Selbstkritisch Innehalten? Weiterschreiben? Auf meinen Exkursionen und Grenzgängen werde ich unsicher. Was mute ich mir und anderen zu? Der katholische Schriftsteller Martin Mosebach äußerte einmal über unterschiedliche europäische Traditionen des Romanschreibens: „Der deutsche Roman hat eher die Entwicklung des Einzelnen im Blick als die Gesellschaft im Ganzen. Die romanischen Romanciers stehen in einer Tradition des Welttheaters, die mit Dante beginnt. Das hat etwas mit Konfessionen zu tun. Die Protestanten schicken ihre Helden in Lehr- und Wanderjahre der persönlichen Bewusstwerdung, die Katholiken zwischen Rabelais und Joyce lassen ihre Helden in einem vielgestaltigen Chaos aufgehen.“ (SZ Nr. 129, 06.06.2014, S. 24) Ich schreibe weder einen autobiografischen Roman noch eine Familiengeschichte. Aber es scheint an den literarischen Beobachtungen Mosebachs etwas dran zu sein. Ich komme aus einem protestantischen Milieu und nehme wahr, wie mir unter der Hand meine biografischen Aufzeichnungen zu Beschreibungen von Lehr- und Wanderjahren geraten. Es sind Wanderungen zwischen Versuchen und Irrtümern, es sind Bohrungen in die Tiefe der eigenen Lebenswelt und Zweifel am richtigen Einsatz meines geistigen und experimentellen Instrumentariums. Es handelt sich um Geständnisse. Ich gebe etwas preis. Georges Orwells Diktum, das ich an den Anfang gesetzt habe, zieht sich wie ein Leitmotiv durch meine Überlebensgeschichten.
„Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen“ – dieses Zitat von George Orwell hatte ich meinen Lebenserinnerungen vorangestellt. Es kann als Warnung verstanden werden, einen bereinigten und glatten Lebensbericht zu verfassen. Mit einer Autobiografie aufzuwarten, die beschönigt und glättet, wäre zum einen Selbstbetrug, zum anderen eine Täuschung der potenziellen Leser. Es würde ihnen ein makelloser Lebenslauf vorgegaukelt, den es in der Wirklichkeit nicht gegeben hat. Menschen verfallen bei ihren „Selberlebensbeschreibungen“ (Jean Paul)allzu leicht der Verlockung, unter den Teppich zu kehren, was sie als hässlich und schändlich ansehen. Die normative Schere im Kopf schneidet rasch weg, was das schöne Selbstbild trüben könnte. Die Neigung zur Selbstentlastung und zur Selbststilisierung wird von Mechanismen des Erinnerns unterstützt, die das Unangenehme verdrängen und dem Vergessen anheimgeben wollen. Ich ringe mit diesen Verlockungen und Mechanismen und versuche ihnen einen Realismus der Ehrlichkeit und Offenheit entgegenzusetzen. Die realistische Radikalität meiner Überlebensgeschichten bringt mich jedoch in Verlegenheit. Hätte ich den Suizid meines Bruders so drastisch in Erinnerung bringen und darstellen, meine Eltern wegen ihrer pädagogischen Fehler bloßstellen dürfen? Hätte ich die Versagensängste, Autoritätskonflikte und Albträume nur andeuten, ihre psychoanalytische Behandlung verschweigen sollen? Es passt nicht so recht zum Bild eines selbstbewussten jungen Mannes, der Hindernisse mit Bravour überwindet. Wie steht es mit der Trennung von privaten und öffentlichen Bereichen? Ich habe mich mit meinen „Überlebensgeschichten eines Grenzgängers“ erneut in ein publizistisches Abenteuer eingelassen.
Wir alle tragen Masken, hinter denen wir unser Gesicht verbergen und unsere tatsächlichen Gefühle und Gedanken verdecken. Wir sind alle verletzlich. Etwas findet sich in jeder Vita, was selbst die Figur des besten Mannes beschattet. Selbstentblößungen und Selbstentäußerungen sind Wagnisse, weil wir dabei für einen Moment unsere Masken absetzen und unser Gesicht zeigen. Sie machen verletzlich, wir setzen uns damit Gefahren aus. Und wir können auch andere in Gefahr bringen, mit denen wir stillschweigend ein Geheimnis teilen, einen intimen Austausch, eine verborgene gegenseitige Verwicklung, etwas Unanständiges gar, ja Verwerfliches. Der Mut zur Selbstentblößung hat da seine Grenzen, wo ein anderer gegen seinen Willen hineingezogen werden könnte in eine unberechenbare Öffentlichkeit. Ich beabsichtige niemanden an den Pranger zu stellen, es sei denn, er oder sie hat sich selbst öffentlich zu Wort gemeldet.
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstentäußerung ist zugleich eine nach der Schmerzgrenze, nach der eigenen und nach der anderer, in deren Leben ich mich eingemischt habe oder noch einmischen werde. In der eigenen Preisgabe kann ich nach persönlichen Kräften meine Grenzen ausloten. Was aber mute ich anderen zu?
Vieles lässt sich aufbauschen, verdrehen, skandalisieren. Wer als Blogger von sich aus Munition liefert, ist ja selbst schuld daran, wenn er zur Zielscheibe wird. Wer die digitale Welt der sozialen Netzwerke nutzt und Persönliches mitteilt, muss mit unangenehmen Reaktionen rechnen. Manche, die mir übelwollen, könnten meine Berichte als Fundgrube benutzen, aus der sie Munition für Verurteilungen und Exekutionsversuche holen. Wie könne man so töricht sein und sich zwischen alle (Lehr-)Stühle setzen!? Habe der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier mit seiner Autobiografie „Böse Jahre, gute Jahre“ nicht ein Beispiel gegeben, was man von einem erlauchten Geist und Universitätsprofessor erwarte?
Weiterschreiben? Auch Jean Paul, der ein „Vita-Buch“ mit vielen Erinnerungsnotizen geführt hatte, war an einem Punkt angelangt, an dem ihn die Lust an diesem Geschäft verlassen hatte. Am 3. August 1818 hatte er an seinen Freund Emanuel Osmund geschrieben, er sei durch seine Romane so sehr ans Lügen gewöhnt, dass er zehnmal lieber jedes andere Leben beschriebe als sein eigenes. Die ausgearbeiteten Teile seiner „Selberlebensbeschreibung“ wurden allerdings erst nach seinem Tode (1825) unter dem Titel „Wahrheit aus Jean Pauls Leben“ veröffentlicht. Ich werde nach einer Pause selbstkritischer Vergewisserung an meinen subjektiven Wahrheiten weiterschreiben.