Lehrstuhlvertretungen einluden oder meine Bewerbungen auf Professuren unterstützten, gehörten eine Reihe älterer renommierter Wissenschaftler, darunter die inzwischen verstorbenen Professoren Martin Broszat, Mario Rainer Lepsius, Hans Mommsen, Hans-Gerd Schumann und Rudolf Wildenmann. Aber auch schon Nachwuchswissenschaftler, die erst kurz zuvor in Professuren eingerückt waren, wie Ulrich von Alemann, Nils Diederich, Jürgen Fijalkowski, Karl Rohe, Uwe Thayssen, Joachim Veen und last but not least Heinrich Oberreuter, brachten mich mit Gutachten voran. Ohne die Hilfe von Alpha-Tieren der Fachwissenschaften und ohne Netzwerke wären die Chancen gering gewesen, in eine Professur zu gelangen.

Martin Broszat hatte mich noch vor meiner Passauer Zeit wiederholt zu Vorträgen über die CSU und die gesellschaftlich-politische Entwicklung Bayerns nach 1945 nach München ins Institut für Zeitgeschichte (IfZ) eingeladen. Die Stiftung Volkswagenwerk hatte von 1980 an das vom IfZ breit angelegte Forschungsprojekt „Politik und Gesellschaft in der US-Zone 1945–1949“ finanziert, das in mehreren Teilprojekten durchgeführt wurde. Broszat war daran interessiert, meine Forschungsmaterialien und -ergebnisse auch für Projekte des Instituts nutzbar zu machen. Das wiederum war meinem Traumprojekt einer „Staats- und Gesellschaftsgeschichte Bayerns nach 1945“ entgegengekommen. Allerdings blieb offen, inwieweit es zu einer institutionellen Koppelung kommen konnte. Mir war die Zusammenarbeit mit dem von Broszat geleiteten IfZ viel lieber als eine mögliche Kooperation mit der an bayerischen Universitäten etablierten bayerischen Landesgeschichtsschreibung. Nachdem ich mein Traumprojekt in Passau nicht realisieren konnte, übergab ich Ende der 1980er Jahre dem IfZ das „geheimnisvolle CSU- Spezialarchiv Mintzel“, das Eingang in die dreibändige Dokumentation der „Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der Christlich- Sozialen Union“ fand. Ich bat mir bei der Übergabe eine Mitherausgeberschaft aus, weil Zweidrittel der von Barbara Fait und mir im Auftrag des Instituts veröffentlichten Dokumente, etwa 1200 Seiten, aus der „Sammlung Mintzel“ stammten. Meine Mühen und Strapazen in zwei Jahrzehnten CSU- und Bayern-Forschung wollte ich mit dieser Mitherausgeberschaft belohnt haben. Im Sommer 1980 lud mich Broszat ein, auf dem Würzburger Historikertag in der Sektion 9 „Deutsche Nachkriegsgeschichte nach 1945 – Neuanfang oder Restauration“ einen Vortrag zum Thema „Das westdeutsche Parteiensystem bis zum Ende der 50er Jahre“ zu halten. Broszat nahm meinen Beitrag unter dem Titel „Der akzeptierte Parteienstaat“ in die Schriftenreihe des IfZ auf (Bd. 61, S. 75-94). Ein anderer prominenter Förderer, der es mir ermöglichte, die Berliner wissenschaftliche Plattform zu verlassen und mich nach Westdeutschland zu orientieren, war der Münchner Historiker Gerhard A. Ritter (1929–2015).

Rainer Lepsius und der Mannheimer Initiationsritus

Einer der Großen seines Faches, der Soziologe M. Rainer Lepsius (1928–2014), Spross einer alten Gelehrtenfamilie, spielte in meiner wissenschaftlichen Karriere zweimal eine (mit-) entscheidende Rolle. Ich lernte ihn im Wintersemester1979/80 persönlich kennen, als ich an der Universität Mannheim den Lehrstuhl des Politikwissenschaftlers und Wahlforschers Rudolf Wildenmann vertrat. Wildenmann hatte für längere Zeit eine Gastprofessur an der Europäischen Hochschule in Florenz/Fiesole angenommen und mir angeboten, seinen Mannheimer Platz einzunehmen. In der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim war es üblich, den Gastdozenten oder Lehrstuhlvertreter zu einem Vortag vor der gesamten Fakultät zu verpflichten. Der Neuling oder Gast musste vor der versammelten Kollegenschaft über ein Thema seiner Wahl sprechen und sich anschließend in einer Diskussion bewähren. Lepsius war in dieser Runde ein gefürchteter Diskutant. Mit bohrenden Fragen und scharf formulierten Einwänden nahm er den Vortragenden in den fachlichen Schwitzkasten. Unterlag man im Rededuell, war dies ein herber Prestigeverlust. Gewann man die Unterstützung und Zustimmung von Lepsius, sekundierte dieser gar die Argumente und Beweisführung des Gastes, dann war man gewissermaßen fachlich geadelt. Es war eine Art höherer Initiationsritus, der Folgen hatte. Ich referierte über mein großes Thema und das war selbstverständlich die „CSU und Bayern“. Lepsius trat in der Diskussionsrunde auf meine Seite, spitzte meine Thesen zur „Dualität von Partei und Staat“ zu und zeigte sich von meinen Forschungsergebnissen angetan. Die Mannheimer Wahl- und Parteienforscher um Wildenmann und Max Kaase, die andere empirische Wege verfolgten, ließen meine politische Soziologie gelten. Was mich als Parteienforscher mit Lepsius besonders verband, war die politisch-soziologische Fragestellung nach „Demokratie in Deutschland“ und die Orientierung am Werke von Max Weber. Lepsius hatte 1966 in seiner Betrachtung des deutschen Parteiensystems von 1871 bis 1928 das begriffliche und empirisch-analytische Konzept des „sozial-moralischen Milieus“ vorgestellt, das sich auch für meine Parteienforschung als ein fruchtbarer Ansatz erwies. In meinem parteiensoziologischen Werk „Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit“ (1984) ging ich nochmals ausführlich auf die Thesen von Lepsius ein. Als ich mich 1981 auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Passau bewarb, saß Lepsius als externes Mitgied in der Passauer Berufungskommission.

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