27. Die Epochenwende 1989/90

Meine Einschätzung der „deutschen Frage“, 1977

So kann man sich irren! Zumindest in einigen Punkten. Ende des Jahres 1977 ließ das Männermagazin „Playboy“ über eine Journalistin bei mir anfragen, ob ich bereit sei, zum Thema „Ist die Wiedervereinigung eine aktuelle politische Frage?“ in einem Beitrag Stellung zu nehmen. Ich sagte zu und verfasste einen Artikel. Ich antwortete auf die Frage in einem pointierenden Stenogramm mit einem lapidaren „Nein!“. Die Frage der Wiedervereinigung sei in der Bundesrepublik längst nicht mehr aktuell, weder in der Politik der Bundesregierung noch nach Meinung der meisten Bundesbürger. Meine Antworten waren, wie sich herausstellen sollte, typisch für die Meinung der meisten Westdeutschen. Sie rechneten nicht mehr wirklich mit einer Wiedervereinigung, schon gar nicht mit einer raschen. Die Teilung Deutschlands werde wohl von Dauer sein. Die Vereinigung sei, sofern sie überhaupt noch angestrebt werde, ein Zukunftsprojekt. In meiner Begründung ging ich im Eilschritt von der Kaiserproklamation 1871 an durch die jüngste Geschichte. Die spät erreichte Reichseinheit habe nur 74 Jahre gewährt. Kein Argument könne die Tatsache beiseiteschieben, dass Hitler es war, der mit seiner größenwahnsinnigen und verbrecherischen Politik — literarisch ausgedrückt — den Kosaken es erst ermöglichte, tief nach Mitteleuropa vorzudringen. Die Spaltung Deutschlands sei mithin Folge nationalsozialistischer Weltmacht-Politik.

Die Zweiteilung Deutschlands sei entlang alter politisch-territorialer Traditionslinien erfolgt. Die drei westlichen Besatzungszonen schlössen den überwiegend römisch-katholisch geprägten Süden und Westen ein, wo der politische Katholizismus seine alten Bastionen hatte. In der sowjetischen Besatzungszone würden überwiegend die protestantisch-preußisch geprägten Gebiete im Norden und Osten eingekapselt und hiermit die ehemaligen sozial-demokratischen und kommunistischen Hochburgen in Mittel-deutschland, lokalisiert in Thüringen und Sachsen. In den 74 Jahren Reichseinheit hätten diese politisch-kulturellen Traditionszonen ihre politischen Nachwirkungen nicht völlig eingebüßt Der antipreußische Affekt des politischen Katholizismus richte sich nun gegen die Anerkennung „Rot-Preußens“. Das untergegangene Preußen erlebte in der CDU/CSU-Propaganda eine düster-visionäre Wiederauferstehung in Gestalt der DDR, wo sich der Sowjetkommunismus mit preußischer Tradition vermische. In der DDR werde vom Klerikalismus in der Bundesrepublik gesprochen. Jede Seite nehme für sich spezifische politische Traditionselemente der deutschen Geschichte in Anspruch.

Im geteilten Deutschland sei in 33 Jahren hüben und drüben eine neue politische Generation herangewachsen, erzogen in den jeweiligen ideologischen Denkmustern. Für diese Nachkriegsgeneration seien die Reichseinheit und die nationale Frage Schulbuchwissen. Innerdeutschen Animositäten würden wieder zur Wirkung kommen.

Obschon man davon ausgehen könne, dass die Bürger der DDR in ihrer großen Mehrheit für ein parlamentarisch-demokratisches, pluralistisches System westlicher Prägung plädieren würden, wäre eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen ein Unterfangen, das große politische Belastungen mit sich brächte. Denn keine Seite würde ihre vermeintlichen Errungenschaften (z.B. im Bildungssektor, in der Gesundheitspolitik, in der Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft etc.) preisgeben. Wie sollte also nach den politischen Brüchen und Schrecken in den nur 74 Jahren der Reichseinheit und den allerjüngsten Entwicklungsverläufen so etwas wie ein politischer Wiedervereinigungs-Enthusiasmus entstehen können? Nicht von ungefähr werde der „Tag der deutschen Einheit“, der 17. Juni, zu einer politischen Farce, zu einem Tag privater Kurzweil.

Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung strebe unter dem Kanzler Willy Brandt seit 1969 die Normalisierung des Verhältnisses beider deutscher Staaten an. Die DDR sei inzwischen als zweiter deutscher Staat anerkannt. Das Ziel der Wiedervereinigung sei zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch zu einem Fernziel erklärt worden. Es könne vielleicht im 21. Jahrhundert in einer veränderten globalen, europäischen und innerdeutschen Situation aktualisiert werden, sofern die Lösung der nationalen Frage dann überhaupt noch die Wiedervereinigung erforderlich mache. Eine spätere Aktualisierung oder die endgültige Erledigung dieser Frage werde aufs Engste mit der gesamteuropäischen Entwicklung und der künftigen Gestalt Europas zusammenhängen. Sicher scheine zu sein, dass es erneut äußerst friedensgefährdend wäre, die nationale Frage der Wiedervereinigung als Vehikel der Einigung und Neugestaltung Europas zu benutzen. Es sei nicht gelungen, die deutsche Frage zu europäisieren. Die Hoffnung der Adenauer-Anhänger, über die Attraktion eines blühenden christlich-abendländischen Westeuropa zur Wiedervereinigung zu gelangen, habe sich nicht erfüllt. Die nationale Frage der Wiedervereinigung sei zudem an dem von jeher gegebenen, in der Regel verdeckten Widerstand der westeuropäischen Regierungen gescheitert, die sich nicht vor einem gesamteuropäisch geschmückten Wiedervereinigungskarren west-deutscher Politiker spannen lassen wollten.

Auch die spektakuläre Veröffentlichung des Manifests der angeblich in einem geheimen „Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ organisierten SED-Häretiker im „Spiegel“ (1/1978) und die darin enthaltenen Thesen zur Wiedervereinigung könnten die in der Bundesrepublik fast erstorbene Diskussion über diese Frage nicht wiederbeleben. Die Vorschläge dieser Oppositionsgruppe zur Wiedervereinigung (Abzug aller fremden Truppen, Austritt aus den Militärbündnissen, Garantie der deutschen Neutralität durch die UNO, Zulassung aller Parteien in ganz Deutschland, Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung etc.) seien im Kern wenig originell und neu. Sie seien mehr denn je illusionär, weil sie weder das inzwischen mühsam ausbalancierte Kräfteverhältnis zwischen den Machtblöcken noch die ablehnende Meinung in der westdeutschen Bevölkerung berücksichtigten. Die Überzeugung der SED-Abweichler, überall in der Welt sei die nationale Komponente langlebiger als die soziale, entspringe der Hoffnung, über einen gegenüber älteren Vorschlägen nun euro-kommunistisch modifizierten Dritten Weg in der Deutschlandpolitik aus dem staatsbürokratisch verordneten und gewaltsam durchgesetzten Sozialismus der DDR ausbrechen zu können. Die Wunschvorstellungen dieser neuen DDR-internen Opposition von einem im Zeichen des Sozialismus und des Euro-Kommunismus wiedervereinigten Deutschland als neutraler Brücken-Staat zwischen Ost und West werde in der Bundesrepublik nur nationalistische Neutralisten und linke Randgruppen begeistern. Die große Mehrheit der zutiefst antikommunistisch gesinnten Bundesbürger ließe sich hingegen schon gar nicht um der Einheit der Nation willen vor diesen Karren von Euro-Kommunisten spannen.

Der Bundesbürger werde jedoch gar nicht erst vor eine solche Entscheidung gestellt werden. Denn keine Regierung der UdSSR könne den gegen sie gerichteten Vorschlägen der linksoppositionellen SED-Häretiker folgen und die DDR aus ihrem Machtbereich entlassen. Ein — unter welchem Banner auch immer — wiedervereinigtes Deutschland würde abermals das europäische Mächtesystem und mit diesem die globalen Machtkonstellationen verändern. Dafür sei in absehbarer Zeit keine der Siegermächte von 1945 zu gewinnen.

Die fast zur Apathie gewordene Zurückhaltung der Bundesbürger in der Frage der Wiedervereinigung sollte aber nicht als Versagen in der nationalen Frage diffamiert, sondern als nüchterner, friedenserhaltender politischer Pragmatismus gewürdigt werden. Die kurzlebige Reichseinheit wurde im großdeutschen Wahn von einem verbrecherischen Regime verspielt.

Mich hatte der Hafer gestochen

Am 4. Januar 1978 brachte ich meine Stellungnahme zur Post. Die Ironie der Situation wollte es aber, dass ich meine Skizze Anfang des Jahres 1978 zurückziehen musste. Kollegen, denen ich von der Offerte des „Playboys“ berichtet hatte, drohten mir scharfe Sanktionen an, falls ich den Beitrag in dem Männermagazin veröffentliche. Sie stießen sich nicht an dem Inhalt meiner Stellungnahme, der weitgehend ihrer eigenen Einschätzung entsprach, sondern an dem frauenfeindlichen Macho-Magazin. Die emanzipatorische „Sittenpolizei“ war eingeschritten. Das war gut so! Ich zog meinen Beitrag zurück. Wieder einmal hatte mich der Hafer gestochen. Es wäre tatsächlich unseriös und albern gewesen, wäre mein Beitrag zwischen Frauenbusen oder anzüglichen Nackedeis erschienen. Ein Beitrag im „Playboy“ hätte mich nicht gerade für einen Lehrstuhl empfohlen. Ich hob das Manuskript jedoch auf, weil meine Antwort die Sicht und Einschätzung eines jungen Sozialwissenschaftlers zeigten, die in den 1970er Jahren vorherrschten. Zwölf Jahre später führte eine friedliche Revolution, die von couragierten oppositionellen DDR-Bürgern gewagt wurde, in einem komplizierten Zusammenwirken vieler Kräfte zur Wiedervereinigung Deutschlands. Die Bürger der Bundesrepublik waren überraschte und staunende Zuschauer.

In honoriger Gesellschaft

Muss ich mich heute für meine damalige Einschätzung schämen? Habe ich mich als informierter, mündiger Bürger, der seine demokratischen Partizipationsrechte auch als öffentlicher Meinungsträger wahrnahm, blamiert? Was die Meinungen und Einstellungen der meisten westdeutschen Bürger und Politiker anbelangte, lag ich völlig richtig. Prof. Dr. Peter Steinbach, ein ehemaliger Passauer Kollege, bestätigte meine damalige Einschätzung am 8. November 2014 in der Passauer Neuen Presse. Aus Anlass des 25. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer schrieb er: „Ein Ende der deutschen Teilung würde man nicht mehr erleben, dies war ein verbreitetes Credo.“ Ein Erinnerungsfragment: Als ich mich 1959/60, also fünfzehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, in Hamburg in einem studentischen Arbeitskreis für Wiedervereinigung engagierte und mich am Dammtor an einer öffentlichen Mahnwache beteiligte, wurde ich ausgelacht: Wer glaubt denn heute noch an eine Wiedervereinigung? Der Historiker und Journalist Sebastian Haffner, dieser scharfsichtige Analytiker der Zeit „Von Bismarck zu Hitler“, bekannte in einem Nachwort 1990: „Ich habe diese Ereignisse [1989/90] nicht vorausgesehen, geschweige denn erwartet, und ich kenne auch niemanden anderen, der sie 1987 vorausgesehen oder erwartet hatte.“ Noch neun Monate vor dem Mauerfall, im Februar 1989, hatte der damalige Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble gesagt: „Eine Lösung für die deutsche Frage (sei) auf absehbare Zeit“ nicht zu erkennen. Nicht anders hatte Richard von Weizsäcker die Situation eingeschätzt und bekannt: „Gewiss, keiner von uns sah damals für die überschaubare Zeit eine realistische Chance zur staatlichen Vereinigung. Brandt hatte sie als >Lebenslüge< bezeichnet, Kohl stellte später fest, dass sie noch nicht auf der Tagesordnung der allgemeinen Ost-West-Politik stehe.“ (R. v. Weizsäcker: Vier Zeiten, S. 350). Und noch 25 Jahre später waren sich prominente Akteure und Meinungsführer darin einig: „Die Deutsche Einheit stand 1989 nicht auf der Tagesordnung.“ (Dr. Hans Jochen Vogel, ehemaliger Bundesfinanzminister, in: PNP Nr. 140, 20.06.2015, S.6)

Nur Franz Josef Strauß habe, so sein Biograf Horst Möller, schon 1986 beim Aschermittwoch in Passau den epochalen Umbruch angekündigt: „Der Anfang vom Ende der Weltmacht des Kommunismus hat schon begonnen. Der Einsturz wird nicht erfolgen durch Krieg oder durch Revolution. Aber die Kräfte der Freiheit – sehen Sie nach Ungarn, sehen Sie nach Polen, sehen Sie in den anderen Teil Deutschlands hinüber! Da haben sich Änderungen und Wandlungen abgespielt. Nicht umsonst versucht Herr Gorbatschow die Zügel anzuziehen. Aber auch er ist zum Scheitern verurteilt, weil er eine wesentliche Änderung des inneren Druckes nur erreichen kann, wenn er das System aufgibt und schrittweise durch ein freiheitliches System zu ersetzen bereit ist. So weit sind wir aber noch nicht. Aber wir sind auf dem Wege dazu.“ (zit. n. Horst Möller 2015: Franz Josef Strauß, S. 712). Aus der Prophezeiung von Strauß konnte allerdings nicht herausgelesen werden, der Umbruch stünde unmittelbar bevor.

Die historischen Ereignisse 1989/90, wie ich sie erlebte

Als im Herbst 1989 Tausende DDR-Bürger über Ungarn und Österreich nach Westdeutschland türmten und das Ende des DDR-Regimes unmittelbar bevorstand, weilte ich als Gastprofessor an der Western Michigan University in Kalamazoo/USA. Am Vormittag des 18. September 1989 war ich in München in den Flieger gestiegen, ohne zu ahnen, dass am Tage meiner Rückkehr, am 24. Oktober 1989, der sogenannte Ostblock vor seinem Zusammenbruch und die osteuropäische Staatenwelt vor einem epochalen Wandel standen. Bei meiner Abreise war von einer Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und einer Überwindung der Berliner Mauer noch nicht die Rede gewesen. Dass die ungarische Regierung im August 1989 die Grenze für DDR-Bürger geöffnet und damit eine Fluchtwelle nach Österreich und Westdeutschland ausgelöst hatte, war zunächst nicht als Anzeichen für einen Kollaps des sowjet-kommunistischen Machtblocks gewertet worden. Ich hatte mich auf verschiedene politische Themen vorbereitet, von denen ich annahm, dass sie das Interesse amerikanischer Kollegen finden könnten. An einen Vortrag über die Chancen einer zukünftigen Wiedervereinigung Deutschlands hatte ich nicht gedacht. An meiner Einschätzung der „deutschen Frage“ hatte sich nichts geändert. Auch für meine amerikanischen Kollegen schien dieses Problem zunächst nicht die geringste Aktualität zu haben. Bei meiner Ankunft in Kalamazoo hatte mich zumindest niemand danach gefragt.

Die Situation veränderte sich schlagartig Anfang Oktober, als amerikanische Fernsehsender über Demonstrationen berichteten, die in Ost-Berlin aus Anlass des 40. Jahrestages der Gründung der DDR stattgefunden hatten. Tausende DDR-Bürger hatten eine freie Ausreise wie überhaupt Reisefreiheit gefordert. In wenigen Tagen spitzte sich in der DDR und in den Urlaubs-ländern vieler DDR-Bürger, in Tschechien und in Ungarn, die Lage weiter zu. Meine amerikanischen Kollegen verfolgten im Fernsehen staunend und beunruhigt die Berichte aus Europa. Ich war von den Vorgängen ebenso überrascht wie sie. Mit bohrenden Fragen drangen sie auf mich ein. Ist das Ende der Deutschen Demokratischen Republik gekommen? Steht die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bevor? Was bedeuten diese Vorgänge für die politische Lage in Europa? Welche Politik wird ein vereinigtes Deutschland treiben? Ich hatte noch meine früheren Einschätzungen im Kopf und versuchte meine Kollegen zu beruhigen. Die UdSSR werde die DDR nicht aus ihrem Herrschaftsbereich entlassen, es werde zu keiner Vereinigung kommen. Die osteuropäischen Nachbarstaaten des Ostblocks würden die Flüchtlingsströme wieder eindämmen. Die Staaten der Europäischen Union, allen voran Großbritannien und Frankreich, fürchteten und blockierten eher die Vereinigung. Dann geschah das Unglaubliche: Binnen weniger Monate und Jahre brach das sowjetisch-kommunistische Herrschaftssystem in sich zusammen. Die Vereinigung der deutschen Teilstaaten wurde innerhalb kürzester Zeit ausgehandelt und vollzogen. George Shultz, damals US-Außenminister, antwortete später einmal auf die Frage, ob er erwartet habe, dass die Mauer schon zwei Jahre nach Ronald Reagans Rede am Brandenburger Tor fallen würde: „Nein, solche Erwartungen konnte man gar nicht haben, aber es war klar, dass sich bald etwas ändern würde. Ich war in New York im Dezember 1988, als Michail Gorbatschow seine Rede vor den Vereinten Nationen hielt. Als er fertig war, das wusste ich: Der Kalte Krieg ist vorbei.“ (SZ Nr. 256, 07.11.2014, S. 8).

Niemand wusste, dass am 9. November 1989 die Berliner Mauer fallen würde. Es waren unzählige Bürger der DDR, die im Herbst 1989 auf friedlichen Massendemonstrationen mit Forderungen nach Freiheit und Freizügigkeit ihr Leben riskierten und schließlich die Öffnung der Mauer ertrotzten. Die für die DDR-Führung fatale Fernsehmeldung ihres Spitzenfunktionärs Günter Schabowski, die Grenzmauer sei ab sofort frei passierbar, stellte einen geschichtsträchtigen Moment dar. „Das war keine kleine Sache“ (G. Schabowski in: PNP Nr.259, 10.11.2014, S.2). Was wäre gewesen, wenn am 9. November 1989 in Panik geratende Volkspolizisten in die anbrandende Menge geschossen hätten? Was wäre gewesen, wenn eine sowjetische Machtdemonstration die vielen tausend DDR-Bürger daran gehindert hätte, an die Mauer vorzudringen? Was wäre gewesen, wenn Freitags-demonstranten Molotow-Cocktails gegen sowjetische Kasernen geschleudert hätten? Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Die Wende war „wie ein Wunder“ (Dr. Hans-Jochen Vogel, PNP Nr.140, 22.06.2015 S.6). „Heute wissen wir, dass das Fenster zur Einheit nur einen historischen Augenblick lang offenstand. Dieser Moment bot die Chance zur Überwindung der zweiten Diktatur im Deutschland des 20. Jahrhunderts.“ (18. Passauer Tetralog, 63. Festspiele Europäische Wochen).

Wallstreet, World Trade Center und Liberty

In den dramatischen Herbsttagen 1989, die zu einem epochalen Umbruch führten, fand ich mich mental in eine Doppelwelt versetzt, in die Welt der USA, und dort besonders in die Metropolen Chicago, New York City und Boston, und in die Welt des fernen Europa, soweit es über amerikanische Fernsehschirme und Zeitungen in meine Nähe gerückt wurde. Die Berichterstattung in den USA, soweit ich sie verfolgen konnte, hatte nicht die Informationsdichte, die ich von zuhause gewohnt war. Ich fühlte mich von den Vorgängen in Europa kommunikativ abgeschnitten und war unglücklich darüber, aus der Ferne nicht genauer sehen zu können, was sich dort ereignete und anbahnte. Wie bei meinem mehrmonatigen USA-Aufenthalt im Herbst 1978 nahm ich meine europäische Identität intensiv wahr. Die kolossalen Eindrücke meiner Reisen nach Chicago, Boston und New York City, auf denen mich meine Tochter Anne begleitete, füllten allerdings die europäischen Informationslücken. In Chicago, wo wir hoch oben auf dem Sears Tower einen bezaubernden Sonnenuntergang erlebten, verirrten wir uns am Abend auf der Rückfahrt in einem Stadtgebiet, das ausschließlich von Afroamerikanern bewohnt war. Ganze Straßenzüge endeten im Nirgendwo der Slums. Wir fuhren in einem Auto mit der Aufschrift der Western Michigan University auf seinen Türen. Anne saß am Steuer. Weil sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden und wir die Orientierung verloren hatten, mussten wir langsam fahren. Schlaglöcher, Straßensperren, heruntergekommene Gebäude, Müll, Straßen-nummern, die uns nichts sagten, Menschen, die uns nicht wohlgesonnen erschienen. Wir wussten nicht, wie wir aus den Slums herausfinden sollten. Am Straßenrand standen ärmliche Gestalten und verfolgten uns mit feindseligen Blicken, weil die Schwarzen uns offenbar für weiße Amerikaner hielten, die hier nichts zu suchen hätten. Uns erschien die Situation als so gefährlich, dass wir anzuhalten und zu fragen vermieden. Wir bekamen es mit der Angst zu tun und schlossen die Autofenster. Die Dämmerung brach herein. Ich war 1978 mehrmals allein zu Fuß durch die Außenbezirke und die dortigen Slums von Washington D.C. gegangen, ohne in eine gefährliche Situation zu geraten. In Chicago überkam mich dagegen zum ersten Mal die pure Angst. Der US-amerikanische Rassen-konflikt brannte uns dort erstmals buchstäblich unter der weißen Haut. Unser Ausflug hätte übel ausgehen können, wäre einer motorisierten Polizeistreife nicht unser verunsichertes Verhalten aufgefallen. Wir machten mit Winken auf uns aufmerksam. Der Polizeiwagen hielt an, erkannte unsere Situation und eskortierte uns aus dem Slum bis zur Ausfahrtsstraße nach Kalamazoo.

In diesen Tagen strömten aus der DDR immer neue Flüchtlingswellen über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik herein. Passau wurde als Ort der Aufnahme und des Durchgangs zu einem Brennpunkt des Geschehens. Ich hörte nur wenig über diese Vorgänge. Am 18. Oktober 1989, als Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende der DDR, entmachtet wurde, fuhr ich von New York City nach Boston, um an der Harvard University im Center for European Studies über Probleme der Parteienforschung zu diskutieren. Die Vorgänge in Europa und speziell in der DDR wurden seltsamerweise nur am Rand erwähnt. Niemand von uns lenkte das Gespräch ernsthaft auf die Geschehnisse in Europa, keiner von uns erkannte die Tragweite der Ereignisse. Das kam einer Bankrotterklärung der Politikwissenschaft gleich. Das politische Tagesgespräch kreiste, so schien es uns Besuchern, um andere Themen. Tags zuvor hatte ein Erdbeben in San Francisco große Schäden verursacht und vielen Menschen das Leben gekostet.

Am 22. Oktober fuhren meine Tochter und ich zur Freiheitsstatue und genossen den imposanten Blick auf Manhattan und Brooklyn. Wir stiegen auf schmalen Treppen in den Kopf der Statue, hatten dabei aber nicht die Freiheitsidee im Kopf, die in den osteuropäischen Satellitenstaaten der UDSSR immer mehr Menschen aufbegehren ließ. Am Abend zuvor hatten in Ost-Berlin, in Dresden und Plauen Groß-demonstrationen stattgefunden, auf denen sofortige Reformen gefordert worden waren. Die Opposition gegen das DDR-Regime spitzte sich gefährlich zu. Der Flüchtlingsstrom über Ungarn/Österreich schwoll weiter an. In den USA war wenig darüber zu hören und zu lesen. Die Volksrepublik Ungarn wurde a zur Republik Ungarn ausgerufen. Die neue Republik trat unter der Parole „Heimkehr nach Europa“ aus dem Warschauer Pakt aus. Es war dasselbe Datum, an dem 1956 der ungarische Aufstand gegen die sowjetkommunistische Diktatur begonnen hatte. Einige Tage zuvor waren Anne und ich von Brooklyn nach Manhattan zur Wallstreet gefahren und Augenzeugen des Börsenkrachs vom Oktober 1989 geworden. Vor dem Börsengebäude hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, zahlreiche Reporter und Fernseh-Teams liefen hektisch umher und gingen auf Sendung. Sicherheitskräfte umschwärmten die aufgeregte Menge. Der Börsencrash vom 13.10.1989 ging als „Kleiner Schwarzer Freitag“ in die Geschichte ein. Er war vom Fusionsfieber und von windigen Übernahmegeschäften ausgelöst worden. Der Abwärtstrend des Dow Jones auf dem US-Aktienmarkt bewegte in den USA die Gemüter anscheinend weit mehr als das Ende der Volksrepublik Ungarn.

“Tremendous! Tremendous! Faszinierend!” So beschrieb ich meine Eindrücke in meinem Tageskalender. Einen weiteren Höhepunkt meiner zweiten Amerika-Reise stellte am 21. Oktober unser Besuch des World Trade Centers dar und der herrliche Rundblick, den seine Plattform nach allen Seiten bot. Höhe, Größe, Weite, Luft, Hudson und Meer, die Freiheitsstatue, ein- und ausfahrende Schiffe, die Brooklyn-Bridge, Wolkenkratzer, Flugzeuge, Helikopter und über allem ein hoher, unendlicher Himmel. Ein Blick ins Anthropozän. Wir hielten uns stundenlang dort oben auf, ich konnte nicht genug kriegen von dem Höhenzauber und dem „Big Apple“, der landeinwärts an den weiten Horizont grenzte. Ich knipste zwei Filme, und heraus kamen fast professionelle Bilder voll Ästhetik. Für Stunden vergaß ich Europa und was dort vor sich ging. Und doch war Europa in den Wolkenkratzern gegenwärtig, sie waren zum Teil in die Höhe getriebener Jugendstil. Ich fühlte mich nicht fremd in dieser gigantischen Stadt. Als am 11. September 2001 islamistische Terroristen die Twintowers mit gekaperten Passagierflugzeugen angriffen, die beiden Gebäude kurz hintereinander in sich zusammensanken und dreitausend Menschen zermalmten, stiegen in mir alte Erinnerungen auf. Ich sah mich und Anne mit den Fahrstühlen nach oben fahren, ich sah, wie wir hinaus auf die Plattform traten, in schwindelnder Höhe standen und uns an das Riesenhafte gewöhnen mussten. Die Bilder von den brennenden und in sich zusammenstürzenden Hochhäusern bannten mich 2001 gewaltiger, als es der schlimmste Albtraum hätte tun können.

Nach der Rückkehr aus den USA

Historische Großereignisse und private Aufregungen trafen aufeinander. Am 9. November 1989, am Tag der friedlichen Herbstrevolution in der DDR, erlitt meine Mutter einen Schlaganfall, zudem lag ein Schwager im Sterben. Dazu kam der Beginn des Wintersemesters mit seinen Anforderungen an mich als Dozent. Mir blieb nur Zeit für knappe Einträge und Stichwörter in meinen Tageskalender, meinen „Adjutanten“, wie beispielsweise „Die Grenzen zwischen DDR und BRD/ Westberlin sind auf! Ereignisse und Nachrichten überstürzen sich.”, „In Berlin und in der DDR friedliche Revolution von unten” oder “Ceausescu gestürzt“

Wir verfolgten gespannt und gebannt in Rundfunknachrichten und Fernsehsendungen die Ereignisse. Mit jedem Tag erkannten wir klarer, dass sich in Osteuropa revolutionäre Entwicklungen angebahnt hatten, die auf eine machtpolitische Neuordnung des europäischen Raums hinauslaufen würden. Die Berliner Mauer war ohne einen Schuss gefallen und daraufhin die ganze „sozialistische Friedensgrenze“. Ich hatte im August 1961 in Berlin an der Bernauer Straße erlebt, wie sie über Nacht aufgerichtet worden war. Jetzt sah ich im Fernsehen, wie sie niedergerissen wurde — und den überwältigenden .

 

 

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