28. Frust auf dem „Micky Maus-Lehrstuhl“

Soziologie in Passau oder die Kunst, ein Kleinst- und Solitärfach zu vertreten

»Herr Mintzel, was wollen Sie auf dem Micky Maus-Lehrstuhl in Passau?« So hatte mich mein Mannheimer Kollege Prof. Dr. Max Kaase 1981 bei meinem Abschied aus Mannheim gefragt. Er war es als Wahlforscher gewöhnt, im Forschungsverbund einer sozialwissenschaftlichen Fakultät zu arbeiten. Er war kein ›Solitär‹ unter lauter fachfremden Kollegen. Was hatte er mir mit seiner Frage sagen wollen? Für mich war damals doch klar gewesen: Es ging in erster Linie um mein Überleben als Wissenschaftler und um die Versorgung meiner Familie. Gewiss war der Wechsel nach Passau auch mit der Hoffnung verbunden gewesen, am dortigen Lehrstuhl für Soziologie mein Traumprojekt verwirklichen zu können: eine politische Gesellschafts- und Staatsgeschichte Bayerns nach 1945.

Nach dem Grundaufbau des Faches richtete ich 1985 das auf Dauer angelegte Forschungsprojekt ›Bayern nach 1945: Gesellschaft–Politik–Staat‹ ein. Daneben rief ich die ›Arbeitsgruppe Parteienforschung‹ ins Leben. Aus ihr gingen mehrere Magisterarbeiten und Dissertationen hervor. Doch holte mich die Realität ein. Der Aufbau des Faches in der neugegründeten Universität von Null an, die allgemeinen und spezifischen Anforderungen an ein ›Solitärfach‹ in einer bunt gefächerten Philosophischen Fakultät und eine völlig veränderte Lehrsituation durch die Einführung eines neuen Studienganges machten die Pläne zunichte, die ich für die Parteienforschung gehegt hatte. Ein Ausbau des Faches zu der von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie angestrebten Mindestausstattung für ein Hauptfach scheiterte an den abschlägigen Entscheidungen des bayerischen Kultusministeriums und nicht zuletzt an Interessenlagen in der Philosophischen Fakultät. Niemand schien das Fach Soziologie wachsen lassen zu wollen. Meine Vorstöße blieben erfolglos, Frust stellte sich ein. Wer mit dem Innenleben von Universitäten und Fakultäten nicht vertraut ist, kann sich kaum vorstellen, wie es in den Ehrenhallen der Wissenschaft ›menschelt‹. Trotzdem – ich hatte Glück und selbst unter den eingeschränkten Möglichkeiten und trotz so mancher Konflikte mit Passauer Kollegen und Bürgern wurde ich dort heimisch. Dennoch war womöglich auch dieser Frust mit im Spiel, als ich Ende des Jahres 1990 den sogenannten Passauer Madonnen-Streit vom Zaune brach.

Prof. Paul Lankes (Lehrstuhl für Kunstpädagogik), Bleistiftskizze ›Kollegen in einer Fachratssitzung‹, 1980er Jahre;
von links: Prof. Dr. Sascha Felix (Lehrstuhl für Allgemeine Linguistik), Prof. Dr. Heinrich Oberreuter (Lehrstuhl für Politikwissenschaft), Prof. Dr. Johann Albrecht (Alf) Mintzel (Lehrstuhl für Soziologie)

Der Atomphysiker J. Robert Oppenheimer lud in seinem Buch ›Wissenschaft und allgemeines Denken‹ (1958, S. 80f) dazu ein, in das offene Haus der Wissenschaft hineinzugehen und die vielen Räume zu besuchen. Er schilderte es als ein riesengroßes, unüberschaubares und weitläufiges Haus. Es sei weder in einem Quadrat oder Kreis noch in der Form einer Pyramide gebaut, sondern wunderbar aufs Geratewohl, so dass es den Eindruck unaufhörlichen freien Wachstums erwecke. Eines, so sagte Oppenheimer, gelte für das ganze Haus: es gäbe keine Schlösser, keine verschlossenen Türen. Wo immer wir hineingingen, hießen uns Zeichen und gewöhnlich auch Worte willkommen: es sei ein offenes Haus, offen für alle, die eintreten wollten. Ich bezweifele das aus mehreren Gründen. In Universitäten werden Türen verschlossen, zwischen Disziplinen, in Disziplinen und auf Korridoren. Viele Zeichen führen in den labyrinthischen Gebäuden der Wissenschaft in die Irre. Oppenheimers Idealbild vom Wissenschaftler, der um der Sache und der Erkenntnis willen in seine Räume einlädt, wurde durch die Wirklichkeit, sofern es je zugetroffen haben sollte, längst überholt. Der moderne Massenuniversitätsbetrieb, die weitläufige Ausdifferenzierung der Fächer und des Wissenschaftsbetriebes und der ungeheure Anstieg des Wissens erschweren es ungemein, in andere Räume hineinzugehen und sich zurechtzufinden. In den Bauhütten der Wissenschaften haben sich viele geschäftige Arbeiter in Geheimlogen zusammengeschlossen. Wissenschaftler organisieren sich in Männerbünden mit demütigenden Initiationsriten, wachen eifersüchtig über ihre Pfründen, schrecken nicht vor Plagiaten zurück, bilden Zitierkartelle, betreiben Gesinnungsschnüffelei, Schwindeleien und Rufmord. Die allzu menschlichen Eigenschaften von Wissenschaftlern erlebte ich in Berlin in der sogenannten APO-Zeit und an der Universität Passau im Gewande eines außerwissenschaftlichen Traditionalismus. Trotzdem wurde das große, in vielen Generationen von abertausenden Wissenschaftlern errichtete Labyrinth meine Heimat. Denn überall da, wo eine freie, autonome wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ermöglicht und garantiert wird, war mein zu Hause. Lediglich in Hinblick auf die USA muss ich eine Einschränkung machen, denn nicht in allen dortigen Bundesstaaten ist es erlaubt, beispielsweise die biologische Evolutionstheorie zu lehren.

›Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien‹ – eine neue Herausforderung

Gegen Ende der 1980er Jahre wurde mir vollends klar, dass ich mein lang gehegtes Traumprojekt unter den Passauer Arbeitsverhältnissen nicht würde verwirklichen können. Auf der Professoren-Ebene blieb die Soziologie ein Ein-Mann-Betrieb, und dies auch auf der Ebene wissenschaftlicher Mitarbeit. Erst 1989 wurde eine zweite Assistentenstelle genehmigt. Der Lehrstuhlinhaber und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter mussten das Fach in vielfältiger Weise vor allem als Zweitfach oder Nebenfach für andere Studiengänge vertreten. Der Anteil der im Hauptfach Soziologie Studierenden blieb unter zehn Prozent. Die Verhältnisse änderten sich im Wintersemester 1989/90 schlagartig mit dem in der Philosophischen Fakultät neu eingeführten Studiengang ›Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien‹ (kurz ›KUWI‹ – Kulturwirt). Die Initiatoren des Studienganges und ich hatten in der Startphase nur mit mehreren Dutzend Studierenden gerechnet. Wir waren völlig überrascht, als sich sogleich 1000 Studierende aus ganz Deutschland einschrieben. An der Philosophischen Fakultät traten im Lehrbetrieb bis Anfang der 1990er Jahre durch den neuen Studiengang chaotische Zustände ein. Die Passauer Lokalpresse schlug Alarm: »Die ›Kuwis‹ kosteten der Uni Passau den Ruf«. Von »Jagdszenen vor den Hörsälen« war die Rede. Die Universität liefe Gefahr, wegen ihrer unzulänglichen infrastrukturellen Voraussetzungen Ansehen zu verspielen, das sie sich in jahrelanger Kleinarbeit in manchen Fakultäten erworben habe (Passauer Woche/PAWO Nr. 47/8, 22.11.1990). Die neuen ›Kuwis‹ strömten zu einem nicht geringen Teil in soziologische Lehrveranstaltungen. In Einführungsseminaren saßen bis zu 400 Studierende, so dass der Seminarcharakter nicht gewahrt werden konnte. Nicht alle Kollegen waren von dem Konzept und Nutzen der Kulturraumstudien überzeugt. Einige versagten anfangs sogar ihre Mitarbeit. Unter meiner Leitung nahm das Fach Soziologie die Herausforderung an und half mit, den neuen Studiengang zu etablieren und attraktiv zu machen. Gegen Ende meiner Amtszeit musste ich die angebotenen Seminare wegen des großen Zuspruchs doppelt durchführen, weil die Studierenden befürchteten, mein Nachfolger werde das Lehrprogramm nicht fortsetzen oder andere Schwerpunkte setzen.

Das auf den Studiengang zugeschnittene soziologische Lehrprogramm, der Vergleich europäischer Gesellschaften, genoss von Anfang an großen Zuspruch. Die Fragestellungen unter anderem nach dem Verlauf des demografischen Wandels, nach Formen der Elitenrekrutierung und der Elitenprofile im europäischen Raum oder nach Migrationseffekten weckten das Interesse vieler Studierenden. Die Ausformulierung des Lehrprogramms nahm einen Großteil meiner Arbeitskraft und Ressourcen in Anspruch. Mein Lehrwerk über ›Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika‹, das ich für die ›Kuwis‹ entwickelte und bis zum Ende meiner Amtszeit zusammen mit meinen Wissenschaftlichen Mitarbeitern (Dr. Stefan Immerfall, Dr. Peter Schimany, Dr. Barbara Wasner) als Kernstück der soziologischen Kulturraumstudien anbot, erschien 1997 als Buch. Es fand eine breite Resonanz und wurde gut angenommen. Ein weiterer Schwerpunkt war die Makroanalyse multiethnischer und multikultureller Megastädte, Megalopolen und Metropolen in Europa und Nordamerika. Auch hierzu publizierte ich ein Begleitheft mit Lehrmaterialien.

Umschlagtitel: Multikulturelle Gesellschaften in Europ und Nordamerika, 1997

Umschlagtitel: Multiethnische und multikulturelle Megastädte, Megalopolen und Metropolen in Nordamerika und Europa, 1999

Es handelte sich im Wesentlichen um die Einführung in Problemstellungen der einschlägigen sozialwissenschaftlichen und historiografischen Literatur sowie um die Vermittlung von internationalen Forschungsergebnissen. Diese Lehrprogramme führten weit weg von der Parteienforschung, wie ich sie bisher betrieben hatte, und erst recht von meinem Bayern-Projekt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten sich nur noch sporadisch der Erforschung der bayerischen Parteienlandschaft widmen. Es blieb bei kleineren, teilweise mit geringen Drittmitteln finanzierten empirischen Gelegenheitsarbeiten. Manche waren eine Art Fortschreibung meiner Forschungsergebnisse aus aktuellen Anlässen. Ich konnte mich jedenfalls nicht mehr für eine empirisch und theoretisch anspruchsvolle Parteienforschung freistellen, geschweige denn ein großformatiges Projekt finanzieren. Schon 1975 hatte ich bedauert, dass in der Parteienforschung die vereinzelte Kleinproduktion vorherrsche, die kaum aufeinander abgestimmte, sozusagen komplementäre Arbeiten entstehen ließ.

Die Interessen verlagerten sich auf andere Forschungsfelder, vor allem auf Probleme des europäischen Gesellschaftsvergleichs und auf Varianten des europäischen Wohlfahrtstaates. Barbara Wasner, die zusammen mit mir mit Beiträgen zum Parlamentarismus in Bayern und mit einer Studie über den Politischen Aschermittwoch in Passau hervorgetreten war, wandte sich dann ebenfalls Fragen nach den sozialen Entwicklungslinien in Westeuropa zu. Freistellungen für Forschungsaufenthalte in den USA, die trotz der zu geringen personellen Ausstattung des Lehrstuhls schwerlich abgeschlagen werden konnten, und Personalwechsel im Mitarbeiterstab brachten Engpässe und Unterbrechungen im Lehrangebot mit sich. Die Einführung in die empirischen Methoden wurde von einem Lehrbeauftragten bewältigt. Ich trug als Lehrstuhlinhaber die Gesamtverantwortung.

Hinzu kam, dass ich vom bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus zum Prüfer für ganz Bayern bestellt worden war. Am Semesterende wurden mir die Klausuren, die an den bayerischen Universitäten im ersten Staatsexamen in sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Fächern geschrieben worden waren, zur Korrektur und Beurteilung zugesandt. Achtzig bis hundert Klausuren waren das regelmäßige Pensum. Ich hätte mich den Lehranforderungen, die insbesondere durch den Kulturwirt-Studiengang auferlegt wurden, rigoros verweigern und auch soziologische Lehranteile vernachlässigen müssen, um mein Bayern-Projekt weiterhin verfolgen zu können. Die Politikwissenschaft war mit zwei Lehrstühlen und vier wissenschaftlichen Mitarbeitern und einem Lehrbeauftragten ausgestattet, die Geschichtswissenschaft mit mehreren Professuren. In diesen Fächern konnte die große Last der zusätzlichen Anforderungen auf mehrere Schultern verteilt werden. Die unzureichende Ausstattung und beschränkten Forschungsmöglichkeiten des Passauer Lehrstuhls für Soziologie machten mir schwer zu schaffen und brachten Konflikte mit sich. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter litten unter diesen Verhältnissen und hatten Mühe, mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten voran und zuende zu kommen. Ich fragte mich wiederholt, ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen hatte.

Max Kaases belustigte Frage, was ich auf dem Passauer Lehrstuhl wolle, beruhte auf einer realistischen Einschätzung. Doch war die berufene Micky Maus, hier in Gestalt eines Ordinarius, wie wir von Walt Disney wissen, ein munterer, quirliger Geselle, der es liebte, Neues auszuprobieren. Er war zu allerhand ›Wohltaten‹ und auch ›Schandtaten‹ aufgelegt. Wehe dem Professor Donald Duck, der ihm in die Quere kam!

Ende einer Illusion

Um zur komplexen Realität der gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Entwicklung Bayerns seit 1945 empirisch-analytisch vorzudringen und die verschiedenen Aspekte seiner politischen Kultur untersuchen zu können, bedürfte es eines angemessenen und ausgereiften interdisziplinären Forschungsdesigns. Die Erarbeitung einer Gesellschafts- und Staatsgeschichte Bayerns war ein langfristiges Superforschungsprogramm von NASA-Format, das von keinem Lehrstuhlbetrieb allein hätte durchgeführt werden können, schon gar nicht von einem Kleinstfach mit ganz anders gewichteten Anforderungen. Ein solches Großprojekt anzupacken und in seinen verschiedenen Teilen zu verwirklichen, konnte nur Sache und Aufgabe von großen interdisziplinären Forschungsinstituten sein, die über das hierfür notwendige Personal und den Hilfsapparat verfügten. Professoren für bayerische Landesgeschichte wären als Einzelgänger mit derartigen Aufgaben ebenfalls überfordert gewesen. Meine großen Studien über die CSU und Bayern hatten in den 1970er Jahren in diesem Format und mit diesem materiellen und finanziellen Aufwand nur unter den privilegierten Arbeitsbedingungen eines großen Forschungsinstituts verwirklicht werden können. Sie wären als private Forschungsleistung nicht zu leisten gewesen. Allein schon die Druckkosten für meine erste große Studie, für die ›Anatomie einer konservativen Partei‹, hatten sich 1975 auf 60 000 Deutsche Mark belaufen.

An der Universität Passau standen dem Lehrstuhl für Soziologie für alle Sachkosten (Büromaterialien, Telefon, Kopien, Lehrmaterialien usw.) ein jährliches Sachbudget von insgesamt nur 6000 Deutschen Mark zur Verfügung. Der Lehrstuhl für Soziologie organisierte im Auftrag der Fakultät zusammen mit der Management Akademie München (MAM) Seminare in Kommunikationsverhalten, Rhetorik und Moderationstechniken, die in jedem Semester von geschulten Trainern durchgeführt wurden. Ich wurde Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der MAM. Deren Koordinator hielt meinen Lehrstuhl für eine geschäftsführende Organisationszentrale, setzte sich an meinen Schreibtisch und führte lange Ferngespräche, um Trainer für die Seminare zu gewinnen und zu verpflichten. Als ich ihm sagte, der Lehrstuhl müsse im Jahr mit 6000 Deutschen Mark auskommen, kam der Herr aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er hatte wohl mindestens eine fünfstellige Zahl im Kopf. Er ließ dann davon ab, von meinem Schreibtisch aus das Ausbildungsprogramm zum Laufen zu bringen. Diese Arbeiten mussten meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unentgeltlich übernehmen. Ich selbst absolvierte ebenfalls alle Seminare, um über die neuen Ausbildungsmöglichkeiten genau im Bilde zu sein. Zusätzlich boten wir noch ein Seminar über Führungsstile an. Alle Mitglieder des Lehrstuhls waren voll ausgelastet. Die in Kooperation mit der Managementakademie durchgeführten Seminare führten von den klassischen Kerngebieten des Faches Soziologie weit weg. Ich hegte Skrupel gegenüber der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die darauf achten musste, dass das Fach nicht professionell ausfranste.

So führten der epochale Umbruch in Europa und die neuen Entwicklungen im Wissenschaftsbetrieb der Universität Passau zu einem tiefgreifenden Wendepunkt in meinem beruflichen Leben. Unter äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen konnte ich auf Gebieten der Parteienforschung gerade noch drei größere Publikationsprojekte zum Abschluss bringen: 1990 das zusammen mit Heinrich Oberreuter in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Sammelwerk ›Parteien in der Bundesrepublik Deutschland‹, 1993 die im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München zusammen mit Barbara Fait und Thomas Schlemmer herausgegebenen ›Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der Christlich-Sozialen Union‹ (Die CSU 1945–1948) und 1998, gegen Ende meiner Amtszeit, eine Zusammenfassung meiner Bayern-Forschung, ›Die CSU-Hegemonie in Bayern‹.

Umschlagtitel: Die CSU-Hegemonie in Bayern, 1998

Das Sammelwerk über die ›Parteien in der Bundesrepublik Deutschland‹ musste von den Herausgebern und Autoren schon kurz nach seinem Erscheinen in großen Teilen überarbeitet und ergänzt werden, weil sich das Parteiensystem nach dem Untergang der DDR und seit der Wiedervereinigung gewandelt hatte. Die mühevolle Überarbeitung zog sich über Monate hin. In einer Schlussbetrachtung zeigte ich zusammen mit Oberreuter Zukunftsperspektiven des deutschen Parteiensystems auf, wobei ich meine theoretischen Überlegungen zur Wirklichkeit und Entwicklung der Großparteien einbrachte. Die Hanns-Seidel-Stiftung lud mich zu einer Expertise über die Lage der CSU im wiedervereinigten Deutschland ein. Die Edition der ›Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der CSU‹ stand an. Eine extreme Arbeitsbelastung machte mir das Leben schwer. Ich fühlte mich zwischen Lehranforderungen und Publikationsverpflichtungen hin und her gerissen.

Die Edition der Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der CSU, 1993

Das Institut für Zeitgeschichte in München war die richtige Forschungsstätte. Über Jahre schon hatte ich mit seinem Leiter, mit Prof. Dr. Martin Broszat, in Kontakt gestanden. Er war es, der meine Forschungsarbeiten über Bayern mit Interesse verfolgt und mich häufig nach München zu Vorträgen eingeladen hatte. Kurz bevor er 1989 starb, hatte ich mit ihm und Dr. Hans Woller vereinbart, meine gesamte Quellensammlung zur CSU-Geschichte dem Institut für Zeitgeschichte zu überlassen. Ich hatte mir allerdings ausbedungen, an der geplanten Herausgeberschaft beteiligt zu werden. Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung hatten mehrmals versucht, mich zu einer Übergabe meines Materials an die CSU-nahe Stiftung zu bewegen. Doch war mir eine hochrenommierte, parteiunabhängige Forschungseinrichtung lieber. Martin Boszat hatte mich in schwierigen Berliner Berufsjahren als Wissenschaftler unterstützt und gefördert. Dr. Hans Woller, ein renommierter Historiker und Mitarbeiter des Instituts, griff den Editionsplan auf, so dass ich als Mitherausgeber in eine schier unentrinnbare Arbeitsfalle geriet. Ich konnte mich zu meinem großen Kummer nicht an der Abfassung der Einleitung beteiligen.

Umschlagtitel: Die CSU 1945–1948, Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der Christlich-Sozialen Union, Bände 1 und 2

Die Veröffentlichung der Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der CSU hatte allerdings für meine bisherigen Publikationen, zumindest was die ersten drei Nachkriegsjahre anbelangt, gravierende Folgen. Galten bis dahin meine Studien und zahlreichen Zitate aus den bisher unveröffentlichten Primärquellen als DER Quellenfundus schlechthin, so konnten Forscher nun direkt auf diese dreibändige Quellenedition zurückgreifen. Eine Nachfrage bei mir war nicht mehr notwendig. Meine »Ersatzüberlieferung« (Thomas Schlemmer) hatte in Teilen ausgedient. Meine Forschung wurde als Pionierleistung der 1960er, 1970er und auch noch 1980er Jahre hochgeschätzt, aber zusehends von neueren Forschungen über die CSU und Bayern abgelöst. Mein Nimbus als CSU-Experte begann zu verblassen. Es war zu erwarten, dass jüngere Forscher auf meiner bisherigen Domäne arbeiten und eine nachwachsende Generation meine zeitlich begrenzten Pionierarbeiten durch ihre neuen Forschungen überholen würden. Max Weber beschrieb in seinem Vortrag ›Vom inneren Beruf zur Wissenschaft‹ diesen Überholvorgang auf eindringliche Weise: »Jeder von uns (…) in der Wissenschaft weiß, dass das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ›Erfüllung‹ bedeutet neue ›Fragen‹ und will ›überboten‹ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will.«

Mit Beginn der 1990er Jahre spürte ich zunehmend die Bitternis, auf meinem ureigenen Forschungsfeld, meiner Domäne, nicht mehr an der Spitze der Forschung stehen zu können. Der innere Abschied von dem, was ich bis Ende der 1980er Jahre als mein Traumprojekt angesehen hatte, fiel mir schwer. Ich suchte auf künstlerischem Gebiet einen Ausgleich und wandte mich der Objekt-Kunst zu.

Alf Mintzel, männliche und weibliche Idole, Schmiede- und Gusseisenfundstücke, 1994

Alf Mintzel, Wächterfiguren (meine Schutzgeister), Fundstücke aus Schmiede- und Gusseisen, 1996/97

Die öffentliche Vorstellung der dreibändigen Edition hatte 1993 übrigens einen unangenehmen Beigeschmack. Der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Horst Möller, machte bei seiner Selbstinszenierung als Institutsleiter die Herausgeber, wörtlich gemeint, zu wissenschaftlichen Hinterbänklern. Er ließ, so meine ich mich erinnern zu können, bei seiner institutsöffentlichen Präsentation im Dunkeln, wie diese große Dokumentation zustande gekommen war. Frau Dr. Barbara Fait, Dr. Thomas Schlemmer und ich waren im Raum nicht einmal Staffage für sein Ego. Wir existierten quasi nicht. Das wäre dem früheren Institutsleiter Martin Broszat nicht passiert. Diese Vorstellung der Edition veranlasste mich, über das »geheimnisvolle CSU-Spezialarchiv Mintzel« (Thomas Schlemmer), das mit etwa 1200 Seiten zu Buche geschlagen hatte, mehr preiszugeben, als ich das bisher aus wohlerwogenen Gründen getan hatte. In einem vervielfältigten Skript verteilte ich an einen kleinen Forscherkreis und einige Journalisten die ›Geschichten hinter der Geschichte‹ und lüftete darin das Geheimnis, wie es zur ›Sammlung Mintzel‹ gekommen war. Die Frankfurter Rundschau berichtete über diese »Sternstunde der Parteienforschung«.

So groß die Arbeitsbelastung im Passauer Solitärfach Soziologie auch war, die der neue Kulturwirt-Studiengang und meine Publikationsverpflichtungen mit sich brachten, so gern engagierte ich mich für die anspruchsvollen Lehrprogramme. Sie lenkten den Blick weit hinaus und hin zu globalen gesellschaftlichen Wirkkräften. »Europa – was ist das?« Diese Fragestellung unter kultursoziologischen und makro-soziologischen Gesichtspunkten zu verfolgen und mit den Studierenden zu diskutieren, machte mir, der sich dem Projekt Europa verpflichtet fühlte, große Freude. Wie sieht die mentale und kognitive Landkarte (›mental map‹) in den Köpfen von Europäern aus? Welche Identitäten haben Europäer? Was ist das allgemein Europäische in Europa? Welche Institutionen und Organisationen konstituieren Europa? Gibt es eine unbestreitbare kulturelle Identität Europas? Welche gemein-europäischen Elemente charakterisieren tatsächlich oder fiktiv die kulturelle Herkunftseinheit Europa? Wird der historische multikulturelle Unterbau Europas von einem gemeineuropäischen kulturellen Überbau überwölbt? Mit den Studierenden unter solchen und anderen Fragestellungen kultursoziologische Streifzüge durch Europa zu unternehmen, kontroverse Positionen zu erörtern und dazu vom Studiengang vorgeschriebene Exkursionen zu leiten, entschädigte meinen Verlust, in der sozialwissenschaftlichen Parteienforschung nicht mehr an der vordersten Front mitwirken zu können. ›Meriten‹ gewann ich nicht mehr in meiner alten Domäne, sondern vor allem in der Lehre, und da insbesondere im Studiengang ›Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien‹. Die im deutschen Universitätsbetrieb noch in den 1990er Jahren notorische Unterschätzung der Lehre brachte es mit sich, dass diese Leistungen nicht gleichermaßen bewertet wurden. Fachwissenschaftliches Renommee war fast ausschließlich durch Forschung zu gewinnen. Mit meinen Lehrheften und meiner Publikation über ›Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika‹ wollte ich mich zumindest mit einem anspruchsvollen Lehrwerk als Fachvertreter ausweisen. Niemand sollte sagen dürfen, dass auf dem Passauer ›Micky Maus-Lehrstuhl‹ keine solide Arbeit geleistet wurde.

Sich in einer wissenschaftlichen Bereichs- und Kompetenz-Rangordnung selbst zu platzieren, wäre ein heikles Unterfangen. Der Mensch ist groß darin, sich selbst mit Bedeutung aufzupumpen. Es gibt jedoch einige objektive Kriterien, die es unabhängig von Eitelkeiten und egomanischen Allüren ermöglichen, die Reputation eines Wissenschaftlers zu ermessen. Ein institutionelles Kriterium bietet zum Beispiel der Weltkatalog (WorldCat Identities). Des Weiteren kommen Übersetzungen in andere Sprachen, Zitationen und aktive nationale und internationale Konferenzteilnahmen in Betracht. Meine Beiträge zur Geschichte und Politik der CSU sowie zur allgemeinen Parteienforschung wurden in vier Sprachen übersetzt, ins Englische, Russische, Spanische und Italienische; meine Publikationen über die CSU in Japan besprochen (siehe Anhang). Es mag vermessen sein zu glauben, man könne seine wissenschaftliche Reputation auf diese Weise objektivieren. Die Auswahl erbringt nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein paar Indizien. Ich könnte, wenn das für einen leidenschaftlichen Wissenschaftler überhaupt eine emotionale Kategorie wäre, zufrieden sein.

Anhang: Rezeption in Fernost

Takeshi Nakai ›Ursprünge des deutschen Konservativismus‹ aus: Die Welt, November 1989, S. 264, Übersetzung:

»Worauf zielen der ›Straußismus‹ und die CSU ab, in denen sich der traditionelle bayerische Konservativismus und der Katholizismus zu einer Neuen Rechten vereinigen? Der Politologe und CSU-Forscher Alf Mintzel hat in seinem Buch ›Die Geschichte der CSU‹ (1977) eine detaillierte Analyse vorgelegt, aus der sich zwei Hauptmerkmale der CSU ergeben. Eines betrifft die Rolle der CSU als Partei des unabhängigen Freistaates Bayern, das andere die Koalition mit der CDU auf Bundesebene.
Hier zeigen sich zwei Aspekte des westeuropäischen Föderalismus:
1. der bayerische Regional-Nationalismus,
2. der katholisch gefärbte Deutsch-Nationalismus.
Letzeren repräsentiert Strauß; seine Kerntruppe ist die CSU-Fraktion im Bundestag, die überwiegend mit ›militanten‹ Strauß-Anhängern besetzt ist.
Dennoch gibt es unablässig starke Kräfte, die darauf abzielen, den ›Straußismus‹, der sowohl die Ausdehnung des bayerischen als auch des deutschen Einflusses betreibt, auf den rein bayerischen Raum zurückzuholen. Obwohl Strauß gleichzeitig Bundespolitiker als auch bayerischer Ministerpräsident ist, ist es für ihn schwierig, die Bayern und seine Parteimitglieder, die durch eine starke Heimatverbundenheit und ein Anti-Preußentum geprägt sind, auf rein regional-bayerischem Boden zurückzuhalten. Strauß, der in dieser Hinsicht oftmals kritisiert wird, steht vor dem Dilemma, die Region Franken, die sich vom engstirnigen bayerischen Patriotismus gelöst hat, mit einzubeziehen, was jedoch starke Skeptik bei den Altbayern auslöst. Der altbayerische Nationalismus ist nicht expansiv, sondern von seinem Wesen her defensiv. Die Altbayern sind sich ihrer Kultur und Politik bewußt, denken jedoch nicht daran, die Kultur und Politik Norddeutschlands offen zu befehden. Es ist für sie vielmehr eine Art kategorischer Imperativ, Bayern vor dem kulturellen und politischen Einfluß des Nordens zu schützen. Da Strauß ein Kind Bayerns ist, prägt sein Deutsch-Nationalismus und europäischer Internationalismus den bayerischen Nationalismus, was für die westdeutsche Linke ein ausgesprochen glücklicher Umstand war. Der eiserne Mann, eine Art ›westdeutscher Thatcher‹, ruft bei den Norddeutschen am ehesten eine Form respektvoller Distanz hervor.«

Die Welt, Nr. 420, November 1980

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