29. Die „Maria vom Siege“ und die Wissenschaft

Durch eine Doktorarbeit, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau eingereicht und nach erfolgreichem Abschluss öffentlich prämiert worden war, sah ich mich 1989/90 veranlasst, als Sozialwissenschaftler und Mitglied der Fakultät wissenschaftlich nachzubohren, was es mit der in der Doktorarbeit beschriebenen Ikone der Passauer „Maria vom Siege“ auf sich hatte. Sie war 1978 von der vormaligen Philosophisch-Theologischen Hochschule übernommen worden und hatte seither als Siegel, Logo und Identitätsikone gedient. Meine sozialwissenschaftliche Intervention (plakativ: ein „Erschütterungs-experiment“) und die Aufdeckung universitätsinterner und Passauer Sinnwelten stießen auf heftigen Widerstand und lösten einen erbitterten Streit aus. Über mich ergoss sich zweimal ein aufschlussreicher „Shitstorm“. Der Doktorand Conrad Lienhardt hatte mit seinen historisch-ikonologischen und ikonografischen Ergebnissen unversehens eine akademische Expertise und die Steilvorlage für eine Untersuchung geliefert: Welchen Bedeutungsgehalt mochte die katholische „Maria vom Siege“ im Logo der Universität Passau wohl heute noch haben.?

Mein ethnomethodologischer Ansatz, seine methodische Durchführung und die Ergebnisse meiner sozialwissenschaftlichen Intervention und „Aktion“ sowie die Kritik daran sind an anderer Stelle publiziert (Mintzel 1990a, 1990b, 1991, 1992, 1994, 1996; Wasner 1998, 2000). Bei der Schilderung dieses Ereignisses aus meiner Biografie will ich nicht ein weiteres Mal meine wissenschaftlichen Untersuchungen ausbreiten, sondern vielmehr meine persönlichen Erlebnisse schildern, die dieses „Abenteuer Wissenschaft“ mit sich brachten. Ich werde Rösser und Reiter nennen, die bei diesen zum Teil krassen Wertkollisionen gegeneinander antraten. Einer meiner britischen Kollegen, Professor Gordon Smith, der an der London School of Economics Politikwissenschaft und politische Zeitgeschichte lehrte, fragte mich auf einem Passauer Symposion: „Alf, Passau is a beautiful city. But what is under the surface?“ Meine Expeditionen in das katholische, sozial-moralische Milieu und zu den „Ethnien“ der Passauer Universität kosteten mich viel Kraft und erforderten eine stabile psychische wie physische Konstitution. Der „Passauer Madonnen-Streit“ wäre nichts für konfliktscheue Forscher gewesen. Solche anstrengenden Expeditionen in das Innenleben einer Universität sind nur für erprobte Abenteurer empfehlenswert. Forscher auf mittleren Universitätsrängen wären von den honorigen Herren Lehrstuhlinhabern und kleineren Chargen kurzerhand als „Schandflecken“ von der schönen Fassade der Universität „weggeputzt“ worden. Es gab Kollegen, die mich angesichts der Angriffe besorgt fragten: „Herr Mintzel, wie halten Sie das nur aus!?“

Der wissenschaftliche Sündenfall: Die „schöne Maria“

„Orte des Soziologen sind alle Plätze der Welt, wo Menschen mit Menschen zusammentreffen (…) Nichts was Menschen treiben, ist ihm zu hoch oder zu gering, zu langweilig oder zu lästig“ (Peter L. Berger).

Welche Sinnwelten lassen sich hinter einem Logo aufdecken, das aus dem religiös-konfessionellen Bereich stammt und von einer neu gegründeten Universität angeblich als rein dekoratives Identitätszeichen eingeführt worden ist? Mit welchem empirisch-analytischen Instrumentarium lassen sich die möglichen Sinnwelten dechiffrieren? Ich sah mich als Sozialwissenschaftler und Kenner der katholischen, sozial-moralischen Milieus von der ignoranten Behauptung des Gründungspräsidenten veralbert und für dumm verkauft, das Emblem befördere keine religiös-konfessionellen Botschaften mehr, es sei ein völlig glaubensentleertes Dekor. Im September 1990 verteidigte der oberste Repräsentant der Wissenschaft in einem zweistündigen Gespräch, zu dem ich die kurz zuvor mit 3000 Deutschen Mark prämierte Doktorarbeit über die Ikone mitgebracht hatte, das Logo der Universität auf eine so fragliche, um nicht zu sagen engstirnige Weise, dass ich mich als Sozialwissenschaftler herausgefordert sah. Er versteifte sich auf die Behauptung, die Marienikone sei ein Dekor ähnlich wie der Mercedesstern. Argumente der Wissenschaftslehre und -geschichte ließ er nicht gelten. Nach zwei Tagen Bedenkzeit beschloss ich, mit einer sozialwissenschaftlichen Intervention aufzudecken, was es mit dem Logo so alles auf sich habe.

Bei ihrer Eröffnung im Jahre 1978 hatte die neue Universität Passau zwei Probleme ihrer akademischen und gesellschaftlichen Repräsentation zu lösen. Sie musste nach innen zur Bildung einer „corporate identity“ ein Zeichen, Logo oder Wappen finden, das geeignet war, von allen Mitgliedern der Universität als symbolische Repräsentation akzeptiert und gebraucht zu werden. Dieses musste zudem nach außen zur gesellschaftlichen Repräsentation der Universität regional, landes- und bundesweit brauchbar sein. Gewöhnlich wird der symbolischen Repräsentation einer Organisation oder Institution keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt. Diese scheinbar nebensächliche Angelegenheit ist jedoch, wie viele Beispiele zeigen, von großer funktionaler Bedeutung, zumal bei Neugründungen. Ein Markenzeichen soll der Identität und Unterscheidung dienen und innere und äußere Identifikationsbedürfnisse erfüllen. Zumindest beim Gründungsakt einer neuen Institution wird die Einführung eines Markenzeichens zu einem hoheitlichen Akt mit Langzeitwirkung. Einmal gewählte werden gewöhnlich nicht mehr ausgetauscht. Sie sollen sich auf Dauer einprägen.

Die Leitung der neu gegründeten Universität Passau übernahm in einem Hauruck-Verfahren das Emblem der vormaligen katholischen Philosophisch-Theologischen Hochschule Passau, die in die neue Universität als katholisch-theologische Fakultät integriert worden war. Im Zentrum des runden Emblems steht die „Maria vom Siege“. Es war wohl ein reflexionsarmer Traditionalismus, der wie selbstverständlich auf diese vermeintlich alteingeführte Vorgabe zurückgreifen ließ. Später wurde hinter vorgehaltener Hand zugegeben, dass man sich nicht viel dabei gedacht hatte. Der Gründungssenat hatte die „schöne Maria“ in fünf Minuten zum Siegel und Logo gemacht und in den Universitätshimmel gehoben. Die „Madonna“ suggerierte auch Altehrwürdigkeit und Unantastbarkeit. Glaube und Vernunft schienen wunderbar versöhnt zu sein. Dann kam es 1989/90 zum wissenschaftlichen Sündenfall, der den sogenannten Passauer Madonnen-Streit auslöste.

Siegel und Logo der Universität Passau von 1978

Mit seiner typengeschichtlichen Untersuchung hatte der Doktorand der Universität unabsichtlich „Aufklärungs-unterricht“ erteilt. Die Laudatio, die aus Anlass ihrer Prämierung gehalten wurde, ließ aufhorchen. Es kam heraus, dass diese schöne Madonna historisch-ikonologisch eine martialische Bedeutung hat. Sie stellt eine Variante der „Immaculada militante“ der spanischen Inquisition dar. Das katholische Kultsymbol symbolisiert den Suprematie- und Primatsanspruch der katholischen Kirche, die römisch-katholische Orthodoxie und Dogmatik, die Miterlöserschaft Mariä im Heilsplan, die angeblich unbefleckte Empfängnis und die selbst unbefleckt empfangene Maria, die Ecclesia triumphans gegen Ungläubige und Häretiker und den Sieg der Gegenreformation über die Protestanten. Die Ikone war das „militante Triumphbild der Gegenreformation schlechthin“ (Conrad Lienhardt). Es mag ja sein, dass einzelne Bedeutungsinhalte sich inzwischen verflüchtigt hatten, doch wurde in der Universität die Frage laut, ob dieses Symbol für eine 1978 neu gegründete, überkonfessionelle und konfessionsneutrale staatliche Universität wirklich passend sei. Welche Wappen und Embleme alte Universitäten in den Zeiten der Glaubenskämpfe eingeführt hatten, steht auf einem anderen Blatt. Die wissenschaftliche Neugier war geweckt und der Widerspruch dazu.

Es kam noch eine Peinlichkeit hinzu: Der universitätsamtliche Devotionalienhandel mit der Ikone. Diese Praxis hatte groteske Formen angenommen. Der für alle Veröffentlichungen und Briefköpfe vorgeschriebene Gebrauch der Ikone wurde begleitet von der Verteilung und feierlichen Übergabe von „Identitätsprodukten“ wie Anstecknadeln, Autoplaketten, Wimpeln, Herrenschlipsen, Damentüchern, Wachsgüssen, Döschen, Bierkrügen und Glashumpen – allesamt mit diesem Glaubenssymbol verziert. Die Universität Passau fungierte gewissermaßen als „marianisches Hilfswerk.“ Je nach Würde und Anlass gab es in Wachs gegossene Marien in drei Größen. Die „Maria vom Siege“ hatte auf dem blaufarbigen Grund der Herrenschlipse sinnigerweise einen Ehrenplatz etwa eine Handspanne über der erhabenen Männlichkeit des Geehrten und Gelehrten. Von trinkfreudigen Universitätsmitgliedern wurde mit Krügen und Humpen angestoßen, die mit der „Reinen“ und „Unbefleckten“ geschmückt waren. „Prost Maria!“ Die Spitze der Geschmacklosigkeiten, aber passend zum einstmaligen jesuitischen Kampfsymbol, war ein mehrfarbiger Brustschmuck, eine Ordensspange mit kleinen (Marien-)Anhängern in der Art, wie sie hochdekorierte Generäle an ihren Uniformjacken tragen. Eine besonders sinnvolle Auszeichnung für verdiente Marienkämpfer?

Die Alma Mater Passaus vereinigte mit ihrem Devotionalienhandel das Heilige und Profane zur akademischen Imagepflege und aus schnöden Gründen des Marketings. Die Madonna sollte die lokale und regionale Spendenfreudigkeit anregen. Die „Siegerin in allen Schlachten Gottes“ war mit dieser Praxis in säkularer Sicht zu einem Spottbild ihrer selbst geworden. Die Universität trug – zu ihrer Schande unwissentlich – kräftig zur Sinnentleerung bei. „Anything goes“ war die postmoderne Devise. Das war auf Grund gewohnter Devotionalien-Praxis nicht einmal glaubenstreuen Katholiken aufgefallen.

„So ist es nun einmal hier üblich.“ Es bedurfte eines rabiaten universitätsöffentlichen Widerspruchs, um diesem Treiben ein Ende zu setzen. Universitätsmitglieder fragten, ob die Universitätsleitung die Institution des Wissens und Erkennens zu einem akademischen Altötting verkommen lassen wolle.

Begründungsnotstand und fragliches Traditionsargument

Dem Argument des Missbrauchs religiös-konfessioneller Symbole wurde von Seiten der Universität im Begründungsnotstand prompt das Traditionsargument entgegengesetzt. Die Ikone sei seit langem im Emblem der vormaligen katholischen Philosophisch-Theologischen Hochschule Passaus geführt worden. Aber auch dieses Gegenargument war nicht stichhaltig, denn diese hatte das Emblem mit der Ikone erst 1950, im „Heiligen Jahr“ der katholischen Kirche, zur Zeit des 74. Deutschen Katholikentages in Passau eingeführt. Es war das Jahr, in dem auch das zweite Mariendogma verkündet worden war, wonach die verstorbene Maria „mit Leib und Seele in die Prächtigkeit des Himmels aufgenommen“ worden sei. Das Universitätslogo war folglich alles andere als ein alteingeführtes. Die steinerne Skulptur der „Immaculada militante“, die in einer Mauernische des alten Passauer Jesuitenkollegs steht, war zuvor in kein Wappen oder Logo aufgenommen worden. Die Philosophisch-Theologische Hochschule hatte sich bis 1950 des bayerischen Staatswappens bedient. Die Verteidiger hatten mit ihrer falschen Zweckbehauptung die „schöne Maria“ zu einer akademischen Lügen-Maria gemacht. Darüber schwieg sich später das aus Anlass der 30-Jahre-Feier in der Universität kursierende „Informationsblatt“ geflissentlich aus. Der Universitätssenat hatte in aberwitziger Selbstherrlichkeit geglaubt, mit seiner Definition die religiös-konfessionelle Bedeutung der „Maria vom Siege“ aushebeln zu können, die eine Weltkirche in ihrem Katechismus für jeden nachlesbar höchstamtlich festgelegt hatte. Man wollte nicht einsehen, dass der säkulare Charakter wissenschaftlich begründeten Weltwissens mit diesem religiösen Symbol nicht (mehr) vereinbar war.

Selbst dann, wenn historisch-religiöse Bedeutungsgehalte sich verflüchtigt haben sollten, war die Ikone 1953/54 und 1987/88 erneut höchstkirchenamtlich religiös aufgeladen worden. In der Geschichte der römisch-katholischen Kirche wurden zweimal sogenannte marianische Jahre ausgerufen, von Pius XII. das von 1953/54 und von Johannes Paul II. das von 1987/88. Das zweite Mal stand im Zusammenhang mit dem 70. Jubiläum des Marienwallfahrtsortes Fatima und sollte dazu dienen, „auch all das erneut und vertieft zu bedenken, was das Konzil über die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche gesagt hat.“ Papst Johannes Paul II. hatte zuvor am 25. März 1987 den Sinn des „Marianischen“ dargelegt: „Hierbei geht es nicht nur um die Glaubenslehre, sondern auch um das Glaubensleben und folglich auch um echte >marianische Spiritualität<, wie sie im Lichte der Tradition sichtbar wird, und insbesondere um die Spiritualität, zu der uns das Konzil ermutigt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Marianisches Jahr – 13.03.2016).

Die Passauer Universitätsleitung, voran der Gründungspräsident, hielten an ihrer Version fest, wonach das alles für das Logo der Universität Passau nicht gelte. Sie verliehen der Ikone der „Maria vom Siege“ „im Lichte der Tradition“ ihre besondere universitätsamtliche „Spiritualität“, nämlich eine Zierde der Wissenschaft zu sein und dem akademischen Umtrunk zu dienen. Von welcher Seite her und unter welchen Gesichtspunkten man immer auch den universitätsamtlichen Gebrauch betrachtete: er war reflexionsarm und stupide. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Heinrich Oberreuter nannte die Wahl dieses Logos und den Umgang mit ihm eine „institutionalisierte Gedankenlosigkeit.“

VATICAN magazin Jg. 4/ Heft 5 – Mai 2010: Die Kirche, die Krise und der Drache. Nur die Frau kann helfen. Zurück zu Maria!

Spätestens mit dem wissenschaftlichen Sündenfall der unbeabsichtigten Aufklärung war 1989/90 evident, dass das Universitätswappen weder nach innen im Sinne einer „corporate identity“, noch im Außenverhältnis als Markenzeichen gesellschaftlicher Repräsentation weitergeführt werden konnte. Die „Maria vom Siege“ war obsolet geworden. Sie hatte im Innenverhältnis der Universität ihre allgemein verbindliche Symbolkraft verloren – sofern sie überhaupt bestanden hatte. Akzeptanz und Konsens waren zerbrochen. Ihre gesellschaftliche Repräsentationsfunktion nach außen war in Widerspruch zur kognitiven Leitfunktion der Universität geraten. Die Situation war äußerst prekär, denn es war klar, dass mit einer Rücknahme des Logos vor allem im Außenverhältnis der Universität lokale und regionale katholische Identitätsbedürfnisse verletzt würden.

Titelseite der „lichtung ostbayerisches magazin, Januar/Februar 1991

Mittel der Aufdeckung: Satire oder Antrag auf Abschaffung?

Ich hatte zunächst an eine schriftstellerische Attacke gedacht und eine bissige Satire auf die Universitätsmadonna und ihre Anhänger verfasst. Der Titel der Satire lautete:“ Die Marienuniversität zu Passau. Oder: Schenkendes Verströmen von Gedankenlosigkeit. Eine sarkastische Denkmalnach-Schrift. In vier Teilen. Im Dienste der Wissenschaft allgemeinverständlich verfasst von Alf Mintzel.“

Nach dem zweistündigen Gespräch, das ich mit dem Präsidenten und dem Kanzler der Universität geführt hatte, war ich zunächst entschlossen, die Satire als Sonderheft des ostbayerischen Magazins „lichtung“ zu publizieren. Hubert Ettl, der Herausgeber, hatte schon alle drucktechnischen Vorbereitungen getroffen. Die Druckmaschinen sollten schon am nächsten Morgen anlaufen, als mich in der Nacht ein Kollege aus der juristischen Fakultät anrief und mir riet, von einer Publikation abzusehen und einen anderen Weg zu gehen. Ich hatte den Strafrechtler Prof. Dr. Bernhard Haffke gebeten, den Text der Satire unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Sein Ergebnis war: Die Satire böte Anlässe zu Beleidigungsklagen, weil die Protagonisten allesamt namentlich bekannt und religiöse Empfindlichkeiten berührt seien. Form und Text der Satire würden es Gegnern, vor allem aufgebrachten Glaubenshütern, leicht machen, von der Streitsache abzulenken. Die eigentliche Absicht, auf die Fragwürdigkeit der Universitätsikone hinzuweisen und ihre Abschaffung zu erreichen, käme durch das Medium Satire nicht zum Tragen. Kollege Haffke empfahl mir, einen wohlbegründeten förmlichen Antrag bei den zuständigen Gremien zu stellen, das Emblem oder was auch immer es sei, abzuschaffen. Er würde sich einem Antrag anschließen. Ich zog noch in derselben Nacht den Druckauftrag zurück. Wir beide formulierten einen mehrseitigen Antrag, in dem wir in sechzehn Punkten wissenschaftshistorisch, wissenschaftstheoretisch und erkenntnistheoretisch ausführlich begründeten, warum diese Ikone grundsätzlich im Widerspruch zu den Aufgaben einer konfessionsneutralen freien Institution der modernen Wissenschaft steht. Unser Antrag vom 4. Oktober 1990 löste in der Universität und in der Öffentlichkeit heftige Kontroversen aus und brachte im katholischen, sozialmoralischen Milieu die konfessionellen Bedeutungsinhalte des „Dekors“ zum Vorschein.

Es bedurfte härtester wissenschaftlicher Methoden und einer aufwendigen wissenschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit, um einen universitätsamtlichen Entscheidungsprozess einzuleiten und skandalöse Diffamierungen und üble Drohungen abzuwehren. Eine vorher angekündigte Initiative, die das Universitätslogo unverbindlich zur Diskussion gestellt und eine Abschaffung nur empfohlen hätte, wäre im Sand verlaufen. Nur ein Überraschungscoup und eine amtlich formale Herausforderung ließen erwarten, über Zustimmung und Widerstände Aufschlüsse über den „mentalen Kitt“ der Ikone zu erhalten. Die desinteressierten Stummen, die stummen Interessierten, die offen bekennenden und stillen Marienverehrer und andere Kategorien von Meinungsträgern mussten universitätsintern und extern zum Reden gebracht werden.

Fragwürdige Vereinnahmungen der Universität Passau

Der Universitätspräsident bedauerte 2008 in einem universitätsamtlichen Schreiben an alle „Damen und Herren Professorinnen und Professoren“ unter seinem amtlichen Briefkopf, dass aus der Universität „eine stetig sinkende Zahl von Teilnehmern an der Fronleichnamsprozession“ zu beobachten sei. Er bat „aus eigenem Entschluss“, „wieder um eine vermehrte Teilnahme, um unsere Verbundenheit mit Kirche und Stadt zum Ausdruck zu bringen.“ Zwar fügte er hinzu, man möge sein Schreiben als gegenstandslos betrachten, „falls man sich davon nicht angesprochen“ fühle, aber der höchstamtliche Brief war auf Kosten des Universitätsetats an die gesamte Kollegenschaft versandt worden. War es Aufgabe eines Universitätspräsidenten, also des höchsten Vertreters aller Wissenschaftler, auf dem Amtsweg zu einer vermehrten Teilnahme an der Fronleichnamsprozession aufzurufen? Was der einen Seite recht ist, müsste der anderen Seite konsequenter Weise billig sein. Doch wurde bei so viel freundlicher Verbundenheit nicht einmal die amtlich-neutrale Äquidistanz zu den Kirchen gewahrt. Selbstverständlich wurden zum Reformationsfest die Kolleginnen und Kollegen nicht gebeten, wieder mehr am Gottesdienst teilzunehmen. Hinter vorgehaltener Hand wurde darüber geschimpft oder gelacht, doch niemand wagte es, dagegen offen, geschweige denn öffentlich etwas zu sagen. Neuerdings lässt sich die 2016 gekürte Universitätspräsidentin, eine Protestantin, wieder aus Tradition, nach der vom Generalvikariat vorgegeben standesgemäßen Ordnung in die Fronleichnamsprozession einordnen. Ökumene nach katholischer Art!

Charakteristisch für den religiös-konfessionellen Stumpfsinn und den reflexionsarmen Traditionalismus der damaligen Leitungsgremien der Universität war, dass sie es im Jahre 1978 bei der Eröffnung der Universität nicht einmal zustande brachten, die Konfessionen in einem ökumenischen Gottesdienst zusammenzuführen. Die Katholiken feierten in der St. Nicolai Kirche oben im Kirchenschiff, die Protestanten durften unten in der Krypta der Kirche ihren Gottesdienst zelebrieren. Kein ökumenisches Miteinander, sondern ein traditionsbeschwertes Nebeneinander. Kein Wunder, dass es fürderhin mit der amtlich-neutralen Äquidistanz zu den Kirchen schlecht bestellt war und die Selbstdarstellung der Universität bis zum „Sündenfall“ der Wissenschaft „marianisch“ geprägt blieb. Bildpolitik wie in römischen Herrschaftszeiten. Katholische Professoren sagten es – entlarvend – offen und ehrlich: Sie fühlten sich hier wohl in ihrem Katholisch-Sein. Aber der Präsident und der zuständige Senat der Universität Passau blieben bei ihrer Meinung, dass dies alles nichts bedeute, und beharrten weiterhin auf dem universitätsamtlichen Gebrauch der „Maria von Siege“ als reines Traditionssymbol (PNP Nr. 51, 01.03.1991, S. 3). Es sollte allerdings künftig sensibler mit dem Logo umgegangen werden. Professoren und Fakultäten wurde es freigestellt, das Emblem zu verwenden oder nicht, was zu einer kuriosen Vielfalt eigener Kreationen führte. Mit dieser scheinliberalen Senatsentscheidung geriet die „Maria vom Siege“, ich personifiziere das symbolische Abstraktum, bereits in die Defensive.

Opulentes Abendmahl – Die Tische des Bischofs waren reich gedeckt

Der Bischof von Passau lud bis 2011 alljährlich, so um den Tag „Mariä Empfängnis“ herum, alle Professorinnen und Professoren samt Partnern zu einem opulenten Abendmahl ein. Die hochamtliche Einladung zum Sankt Nikolaus-Treffen erfolgte, unbemerkt von der Öffentlichkeit, nur an die gesamte Professorenschaft und an eine handverlesene Schar aus der Universitätsverwaltung, über einhundert Personen an der Zahl. Die Tische des Bischofs waren jedes Mal reich gedeckt – nach dem Matthäus-Prinzip „Denn wer da hat, dem wird noch gegeben!“ Die fleißigen Mitarbeiter der Universität mussten draußen bleiben. Das alles wäre ja verhältnismäßig harmlos gewesen, wären Kritiker nicht für dumm verkauft worden. Wie könne man nur glauben, so fragten Kollegen, dass die Universitätsmadonna noch irgendwelche religiösen Botschaften mit sich trüge. Wer auf die katholischen Traditionen und auf die Volksfrömmigkeit in Bayern verwies, wurde zum Narren gehalten. Man musste schon mit Blindheit geschlagen sein oder im Beweisnotstand zur Zwecklüge greifen, um in Bayern die religiös-konfessionelle Bedeutung einer „Madonna“ abzustreiten. In der „Passauer Neuen Presse“, in der „Passauer Woche“, im Bistumsblatt und in anderen Presseorganen wurde vor allem in Zeiten religiöser Hochfeste ausführlich über Prozessionen, Marienandachten und Pilgerfahrten berichtet, bei denen die Gottesmutter um Hilfe gebeten wurde. Die Passauer Bischöfe bekundeten oftmals ihre „innige Verbundenheit mit Maria“. Im katholischen Bayern wird täglich unzählige Male das „Ave Maria“ gebetet. Die universitätsamtliche Blindheit oder Verlogenheit beschädigte eine Institution freier Wissenschaft. Die „Maria vom Siege“ wurde verstohlen Schritt für Schritt aus der Prächtigkeit des Universitätshimmels entfernt und zu ihrer Rettung stillschweigend an die Staatliche Bibliothek Passau überführt – ein Stoff für eine Satire. Es ließ sich „unter der schönen Maria“ zwar gut forschen, aber bei der Erforschung der sozialen und religiös-konfessionellen Wirkkraft dieses Logos hörte für viele Passauer und Kollegen die Freiheit der Wissenschaft auf.

Die Universität mag, wie die „Bayerische Staatszeitung“ (Nr. 10, 08.03.1991, S. 10) über den Senatsbeschluss geschrieben hat, „mit dem Kompromiss leben – nach jenem Prinzip, nach dem wir alle mit vielen Dingen leben: nicht hinschauen; wenn wir hinschauen: nichts wahrnehmen; wenn wir etwas wahrnehmen: nichts dabei denken. Von einer Universität darf man allerdings mehr erwarten.“

Kollegen scheuten nicht vor öffentlichen Diffamierungen zurück

„Magnifizenz, lieber Herr Pollok,

als ersternannter Professor unserer Universität, aber auch als Stadtrat, dem daran liegt, dass Passau und seine Universität nicht in seltsames Gerede geraten sowie als Rechtshistoriker, der die weiter als nur ins 18. Jahrhundert reichende wirklich liberale Tradition unserer Bischofsstadt kennt, darf ich zur Ernüchterung der eventuellen Diskussion im Senat über o. g. Gegenstand [Emblem unseres Hauses] eine alphabetische Liste von Emblemen deutschsprachige Universitäten vorlegen:

Bamberg. Heiliger Bischof, herrscherlich

Basel, reformierter Staat: Muttergottes mit Kind, Krone (Königin!) und Herrscherstab

Heidelberg: Der erste Vorgänger des Papstes (St. Petrus) vor ihm kniend zwei Ritter, einer mit Rautenwappen (Wittelsbach, Bayern!) und Löwenwappen Welfen Pfalz)

Kiel: Antike Gottheit des Friedens

Leipzig früher: Zwei Heilige: Laurentius mit Rost und Joh. Bapt. {[gemeint war Johannes der Täufer – A. M.] mit Schaferl (Das wäre mein Vorschlag für unser künftiges Siegel – im Gedenken an die beiden Initiatoren des jüngsten Bildersturmes – für den Fall, dass sie Erfolg haben sollten!)

München: Madonna als Königin (!) (mit Krone) und Kind

Münster: Wie Basel

Osnabrück: Madonna als Königin (!), Kind und Herrscherstab, erster Vorgänger des Papstes (St. Petrus) und Kaiser

Saarbrücken: Eule (das wäre mein Ersatzvorschlag)

Straßburg: früher einmal Joh. Bapt. [gemeint war Johannes der Täufer – A. M.]

Tübingen: Christus als Weltenherrscher mit Reichsapfel, segnend

Wien: Muttergottes mit Kind und Engeln, darunter ein von diesen ungestört lehrender Professor mit Studenten!

Würzburg: Muttergottes mit Kind und Herrscherstab (Königin!)

Zürich, reformierter Staat: Kirchenfassade mit Jahreszahl: 1833

Als eine möglicherweise durchaus aktuelle, natürlich unverbindliche, weitere Deutung unseres derzeitigen Emblems darf ich die Frau im 12. Kapitel der Apokalypse des hl. Johannes vorschlagen. Zu weiteren Ausführungen bin ich wegen Examensbelastung (Staats- und Fremdsprachenprüfung) momentan nicht imstande. Den beiden militanten Kollegen gilt im Hinblick auf ihre freie Zeitkapazität und ihr Problemfindungsbewusstsein kollegiale Ver- und Bewunderung.

Verbindliche Empfehlungen und gute Wünsche Ihr ergebener gez. Michael Kobler.

Kopien an die Herren Dekane die Herren Kollegen der Jur. Fak. und an die PNP [Passauer Neue Presse]“

Was in jedem kulturwissenschaftlichen und historischen Seminar zurecht bemängelt würde, erlaubte sich der Rechtswissenschaftler Kobler ohne Skrupel. Er führte mit dem Schein wissenschaftlicher Seriosität formalistisch eine bloße Auflistung in die Diskussion ein. Weder nannte er die Gründungsdaten der von ihm benannten Universitäten, noch setzte er seine 15 Beispiele ins Verhältnis zur Gesamtzahl der knapp 140 Universitäten und Hochschulen, die in der von ihm benutzten Quelle genannt sind. Auch setzte er sich nicht einmal auch nur im Ansatz mit den historisch-konfessionellen Bedeutungsinhalten der „Maria vom Siege“ auseinander. Kobler unterschied nicht nach Gründungszeiten und historisch kulturellen Zeitumständen, nicht nach einstmaligen dynastisch-territorialen Verhältnissen, nicht nach Trägerschaften und dem heutigen öffentlich-rechtlichen Status neuer Universitäten. Mit seiner Auflistung synchronisierte, simplifizierte und vermischte der Rechtshistoriker wissenschaftlich unhaltbar ganz unterschiedliche Zeiten, Embleme, Trägerschaften und historische Konstellationen religiös-konfessioneller Mächte. Er ignorierte die Entwicklungen der Wissenschaften und die moderne Wissenschaftslehre. Er setzte die zum Teil noch mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Beispiele mit viel späteren und jüngsten Universitätsgründungen gleich. Engen wir die historisch differenzierende und wissenschaftliche Betrachtungsweise auf Mariendarstellungen in Universitätswappen, Siegeln und Emblemen ein, dann wird Koblers Auflistung noch fragwürdiger. Von den insgesamt zehn Universitäten, die in ihrem Wappen/Siegeln/ Emblemen eine Madonnendarstellung aufweisen, sind fünf älter als 400 Jahre, zwei älter als 160 Jahre. Ein Beispiel: Die Universität Würzburg war 1402 „durch den apostolischen Stuhl“ errichtet worden, „auf dass ebendort“, wie es in der Gründungsurkunde heißt, „der Glaube selbst verbreitet und das ungebildete Volk unterrichtet werde“. Universitäten waren damals und erst recht in nachreformatorischen Zeiten Bastionen des Glaubens und der Glaubenskämpfe. Kobler verschwieg zudem, dass das Emblem der Universität Osnabrück ebenfalls wegen seines religiös-konfessionellen Charakters umstritten war. Er lieferte nicht nur einen fragwürdigen Diskussionsbeitrag und ebenso willkürliche Vorschläge, sondern überzog die Antragsteller mit Häme und Spott. Er nannte sie militante Bilderstürmer, mokierte sich über deren Problemfindungsbewusstsein und stellte sie süffisant als kleinkarierte Geister vor. Kobler wirkte mit seinem Leserbrief universitätsintern und in der Passauer Neuen Presse nach alten Mustern an der Diffamierung und Ausgrenzung mit und blies so in das gleiche Horn wie Passauer katholische Fundamentalisten und Glaubenshüter. Unfähig oder unwillig Dinge wahrzunehmen, die außerhalb seines bekenntnishaften Katholisch-Seins lagen, blendete er die moderne Wissenschaftslehre, andere wissenschaftliche Sichtweisen und säkulare Wahrnehmungen religiös-konfessioneller Bildwelten aus. In der Psychologie wird dieses Phänomen als „Tunnelblick“ bezeichnet, im Alltag ist von „Scheuklappen“ die Rede, in der Wissenschaft spricht man von „Fachidioten“. Von dem Instrument einer ethnomethodologischen Intervention in eine fragwürdige Praxis hatte der wohl nicht die geringste Ahnung. Kobler lieferte frei Haus, was es mit der Madonna auf sich hatte. Nicht wissenschaftliche Neugier und Erkenntniswille waren es, die ihn bewegten, seine Ausfälle gegen Kollegen von der Passauer Neuen Presse abdrucken zu lassen, sondern außengeleitete Gefallsucht. Stadtrat Kobler stilisierte sich als erstberufener Rechtswissenschaftler zum Hüter einer angeblich liberalen katholischen Kirchentradition und sammelte Stimmen mit populistischer Stimmungsmache. Er genoss den dumpf-spießigen Beifall katholischer Glaubenshüter. Koblers Haltung darf als exemplarisch angesehen werden. Die Auslassungen anderer katholischer Kollegen waren ähnlich verengt.

Ich hörte aus verschiedenen Ecken jene ebenso bornierten wie durchsichtigen Argumente gegen mein Engagement im Madonnen-Streit. „Dazu nimmt er sich Zeit, dafür hat er Zeit“. Die Infamie selbstgefälliger Kollegen kannte keine Grenzen. Sie diffamierten intern und extern allzu durchsichtig mit populistischen Unterstellungen und dienten sich dem Präsidenten als Berater und Verteidiger an. Die Anfangs-Idylle der Passauer Universität war vorbei.

Ich hatte mit allerlei Diffamierungen und Praktiken der Ausgrenzung fest gerechnet. Schon im Vorfeld meiner Erkundungen war deutlich geworden, dass es mit dieser „Maria“ extern und universitätsintern eine eigene Bewandtnis hatte. Ich wusste, dass das Logo nur so lange harmlos war, wie es nicht infrage gestellt wurde. Mir war klar, welche Brisanz der Streit im Kontext des niederbayerischen und Passauer katholischen sozial-moralischen Milieus in dem Moment gewinnen konnte, in dem das Logo zur „Disposition“ gestellt wurde. Der Verdacht einer unterschwelligen konfessionellen Vereinnahmung der Universität wurde im Verlauf der Auseinandersetzungen von den Gegnern selbst bekräftigt. Es kam wie erwartet, das Milieu lieferte prompt den Beweis und Realsatire. Passau war ja als besonders fruchtbarer Nährboden für Kabarett und Satire bundesweit bekannt.

Liberale Tradition ?

Der unverdächtige Chronist der katholischen Bildungsinstitutionen Passaus, Franz Xaver Eggersberger, ein Professor der Theologie und Kenner dieser Tradition, beschreibt und beurteilt in seiner Geschichte der Philosophisch-Theologischen Hochschule Passau die Leistungen dieser katholischen Bildungsanstalt für Geistliche so:

Bildungsarbeit habe ganz „im Dienste der Gotteserkenntnis“ gestanden, nicht im Dienst humanistischer Bildung (Eggersdorfer 1933, 46). Die theologische Erkenntnislehre habe den erlaubten geistigen Wissensdrang bestimmt und eingegrenzt. Nach den Aufzeichnungen der Zöglinge „hörte man von Newton nicht einmal den Namen“ (Eggersdorfer 1933, 106). Mit der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 und der Erhebung des Kollegs zu einer Akademie war dann zwar „eine gewisse Säkularisierung der Lehrkanzeln“ eingetreten (Eggersdorfer, 167), aber die liberale „Aufklärungsblüte“ hatte nur kurz gewährt. Der fürstbischöflichen Obrigkeit waren die Aufklärung“ und geheime Freigeisterei ihrer „Hochfürstlichen Akademie“ bald zu weit gegangen. Zur Hebung der Religiosität und Moralität“ der Studierenden hatte sie am 24. September 1794 vier Professoren von ihren Lehrkanzeln und aus dem Lande gejagt. „Es war bekannt geworden, daß die (vier) in verschiedenen Wirtschaften (…) lästerliche Reden über Freiheit und Gleichheit, über Ablaß und Transsubstantion ausgestossen, daß sie für die Französische Revolution geschwärmt, daß sie anonyme Pasquillen verbreitet hätten“ und  derlei Verruchtes mehr (Eggersdorfer 1933, 226). „Die revolutionäre Aufklärung konnte in Passau keinen Boden gewinnen“ (Eggersdorfer 1933, 227), meinte der unverdächtige Chronist der Passauer Bildungsinstitutionen.

Jede freigeistige Regung war schon im Keim erstickt worden. „Maria hat geholfen!“ Die Universitätsleitung und Kollegen verfingen sich in einem Netz der Unkenntnis.

Katholisch geprägter wertkonservativer Traditionalismus

Besonders auffallend war, dass die meisten Vertreter der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zäh und demonstrativ am Gebrauch des Logos festhielten. Sie erwiesen sich als besonders resistent gegen andere Sichtweisen und boykottierten eine rationale kritische Auseinandersetzung mit der symbolhaften Selbstdarstellung der Universität. Der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Absatzwirtschaft und Handel, Prof. Dr. Helmut Schmalen, verteidigte in seiner Amtseigenschaft als Vizepräsident laut Passauer Neue Presse das Marienlogo unter werkkonservativen Gesichtspunkten so: Er „befürchte Einbußen im Wert des Emblems als Traditionssymbol, wenn es jeweils dem wechselnden Zeitgeist angepasst werde“ (PNP Nr. 249, 27.10.1990, S. 33). „Scharfsinniger“ hätte es auch nicht der Bischof in einer Sonntagspredigt ausdrücken können. Schmalen formulierte mit dieser Begründung eine in der Universität Passau wohl weitverbreitete, betont wertkonservative Grundhaltung, die nun, nachdem der Streit entfacht worden war, gegen die geforderte Abschaffung mobilisiert wurde. Gründungspräsident und Vizepräsident waren von Beginn an Gegner des Antrages. Schmalen, zog auf Bergtouren informeller Universitätskreise über mich her und glaubte mich mit wertkonservativen Wortkeulen als Wissenschaftler niederschmettern zu können. Kollegen trugen mir zu, was ich nicht direkt zu hören bekam. Die kritische Funktion eines geläuterten Aufklärungsprogrammes schien dem betriebswirtschaftlichen „Macher“ zumindest uninteressant zu sein. War 1978 auf das vermeintlich alteingeführte Emblem einfach aus einer unterstellten und nicht infrage gestellten (katholischen) Tradition zugegriffen worden, ohne gründlich nachzudenken, so wurde es jetzt in säkularen Verteidigungsargumenten ausgesprochen wertkonservativ aufgeladen. Die mit dem Antrag vorgetragenen wissenschaftshistorischen, wissenschaftstheoretischen und religiös-konfessionellen Gründe für die Abschaffung wurden ignoriert. Das wissenschaftliche Personal, und nicht nur dieses, wurde von den Verteidigern des Logos anscheinend als eine wertkonservative Gesinnungsgemeinschaft gesehen. Unter ihrem Gründungspräsident Pollok verstand die Universitätsleitung die Universität Passau im Gegensatz zu den unruhigen linkslastigen Universitäten als eine wertkonservative, katholisch geprägte „Gegenuniversität“. Schmalen und andere Kollegen deuteten das Marienlogo im Sinne eines universitätspolitischen Gesinnungsprogramms um. Die bisherige „institutionalisierte Gedankenlosigkeit“ (Prof. Dr. Heinrich Oberreuter) wurde nun säkular-ideologisch aufgeputzt. Das Marienlogo sollte als „Traditionssymbol gegen den wechselnden Zeitgeist“ verstanden werden. Eine Reihe von Kollegen benutzte das Logo auch dann noch demonstrativ, als die Universitätsleitung schon begonnen hatte, es schrittweise und leise aus dem Verkehr zu ziehen. Es sah nach einer Art Trotzreaktion aus. Dem Mintzel zeigen wir es! Wir halten an unserer Madonna fest! Die Verteidiger wollten nicht wahrhaben, dass das Logo auch dann nicht mehr als „corporate identity“ dienen kann, wenn es wertkonservativ umgedeutet wird. Das verbissene Festhalten an dem fraglichen Logo konnte nicht durchgehalten werden. Schmalens Rettungsversuch schlug fehl.

Sponsoren aus der regionalen Wirtschaft, so wurde kolportiert, drohten der Universität mit dem Entzug von Geldmitteln, falls die Madonna aus dem Verkehr gezogen werde. Schließlich betrieb die Universität mit Madonnen-Devotionalien einen einbringlichen Handel. Die Universität liefe Gefahr, so wurde es von Mund zu Mund in Umlauf gebracht, Finanzmittel zu verlieren. In der lukrativen marianischen Vermarktung der Universität, die wohl die erbosten Professoren der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vor allem im Sinne hatten, offenbare sich, so schrieb die Bayerische Staatszeitung (Nr. 10, 08.03.1991, S. 10), „die Bodenlosigkeit der Misere“. Die Universität, die sich als Hüterin einer Tradition geriere, nähme ihr Symbol nicht ernst.

Die Universitätsleitung sah sich zum Handeln gezwungen und zog sich schrittweise aus der Affäre. Printmedien, darunter regionale und überregionale Tageszeitungen und DIE ZEIT, hatten mit ihrer kritischen Berichterstattung „nachgeholfen“. Die marianischen Identitätsprodukte, die „Devotionalien“, wurden schon zu Beginn des Streites aus dem Verkehr gezogen. Das Marienlogo wurde von Semester zu Semester ohne jede explizite Erklärung quasi klammheimlich aus den Vorlesungsverzeichnissen getilgt: Zunächst verschwand es vom Cover, dann von der inneren Titelseite, dann von weiteren Innenseiten. Es blieb allerdings bei dem Siegel mit der katholischen Kampfmadonna. Noch heute wird es zur Beurkundung eingesetzt. Die „schöne Maria“ wurde allerdings buchstäblich ins Wasser geworfen. Sie wird heute auf Briefpapier in einem Wasserzeichen versteckt.

.Die „Maria vom Siege“ verschwand leise und für die meisten unauffällig aus dem Universitätshimmel. Erst nachdem der Gründungspräsident 1997 abgetreten war, führte die Universität nach einem ersten missglückten Versuch 2003 ein neues, nun konfessionsneutrales Logo ein. Die Universität veränderte schrittweise ihr öffentliches Erscheinungsbild, führte im Jahre 2003 ein neues Logo ein und tilgte den Streit lautlos aus ihrer Geschichte. Erst im Sommer 2014 erklärte der neue Universitätspräsident Prof. Dr. Burghard Freitag öffentlich, dass die Universität Passau das „intellektuelle Gespräch mit den Religionen“ pflege.

Das neue Logo der Universität Passau von 2003

Der sogenannte Madonnen-Streit blieb zwar in den Köpfen alter Passauer Bürger hängen, das Gesprächsthema erschöpfte sich aber mit der Zeit. Für die nachgewachsene Wissenschaftlergeneration ist dieser Streit nur noch eine amüsante Legende.

Gleich zu Beginn der Auseinandersetzungen schlossen sich 40 Kollegen und wissenschaftliche Mitarbeiter dem Antrag auf Abschaffung an. Der Antrag hatte zum Nachdenken und zu einer Meinungsbildung herausgefordert. Es wurden immer mehr. Die beharrenden Kräfte und Gegner hatten wohl gehofft, die Forderung nach einer Abschaffung werde sich durch Nichtbeachtung erledigen und alles beim Alten bleiben. Ihre Rechnung konnte nicht aufgehen, weil selbst eine Minderheit, sofern sie eine geblieben wäre, in einer staatlichen konfessionsneutralen Institution des Wissens und der Wissensvermittlung in dieser grundsätzlichen Frage hätte nicht missachtet werden können.

Ich danke allen Kollegen und Mitstreitern, die mich in den Auseinandersetzungen stillschweigend, verdeckt und offen mit Rat und Tat unterstütz haben. Wir haben am Ende viel erreicht. Aus der Universität Passau ist eine wissenschaftlich leistungsstarke, interkulturelle Institution geworden, die internationales Ansehen genießt. Sie hat sich von dem örtlichen Traditionsmuff und seinem phrasenhaften Traditionalismus befreit, ihr inneres und äußeres Erscheinungsbild säkularisiert und sich betont interkulturell ausgerichtet.

2 Kommentare

  1. Lieber Prof. Dr. Mintzel,

    ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, auf mich hat das Ecperiment als Ihre Hilfskraft großen intellektuellen Spaß gemacht.

    Heute bin ich Spezialist für Publikumsverhalten im Internet. Was Sie damals als Methode gezeigt haben, war die fast schon visionäre Vorwegnahme und Analyse von viralen Kommunikationsmechanismen.

    Mit Zeitung und E-Mail als Trägermedium bedurfte es noch schwerer Zeichen als Auslöser, um diesen „Shitstorm“ auszulösen und zu so schneller Verbreitung zu bringen. Ich erinnere mich noch an unseren experimentellen Kommunikationsplan, der dann obsolet wurde, weil die Erschütterung schon bei 0 von 4 Stufen vollständig war.

    Heiute senkt die Kommunikationseinfachheit die Auslöseschwelle derart, dass für einen Shitstorm nur weitaus geringere Auslöser nötig sind. Die Mechanismen sind heute die gleichen, wie Sie diese damals beschrieben haben.

    Herzlichst
    Ihr Thomas Kaspar

    1. Lieber Herr Kaspar,

      besten Dank für Ihren Kommentar zum damaligen Passauer Madonnen-Streit (1990/91). Die öffentlichen und verdeckten Reaktionen auf meine Intervention waren sehr aufschlussreich und am Ende wirklich zielführend. Ihr Beurteilung aus kommunikationsanalytischer Perspektive im Internet ist interessant. Eigentlich bin ich mit fast 82 Jahren ein vordigitales Fossil, habe aber inzwischen dazugelernt. Für die Chronik der Stadt Hof/Saale , Band XI, (2017, im Erscheinen) habe ich vor zwei, drei Jahren einen umfangreichen Beitrag “Über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit” im Internet in Verlaufs- und Inhaltsanalysen vier Shitstorm-Wellen aus der Bevölkerung analysiert und beschrieben. Auf meine alten Tage finde ich es äußerst spannend, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen. Mit meinem Blog “Zwischen den Stühlen war viel Platz. Überlebensgeschichten eines Grenzgängers” habe ich mich erneut in ein digitales Abenteuer eingelassen, mit dem ich in Echtzeit viele User erreiche und auch auf alte Bekannte treffe.

      Viele Grüße
      Alf Mintzel

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