31. Selbstbeobachtung, Selbstexperiment, luzide Träume

„Herr Mintzel, wie halten Sie das aus!?“ So hatten mich wohlwollende Kollegen gefragt und indirekt zugegeben, dass sie den psychischen Strapazen eines solchen Streites kaum gewachsen gewesen wären. Hatte die Frage des alten Numismatiker Prof. Dr. Hans-Jörg Kellner, ob das Problem wirklich den großen Aufwand an Geist, Zeit und Mühe gelohnt hat, nicht doch ein größeres Gewicht, als ich es eingestehen wollte? Zu den schwierigen Seiten einer wissenschaftlichen Tätigkeit gehört der Umgang mit Kritik. Jeder Wissenschaftler weiß und bekennt es: Kritik und Kontrolle sind das Salz der Wissenschaft. Wer ein gewisses Maß kompetenter und sachlicher Kritik nicht zu ertragen vermag, taugt nicht zum Wissenschaftler. Max Webers Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ hat auch in dieser Hinsicht nichts an Aktualität eingebüßt. Ich will es mir deshalb nicht zu leicht machen und nach erfolgreicher Aktion kritische Fragen einfach vom Tisch wischen. War es wirklich nur reine wissenschaftliche Neugier, die mich zu erforschen angetrieben hatte, was es mit dem Marien-Logo der Universität noch heutzutage so alles auf sich haben könnte? Galt meine sozialwissenschaftliche Intervention lediglich der Erprobung eines ethnomethodologischen Instruments zur Aufdeckung von Sinnwelten, die sich mit anderen Verfahren nicht entdecken lassen? Warum hatte ich die Strapazen einer riskanten Feldforschung, die Ausgrenzungsreaktionen und Beschimpfungen, auf mich genommen? Waren es die wissenschaftshistorischen, -theoretischen und -methodischen Gründe allein, die mich veranlasst hatten, die Abschaffung des Marienlogos zu fordern? Meine Antwort lautet lapidar: Nein! Zu den Beweggründen hatten selbstverständlich auch außerwissenschaftliche gehört, Beweggründe, die in meiner Persönlichkeit, meiner Lebens- und Familiengeschichte, in meinem inneren Erleben von Welt und meiner subjektiven Erfahrung zu suchen und zu finden sind.

Kenner des Passauer Sozialmilieus schätzten in diesem Streitfall den Anteil der wirklich strenggläubigen Marienverteidiger an der Passauer Stadtbevölkerung (rd. 50.000 Einwohner; ca. 90 Prozent röm.-kath.) auf etwa fünf Prozent ein. Unter diesen fünf Prozent, größtenteils zur älteren Generation zählend, gehörte eine kleine Anzahl von katholischen Fundamentalisten, die zu verbalen Gewaltandrohungen neigten und womöglich sogar zu vereinzelten Aktionen bereit sein könnten. Der katholische Volkszorn entlade sich aber im Wesentlichen in Stammtisch-Tiraden und Beschimpfungen. Die Frage, inwieweit man verbale Kraftmeiereien, seien sie konfessionell oder politisch motiviert, ernstnehmen müsse, war schon Anfang des Jahres 1990 durch den Film des deutschen Regisseurs Michael Verhoeven „Das schreckliche Mädchen“ von der Filmkritik gestellt worden. Der Film basierte auf dem authentischen Fall der Schülerin und späteren Passauer Studentin Anna Elisabeth Rosmus, die im Passauer Stadtarchiv am Zugang zu Akten aus der NS-Zeit gehindert und wegen ihrer Recherchen verunglimpft worden war. Im Film wurde eine gegen Anna Rosmus gewaltbereite Passauer Bürgerschaft vorgeführt, die sogar zu Sprengkörpern griff und das Leben Rosmus´ bedrohte. Trotz oder gerade wegen meiner sehr unangenehmen Erlebnisse im Madonnen-Streit hielt auch ich die angeblich lebensbedrohliche Situation für Störer im Passauer Sozialmilieu für überpointiert. So unterhaltsam die satirisch überzeichneten filmischen Szenen auch waren, sie waren der Sache, um die es ging, nur beschränkt dienlich, nämlich Passaus NS-Vergangenheit gegen starke Widerstände betroffener Kreise und Personen aufzudecken. Dennoch wirkte sich der Film langfristig auf die örtlichen Verhältnisse aus. In der Stadtgeschichte konnte die NS-Zeit nicht mehr in der bisherigen Weise tabuisiert werden. Der Film hinterließ ungeachtet seiner Unterhaltungsqualität beklemmende Eindrücke. Die Realsatire gab viel von der stockkonservativen und stickigen katholischen Atmosphäre wieder, die auch im Madonnen–Streit spürbar wurde. Die feindseligen Drohanrufe und üblen öffentlichen Diffamierungen machten mir dann auch psychisch zu schaffen, obwohl ich mit ihnen hypothetisch gerechnet hatte. Zwar war es ja Zweck meiner Intervention gewesen, Personen und Personenkreise zum Sprechen zu bringen, um herauszufinden, was es mit der „Maria vom Siege“ im Universitätsemblem so auf sich hatte. Als dann aber der Shitstorm über mich hereinbrach, brachte meine Feldforschung doch schwer zu ertragende Unannehmlichkeiten und psychische Belastungen mit sich. Um ihnen gewachsen zu sein, musste ich meine psychischen Befindlichkeiten selbst zum Gegenstand von Analysen machen und so unter Kontrolle halten. Zu dieser psychologischen Selbstbeobachtung dienten mir sogenannte Psychogramme, die ich fast täglich verfasste. Diese besprach ich mit meinem psychologischen Berater unter persönlichkeits- und tiefenpsychologischen Gesichtspunkten (Motiv-Kontrolle, Affekt-Kontrolle, kognitive Dissonanzen etc.). Die Frage war, inwieweit ich selbst von unterschwelligen Motiven geleitet wurde, etwa vom Archetypus des Wissenschaftlers als „Heros“ (Max Weber: der Wissenschaftler als Geistesaristokrat) oder inwieweit mein familiär geprägter Kulturprotestantismus sich an dem Universitätslogo stieß. Die Feldforschung erfordert Selbstkontrolle, mentale Stresskompetenz und kognitive Bewertungskriterien.

Die strapaziöse investigative Intervention und die universitätsinternen und -externen Reaktionen darauf schlugen sich bei mir auch in einer Reihe luzider Klarträume nieder, in denen ich auf einer unterschwelligen Bewusstseinsebene meine Situation bildhaft erlebte und verarbeitete. Solche Träume trugen ebenfalls dazu bei, schwierige Situationen psychisch zu bewältigen und mich stabil zu halten. Ich analysierte die innere Logik der Situation, in der ich mich befand, und führte Buch über meine psychischen und mentalen Befindlichkeiten. Ich will hier an einigen Beispielen veranschaulichen, wie es mir psychisch erging und wie sich im Wachzustand erlebte Vorgänge auf unterbewusster Ebene ausdrückten.

Psychogramm (Selbstbeobachtung) vom 17.11.1990, 12.30 Uhr.

„Viertes Wochenende nach dem PNP-Bericht, nach dem Ereignis (…). Der übliche Wochenendeinkauf steht an: der Einkauf im Drei-Flüsse-Einkaufszentrum (DEZ). Nach dem Frühstück bespreche ich mit Inge Lu (meiner Frau, Anm. d. Verf.) den Einkaufszettel, gegen 11.00 Uhr gehen wir zu Fuß – unser Auto ist in der Reparaturwerkstatt – zum Einkauf.

Innere Verfassung/Stimmung: Noch immer ist mir die Vorstellung, mich in der Öffentlichkeit zeigen zu müssen, unangenehm. Es drängt sich bei der Besprechung der Einkäufe der Gedanke auf, ob Inge Lu allein gehen könne. Ich spüre Widerstände gegen einen Gang durch die Straße, in der wir wohnen, oder durch das große Einkaufszentrum. Sicherlich sind Personen unterwegs, die mich kennen, die ich kenne: Studenten, Nachbarn, Personal der Universität, Bekannte aus verschiedenen Personenkreisen (Schule, Tanzschule Theresas (zweitgeborene Tochter, Anm. d. Verf.)). Ich weiß aber und sage mir, du musst dich stellen, du musst nach der eigenen Devise, >aufrecht zu gehen und das Gehirn zu gebrauchen<, dich als empirisch-analytischer Sozialwissenschaftler gerade in der Situation der Öffentlichkeit bewähren. Doch bleibt immer noch das Gefühl stark vorhanden, sich einer unangenehmen Situation aussetzen zu müssen. Ich bin für andere der Abweichler, der Nonkonformist, der Spinner, der verrückte Professor, der die Universitätsmadonna abschaffen will. Ich spüre, wie mir meine Nonkonformismus zu schaffen macht, wie ich mein Unwohlsein durch rationalen und empirisch-analytischen Selbstzuspruch (mentale Stresskompetenz) überwinden muss, wie ich über die analytische Selbstkontrolle mich auch vor einer möglichen Übersensibilität und vor einer Überinterpretation meiner Situation (kognitive Bewertungsebene) in der Öffentlichkeit (sozialer Stress) bewahren muss. Also gehe ich mit Inge Lu einkaufen. Vom Verlassen des Hauses bis zur Rückkehr hält die innere Spannung an. Ich beobachte ständig meine Umwelt, jeden Gruß, jeden Vorgang. Ich zähle die bekannten Gesichter und die Kontakte; ich überprüfe mein Verhalten.

Zur erlebten Realität: Auf der Straße sind wir niemandem begegnet, den wir kennen. Unbekannte Passanten gehen gleichgültig an uns vorüber. Im Einkaufszentrum begegnete ich mehreren Studenten/Studentinnen: drei haben mich mit Sicherheit im Gewühl übersehen, weil sie auf ihre Einkäufe konzentriert waren. Zwei davon waren zweimal bei mir am Lehrstuhl, um mir durch Eigeninitiativen zu helfen. Eine Studentin, die mich >übersah<,zählt sicher nicht zu meinen Gegnerinnen. Ein Studentenpärchen (…)begrüßte mich freundlich. Der Hausmeister des Adalbert-Stifter-Gymnasiums grüßte freundlich, wobei unklar ist, ob er mich namentlich identifizieren konnte. Die Käsefrau bediente freundlich. Aus dem Kreis der Nachbarn und weiterer Bekannter trafen wir niemand. Im DEZ schienen diesmal nicht so viele Einkäufer gewesen zu sein wie am letzten Wochenende.

Während des Mittagsessens mit Inge Lu meine Gefühle, Gedanken und Beobachtungen erörtert. Im Gespräch klargestellt, dass ich mich in einer prekären, heiklen Situation befinde und mich nicht in eine Welt des Glaubens zurückziehen kann. Ich bin ganz auf mich, auf meine psychische und intellektuelle Standfestigkeit zurückverwiesen, nach meiner Devise „gehe aufrecht und gebrauche dein Gehirn“. Allein der analytische Verstand, nur angespanntes Nachdenken, Entspannen und kontemplatives Zurücklehnen sind meine Verfahrensweisen, um mit einer schwierigen Situation fertig zu werden. Mir hilft kein Gebet! Zu wem auch? Ich bin Agnostiker. Ich höre deshalb auch nicht an einem Punkt auf nachzudenken, wo andere bereits im Gebet und in ihrem Glauben Entlastung und Beruhigung suchen. Ich habe auch nie die absolute, letztbegründete Sicherheit, richtig zu handeln. Mein Denken und Handeln bleiben immer auf die Relativität der Standpunkte und Perspektiven zurückverwiesen.“

Psychogramm vom 20.11.1990

„Mein Gehirn bearbeitet unablässig den Fall. Die Gedanken kreisen im Rückblick auf den Vorgang sowie im Blick auf den zukünftigen Verlauf um zentrale Fragen. Im Rückblick immer wieder zunächst die Gegenpole: Einerseits die Wissenschaftsposition, die rücksichtslose rationale Analyse unter Gesichtspunkten moderner Wissenschaft, radikal-rationalistisches Engagement in der Sache, Leidenschaft in der Aufklärung und Kritik, das heißt prinzipielles und aktives Infragestellen der >immaculada militante< / >Maria vom Siege“. Andererseits Bequemlichkeit und Wohlbefinden in der Passauer Gemütlichkeit, ruhiges Schaffen unter dem Zeichen regionaler und lokaler Borniertheit und Selbstzufriedenheit. Nichts sagen, nicht handeln, nicht unbequem werden, täuschen, Mimikry üben, nicht daran rühren, um in Ruhe gelassen zu werden und bequem und unangegriffen weiterarbeiten zu können (…).“

Psychogramm vom 25.12.1990

„Die Gedanken, eingepfercht in den konfektionellen Christ-ist-geboren-Stall familiären Scheinfriedens.(…) Die intellektuelle Distanz ist groß, die mentale wächst. Ich beobachtete von außen, konnte von innen her kaum mehr Zugang gewinnen zu dem, was Heiliger Abend genannt wird. Die Kassetten mit den nieder-bajuwarischen Adventsliedern haben wir erst gar nicht mehr eingelegt. – dieses Gesingel-Gesangel ist nicht unsere Welt, ist nicht meine Welt. Es ist das Trommeln von Stämmen, die sich um ihre Götzenbilder versammeln. (…)“

Es heißt in der Wissenschaftslehre, es müsse strikt zwischen der Psychologie der Forschung und der Logik der Forschung unterschieden werden. Es interessierten nicht die Motive, die Ängste, die Momente der Einfälle, kurz die Psychogramme des Forschers in den verschiedenen Phasen und Situationen seiner Erkenntnisgewinnung, sondern nur die Logik der Forschung, das heißt: der logisch stimmige Entwurf des Analyseverfahrens, die Exaktheit der Durchführung und das Ergebnis. Was uns unterschwellig oder offen eingestanden antreibt, einer Sache auf den Grund zu gehen, die psychologischen Aspekte, bleibt dem „Vorwort“ vorbehalten. Die historische Archivforschung kennt nicht die psychischen und mentalen Strapazen, die in der Feldforschung bewältigt werden müssen. Ich gewähre im Folgenden ein paar Einblicke im Bewusstsein, mir hierdurch Blößen zu geben.

Psychogramm vom 30.10.1991

„Entspannung, Entlastung, Wiederkehr innerer Ruhe und Sicherheit. Gestern Abend (ca. 18.15) rief ich in Passau zuhause meine Tochter Caroline an und Walter Landshuter im Scharfrichterhaus. Alle Informationen über Reaktionen/Nichtreaktionen auf das Erschütterungsexperiment sind eher beruhigend. Caroline wurde laut eigener Aussagen nicht mit anonymen Anrufen belästigt. Keine telefonischen Bedrohungen oder Beleidigungen, keine Drohbriefe etc. Auf Befragen, ob sie angesprochen worden sei oder sonst etwas bemerkt habe, antwortete C. mit einem klaren >Nein<. Sie habe nichts gehört, bemerkt, gelesen oder gar erlitten. Diese Mitteilungen wirkten auf mich sehr beruhigend. Ich war froh, dass nichts passiert war.

Der Anruf bei Walter Landshuter (Restaurantbesitzer im Scharfrichterhaus, Anm. d. Verf.) brachte ebenfalls Entspannung. (…) L. teilte mit, dass außer den paar/drei Leserbriefen vom letzten Samstag nichts mehr über den Streit zu lesen gewesen sei. Alles ruhig. Er bedauere sogar, dass nicht mehr erfolgt sei. In Passau habe man sich an einiges gewöhnt. (…). Die Leserbriefe vom letzten Samstag sollte ich nicht zu ernst nehmen. Es seien immer die gleichen Hanseln ganz kleiner Kreise, die sich öffentlich zu Wort meldeten. Dem sei keine größere Bedeutung beizumessen. Die Leserbriefschreiber repräsentierten nicht Passau, sie seien nicht typisch für eine >Passauer Mentalität<, sondern Sprachrohre von Gralshütern des katholischen Glaubens. L. beruhigte mich: >mach d´nichts draus<.

Die Telefonate brachten eine psychische Entspannung, innere Beruhigung und fast eine gewisse Ausgelassenheit mit sich. Ich beruhigte nach meiner Rückkehr (vom Telefonhäuschen, Anm. d. Verf.) Inge Lu, die unter meiner Spannung zwei Tage lang gelitten hatte. Erleichtert formulierte ich einen ironischen Leserbrief an die PNP unter der Überschrift >Dank an meine Schreibfreunde< Dieser ironisierende, halbernste Leserbrief brachte ebenfalls psychische Entspannung, indem er aufgestaute aggressive Gefühle gegen die erneuten Diffamierungen abfuhr. Als ich J. (meinen psychologischen Berater, Anm. d. Verf.) meinen Leserbrief vorlas, kommentierte er die Aktion als Spiel der Entlastung und zur Affektkontrolle. Er riet mir, den Leserbrief als Mittel zur Affektabfuhr zu betrachten und nicht zu publizieren. >Reagiere nicht mit einer Leserbrief-Antwort<. Das war bisher mein Prinzip, so meine Antwort auf den Ratschlag, und es wird so bleiben. Damit war die Leserbrief-Schreiberei ad acta gelegt. Nach Norbert Elias, „Engagement und Distanz“, wichtig „die Fähigkeit von Menschen, sich gleichsam von außen zu sehen.“

Traum 3./4.11.1991: Das gefährliche Wurfgeschoss des Priesters

In diesem Traum nahm ich auf einem Gutshof an einem Bankett der Familie des Hauses teil. Neben meiner Frau und mir saßen am Tisch der Gutsherr, seine Frau und ihr Sohn, offensichtlich jünger als ich. Im Hintergrund der friedlichen, von Gesprächen bestimmten Szene macht sich ein katholischer Priester in weißer Soutane zu schaffen. Er gestikuliert, macht merkwürdige Handbewegungen, scheint etwas im Schilde zu führen. Und dann passiert es:

„Plötzlich hält der Priester ein neues Sensenblatt in der Hand, benutzt es als Wurfgeschoss und schleudert es aus dem Hintergrund auf den Sohn des Hauses, der den Wurf nicht sehen kann, weil er dem Priester den Rücken zukehrt. Das Sensenblatt saust mit der Spitze voran gegen den Rücken des Sohnes und fällt knapp hinter dessen Rücken zu Boden. Das tödliche Wurfgeschoss hat nicht getroffen, der Mann bleibt unverletzt.

Der Priester entfernt sich zur Seite, geht nach rechts, wo am Rande der Fläche zwei Gräber hintereinander stehen, die mit Sand aufgeschüttet sind. Der Priester kniet am Ende eines der Gräber nieder, greift wutentbrannt und dabei Beschwörungsformeln murmelnd in den Sand und scharrt und wühlt darin, reißt Pflanzen heraus. Er schändet das Grab. (…)

Während sich dieses Geschehen an den Gräbern abspielt, taucht am Tisch plötzlich ein älterer Mann auf, der mit steifen, zuckenden Fingern aggressiv auf die Personengruppe am Tisch zugeht. Er scheint verwirrt und gefährlich zu sein. Der Alte hat keine guten Absichten. Er scheint ein Werkzeug des Priesters zu sein, der ihn aus dem Hintergrund gesandt hat und steuert. Bei der Annäherung des Alten tritt plötzlich meine 3. Tochter Caroline in mein Blickfeld, ihre Anwesenheit war bisher von mir unbemerkt geblieben. Ich sage ihr, sie solle vom Tisch weggehen, sich entfernen. Ich entferne mich mit ihr vom Tisch. Auch die anderen Personen weichen vorsichtig zurück. Es passiert nichts. Der Traum bricht .

Ich notierte meine Deutung des Traums unmittelbar nach der Niederschrift des nächtlichen Erlebnisses am nächsten Morgen: Der Gutshof und die Frau des Hauses stehen möglicherweise, obwohl die Traumgebäude keinerlei Ähnlichkeit mit den Passauer Universitätsgebäuden haben, für die Alma Mater, für die Universität Passau. Der Sohn des Hauses, der mir zugewandt gegenüber am Tisch sitzt und das Geschehen im Hintergrund nicht sehen kann, könnte ich selbst sein – gefährdet durch einen Priester, der für den Passauer Klerikalismus steht. Er will mich mit seinem Sensenblatt treffen und töten, kann es aber nicht, weil sein Wurfgeschoss nicht die Reichweite, beziehungsweise weil der Werfer nicht die für diese Reichweite nötige Kraft besitzt. Für den Priester agiert ein aus dem dunklen Hintergrund gesteuerter Mann.

Die Traumsituation repräsentiert meine augenblickliche Passauer Situation. Ich sehe mich in doppelter Gestalt in einer bedrohlichen Situation: einmal als Sohn des Gutshofes, der nicht sehen kann, was in seinem Rücken (in den Fakultäten) passiert, und als mein anderes Ich, das beobachtet, was im Hintergrund und im Vordergrund geschieht, und wahrnimmt, dass es vom gefährlichen Wurf nicht getroffen wird (Akteur-/Beobachter-Situation). Ich sitze zunächst schutzlos am Tisch. Doch dem Tod, der in einem Priestergewand auftritt, fehlt die Kraft, mich mit seinem Sensenblatt zu erreichen und zu töten. Die Argumente der Priester greifen zu kurz!

Auch meine Familie ist in dieser Situation mitbetroffen. Der Gutsherr, ein hagerer, hochgewachsener Mann mit gewelltem Haar und mönchischer Hinterhauptsglatze – wer mag es sein, der Präsident der ?

Traum 2./3.O4.1992: Entdeckende Person und anonyme Institution

In diesem Traum durchwandere ich eine hügelige Landschaft unter grauem, dichtbewölkten Himmel. Die Landschaft liegt in einem indirekten Licht wie die Toledo-Stimmung in El Grecos Gemälde. Plötzlich tauchen am Horizont Gebilde auf, die wie Berliner Doppeldecker-Busse aussehen, schwebend wie Zeppeline. Zweistöckige Gebilde, rechteckige Kästen mit länglichen Fenstern, von unsichtbarer Hand gesteuert. Kein Licht, kein menschliches Wesen.

Alf Mintzel, Traum, 1992, Kugelschreiber

Diese Gebilde scheinen den Himmel oder die Erde unter sich nach mir abzusuchen. Die Gebäude neigen sich abwärts, kommen näher, werden groß, wandeln sich zu den klobigen, klotzartigen Gebäuden der Universität. Sie schweben bedrohlich erdrückend über mir.

„Plötzlich, dicht über mir, fährt das riesenhafte Gebilde rechts und links unten Greifarme aus, ähnlich wie ein Flugzeug im Anflug sein Fahrgestell ausfährt. Es sind lange, mehrgliedrige Greifarme, technische Konstruktionen, die an lange spinnengliedrige Knochenhände erinnern, die Endglieder laufen spitz zu. Sie fingern nach mir nach Spinnenart, sie versuchen mich zu greifen, sie vollziehen Greifbewegungen, tasten nach mir.“

Alf Mintzel, Traum, 1992, Kugelschreiber

Ich habe nicht den Eindruck, dass sie mich verletzen oder gar töten wollen. Aber sie wollen mich vom Boden aufgreifen und in diese Kästen hinein hieven. Doch es misslingt. Das Hecken- und Laubbaumgestrüpp am Boden lässt ihre Greifarme nicht voll zufassen. Allerdings ertasten und erreichen mich einzelne Glieder. Ich wehre mich. Ich fasse die Endglieder und drücke sie von mir weg. Es gelingt mir, den Angriff zu vereiteln.

Im Anschluss an die Niederschrift des Traumes notiere ich: „Mir fällt dazu ein, dass die hausähnlichen, klotzigen Raumfahrzeuge Universitätsgebäude repräsentieren, die Gebäude der Fakultät für Mathematik und Informatik oder das Bibliotheksgebäude. Was da über mir schwebt ist die Universität, ist die anonyme Institution, die mich greifen will, vielleicht nur be-greifen, betasten. Ich wehre mich dagegen, gegriffen zu werden. Die fahlblassen eckigen Kästen am dräuenden, stahlgrauen Himmel drücken auf mich herab. Bei der Abwehr einiger Glieder, die mich erreichen und zu greifen beginnen, bricht der Traum ab. Ich erinnere mich jedoch, dass ich davongekommen bin. (…)“

Es ist eine ungleiche Situation, ein Individuum, eine Person, gegen einen herabschwebenden Roboter, gegen eine Institution, gegen anonyme Greiftechnik. Wer im Innern der Kästen sitzt und diese steuert, ist nicht zu sehen, aber ich erkenne von unten die Greifkonstruktion und kann mich ihres Zugriffs erwehren. Die Situation, obwohl bedrohlich und schwer zu meistern, bleibt kalkulierbar. Ich denke, es ist meine Situation an der Universität Passau.

Alf Mintzel, Traum, 1992, Kugelschreiber

 

Traum 317./18.05.1992: psychische Selbststabilisierung

In dieser Nacht habe ich wieder einmal einen Flug-Traum. Ich erhob mich ohne fremde Hilfe, ohne Motor, aus eigener Kraft in die Lüfte und schwebte über der Landschaft. Im ruhigen Gleitflug überflog ich eine große, von saftig grünen Gürteln gesäumte und durchteilte Stadt. Die Silhouetten der grün umhüllten Stadtviertel erinnerten mich entfernt an Berliner Stadtgebiete. Ich näherte mich in einer Höhe von ca. 600 Metern einem dieser Stadtviertel, als plötzlich in der Nähe ein Kleinsatellit auftauchte. Er bewegte sich, leicht rotierend, mit konstanter Geschwindigkeit auf gleicher Höhe in dieselbe Richtung. Interessiert versuchte ich die Bauart des Flugkörpers zu erfassen und ihn zu identifizieren und geriet in unmittelbare Nähe des Satelliten. Ich studierte die Aufschriften und Zahlen auf seiner Seite, konnte sie aber nicht entschlüsseln. Er schien mir aber ein ungefährlicher Fernseh- oder Kommunikationssatellit zu sein, der keinen militärischen Charakter hatte. Ich fühlte mich magisch angezogen von dem kleinen Flugkörper und griff nach ihm. Dadurch geriet er ins Trudeln.

„Nach kurzer Zeit kippte der Satellit nach unten weg und stürzte ab. Ich wollte die Bevölkerung unten warnen, aber es war zu spät, alles war viel zu schnell gegangen. Der Satellit schlug unten ein. Ich sah von oben, wie er eine lange sprühende Furche in Richtung des Stadtviertels zog. Aus der Entfernung konnte ich nicht ausmachen, ob da unten etwas passierte und was passierte.“

Ich schwebte weiter und begegnete einem weiteren Flugobjekt, einer Art Transporter für Personenkraftwagen. Das Fluggerät zog eine große Schleife und setzte wohl zur Landung an. Ich sah, dass sich ein Auto auf der Ladefläche aus seiner Haltung gelöst hatte und herunter zu rollen drohte, aber irgendwie wieder auf der Tragfläche gehalten und zum Stehen gebracht werden konnte. Der Transporter flog einen weiten Kreis, ich schwebte weiter.

Im Anschluss an die Niederschrift des Traumes notiere ich:

„Flug-Träume sind für mich immer Träume der Überlegenheit, der Potenz, der Flug-Kraft. Ich überschaue etwas, ich erhebe mich über etwas (…), ich befinde mich über etwas; (…)Die Befürchtungen, ja Angst, abstürzen zu können, ist in der Regel gering. Flug-Träume zeigen vielmehr das wunderbar erhebende Gefühl, dass ich wirklich fliegen kann, wenngleich vielleicht nur kürzere Strecken und in der Ikarus-Höhe von etwa 200 bis 600 Metern. Flug–Träume beflügeln mich psychisch, geben mir ein positives Lebensgefühl, verleihen in schwierigen Zeiten und Situationen ein optimistisches Bewältigungsgefühl. Die Flug-Illusion trägt, trägt darüber .“

Ich hielt durch und ertrug alle Unannehmlichkeiten und Angriffe auf meine Person und meinen Status als Wissenschaftler. Die kontrollierte Interventionsstudie hat sich gelohnt. Die Studie fand Eingang in die fachwissenschaftliche Diskussion der symbolischen Anthropologie, der Wissenssoziologie und anderer Fächer. Die Antwort auf die Frage, ob der Aufwand an Geist, Zeit und Mühe gelohnt hat, hängt von subjektiven und objektiven Bewertungskriterien ab. Der „Erfolg“ einer kontrollierten Intervention selbst ist noch kein Beweis für ihre methodisch regelgerechte Durchführung und für eine gelungene Änderung in den Anschauungen. Sicher lieferte die Expedition in das Innenleben der Universität und ihrer sozialen Umgebung den handfesten Beweis, dass das Marienlogo eben nicht nur Dekor und der fraglichen Tradition geschuldet war, sondern religiös-konfessionelle Inhalte transportierte. Die erfolgreiche Wende im Streit war womöglich weniger den Denkanstößen zuzuschreiben, sondern vielmehr sozialen Mechanismen der Befriedung und Harmoniewünsche.

Was gab mir also die Kraft, dieses Abenteuer Wissenschaft auf mich zunehmen und diese Expedition in die Innenwelt der Universität durchzustehen? Das ist zugleich die Frage nach subjektiven Bewertungskriterien. Jede Studie beruht auch auf außerwissenschaftlichen Voraussetzungen und Erfahrungen. Im ausschlaggebenden Gespräch mit dem Universitätspräsidenten (20.09.1990) hatte dieser mit Killerphrasen das Universitätslogo verteidigt: “Wer liest schon eine Dissertation!“ (Gemeint war die Dissertation über die „Maria vom Siege“). Der Präsident hatte den Manager-Pragmatismus gegen die Wissenschaft gewandt. Noch schlimmer hatte mich seine Machtverdikt getroffen: Ich solle die Universität wechseln, wenn mir das Marienlogo nicht passe. In diesem Moment hatte ich mich als Exulant und Migrant gefühlt. Meine Vorfahren Mintzel waren im Dreißigjährigen Krieg in der Oberpfalz als protestantische Pfarrer und Schulmeister 1622/23 aus ihren Ämtern und aus dem Land gejagt worden. Unter der gegenreformatorischen „Maria vom Siege“ wollte ich mich als Wissenschaftler nicht von der Universität Passau verjagen lassen! Ich lebe familiengeschichtlich in Jahrhunderten, das gab mir Kraft.

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