Aufruhr in Bayern! Wehrt Euch! Widerstand! Empörung! „Christliche“ Mobilmachung gegen das Urteil. Mit den Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom August 1995 ließen sich dicke Leitzordner füllen. Allein in den Printmedien wurde das Urteil monatelang kontrovers diskutiert. Die Anti-Urteils-Kampagne der Kruzifix-Verteidiger fand in Bayern ihren Höhepunkt in einer Großdemonstration in München. Ich selbst wurde mehrmals in die öffentliche Diskussion einbezogen (Der Spiegel, Nr. 34, 21.08.1995, S. 44; Abendzeitung Nr. 185/32, 12./13.08.1995, S. 2; Frankfurter Rundschau Nr. 222, 23.09.1995, S. 14). Wenige Tage nach dem Bekanntwerden des Urteils führte die Münchner „Abendzeitung“ ein Interview mit mir, in dem ich zwar mein Verständnis für den Protest glaubenstreuer Christen zum Ausdruck brachte, aber doch dagegenhielt: „Diese schrillen Töne sind nicht berechtigt“ (AZ Nr. 185/32, 12./13.08.1995, S.2). Es herrsche „in der Bevölkerung ein Traditionschristentum mit einer ganzen Menge Gedankenlosigkeit.“ Die komplizierten und schwierigen Sachverhalte beschäftigten mich über Wochen. Es war weit mehr als ein gewöhnliches Interesse an tagespolitischen Ereignissen und Vorgängen, das mich jeden Tag die Berichterstattung verfolgen ließ, mich interessierten grundsätzliche Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen und des deutschen Religionsverfassungsrechts. Ich verteidigte energisch das Mehrheitsvotum des Ersten Senats.
Parallelen zum Passauer Madonnen-Streit wurden sichtbar. In der Streitsache glichen sich die gegensätzlichen Grundpositionen ebenso wie in einigen Formen der Auseinandersetzung. Was sich im Mikrokosmos der Stadt Passau und der Passauer Universität sozusagen im Kleinen abgespielt hatte, war in ähnlicher, obgleich extremer Weise, im Makrokosmos bayerischer Verhältnisse zu beobachten. Worum war es gegangen?
Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1995
Im Volksschulgesetz des bayerischen Staates stand in Paragraf 13: „Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen.“ Gegen diese staatliche Anordnung hatte ein Erziehungsberechtigter geklagt. Die Klage durchlief sämtliche Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (Erster Senat) vom August 1995 löste die sogenannte Kruzifix-Debatte aus und führte in Bayern zu heftigen Reaktionen.
Im Ersten Senat gab es zwei Begründungsstrategien, zum einen die der fünf Richter (Dr. Johann Friedrich Henschel, Dieter Grimm, Jürgen Kühling, Helga Seibert und Renate Jäger), welche die Mehrheitsentscheidung vertraten, zum anderen die der drei Richter (Evelyn Haas, Otto Seidl und Alfred Söllner), die von der Mehrheitsentscheidung abwichen.
Die zwei Leitsätze der Mehrheitsentscheidung lauteten: „[1] Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz.[2] Paragraf 13 Absatz 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig.“
Die Begründung der „Fünfer-Gruppe“ (Position 1): Tenor und Kernargument waren, das Kreuz beinhalte und transportiere Glaubensüberzeugungen. Es könne nicht auf ein allgemeines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden. Wörtlich zitiert: „Es symbolisiert den wesentlichen Kern der christlichen Glaubensüberzeugungen, die zwar insbesondere die westliche Welt in vielfacher Weise geformt hat, aber keineswegs von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt, sondern von vielen in Ausübung ihres Grundrechts aus Art.4 Abs. 1GG abgelehnt wird “
Unter den acht Mitgliedern des ersten Senats wandte sich die „Fünfer-Gruppe“ folglich entschieden gegen eine Profanisierung des Kreuzes und verwies das Kreuz höchstrichterlich in den religiös-konfessionellen Glaubensbereich und die christlichen Kirchen auf ihre dogmatischen Lehrinhalte. Die „Fünfer-Gruppe“ berief sich im Kern ihrer Begründung gerade auf das, was dann katholische Glaubenskreise in ihrer Argumentation –geflissentlich oder nicht – ausblendeten, nämlich die christlich-dogmatischen Inhalte.
Die Begründung des Sondervotums der „Dreier-Gruppe“ (Position 2): Tenor und Kernargument der Minderheitsposition waren, das Kruzifix gehöre zur Lebenswelt und zum Alltag, besonders in Bayern. Das Kruzifix sei ein Traditionssymbol ohne Glaubensinhalte. Wörtlich: „Ein unmittelbarer Einfluss auf Lehrinhalte und Erziehungsziele im Sinne eine Propagierung christlicher Glaubensinhalte geht von dem Kreuz im Klassenzimmer nicht aus. Im Übrigen ist auch insoweit von den besonderen Verhältnissen in Bayern auszugehen. Der Schüler wird dort – auch außerhalb des engeren kirchlichen Bereichs – in vielen anderen Lebensbereichen täglich mit dem Anblick von Kreuzen konfrontiert. Beispielhaft seien nur erwähnt die in Bayern häufig anzutreffenden Wegekreuze, die vielen Kreuze in Profanbauten (wie in Krankenhäusern und Altersheimen, aber auch in Hotels und Gaststätten) und schließlich auch in Privatwohnungen vorhandenen Kreuze. Unter solchen Verhältnissen bleibt das Kreuz im Klassenzimmer im Rahmen des Üblichen: ein missionarischer Charakter kommt ihm nicht zu.“
Diese beiden gegensätzlichen Grundpositionen bestimmten im Wesentlichen die Argumentations-strategien der verschiedenen Akteure in der sogenannten Kruzifix-Debatte. Die CSU-geführte bayerische Staatsregierung, die Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU), der römisch-katholische Klerus, katholische Laienorganisationen und die katholisch-konservative Presse machten sich die zweite Position zu eigen und schossen sich auf die „Fünfer-Gruppe“ ein. Gerade diese kulturweltlichen Traditionsargumente hatten sich im Madonnen-Streit meine katholischen Kontrahenten zu eigengemacht.
Agitation und Polemik
So wie im Madonnen-Streit ein aggressiver und ehrabschneidender Shitstorm über mich niedergegangen war, schütteten katholische Scharfmacher über der „Fünfer-Gruppe“ Kübel voll Schmähungen aus. Die Muster der Diffamierung ähnelten sich. In vielen scharfzüngigen Stellungnahmen wurden die fünf Bundesverfassungsrichter direkt und indirekt lächerlich gemacht. In Anspielung auf die Note Fünf im Examen wurden sie die „Fünfer-Juristen“ genannt und ihnen damit berufliche Kompetenz abgesprochen. Die „Fünfer-Juristen“ betrieben Juristerei, nicht Jurisprudenz. Jurisprudenz sei, was bayerische Staatsregierung und Verwaltung betreiben und was die CSU-Mehrheitsfraktion im bayerischen Landtag beschließt, um die bayerische Lebensart zu konservieren, Juristerei hingegen eine inkompetente, von einem angestaubten Aufklärung geleitete Rechtsprechung. Hohn und Häme schallte den Verfassungsrichtern entgegen: „Die Richter und die Kläger sollen doch herkommen und die Kreuze eigenhändig abnehmen.“ Unverhüllt wurde ihnen mit Gewalt gedroht: „Wir Bauern werden sie jedenfalls gebührend mit Dreschflegeln erwarten“ (Josef Ranner, CSU-Landtagsabgeordneter). „Die Katholiken werden sich zu wehren wissen“ (Prof. Dr. Bernhard Sutor, Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken in Bayern). „Gegen den puren Unsinn und Übermut auch höchster Gerichte ist Widerstand geboten“ (Hans Maier, ehemaliger bayerischer Kultusminister).“ „Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinem Urteil bis an die Grenze des Erträglichen gegangen. Es wird Widerspruch finden und Widerstand auslösen“ (Hans Maier in „Christ und Welt. Rheinischer Merkur, 18.08.1995).
Nach meinen Passauer Erlebnissen fragte ich mich: Was mag im Inneren der gescholtenen, geschmähten, verhöhnten und beruflich herabgewürdigten Bundesverfassungsrichter vorgegangen sein? Wie haben sie diese Beschimpfungsorgie ausgehalten? Welche Gefühle stellten sich bei ihnen angesichts der Münchner „Wehrt-Euch-Großdemonstration“ ein? Welche Albträume suchten sie heim? Sie schwiegen, soviel ich weiß, über die psychischen Verletzungen, die sie vermutlich erfahren haben. Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende des Ersten Senats Johann Friedrich Henschel gab Formulierungsfehler und Fehleinschätzungen der gesellschaftlichen Wirkungen des Urteils zu. Die Angriffe auf die Richter seien jedenfalls bedenklich. „Solche Vorgänge sind für die Arbeitsfreude nicht eben förderlich“ (BZ Nr. 195/34, 22.08.1995, S.2).
Die Anti-Urteilskampagne führte sogar zu einer als ernsthaft eingestuften Morddrohung. Das Ehepaar aus dem oberpfälzischen Reuting, das sich mit seiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt hatte, musste unter Polizeischutz gestellt werden (FAZ Nr. 190, 17.081995, S. 3).
Proteststimmen-Kampagne der Passauer Neuen Presse
Kaum war das Urteil bekannt geworden, organisierte die PNP-Redaktion schon in ihrem ersten Leitartikel dazu eine Leserkampagne. „Was meinen Sie? Was halten Sie vom Urteil des Bundesverfassungsgerichtes? Schreiben Sie uns Ihre Meinung“. Der Bischof von Passau und der Landesvorsitzende der CSU kamen ebenfalls zu Wort. Der Bischof erinnerte an die verordneten Kreuzabnahmen in der NS-Zeit und rief zum Widerstand auf. Sofort wurden die agitatorischen Losungen ausgegeben. Prominente Politiker und katholischer Klerus gaben vor, was von dem Urteil und den Richtern zu halten sei. Als hätte der PNP-Aufruf eine Pöbelmaschine in Gang gesetzt, kamen die Leserbriefe in Massen, 400 an der Zahl. Es war wohl die größte Leserbrief-Aktion in der Geschichte dieser Tageszeitung. Vierzehn Tage später veröffentlichte die PNP in einer sechzehnseitigen Sonderbeilage 283 der 400 Leserbriefe. Zorniger Tenor und Titel: „Lasst die Kruzifixe hängen.“ Die fünf Richter und ihr Votum wurden an den Pranger gestellt, gescholten, geschmäht, beleidigt, persönlich verunglimpft und verhöhnt. Die PNP gab ihren fleißigen Schimpftiraden-Schreibern das Gefühl gezeigt zu haben, was hierzulande Mehrheit war. Sogar die Deutsche Presseagentur musste davon Notiz nehmen. Was mag wohl Schlimmes in den 117 Leserbriefen gestanden haben, die nicht in die Sonderbeilage aufgenommen worden waren?
Nachdem die Sonderbeilage voller Bannflüche und Schimpftiraden einen tiefen Einblick in die angeblich gewaltfreie christlich-katholische Seelenlandschaft gewährt hatte, kamen dann offenbar doch Bedenken auf. Zwanzig Tage nach der Kampagne blies der Passauer Diözesanrat zum geordneten Rückzug. Nicht aus der Diözese Passau seien die schrillen Töne gekommen, sondern aus dem Nachbarbistum. In Regensburg habe der Chefredakteur des Bistumsblattes über den „moralischen Saustall“ in der Bundesrepublik gewettert. Erschrocken über die Droh- und Schmäh-Orgie der katholischen Leserbriefschreiber wurde plötzlich zur Besonnenheit aufgerufen und zu moderateren Tönen. Die Eiferer mögen gefälligst von den Kampfparolen und den Schmähungen der Bundesverfassungsrichter ablassen. Mit jedem Tag nahm die katholische Agitationspresse etwas von den schrillen Tönen zurück.
Katholische Revolte im bayerischen Welttheater
Die Redaktion der Frankfurter Rundschau räumte mir im September 1995 ihre gesamte Dokumentationsseite ein. Unter dem Titel „Mia san mia, Kruzifixsakrament“ druckte sie meine spöttisch formulierten Betrachtungen ab. Halb verärgert, halb amüsiert hatte ich geschrieben:
„Die CSU–Elite inszeniert im kleine bayerischen Welttheater perfekt das traurige Stück vom Fünfer-Kruzifix und seine >Schlichtheit<. Dazu gehören der Kardinal, die Bischöfe, die Weihbischöfe, der niedere Klerus, ein großes Aufgebot an Laienschauspielern, Oberammergau, ein bisschen Wallfahrtsort Altötting, Biergarten–Ambiente, der oberpfälzische Teufel (Seher) und seine Hexe, die Kundgebung in München. Die >Mehrheit< sieht amüsiert zu. Sie gibt der CSU-Intendantur des bayerischen Staatstheaters nicht wegen des Kruzifixes, sondern wegen des großen Erfolgs ihrer politischen Spielpläne mehrheitlich die Stimme. Das ist bayerische Lebensart, Theater Wirklichkeit und Wirklichkeit Theater werden zu lassen.
Der Kenner des bayerischen Milieu-Katholizismus wird einschränken: Das ist vor allem katholisch geprägtes Theater mit stark altbayerischer Tradition. Die meisten protestantischen Nord- und Mittelbayern, selbst überzeugte evangelische Christen, fahren nicht zur Groß-Demo nach München. >Lutherische< haben nun einmal ein anderes Verhältnis zu religiösen Symbolen als die sinnlicheren Altbayern mit ihren Heiligen. Die meisten Lutherischen bleiben zu Hause und überlassen das Spektakel einer erzkatholischen Minderheit, die sich für die Mehrheit ausgibt.
Der aufmerksame Beobachter erkennt auf der bayerischen Bühne und im Zuschauerraum auch (noch) einige Sozialdemokraten und Liberale, die nicht demonstrieren gehen. Sie werden in Bayern toleranter Weise >unsere Sozis< und >Freigeister< genannt. Das sind in Bayern geschützte Ehrennamen, sonst hätte man ja nicht einmal mehr eine nominelle Opposition. Leben und leben lassen – solange sie unter dem Kruzifix zur bayerischen Lebensart stehen. Andernfalls droht, wie dem Oberpfälzer >Querulanten<, aus staatsbayerischer Nächstenliebe, die Einweisung in die psychiatrische Klinik oder die soziale Ausgrenzung. Dees lingge Gschwerl! Greizhalleluia!
Führende CSU-Politiker und mit ihnen im Chor zahlreiche kleine christsoziale Mitstreiter machen gar keinen Hehl daraus: Es geht nicht um die Botschaft Jesu Christi, es geht nicht um christliche Glaubensinhalte als solche und schon gar nicht um Dogmen. Es geht im >christlich-abendländischen Bollwerk Bayern< um eine spezifische Lebensart und deren folkloristischen Ausstattung mit Dekorstücken christlich-abendländischer Kultur (…). Die führenden CSU-Politiker benutzen das Kruzifix als soziales Bindemittel. Noch immer haben religiöse Symbole sozial-kohäsive Funktionen. Das Kruzifix gehört zu Bayern wie der Chiemsee und die Berge, wie der Maßkrug und der Maibaum, so formulierte es Stoiber auf dem CSU-Parteitag. Und wie die CSU. >Himmelherrgott! Kruzifix! Sakratie! (…) Die CSU-Führung sichert sich erneut mit dieser Glanznummer christlich-abendländischer Agitation die absolute Mehrheit in Bayern. Dabei fällt immer auch etwas für den Klerus ab. Es geht um Machtpolitik, die sich populistisch der Folklore bedient. (…) Das Kruzifix-Urteil war ein unverhofftes Geschenk von oben. Jetzt kann die CSU mit christlicher Agitation wieder ihr hohes >C< aufpolieren. Die nächsten Wahltage werden für die CSU kraft >Kruzifix-Urteil< zu wahren Erntedank-Festen werden.“
Wer so respektlos schreibt und witzelt und dabei womöglich noch Recht hat, fällt bei CSU-Granden und ihren Anhängern in Ungnade. Leserbriefe und privat adressierte Post trafen wieder einmal ein und fragten, wie ich als ein Bayer so grantig daherreden könne. Damit hatte ich in CSU-Kreisen wohl die letzten Sympathien verspielt. Sie waren, wie mir whistle-blower zutrugen, nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Zuerst der Madonnen-Streit und dann auch noch diese halb ernsten, halb spöttischen Auslassungen in der linksliberalen Presse! Nun war ich endgültig entlarvt und unten durch. Ich hatte mich als freischwebender Intellektueller erneut zwischen die Stühle gesetzt.
Katholisch-bayerische Identitätskampagne: Aktionseinheit von Staat und Kirche
Auf der politischen Ebene ging es in der Kruzifix-Debatte um die kollektive Identität der bayerischen Heimatwelten, um „Bayerisches“ und „Nichtbayerisches“, um das bayerische „Wir-Gefühl“ in Abgrenzung von anderen. Die äußerst freundliche Kooperation von bayerischer Staatsregierung und katholischer Kirche schlug sich in wechselseitiger agitatorischer Indienstnahme nieder. Es kam zu einer politischen Aktionseinheit von Staat und katholischer Kirche und ihrer Laienorganisationen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern reagierte hingegen gelassen und in gemäßigtem Ton. Am wenigsten sahen sich Repräsentanten der Evangelisch-Reformierten Kirchen von dem Urteil betroffen. In ihren Kirchen werden aus grundsätzlichen Glaubensgründen keine Kreuze aufgehängt. Reformierte sahen im dem Urteil keinen Angriff auf das christliche Abendland. Die Kampagne war im Wesentlichen eine katholische Streitsache und hatte theologisch betrachtet ihren Kern im anderen Kirchenverständnis des Katholizismus. Unter politisch-kulturellen Gesichtspunkten war die Kruzifix-Debatte eine katholisch-bayerische Identitätskampagne. Da sage einer, es habe keinen politischen Katholizismus mehr gegeben!
Die bayerischen Regierungs- und Mehrheitspartei, die CSU, und die bayerische Staatregierung instrumentalisierten den Protest gegen das Urteil zum Zwecke des Machterhalts und zur Bindung insbesondere der katholischen Wählerschaft an die CSU. Die in Bayern fast selbstverständliche Gleichsetzung von CSU und Bayern veranlasste die bayerische „Staatspartei“, die politisch-kulturelle Identitätsfrage zu stellen und das Bayerische zu verteidigen. CSU und Staatsregierung nutzten die Argumentationsschwächen und Informationsmängel des Bundesverfassungsgerichtes zu eigenen agitatorischen Mobilisierungszwecken. Sie bedienten mit ihrem christlich-abendländisch aufgeladenen, konfessionellen Populismus katholische Heimatsphären. Die politischen Identitätsmanager übernahmen in der sich selbst zugeschriebenen Rolle des Hüters und Pflegers bayerischer Heimatwelten die Argumente des Sondervotums der „Dreier Gruppe“. Zugespitzt formuliert hieß ihr Verteidigungsplädoyer, dass niemand das Kruzifix theologisch und dogmatisch (mehr) ernst nehmen müsse. Es gehe um den mentalen Traditionskitt und die kollektive Identität, nicht um dogmatische Glaubensinhalte. Dieses Plädoyer glich sinngemäß dem im Streit um das Passauer Universitätslogo. Aus der Perspektive des staatsbayerischen Identitätsmanagements lautete die Kritik am Mehrheitsurteil des Bundesverfassungsgerichtes: weltfremd, antibayerisch, im Kern päpstlicher als der Papst, dogmatisch befangen. Die Heftigkeit des Kruzifix-Streites verdeckte jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung eine auch in Bayern zu beobachtende, allgemeine Tendenz der Abkehr von institutionalisierter Religion und Amtskirche. Religiöse Indifferenz nimmt nachweislich auch in Bayern zu, macht möglicherweise die wirkliche Mehrheit aus. Die Katholiken, die auf der Großdemonstration in München demonstrierten, repräsentierten höchstwahrscheinlich selbst in der katholischen Bevölkerung eine Minderheit. Die lautstarken und vehementen Wortmeldungen kamen aus den kirchen- und glaubenstreuen Kreisen und von Seiten christlich-sozialer Identitätsmanager. Die Organisatoren deuteten die Masse der Demonstranten propagandistisch zu einer Mehrheit um. Wie schön, dass die Großdemonstration zur Zeit des Oktoberfests stattfand. In Würzburg wiesen die Organisatoren der zwei Sonderzüge die Teilnehmer darauf hin, dass sie im Anschluss an die Demonstration in München das Oktoberfest besuchen könnten (Main-Echo Nr. 219, 23.091995), was also auf eine Freifahrt hinauslief.
Großdemonstration gegen das Kruzifix-Urteil am 26.09.1995 in München
Sie stand unter dem Motto „Das Kreuz bleibt – gestern, heute und morgen“. Veranstalter waren bezeichnenderweise die römisch-katholische Amtskirche der sieben Bistümer Bayerns, das Landeskomitee der Katholiken in Bayern und die Organisatoren der katholischen Laienorganisationen vor Ort. Diese organisierten den Transport Tausender Demonstranten in Sonderzügen nach München. Die Polizei schätzte die Teilnehmerzahl auf 25.000, die Veranstalter auf 30.000 Teilnehmer. Unter ihnen waren: fünfzehn katholische Bischöfe und ein Weihbischof, beispielsweise der Erzbischof von München und Freising Kardinal Friedrich Wetter, Domkapitulare, die „Marianische Männerkongregation“, katholische Burschenschaften und Schützenverbände. Von der bayerischen Staatsregierung nahmen der Ministerpräsident Edmund Stoiber, der Leiter der Staatskanzlei Erwin Huber und fast die Hälfte des Kabinetts teil. Und selbstverständlich trat der damalige CSU-Landesvorsitzende und Bundesfinanzminister Theodor Waigel auf. Repräsentanten anderer Glaubensgemeinschaften, so der evangelisch-lutherischen Kirche, der orthodoxen Kirche und der jüdischen Gemeinde, waren als Gäste eingeladen. Es handelte sich folglich zu allererst um einen Riesenaufmarsch der katholischen Streitkräfte in Bayern. Ein politischer Katholizismus zeigte seine Zähne. Die Kruzifix-Debatte erwies sich primär als eine römisch-katholische Angelegenheit
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Logischerweise stützten die Gegner des Urteils ihre Argumentationsstrategie ganz auf kulturelle Traditionsfakten und vermieden jeden Verweis auf Glaubensinhalte. Die Rettung des Kreuzes im Klassenzimmer war im säkularisierten Staat nur um den Preis der Leugnung seiner Glaubensinhalte zu erkämpfen. Der Landessuperintendent der Evangelisch-reformierten Kirche mahnte die Katholiken sich zu mäßigen: „Wir verlieren nichts, und wir bitten die katholischen Mitchristen, im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht zu schnell einen Angriff auf das christliche Abendland und unseren gemeinsamen Glauben zu sehen.“ Die politische Aktionseinheit von Staat und katholischer Kirche und Laienorganisationen drängte geradezu die Frage auf, ob wir es im Falle des Freistaates Bayern tatsächlich mit einem säkularisierten Staatsgebilde zu tun haben. Die vielfältigen engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die zum Teil geradezu symbiotischen Verhältnisse und das geschmeidige Miteinander, die in der Kruzifix-Debatte zum Ausdruck kamen, hinterließen eher den Eindruck eines semi-säkularisierten Staates. Das katholisch-staatsbayerische Identitätsmanagement glaubte offensichtlich, die pluralistische Gesellschaft noch einmal auf einer katholischen Wertegrundlage integrieren zu können. Wie lange eine solche Strategie noch wirklich greifen wird, ist angesichts des zunehmenden Säkularisierungsdruckes, der auch in Bayern in den letzten beiden Jahrzehnten zu beobachten war, fraglich geworden. Das Diktum des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst–Wolfgang Böckenfördes, der freiheitliche säkularisierte Verfassungsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren und über die er nicht verfügen kann, gilt auch für Bayern. Noch gelingt es der bayerischen Staatsführung, die säkularisierenden Kräfte abzubremsen und die politisch-kulturelle CSU-Hegemonie staatsprotektionistisch zu stützen. Doch wird sich die katholische Kirche, die unter hohem säkularen Druck steht und auch in Bayern zusehends an Boden verliert, um ihrer Glaubwürdigkeit willen auf ihre ureigene christliche Kernaufgabe besinnen müssen. Der bayerische Milieu-Katholizismus und seine Gesinnungsgemeinschaften und Traditionsverbände sind zwar immer noch vitale staatstragende Kräfte, ob sich aber nach mehr als zwei Jahrzehnten so eine Verteidigungsaktion wiederholen ließe, scheint mir angesichts aktueller Entfremdungsprozesse fraglich zu sein.
Kirche im römisch-katholischen und im evangelischen Verständnis
Was in etlichen Kommentaren angesprochen, aber nicht weiter erörtert wurde, war das römisch-katholische Kirchenverständnis, welches von den katholischen Streitkräften geflissentlich nicht thematisiert wurde, weil es in den Auseinandersetzungen der Argumentationsstrategie zuwidergelaufen wäre. Dieses lässt sich aus dem Katechismus der katholischen Kirche (KdkK, 1993, S. 227-237) erschließen. Danach ist, alle dogmatischen Aussagen zusammengefasst, Kirche der Leib Christi. „Christus ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche.“ Wer das Kruzifix abnimmt, nimmt Christus ab, und wer Christus abnimmt, nimmt zugleich die Kirche vom Nagel. Die Forderung, ein Kruzifix abzunehmen, trifft, um im dogmatischen Bild zu bleiben, ins Mark Christi und damit in das der Kirche. Der katholische Klerus rief zur Feldschlacht gegen das Kruzifix-Urteil, weil es letztendlich – im dogmatischen Sinne – um seine Existenz ging.
Im Gegensatz dazu sind Kirchen nach evangelischer Auffassung von Menschen gebaute, weltliche Institutionen, in denen sich gläubige Menschen organisieren und zur Ehre Gottes versammeln. Die evangelischen Kirchen verstehen sich nicht als „überirdische“ oder „mystische“ Organanteile Christi. Sie kennen keine oberste und zentrale, für alle verbindliche Autorität und apostolische Stellvertreterschaft Christi. Die Kirche kann im evangelischen Verständnis Gläubige in ihrer Suche nach Heil bestenfalls unterstützen, aber kein Heil allein kraft ihrer Existenz und Autorität vermitteln. Der glaubende und Heil suchende Mensch steht in unmittelbarer Beziehung zu Gott. Der evangelische Altverfassungsrichter Helmut Simon (1922-2013) lobte deshalb das Kruzifix-Urteil: „Das BVG macht Ernst damit , dass das Kreuz das zentrale Symbol des christlichen Glaubens ist.“
Die fünf Bundesverfassungsrichter hatten gute Gründe, das Kreuzsymbol nicht auf das katholische Verständnis bayerischer Heimat- und Kulturatmosphären zurückstutzen zu lassen.
Herausforderungen des säkularisierten Staates
Das Problemfeld Religion hatte mich immer evolutionstheoretisch, religionsgeschichtlich und soziologisch interessiert. Die heftigen Auseinandersetzungen über das fragwürdige Logo der Universität Passau hatten in den neunziger Jahren und über meine aktive Zeit als Hochschullehrer hinaus meinen Blick für die Herausforderungen des säkularisierten Staates von heute geschärft. Ich verfolgte aufmerksam und kontinuierlich die öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Beiträge über das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland, über das institutionelle Selbstverständnis der christlichen Großkirchen, über die verschiedenen Kooperationsformen zwischen staatlichen und kirchlichen Institutionen, über die staatliche Besoldung der katholischen Kleriker, über den Mitgliederschwund der Kirchen, über Fragen des Religionsverfassungsrechtes in Hinblick auf die Integration von Muslimen, über Konkordatslehrstühle und über Fragen der allgemeinen Religionsentwicklung. So trug der Passauer Streit über die „Maria vom Siege“ im Universitätsemblem noch einmal späte wissenschaftliche Früchte. Der Leiter des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Kollege Prof. Dr. Gian Enrico Rusconi, lud mich zweimal zu einem Vortrag ein. Im November 2005 ich in Trient im Rahmen eines Symposions über das Kruzifix-Urteil, im Oktober 2006 über „Herausforderungen des säkularisierten Staates heute. Kruzifixdebatte, Moscheenbau, Marktl, Konkordatslehrstühle und anderen Formen freundlicher Kooperation.“ Beide Vorträge fasste ich in meinem Beitrag zum Sammelband „Der säkularisierte Staat im postsäkularen Zeitalter“ zusammen. Die zornig geführte Kruzifix -Debatte und die demagogische Polemik katholischer Kreise veranlassten mich, in meinen Lehrveranstaltungen noch tiefer in Max Webers Wissenschaftslehre und Religionssoziologie hineinzuführen. Die Werturteilsproblematik stand auf dem Lehrplan. Im Weltkatechismus der katholischen Kirche (1993, S. 234,237) wird behauptet, die Kirche „ist mystischer Leib Christi“. Was ist empirische Tatsachenaussage, was wertendes Raisonnement von Religionsvirtuosen? Studierenden fiel es besonders schwer, zwischen „wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertenden Raisonnements“ zu unterscheiden (Max Weber, 1988: Wissenschaftslehre, S. 157).
Natürlich interessierten mich nach wie vor die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge und Verhältnisse in Bayern und wie clever die CSU daraus ihren Nutzen zog. Doch wuchs meine innere Distanz zum „kleinen bayerischen Welttheater“, zu seiner CSU-Intendantur, zu seiner Regie und seinem Ensemble. Sie brachten für mich keine wirklich neuen Überraschungen und Erkenntnisse mehr, sie langweilten mich. Meine seit Mitte der 1980er Jahre in vielen Vorträgen gebotenen und in verstreuten Artikeln publizierten wissenschaftlichen Analysen zum Thema „Bayern nach 1945: Gesellschaft – Politik – Staat“ fasste ich 1998 am Ende meiner Amtszeit in meinem Buch über „Die CSU-Hegemonie in Bayern“ zusammen und wand mich dann anderen Themen zu.
Wow, Du bist ja ein richtiger Revoluzzer, aber hast durchaus Recht. Sei froh, dass Du nicht im Mittelalter gelebt hast!