Wenige Wochen vor dem tatsächlichen Ende von Franz Josef Strauß: Wie Strauß enden wird, Alf Mintzel in der Münchner Abendzeitung vom 9./10. Juli 1988
Glockengeläute für FJS
3. Oktober 1988. Ein Montag. Die Herbstsonne strahlt ihr mildes Licht in die Passauer Gassen hinein und hebt die bunten Farben der umliegenden Höhen gegen das milchige Blau des Himmels ab. Ein ganz gewöhnlicher Werktag mit seinem Motorenlärm und Getöse, dem Brummen und Summen. Um 11 Uhr 45 beginnen plötzlich alle Kirchen zu läuten. Ich höre den schweren Schlag der Domglocken und weiß sofort, wem das Läuten gilt: Franz Josef Strauß ist tot. In ganz Bayern verkünden die Glocken, dass der politische Gigant gestorben ist. Schon tags zuvor hatte der Bayerische Rundfunk bei mir angerufen und angefragt, ob ich im Falle seines Todes zu einem Interview bereitstünde. Alle Welt hatte stündlich damit gerechnet, dass er den Schlaganfall nicht überleben würde. Gegen 13 Uhr verlasse ich meinen Lehrstuhl und will mich gerade auf den Heimweg zum Mittagessen machen, als schon mein Amtstelefon schrillt. Ich eile nach Hause. Ab 13 Uhr 15 klingelt ununterbrochen das Telefon, ein Anruf folgt auf den anderen. Verschiedene Rundfunksender und Fernsehredaktionen wollen sofort Interviews, der Bayerische Rundfunk, der schon am Vortage angefragt hatte, der Westdeutsche Rundfunk, der Saarländische Rundfunk, der Südwestfunk und andere. Ich sage, ich könne die Masse der Anfragen nicht bewältigen. Die Redaktion des Westdeutschen Rundfunks übernimmt eine koordinierende Initiative. Sie weist mich an: „Nehmen Sie sofort ein Taxi und fahren Sie zum Münchner Flughafen. Dort startet ein Flugzeug nach Köln. Ein Platz ist für Sie bereits reserviert. Vom Flughafen Köln werden Sie mit einem Dienstwagen abgeholt.“ Ich rufe eilig ein Taxi, lande nach kurzem Flug am Spätnachmittag in Köln und werde in den Sender gebracht. Hektik vor den Interviews. Redakteure und Journalisten verschiedener Medien kommen auf mich zu, stellen Fragen, wollen Auskünfte, der Sendeplan wird abgesprochen. Am Abend geht es auf Sendung: 19.00 Südwestfunk Baden-Baden, 20.15 Uhr Stern-Redaktion, 20.25 Uhr RIAS-Berlin, 21.30 Uhr Westdeutscher Rundfunk TV Live, 21.45 Saarländischer Rundfunk/Europawelle. Die Fragen an mich gleichen sich im Tenor: „Was kommt nach Strauß?“ „Wer wird sein Nachfolger sein?“ „Wird die CSU ihren Einfluss in Bonn einbüßen und zu einer Provinzpartei herunterkommen?“ „Wird die CSU ohne Strauß noch die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie zu Zeiten von Strauß?“ Am 4. Oktober fliege ich zurück nach München und bin am Nachmittag zurück in Passau. Ich eile zum Lehrstuhl, wo mich weitere Anfragen erwarten. Die Münchner Abendzeitung ruft an und bittet um einen Kommentar in der Abendausgabe, die Frankfurter Rundschau bittet um einen Artikel für eine ihrer nächsten Ausgaben, das Österreichische Fernsehen (FS 2 Österreich) sucht nach einem Interview nach, und so geht es in den nächsten Tagen weiter. Am 28. Oktober führe ich ein Live-Interview mit der Deutschen Welle. Der Medienrummel endet erst am 4. November 1988 mit einer Diskussionsrunde im Bayerischen Rundfunk. Danach bin ich, salopp ausgedrückt, fix und fertig.
Staatspartei, Staat, katholische Kirche und zahlreiche bayerische Traditionsvereine hatten 1984 das Begräbnis von Marianne Strauß zelebriert, doch der Trauermarsch in diesem Herbst wird noch bombastischer inszeniert. Selbst die politischen Gegner Strauss` werden miteinbezogen, denn auch viele SPD-Anhänger lieben konservative Rituale, den deftigen Spruch, das bayerische Sprachbarock oder die derb-fränkische Ausdrucksweise. Auch sie genießen zuweilen das Wadenbeißen und mögen es, wenn Staatsmacht bildhaft in Erscheinung tritt. Bayerische Staatsfeiern und Staatsbegräbnisse, Parteijubiläen, Prozessionen und Aufzüge lassen bildhaft werden, wie sich Staat, Staatspartei, römisch-katholische Amtskirche und Traditionsverbände in bayerischer Lebensart geschmeidig zu einem Machtkartell vereinen.
Dr. Peter Glotz (SPD), damals Mitglied des Deutschen Bundestages, nahm mich in seinem Dienstwagen mit zur Münchner Residenz, wo wir uns in eines der ausgelegten Kondolenzbücher eintrugen. Mit Peter Glotz kam ich nach seinem und meinem Weggang von Berlin im Jahre 1981 aus verschiedenen Anlässen wiederholt ins Gespräch. Meistens ging es um Fragen der Politik in Bayern, so auch auf unserer Fahrt zur Residenz. Was kommt nach Strauß?
Der Koloß bleibt, Alf Mintzel in der Münchner Abendzeitung vom 6. Oktober 1988
Auch der bundesweite Medienrummel zeigte 1988 abermals, was für ein Koloss Strauß in der Politik der Bundesrepublik gewesen war. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl äußerte hämisch über seinen Widersacher: „Der kann froh sein, dass er das nicht mehr erlebt hat.“ Kohl war es beschieden, als „Kanzler der Einheit“ in die Geschichte einzugehen, nicht Strauß, der es sicher gern gesehen hätte, wenn ihm dieses Ehrenetikett verliehen worden wäre. Strauß hatte in Helmut Kohl einen rheinischen Provinzpolitiker gesehen, dem er das Zeug zum Staatsmann absprach. „Er (sei) total unfähig, ihm fehl(t)en die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm (fehle) alles dafür“, so soll Strauß gehöhnt haben (Mintzel, Geschichte der CSU, 1977, S. 402). Im Jahre 1975 hatte die CSU-Führung im Vorfeld der Bundestagswahl 1976 die Kanzlerkandidatur Kohls nur widerwillig anerkannt. Der kleine CSU-Parteitag vom Juli 1975 hatte mit überwältigender Mehrheit festgestellt, „dass der Parteivorsitzende Strauß die am besten geeignete Persönlichkeit zur Durchsetzung dieser Grundsätze [„für eine deutsche Politik nach innen und nach außen“] und zur Bestimmung und Gestaltung der Bundesrepublik ist.” (Mintzel 1977, Geschichte der CSU, S. 401). Im Umkehrschluss hatte dies bedeutet, dass Strauß die charakterlichen, geistigen und politischen Voraussetzungen für das Kanzleramt besaß. Im Jahre 1980 hatte die CSU Strauß schließlich als Kanzlerkandidaten durchgesetzt, jedoch ihr Ziel verfehlt. So blieb ungeklärt, wie Strauß die Wiedervereinigung und die Epochenwende 1989/90 auf seine Person bezogen hätte, vor allem im Hinblick auf den Milliarden-Kredit, den er zuvor dem SED Regime vermittelt hatte. In Interviews wurde diese spekulative Frage wiederholt an mich gestellt.
„Medien-Star“ – Eine flüchtige Rolle
Zum Zeitpunkt seines Todes verdankte ich Strauß einen weiteren Höhepunkt meiner Beschäftigung mit der CSU und ihrem Vorsitzenden. Vier Wochen lang war der Parteienforscher und CSU-Spezialist Mintzel ein „Medienstar“. Meine Ergebnisse von zwei Jahrzehnten Forschung über die CSU und über den Wandel Bayerns vom Agrarland zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft genossen zum Zeitpunkt des Todes von Strauß höchste mediale Aufmerksamkeit. Die Medien machten mich zu einem Bayern-Augur. Wer etwas über die aktuelle politische Situation in Bayern berichten wollte, kam an dem „CSU-Mintzel“, wie ich, zu einem „Markenartikel“ verkürzt, genannt wurde, nicht vorbei. Die Journalistin und Redakteurin des Wochenblattes DIE ZEIT, Nina Grunenberg, schrieb über mich, ich sei der wissenschaftliche CSU-Kenner par excellence. Sie und andere Journalisten besuchten mich in Passau oder riefen mich an. Die Frankfurter Rundschau brachte am Oktober meinen Artikel über die CSU (FR vom 19. 10. 1988). Das Jahr 1988 wurde für mich vollends zu einem Medienjahr. Meine Bücher und Schriften über die CSU und Bayern waren weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus bekannt geworden.
Genoss ich meine Auftritte in Medien? Schmeichelten sie meinem Ego? War ich stolz? Es mag gut sein, dass solche Momente in meinem Handeln wirksam waren. Ich sah es als Erfolg meiner Forschungsleistungen an. Am wenigsten fühlte ich mich wohl dabei. Ich hielt mich nicht für eine telegene Person, für einen, der sich im Fernsehen gut zu inszenieren und zu präsentieren versteht. Mir fehlten das professorale Gehabe und die Wortgewalt eines Propheten. Es gelang mir nicht so recht, vor der Kamera mein Wissen und mein analytisches Denken in knappe Formulierungen umzusetzen. Ich war nie zufrieden mit meinen öffentlichen Auftritten. Wir waren in den 1950er und 1960er Jahren als junge Assistenten ohne Sprech- und Rhetorikschulung mit Lehraufgaben beauftragt worden. Ich hatte keine Ökonomie des Sprechens gelernt. Ich hatte keine Schulung in der öffentlichen Präsentation von Wissen, da gab es keinen Coach, der mich hätte beraten können. Der „baverian vulcano“, wie mich britische Kollegen nannten, war ein zu impulsiver Redner, der seine Stimmgewalt nicht angemessen einsetzte. Ich konnte mich schriftlich besser ausdrücken. So schätzte ich mich jedenfalls selbstkritisch ein, ich fühlte mich hinterher stets als erfolgreicher Versager. Ich bewunderte „Naturtalente“, geborene Auftrittskünstler. Mein Kollege und Freund Heinrich Oberreuter, der spätere Direktor der Politischen Akademie Tutzing, hat so ein wunderbares Talent, in seinen Medienauftritten wissenschaftliche Stoffe und Ergebnisse ruhig und bedächtig einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln.
Trotz meiner bescheidenen rhetorischen Fähigkeiten kamen jedoch Medien immer wieder auf mich zu und erbaten Interviews und Diskussionsbeiträge. Ich galt als ein hoch engagierter und zugleich kompetenter Gesprächspartner, der keine Langeweile verbreitet. Und es hatte sich herumgesprochen, dass der „CSU-Mintzel“ kein CSU-Mitglied war, sondern sich parteilos zwischen Engagement und Distanz bewegte.
Die drei „Bayern-Auguren“ – Falter, Oberreuter und Mintzel
In den späten 1980er Jahren und bis hinein in die 1990er Jahre gab es aus Sicht der Printmedien und Fernseh-Redaktionen für die Kommentierung und Beurteilung bayerischer Politik und bayerischen Wählerverhaltens drei erstklassige Adressen: die Professoren Jürgen W. Falter (Mainz), Alf Mintzel (Passau) und Heinrich Oberreuter (Passau/München). Diese drei „Bayern-Auguren“ wurden regelmäßig angerufen und um Interviews und Kommentare gebeten, wenn es in Bayern politisch hoch herging, Führungsquerelen in der CSU die Gemüter erhitzten, Köpfe fielen und Wahlergebnisse zu deuten waren. Auf die Kontroverse zwischen Falter und mir über die Frage und Metapher, ob Bayerns Uhren wirklich anders gingen, wurde schon wegen ihrer bildhaften Griffigkeit in der Presse und in fachwissenschaftlichen Publikationen wiederholt hingewiesen. Falter sagte damals (1982) „Ja!“, ich „Nein“ (1987), die jeweiligen Begründungen darzulegen, muss ich mir hier versagen.
Die mediale „Augurenrolle“ machte mir jedoch zunehmend noch in anderer Weise zu schaffen. Sie brachte sehr viele Wiederholungen mit sich und wenig neuen Erkenntnisgewinn. Das geschmeichelte Ego machte nur noch ungern mit. Als mir nach meiner Pensionierung eine partielle Stimmbandlähmung das Sprechen erschwerte, lehnte ich häufig öffentliche Auftritte und Kommentare ab. Das sprach sich in Journalistenkreisen allmählich herum und führte dazu, dass ich als Dritter und Ältester der Auguren nur mehr selten in Erscheinung trat. Man ist dann schnell „weg vom Fenster.“ Und das weist noch auf ein anderes gewichtiges Problem für den Wissenschaftler und Forscher hin: auf die Leichtgewichtigkeit und Flüchtigkeit tagespolitischer Stellungnahmen und Einlassungen. Das kleine banale „Glück“, das ein kurzer Fernsehauftritt unserem Ego beschert, ist oftmals nicht den Aufwand wert, der damit verbunden ist. Trotzdem genießen manche Kollegen die Scheinwerfer des Fernsehauftritts wie Sonnenbäder.
Keine falschen Hoffnungen: Die CSU verkommt nicht zur Provinzpartei
Diese Diagnose und Prognose waren der Kern meiner Einschätzungen der Lage und Entwicklung der CSU nach Strauß. Auf Fragen nach der künftigen Rolle der CSU antwortete ich, indem ich virulente Fehleinschätzungen zu entkräfteten versuchte.
Die erste Fehleinschätzung betraf die politische Existenz der CSU. „Sobald sich die CSU die Frage stellen muss, was – außer Strauß ihre Existenz als Partei rechtfertigt“, so stand es in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu lesen, „befindet sie sich in einem Erklärungsnotstand oder doch in der Defensive“. Diese Beurteilung beruhte auf einem fundamentalen Irrtum und verkannte staatsbayerische Grundpositionen und Strategien in der Politik. Das für viele unbequeme „Problem Bayern“ wird auch, so setzte ich solchen Fehleinschätzungen entgegen, in der Post-Strauß-Ära weiter existieren. Bei allem Wandel der politischen Situationen und Konstellationen würden zwei staatsbayerische Ziele auch von den Strauß-Nachfolgern unverändert verfolgt werden. Zum einen die bayerische politisch-kulturelle Eigenprägung und wirtschaftlichen Wohlstand zu bewahren und zu fördern, zum anderen Bayerns historisch begründeten Machtanspruch und Gestaltungsauftrag in der deutschen und europäischen Politik durchzusetzen. Auch die Strauß-Nachfolger würden sich an diese Maximen halten.
Die zweite Fehleinschätzung im breiten Medienecho lag in der Erwartung oder Befürchtung, die CSU verkümmere ohne Strauß zu einem „normalen“ Landesverband der Union. Die CSU werde gewissermaßen zu einer „Provinzpartei“ oder verwandle sich gar in eine relativ bedeutungslose „Bayernpartei“ zurück. Solche politischen Hoffnungen von Gegnern oder Besorgnisse von Sympathisanten gingen an der Wirklichkeit vorbei. Die CSU wird ihre institutionellen Hebel, die Parteiautonomie und den parlamentarischen Sonderstatus in Bonn, nicht aus der Hand geben. Schon aus diesen Gründen werde die CSU nach Strauß nicht die Rolle eines „normalen“ Landesverbandes der Union spielen. Die landes- und bundespolitische Stoß- und Wirkkraft der CSU resultierte seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland aus ihrer institutionellen und politischen Doppelrolle. Sie bleibt eine autonome bayerische Landespartei und zugleich, in der Fraktionsgemeinschaft und im politischen Aktionsbündnis mit der CDU, eine Bundespartei mit Sonderstatus. Diese Doppelrolle ermöglicht es der CSU, auf der Basis ihrer kontinuierlich hohen Wahlergebnisse als die Landespartei in Erscheinung zu treten, die Bayern par excellence verkörpert, und im Bundesparlament über die CSU-Landesgruppe und andere Institutionen als bayerische Bundespartei zu wirken. Bei aller Wirkkraft „großer Männer“ wie Strauß dürfen die Wirkkräfte von Institutionen und Rahmenbedingungen nicht unterschätzt werden.
Die dritte Fehleinschätzung von politischen und journalistischen Beobachtern betraf die landespolitische Situation in Bayern. Es waren die Erwartungen und Hoffnungen, dass in Bayern nach Strauß größere politische Veränderungen bevorstünden, dass sich das Ungleichgewicht der Macht zumindest „mittelfristig“ beseitigen und ein „demokratisches Wechselspiel“ einstellen würde. Diese Hoffnungen verkannten die strukturellen und politisch-kulturellen Tatsachen der CSU-Hegemonie in Bayern. Der CSU war es trotz einiger Alarmzeichen gelungen, in mehreren Jahrzehnten eine neue gesamt- und staatsbayerische Hegemonialkultur zu entwickeln, die weiterhin für die CSU einen tragfähigen und „ertragreichen“ Boden bildete. Bayern war zu einer „Größe“ geworden, auf die man stolz war. Alte Unterlegenheitsgefühle waren unter der erfolgreichen Politik der CSU einem neuen Selbstbewusstsein gewichen. „Wir in Bayern CSU 82“, „Bayern vorn“, Politik für Bayern, Deutschland und Europa“ und andere zupackende Slogans waren griffige, symbolträchtige Formeln der Staatspartei und hoben das staatsbayerische Selbstbewusstsein. Daran würde sich, so meine damalige Prognose, auch in der Post-Strauß-Ära wenig ändern. So seien die Machtverhältnisse in Bayern beschaffen: Übermacht auf Seiten der CSU, Ohnmacht auf Seiten der Oppositionsparteien. Die Verhältnisse seien zu stabil und das Ungleichgewicht der Kräfte zu groß, als dass sie sich nach Strauß rasch verändern ließen.
Allerdings konnte im Oktober 1988 keiner die Entwicklungen auch nur ahnen, die mit der friedlichen Revolution in der DDR begannen und zum Epochenwandel 1989/90 führten.
Geschlossene Zirkel: Die „Erinnerungsgemeinschaft“
Die akademischen Zirkel- und Lagerbildungen zeigten sich erneut 2008 auf dem Symposion, welches das Historische Kolleg zusammen mit der Hanns-Seidel-Stiftung aus Anlass des 20. Todestages von Franz Josef Strauß in München veranstaltete. Die Tagung, zu der auch Zeitzeugen aus dem früheren Umkreis von Strauß geladen waren, geriet mehr zu einem hagiografischen Hochamt, das eine handverlesene Schar „unparteiischer“ Historiker im Dienste der Politikverehrung zelebrierten, als zu einer wirklich kritischen Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen. Daran änderten auch beiläufige kritische Töne nichts. Eine kleine Dosis Kritik gehört zu solchen Gedenk-Ritualen, um ihnen Dignität und Glanz und damit den Anschein von wissenschaftlicher Objektivität zu verleihen. Die „Erinnerungsgemeinschaft“ der geladenen Historiker knickte wie zu Zeiten Bismarcks vor dem „Giganten Franz Josef Strauß“ förmlich ein. Was Horst Möller, der ehemalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, seinem Thema über die Rolle von Franz Josef Strauß als Vorsitzender der CSU und als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag abgewann, war im Kern schon längst in der sozialwissenschaftlichen und historischen Parteienforschung gesagt und geschrieben worden. Dieser Zirkel parteilich erwünschter Historiker tat selbst kund, dass er eine kritische Auseinandersetzung in die Zukunft verlege. Sozialwissenschaftler und im engeren Sinne Politikwissenschaftler wie der langjährige Leiter der Politischen Akademie in Tutzing waren von vornherein ausgeschlossen.
Sich so brav in den Dienst der bayerischen Staatspartei nehmen zu lassen, hat seinen Preis. Möller machte sich im Strauß-Gedenkjahr 2015 zum hagiografischen Mitspieler in einer staats- und parteipolitischen Identitätskampagne der Hanns-Seidel-Stiftung und der bayerischen Staatsregierung. Die CSU und die Hanns-Seidel-Stiftung betrieben eine wohl kalkulierte Überhöhung des „großen Vorsitzenden.“ Sie zelebrierten ihn als den großen Gestalter und Dynamo Bayerns. Strauß wurde in Elogen als ein Gigant hingestellt, als wäre er es allen voran gewesen, der Bayern vom Agrarstaat mit industriellen Inseln zum High-Tech-Staat mit Agrarinseln umgewandelt habe. Der Anteil anderer aus Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialwesen wurde hierdurch heruntergespielt. Das Matthäus-Prinzip wird auch in Hagiografien wirksam: Wer im Glanz des Ruhmes steht, der wird noch obendrein mit Ruhm überhäuft.
Im hundertsten Geburtsjahr von Franz Josef Strauß zelebrierte die CSU-nahe Hanns–Seidel-Stiftung den „Mythos Strauß“ und entrückte ihn so fast unangreifbar in den bayerischen Glorienhimmel. Sie nahm dazu eine Vortrags- und Gedenkreihe in ihr Jahresprogramm 2015 auf und stellte aus dem Kreis der „Erinnerungsgemeinschaft“ wiederum Horst Möller als Gedenkredner in ihren Dienst.
Horst Möllers Heldenepos, 2015
Pünktlich zum hundertsten Geburtstag von Strauß erschien Horst Möllers politische Biografie, ein voluminöses Werk. Strauß hatte seit den 1950er Jahren wie kein anderer Politiker das politische Leben in der Bundesrepublik in Atem gehalten und polarisiert. Der interessierte Leser, der die einschlägige Berichterstattung der Printmedien und Fernsehen verfolgt hatte, erwartete vom Biografen Möller zwar nicht unbedingt sensationelle Neuigkeiten aus dem Leben und Wirken von Strauß oder gar brisante Enthüllungen, aber doch Aufklärung über noch fragliche Zusammenhänge. Strauß-Affären und Kungeleien mit Despoten und autoritären Herrschern lassen sich nicht einfach weichzeichnen oder gar hinwegwischen.
Möller liefert in Kernteilen seiner Biografie eine themen- und sachbezogene Parlaments- und Kabinettsgeschichte, in der er die Rollen von Strauß als Parlamentarier, als Mitglied von Bundesregierungen und als bayerischer Ministerpräsident fokussierte. Der Leser erhält detaillierte und faktenreiche Auskünfte über Skandale, Affären und Streitigkeiten, die Strauß provoziert hat oder in die er verwickelt war. Es geht zwar, wie der Verfasser gleich eingangs hervorhebt, „nicht um die ach so beliebten Enthüllungsstorys oder die zugehörige Schlüssellochperspektive, sondern um eine politische Biografie (…): Persönliches wird nicht ausgespart, sofern es den Menschen und Politiker veranschaulicht, steht aber nicht im Mittelpunkt. Auch tatsächliche oder mutmaßliche Skandale werden nicht ausgelassen, wenn die Quellen dafür Erkenntnisse liefern“ (S. 19). Doch macht die Darstellung und Erörterung der Skandale, Affären und Streitigkeiten einen Gutteil des Stoffes aus, den Möller detailversessen und akribisch ausbreitet. Das macht die Biografie ohne Zweifel zu einer höchst ergiebigen Fundgrube für eine Vielzahl von Fragen zur politischen Geschichte der alten Bundesrepublik und zur Rolle des heiß umstrittenen bayerischen Vollblutpolitikers. Möllers „Spannungsszenarien“ langweilen jedoch, wenn er akribisch und detailversessen auch den kleinsten Nebenschauplatz ausleuchtet. In so gut wie allen Streitfragen macht sich Möller zum überzeugten Anwalt und Starverteidiger von Strauß. Die meisten Gegner seien Strauß intellektuell nicht gewachsen, intellektuell überfordert, weniger weitsichtig und in Prozessen vielfach unterlegen. Möller verzeiht seinem Helden alle cholerischen Wutausbrüche, Rüpeleien und destruktiven Anwandlungen, sei er doch so gut wie immer zu konstruktiver Politik zurückgekehrt (S.706). Strauß konnte, so bedauert Möller, sein negatives Image, dem er allerdings immer wieder selbst Nahrung gab, in der veröffentlichten Meinung leider nicht loswerden. Strauß ist Möllers großer Held, Möllers Biografie ein aus Quellen fleißig kompiliertes Heldenepos, aber kein wirklich großer Wurf. Das liegt an der konventionellen Machart, an dem schier uferlosen Erzählfluss und an Möllers Parteinahme. Er verliert sich in Details und Episoden, die in weiten Partien nichts Neues bringen und in ihrem argumentativen Stellenwert mitunter fragwürdig bleiben.
Auch ich musste mir die Kritik gefallen lassen, meine große Studie über die CSU, die Anatomie einer konservativen Partei (1975, 2. Aufl.1978), sei „weder in der Form der Darstellung noch im Stil faszinierend“, überzeuge jedoch „durch vorbildliche Sachlichkeit und die Überfülle des Materials“ (Vorwärts Nr.17, 22.04.1976, S. 14). Auch mir wurde Detailversessenheit und ausufernde Akribie vorgeworfen. Doch stand der Forscher in den 1970er Jahren in einer ganz anderen Situation. Die Fixierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Franz Josef Strauß, aber auch CSU-interne Informationssperren hatten dazu geführt, dass die Entwicklung der CSU zur bayerischen Hegemonialpartei und als gesellschaftsgestaltendes Instrument nicht wahrgenommen worden war. Ich hatte damals eine „Überfülle“ an Fakten präsentiert, weil bis dahin über die internen Verhältnisse der bayerischen Staats- und Mehrheitspartei fast nur spektakuläre Episoden, aber nur wenig über ihr Politmanagement und ihre hegemonialen Strategien bekannt war. Das Nicht-Wissen über die CSU hatte im umgekehrten Verhältnis zur tagespolitischen Polemik der Berichterstattung gestanden. Bei Möller liegt der Sachverhalt anders. Die zeitgeschichtliche, landesgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Parteienforschung hatte inzwischen zahlreiche empirischen Untersuchungen und Einzelfallstudien über die CSU, über die CSU-Parteielite und einzelne ihrer prominenten Köpfe vorgelegt. Eine jüngere Forschergeneration war angetreten und hatte die Pionierleistungen der älteren fortgeschrieben und mit neuen Arbeiten überholt. Hinzugekommen waren auch große Werke zur jüngeren und jüngsten Geschichte Deutschlands und der Bundesrepublik wie die von Hans–Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler mit ihren Deutungen. Strauß war ein Politiker der Vor-Wende-Zeit. Wer sich nach der Epochenwende 1989/90 und nach der Jahrtausendwende 1999/2000 an eine Biografie des Franz Josef Strauß wagte und ihn in seinen verschiedenen Rollen als bayerischen Staatsmann, Weltmann, Außenpolitiker und Europäer erfassen wollte, musste ihn weit über den Kontext des „kleinen Welttheaters Bayern“ hinaus im europäischen und globalen Kontext analysieren und einordnen. Zu diesen Rollen lag bereits eine umfangreiche Literatur vor, wenngleich von unterschiedlichem Gewicht. Gelangen Möller schärfere Konturierungen der Rollen von Strauß? Was übernahm er aus der Literatur, was aus den Quellen, die ihm zur Verfügung standen? Markierte er seine Entlehnungen? Literatur- und Quellenverzeichnisse sind verräterisch. Bezeichnenderweise listet er alle seine mehr oder weniger einschlägigen Publikationen auf, zwanzig an der Zahl, selbst die kleinsten Beiträge. Bei anderen Autoren verfährt er dagegen auffallend selektiv. Auch vermisst man Autoren, die sich mit der Persönlichkeit und Rolle von Strauß befasst haben, zum Beispiel Erich Kuby (1910-2005), Eugen Kogon (1903-1987), Carl Amery (1922-2005) und Hans–Jürgen Heinrichs. Links orientierte Wissenschaftler und Schriftsteller gelten anscheinend, auch wenn sie Substanzielles zur Person Strauß beigetragen haben, als wenig zitierwürdig. Die narrative und parteiische Machart der Biografie erlaubt es Möller, manche sehr großzügig zu übergehen.
Möller verfolgt den CSU-internen Aufstieg vom Landesgeschäftsführer und Generalsekretär bis zum langjährigen Parteivorsitzenden (1961-1988). Im parteigeschichtlichen Zusammenhang zeichnet er eher nebenbei und bruchstückhaft die Entwicklung der CSU von ihren Gründungsjahren 1945/46 bis zum Tode von Franz Josef Strauß nach, von den rüden Flügelkämpfen der Nachkriegszeit bis zur vom großen Vorsitzenden geführten und geprägten absoluten Mehrheitspartei. Er kennzeichnet ihn als einen der maßgebenden Modernisierer der Partei. Parteigeschichtlich bietet Möllers Biografie nichts Neues (siehe S. 62, 90ff; 118ff, 668ff, 689ff), er fällt sogar, was die flächendeckende Ausbreitung und die Funktionen der CSU-Parteiorganisation betrifft, hinter den heutigen Erkenntnisstand zurück. Er entnimmt seine Fakten und seine Nacherzählungen aus einschlägigen politikwissenschaftlichen und parteihistorischen Publikationen, die er gelegentlich zitiert. In den dazugehörigen Anmerkungen verfährt er höchst selektiv.
Meinem sozialwissenschaftlichen Ansatz stelle ich Möllers gegenüber, um zu zeigen, was in Möllers Biografie weitgehend ausgeblendet wird: die gesellschaftlich-politische und soziokulturelle Perspektive und Analyse. Bei seiner Ausleuchtung von „Spannungsszenarien“ bleibt der gesellschaftliche und kulturelle Wandel Bayerns unterbelichtet, wie überhaupt der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel in der Bundesrepublik (S. 420, 428f, 512, 656). Er wird nur modellhaft und formelhaft angesprochen. Ausgeblendet bleiben auch die politisch-kulturelle Homogenisierung Bayerns und die Entstehung einer neuen gesamtbayerischen Hegemonialkultur, die gerade der „bayerischen Urwüchsigkeit“ von Strauß (S. 306) Wirkung verschafft und ihm in schwierigen politischen Situationen und Auseinandersetzungen den Rücken gestärkt hat. In seiner konventionellen Parlaments- und Kabinettsgeschichte kommen diese bayerischen „Spannungsszenarien“ und ihr „Wechselspiel von Persönlichkeit und Wirkungsraum“ (S. 13) zu wenig ins Blickfeld der Betrachtung. Es wird übersehen, wie Strauß in kritischen Entscheidungssituationen immer wieder vom unsichtbaren Band seiner bayerischen Existenz und von der gesamtbayerischen Hegemonialkultur politisch gehalten und bei Ausfällen aus der Bastion Bayern zugleich zurückgezogen wird.
Die „historische Größe“ von Strauß entrückt Möller letztendlich einer gesellschaftlich-politischen Analyse der Wirklichkeit, indem er auf ein Wort von Jacob Burckhardt verweist: „Die wirkliche Größe ist ein Mysterium. Das Prädikat wird weit mehr nach einem dunklen Gefühle als nach eigentlichen Urteilen aus Akten erteilt und versagt; auch sind es nicht die Leute vom Fach allein, die es erteilen, sondern ein tatsächliches Übereinkommen vieler.“ (S. 19)
Der politische Gigant aus Bayern bleibt für Möller letztendlich ein „Mysterium“. So viel tief empfundene Verehrung wird die CSU-Granden erfreuen. Möller lässt im Schlusssatz seines Heldenepos´ Strauß sich selbst frei nach Platon rühmen: „Alles Große steht im Sturm.“ (S. 726)
Alf Mintzel: Franz Josef Strauß, Sonderdruck aus: Walther Bernecker und Volker Dotterweich (Hg.), Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, S. 196–208, Göttingen 1982;
Horst Möller, ehemaliger Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), München, listet in seiner Biographie über ,Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell‘, 2015, zwanzig seiner Publikationen auf, von denen er meint, dass sie für seine Biographie relevant sind. Zu den vier Literaturangaben zu meiner Person vergisst er, auf meine Biographie über FJS hinzuweisen. So erhöhen Wissenschaftler ihr Gewicht auf der Waagschale der Bedeutsamkeit.
Franz Josef Strauß, ästhetisch zerrissen
Alf Mintzel: Franz Josef Strauß, ästhetisch zerrissen, August 1988, 50 cm x 70 cm; Ästhetisierung der politischen Sphäre. Collagen, Ausschnitte und -risse aus Abbildungen von Franz Josef Strauß auf Wahlplakaten der CSU