Im Laufe meines Lebens lernte ich verschiedene Gesichter des Terrors kennen, manche noch in direkter Begegnung und in zeitgeschichtlicher Konfrontation, so beispielsweise den nationalsozialistischen Staatsterror, wie er mir zur Zeit des Nürnberger US-Militärtribunals in der Person Walter Schellenbergs leibhaftig vor Augen gestanden hatte, manche in meiner unmittelbaren Umgebung, von Angesicht zu Angesicht und hautnah, so in der Westberliner APO-und RAF-Szene, manche aus der Ferne wie den islamistischen Angriff auf die Twin Towers des World Trade Centers in New York City und auf das Pentagon in Washington D.C. Im Herbst 1989 fuhr ich mit meiner ältesten Tochter Anne auf die Plattform eines der Türme des World Trade Centers. Wir waren fasziniert von dem Rundblick und ahnten nicht, was sich zwölf Jahre später ereignen sollte. Als am 11. September 2001 zwei von islamistischen Terroristen gekaperte Passagierflugzeuge die Twin Towers rammten und die Türme zum Einsturz brachten, erlebte ich diesen Terrorakt in den Medienberichte so nahe und grauenhaft, als sei ich selbst dort oben gestanden, mit in die Tiefe gerissen und zermalmt worden. Dieses entsetzliche Gefühl, dem Tod absolut ausgeliefert zu sein, lässt sich schwer beschreiben. Der Terror begann sich Anfang des 21. Jahrhunderts zu wandeln und neue Formen anzunehmen. Nicht mehr einzelne Prominente standen als Verkörperungen des Systems im Visier der Killerkommandos, sondern beliebige Menschenansammlungen. Die Attentäter legten es darauf an, völlig unberechenbar möglichst viele Menschen in den Tod zu reißen.
Wir hatten in den 1970er Jahren in Berlin-Schöneberg, wo wir bis Ende 1981 im vierten Stock der Bambergerstraße 59 wohnten, eines Morgens erlebt, wie mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten in die Wohnung unter uns eindrangen und eine junge Frau festnahmen. Christa G. hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer polizeilich gesuchten Terroristin der ersten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF). Vermutlich war sie einer alten Dame aus dem Hinterhaus verdächtig erschienen. Dass Christa im Stockwerk unter uns Mitglied einer Wohngemeinschaft von Studierenden und jungen Berufsanfängern war, hatte ins Bild gepasst. In Westberlin war in der Bevölkerung die Anti-APO und Anti-RAF-Stimmung so aufgeladen, dass man rasch Opfer von Anzeigen hatte werden können. Wie stark die Terrorbekämpfung sich auf viele öffentliche Bereiche auswirkte und wie hautnah sie erlebt werden konnte, dafür kann ich noch ein weiteres Beispiel schildern, das mich selbst und meine Forschungsarbeit betraf.
Von Carabinieri beschützt in die Konferenz, Fiuggi 1983
Im September 1983 wurde ich zusammen mit drei Parteien- und Wahlforschern, darunter der Mannheimer Ordinarius Rudolf Wildenmann, von der Agenzia di Recerca Legislazione (AREL, Roma) nach Fiuggi zu einer Konferenz zum Thema „La riorganizzione di un partito democratico cristiano“ eingeladen. Fiuggi ist eine Kleinstadt in der Region Latium, achtzig Kilometer östlich von Rom. Die AREL stand der Democrazia Cristiana (DC) nahe, die in die Phase ihrer politischen Agonie eingetreten war. Ich sollte mit einem Vortrag über das Parteimanagement der CSU organisationspolitische Wege aus der Parteienkrise aufzeigen. Mit wissenschaftlichen Vorträgen konnte der Niedergang der DC allerdings, das war jedem Parteienforscher klar, nicht aufgehalten werden. Prof. Dr. Rudolf Wildenmann, Prof. Dr. Franz Lehner und Prof. Dr. Karl Schumacher (CDU) und ich flogen von Frankfurt am Main nach Rom. Am Flughafen wurden wir sogleich von einer Gruppe Carabinieri empfangen und zum Ausgang gebracht. Unter dem Schutz ihrer Maschinengewehre wurden wir nach Fiuggi eskortiert. Das Konferenzgebäude war von Carabinieri umstellt und bewacht. Unter den prominenten italienischen Teilnehmern war der damalige Finanzminister Nino Andreatta. Auch die Konferenz in Fiuggi war „Wissenschaft jenseits des Elfenbeinturms“. Was gab den besonderen Anlass zu diesen Schutzmaßnahmen?
Auf der Rückreise von Fiuggi, Piazza Navona, Rom, 14.9.1983; rechts: Prof. Dr. Rudolf Wildenmann (1921–1993), Universität Mannheim, Politikwissenschaft, Parteien- und Wahlforschung; links: Prof. Dr. Alf Mintzel (*1935), Universität Passau, Soziologie, Parteienforschung; Photo: Franz Lehner
Die Roten Brigaden hatten im März 1978 Aldo Moro (1916–1978) zusammen mit fünf seiner Leibwächter ermordet. Wie die alte Bundesrepublik unter dem Terror der Roten Armee Fraktion (RAF), so hatte Italien bis in die 1980er Jahre hinein unter den Attacken der Roten Brigaden zu leiden. Aldo Moro, 1978 Vorsitzender der Democrazia Cristiana, war zu jener Zeit auf dem Weg ins italienische Parlament entführt und nach erfolglosen Verhandlungen umgebracht worden. Seine Leiche war am 9. Mai 1978 im Zentrum Roms in einem Renault R 4 gefunden worden. Bis heute wurden die Hintergründe des Mordes und die Rolle des Mittelsmannes des Papstes Paul VI. zwischen dem Vatikan und den Roten Brigaden nicht aufgeklärt. Der Papst hatte sich sogar als Geisel zum Austausch angeboten. Die Spekulationen über den Mord hatten den Verdacht gespeist, dass es um die Rolle Aldo Moros als Vermittler zwischen der konservativen Democrazia Cristiana und der Kommunistischen Partei Italiens unter Enrico Berlinguer ging. Die KPI hatte nach den Wahlen von 1976 eine politische Mehrheit in Italien und eine Minderheitsregierung unter Aldo Moro geduldet. Aldo Moro war einer der wichtigsten Befürworter des sogenannten „Historischen Kompromisses“ gewesen, der die politische Spaltung des Landes hätte beenden und zu einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten führen sollen. Der US-amerikanische Geheimdienst war immer wieder mit der Entführung und Ermordung Aldo Moros in Verbindung gebracht worden. Der Terror der Roten Brigaden, der Italien bis in die 1980er Jahre hinein verunsicherte, machte scharfe Sicherheitsmaßnahmen selbst bei politikwissenschaftlichen Konferenzen mit politisch brisanten Themen nötig. Ich stand in der Feldforschung und im Verwertungsprozess vor Anforderungen, wie sie jüngere Parteienforscher wohl nicht mehr erlebten. So ließe sich Episode an Episode reihen, die eine aufregender als die andere. Mein Vortrag erschien in italienischer Sprache in einer Buchpublikation der AREL.
Manchmal hatte ich mir gewünscht, auf fachwissenschaftlichen Feldern zu forschen und zu publizieren, die in weniger sensiblen Bereichen lagen. Wie angenehm hatten es Kollegen, die in stillen und wohlgeordneten Archiven Themen bearbeiteten, die weit ablagen vom Getöse und den Fährnissen einer im rasanten Wandel begriffenen politischen Welt. Sie studierten hinter Regalen und Papierstapeln alte Hinterlassenschaften von Dichtern und Gelehrten und registrierten und enthüllten literarische Schnörkel von Autoren, die kaum einer mehr kannte. Oder sie zogen an der Passauer Grenze zwischen dem römischen Noricum und Rätien antike Gegenstände aus dem Boden und aus dem Inn und bestätigten zum Jubel der Einwohner die Bedeutung Passaus als römischen Militärsitz.