33. Begegnungen mit Jean Paul

Auf dem Weg zum modernen Atheismus

Themenwechsel, Szenenwechsel, literaturgeschichtliche, religionsgeschichtliche und kosmologische Grenzgänge zur Selbstfindung und Selbstverortung. Vom Glück im heutigen Westeuropa zu leben.

Familien- und gewerbegeschichtliche Begegnung

Dem aus der ehemaligen brandenburgischen Markgrafschaft Bayreuth stammenden Schriftsteller Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825), der sich später kurz Jean Paul nannte, begegnete ich in Hof an der Saale auf familien- und gewerbegeschichtlichen Wegen, in seinen Werken als einem mutigen und visionären Freidenker und als einem Schriftsteller, der seinen beißenden Spott über deutsche Kleinstadtspießer auskübelte. Er machte sich über die Stadtprominenz „Kuhschnappels“ im „Fürstentum Flachsingen“ lustig, gemeint waren die Honoratioren in der Markgrafschaft Bayreuth. Und zu diesen Honoratioren gehörte von 1800/1801 bis zu seinem Tode auch mein Ururgroßvater, der Buchdrucker und Zeitungsverleger Johann Heinrich Mintzel (1763-1840). Jean Paul und mein Ururgroßvater waren im selben Jahr geboren, Mintzel in Bayreuth, Jean Paul in Wunsiedel. Die beiden lernten sich in ihren Jugendjahren in Hof kennen, Jean Paul als Primaner und Alumnus des Hofer Gymnasiums, mein Ururgroßvater als Lehrling in der Druckerei des Gymnasiums. Die ehemalige Mintzelsche Druckerei war um 1761/62 ins Eigentum des Gymnasiums übergegangen und dort im Erdgeschoss eingerichtet worden. Jean Paul und Mintzel gingen im alten Schulhaus ein und aus: Der eine stand im Erdgeschoss des Schulgebäudes am Setzkasten und an der Presse, der andere besuchte im ersten Stock den Unterricht und wohnte als Alumnus unter dem Dach des Gebäudes. Der Primaner brauchte nur eine Treppe hinunterzugehen und im Erdgeschoss links die Tür zum großen Raum zu öffnen, schon stand er an der Schwelle zur Druckerei. Der hochbegabte Schüler war viel zu neugierig und entdeckungsfreudig, als dass er es versäumt hätte, einen Blick in die Druckerei zu werfen. Mag es auch sehr flüchtig gewesen sein, sie kannten einander. Jean Paul war, wie aus seinen Romanen hervorgeht, mit den Verhältnissen des Hofer Verlags- und Druckereiwesens gut vertraut gewesen. Beide bewegten sich im gleichen protestantischen Milieu „Kuhschnappels“. Beide Familien waren gleichermaßen tief im markgräflich-brandenburgischen Raum verwurzelt. Vermutlich hatte Jean Paul schon als Gymnasiast darüber nachgedacht, bei wem er seinen Erstling in Druck geben könnte. Nur wenige kannten die heimlichen schriftstellerischen Neigungen des armen Primaners. Keiner ahnte in jenen Jahren, dass die an großen Talenten arme Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth mit Jean Paul ihren großen Schriftsteller erhalten sollte, ähnlich wie später die Mark Brandenburg ihren Theodor Fontane oder der Böhmerwald seinen Adalbert Stifter. Wer die Verhältnisse in den Mikrowelten der kleinen Ackerbaustadt Hof im imaginären Fürstentum Flachsingen, in Jean Pauls „Kuhschnappel“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts, kennenlernen will, muss Jean Pauls Romane lesen: „Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz“ (1793), die „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke des Armenadvokaten Siebenkäs“ (1796/97), kurz, den „Siebenkäs“, „Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten“ (1797) und „Die Flegeljahre“ (1804/05). Jean Paul kannte Hof wie seine Westentasche und bedachte in seinen Werken die dortigen Bürger mit Spott und Hohn, was sie ihm erst posthum verziehen. Mein Ururgroßvater kaufte 1801 die ehemalige Mintzelsche Druckerei vom Hofer Gymnasiums zurück und erwarb zugleich den Zeitungsverlag des „Hofer Intelligenz-Blattes“. Auch er war, wie er in seiner Autobiografie bekannte, „der Schreiberey zugetan“, musste sich allerdings mit der Redaktion seines Zeitungsblattes begnügen, während Jean Paul in den Olymp der Weltliteratur aufstieg.

Für mich gewann Jean Paul als poetischer Schriftsteller über die familiengeschichtliche Begegnung weit hinaus noch eine ganz andere Bedeutung. Er hatte in seinen skurrilen Erzählungen das Komische im Abgründigen zur Sprache gebracht und rotzfrech über die Eitelkeiten und Wichtigtuereien beamteter und nicht beamteter Spießer hergezogen. Die Lektüre seiner Schriften schützte mich beim Marienstreit an der Universität Passau mental und intellektuell vor dem stupiden Eifer der Traditionsverehrer. Ihre Rettungsaktionen waren so komisch und einfältig, dass ich mich an manchen Abenden in meinen Sessel zurücklehnte und herzhaft lachte. Die Verteidiger der „Siegerin in allen Schlachten Gottes“ merkten anscheinend nicht, dass sie ihrer martialischen Maria dabei halfen, an der Universität Passau die letzte Schlacht zu verlieren. Jean Paul hätte daraus ein literarisches Meisterwerk gemacht, eine ergötzlich-fulminante Geschichte geschrieben. Er hätte das religiös Hintergründige, das Komische im religiös Abgründigen aufgezeigt und Kollegen – unter hübsch trefflichen Namen versteht sich – als akademische Miefbolde und „Wutz-Figuren“ zur literarischen Belustigung vorgeführt und blamiert. Wie kann der Präsident einer bayerischen Universität allen Ernstes behaupten, die „Maria vom Siege“ im Emblem der Universität sei in Bayern reines Dekor, das keine religiös-konfessionelle Inhalte transportiere! Ich hätte allzu gern ein spöttisches Dornenstück darüber geschrieben.

Begegnung mit dem Freidenker

„Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“

Was mich jedoch zuinnerst ergriff und mein weltanschauliches Denken nachhaltig prägte und ausrichtete, war Jean Pauls grauenhafte visionäre Weltschau, die seither als ein Lehrstück  des Atheismus diskutiert wird. Dieses ist der Grund, weshalb ich sie als Beispiel meiner Grenzgänge aufnehme. In seinem Roman „Siebenkäs“ (1796/97) lässt der Freidenker Jean Paul den toten Christus vom Weltgebäude herab eine trostlose Rede halten, in der der Erlöser eingesteht, er habe überall im Kosmos Gott gesucht, ihn jedoch nirgendwo in den Weiten des Universums gefunden. Es gäbe ihn nicht, und deshalb sei er auch nicht Gottes Sohn – für gläubige Christen also eine doppelte Blasphemie. Ich könnte die wenigen Seiten hundertmal lesen. Kein einziges Mal würde mich der Text ermüden. Diese Vision gehört zu meinen existenziellen Schlüsselfragen und inneren Erlebnissen. An dieser radikalen Zuspitzung der Frage und Suche nach Gott messe ich seit Jahrzehnten  mein Denken und meine mentale Befindlichkeit.

Jean Paul zerfetzt die überkommenen kindlichen Bilder von einem schönen Himmel, an dem die Sternlein zur Freude der Menschen prangen. Er wischt die Wolken vom Bilderbuch-Himmel der Gottseligkeit, er verweist die Vorstellungen des Menschen von einem himmlischen Vater, der da oben thront und gnädig herabsieht auf seine Schöpfung, ins Reich heimeliger Fabeln. „Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an.“ Er verwirft das theologische Weltbild der großen Religionen und bringt, so scheint es, die Gedankengebäude seiner Zeit ins Wanken. Am Ende erschrickt er über die Horrorvisionen, die er zwar als Traumerlebnis ausgibt, aber doch als erahnte Wirklichkeit betrachtet, und vollzieht eine halbe Kehrtwendung. Ich nähme dem grandiosen Text mit seiner kosmischen Bilderfülle und seinen kühnen Visionen die ihm eigene elementare Wucht der Sprache, paraphrasierte und zerstückelte ich den Text zum Zwecke einer hermeneutischen Interpretation. Jean Paul hat lange an diesem Text gefeilt, bevor er ihn veröffentlicht hat. Ich rezitiere die aufwühlende und mitreißende Rede in ihrer verdichteten Kürze.

„Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die elf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in den großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatten, wie ein Netz immer näher, enger und heißer hereinzog. Über mir hörte ich den fernen Fall der Lawinen, unter mir den ersten Tritt eines unermesslichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Misstönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gifthecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter der erst in der Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr: er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und lösten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben im Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigener Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.

Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: >Christus! ist kein Gott? < Er antwortete: >Es ist keiner<. Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: >Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das seine Schatten wirft und schaut in den Abgrund und rief: >>Vater, wo bist Du? << Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäute sich — schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten, denn Er ist nicht! <

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: > Jesus! Haben wir keinen Vater? < – Und er antwortete mit strömenden Tränen: > Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater. <

Da kreischten die Misstöne heftiger — die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter — und die ganze Erde und die Sonne sanken nach — und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei — und oben am Gipfel der unermesslichen Natur stand Christus und schaute in das mit tausend Sonnen durchbrochene Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.

Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet, so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermesslichkeit und sagte: >Starres , stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? < — Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? — Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir — 0 Vater, 0 Vater! Wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? — Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgeengel sein? …

>Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur ein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf eure Erde herab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist das fallende.- Erkennst du deine Werde?<

Hier schaute Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: >Ach, ich war sonst auf ihr, da war ich noch glücklich da hatt‘ ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermesslichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tone: > Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und hebe ihn an dein Herz!< … Ach, ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: >auch mich kennst du, Unendlicher und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle< … Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einen schöneren Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegen zu schlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete ihn an: sonst hast du ihn auf ewig verloren. <

Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte, sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder und sie umfasste das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschet die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern… als ich erwachte.

Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe, vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus wie von fernen Abendglocken.“

Schaudern und Entsetzen

Die meisten Romane Jean Pauls gelten heute als verschnörkelte, bildreich wuchernde und thematisch ausufernde Sprachungetüme, die kaum noch gelesen werden. Aber dieser Text hat bis auf den heutigen Tag große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er wurde seither in unzähligen philosophischen, theologischen, religions- und literaturwissenschaftlichen Traktaten behandelt. Die einen sahen in dem Text ein kühnes Dokument des Atheismus, die anderen verstanden die Rede als Warnung vor dem Schrecken und Grauen des Unglaubens. Eine Welt ohne Gott versänke in einem infernalischen Chaos.

Jean Paul hält sich erst gar nicht bei den Grundfragen und Argumentationsgängen der Theodizee auf. Er fragt nicht nach Widersprüchen in den Zuschreibungen göttlicher Eigenschaften: Gott sei allmächtig, allwissend, allgütig, allgegenwärtig und absolut weise. Wie kann ein allmächtiger und liebender Gottvater die Gräueltaten gegen Alte, Kinder, Frauen und Gebrechliche zulassen? Wie kann ein allwissender und allgegenwärtiger Gottvater seine Geschöpfe den Schrecknissen einer zerstörerischen Welt preisgeben? Warum verhindert er nicht die Macht des Bösen? Jean Paul spitzt die Frage nach Gott radikal zu, die Toten fragen Christus: „Ist kein Gott?“ Und Christus antwortet lapidar: „Es ist keiner.“

Die doppelte Blasphemie besteht darin, dass Jean Paul damit Christus als Sohn Gottes und als von Gott gesandten Heiland leugnet. Wo kein Gottvater, da auch kein Gottessohn.

Der wahnsinnige Zufall ist es, der das Werde hervorbringt. Jede tröstliche Hoffnung, jeder Glaube an einen erlösenden Gott sei eine Illusion: „Es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater.“ Es gibt auch keine Auferstehung. Jean Paul macht, und das ist das Ungeheuerliche, Jesus nicht zum Verkünder einer Frohen Botschaft, sondern zu einem verstorbenen Berichterstatter über einen unermesslich weiten, kalten Kosmos. Christus, höchste Autorität der christlichen Religion, Erlöser und Offenbarer, widerruft heftig und entschieden die christliche Heilsbotschaft.

Nur ein warnender Albtraum?

Als Jean Paul aufwacht, erschrickt er zutiefst über die Botschaften seiner grauenhaften Traumbilder. Kaum sind sie verschwunden, bricht er in einen Freudentaumel aus. Jean Paul fühlt sich befreit von den Schreckensvisionen, die ihn im Traum heimgesucht hatten, kniet nieder und bekennt seinen Glauben an einen „unendlichen Vater“. Es sei ein Albtraum gewesen, in dem ihm der Horror einer gottlosen Welt vorgegaukelt worden sei. War es aber wirklich eine klare Kehrtwendung hin zum Glauben, die er mit dem Erwachen aus dem Albtraum vollzog? Oder gab er seinem Albtraum absichtlich eine Wendung, um es Kritikern und Gegnern zu erschweren, ihn für einen verkappten Atheisten zu halten? Hält er eine atheistische Weltsicht tatsächlich nur für eine Ausgeburt von Albträumen? Handelt es sich um einen traumbilderhaft verschlüsselten Atheismus? Oder um eine Warnung vor gottlosen Fantasien? Jean Pauls Text lässt gegensätzliche Deutungen zu. Die Diskussion darüber hält bis heute an.

Jean Pauls Traumvision fand in ganz Europa ein lebhaftes Echo. Madam de Stael machte die Christus-Rede schon 1810 in ihrem Buch „De 1′ Allemagne“ französischen Lesern bekannt. Durch Germaine de Stael wurden unter anderen Honore Balzac, Charles Baudelaire, Victor Hugo und Fijodor Dostojewski auf die Rede aufmerksam. Sie alle waren tief beeindruckt. Der französische Literaturhistoriker und Germanist Robert Minder (1902-1980) sagte in seiner Studie über Madame de Stael, die bizarre Vision vom toten Christus sei keine Blasphemie. Sie sei der Aufschrei des Schmerzes, Seufzen der verlassenen Kreatur, die das Todestal durchschreiten muss, ehe sie die Gnade der Erlösung findet.

Schaudern und Widerruf

Wie immer wir seine großartige Vision ausdeuten mögen, der Spötter Jean Paul sah sich noch anders vor. Er setzt seinem „Albtraum“ einen „>Vorbericht<“ voran, in dem er sich für die Kühnheit seiner Dichtung entschuldigt und die Leser beschwichtigt, er wolle nicht die Existenz Gottes leugnen. Er gibt zwar spöttisch und bissig zu, mit seiner „Dichtung einige lesende und gelesenen Magister in Furcht zu setzen“, erklärt aber halbernst, dies nur deshalb zu tun, weil „diese Leute“, von der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen, „das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre“. – Eine köstliche Ironie!

Jean Paul zerstreut schleunigst jeden Verdacht, er sei vielleicht doch ein „Gottesleugner“, der mit seinem Atheismus „das ganze geistige Universum (…) zersprengt (…) in zahllose quecksilberne Punkte des Ichs.“ Am Ende kehrt er wieder zurück in „eine frohe vergängliche Welt“ und in eine Natur, von der friedliche Töne ausgehen, „Kuhschnappel“ und frommer Kleinbürgergeist holen ihn wieder zurück. Jean Paul brachte, so wird heute argumentiert, mit seinen großartigen lyrisch-visionären Szenen die existenzielle Angst zum Ausdruck, die Panik, die den Menschen erfasst, wenn er mit dem Atheismus und Nihilismus konfrontiert wird.

Wir dürfen es ihm nicht verdenken, dass er vor dem Abgrund zurückschreckt und zurückweicht. Jean Paul hatte nicht vergessen, dass er wegen seiner scharfsinnigen, kühnen Abschiedsrede am Gymnasium von Hofer Frommbürgern des Atheismus bezichtigt und gemieden worden war. In einer halben Rückwendung rettet er sich in den Glauben an die Seelenwanderung, die er mit dem Atheismus für vereinbar hält. Er kniet nieder und meint, indem er am Glauben an die Seelenwanderung und an einem undogmatischen Deismus festhält, sich auf den vermeintlich sicheren Boden einer frohen, vergänglichen Welt zwischen dem Himmel und der Erde retten zu können. Er flüchtet ins Gebet und macht seinen Kotau vor Gott. Zahlreichen Interpreten, seien es Theologen, Philosophen, Germanisten oder Literaturwissenschaftler, erörterten den berühmten Text und seine geistigen Botschaften im Zusammenhang mit den theologischen und philosophischen Schriften und Richtungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Auch Gespensterglauben und Friedhofsängste jener Zeit, vor denen es Jean Paul gegruselt hatte, wurden in die Deutungen gelehrter Traktate mit einbezogen. Theologen machten aus dem literarischen Meisterwerk ein Glaubenszeugnis, zu dem sich ein zutiefst erschrockener Zweifler und Sinnsucher durchringt. So gut wie alle kamen zu dem Ergebnis, Jean Paul habe zum christlichen Glauben zurückgefunden, mag es auch ein Gottesglauben ohne Dogma gewesen sein.

Vorwegnahme einer modernen Kosmologie

Welch ein spektakulärer Blick in den Kosmos! Welch eine großartige Ahnung von den Tiefen des Universums! Ich staune wie nahe Jean Paul dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild kommt, wie seine sprachlichen Bilder heutige Blicke in den Weltraum vorwegnehmen. Welten, Wüsten des Himmels, ewige Staubstürme in den kosmischen Weiten, Chaos, unzählige Sonnen, ewige Schwärze zwischen den Sternenwelten, Sternen-Schneegestöber, Nebel-Welten, Milchstraßen wie Silberadern — „aber es ist kein Gott!“ Jean Paul ist mit seinen visionär erdachten Traumbildern einen Moment lang seiner Zeit weit voraus. Mit seiner kosmischen Schau der tausend Sonnen, der Staubwolken aus Totenasche und einer Vielzahl von Milchstraßen (Galaxien) nimmt er Bilder vorweg, die große Weltraumteleskope erst im zwanzigsten Jahrhundert liefern werden. „Unser heutiges Bild vom Universum“, so belehrt uns der Astrophysiker Stephen W. Hawking, „nahm erst 1924 Konturen an, als der amerikanische Astronom Edwin Hubble zeigte, dass es neben unserer Galaxie noch viele andere gibt, zwischen denen weite Strecken leeren Raums liegen.“ (Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988, S.54). Zweihundert Jahre später spitzt Hawking die Frage nach der Existenz eines Schöpfers erneut zu und Philosophen und Theologen laufen Sturm gegen seinen Atheismus. Es gibt keinen „kosmischen“ Christus, der uns erlöst. Ein kosmisches Inferno wird uns, sollte es uns noch geben, für immer vernichten. Jean Pauls Vision von der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab war eine Vorahnung dessen, was wir heute wissen. Eine Sonne um die andere wird ausgeweht, wie es Jean Paul poetisch ausdrückt.

Am 8. September 1988 entdeckte der deutsche Astronom Freimut Börngen, ein passionierter Galaxien- und Asteroiden-Forscher, an der Thüringer Landessternwarte Tautenburg einen weiteren Asteroiden und gab ihm den Namen „(14365) Jeanpaul“. Es ist ein Hauptgürtelasteroid, der mit einer mittleren Geschwindigkeit von 18,20 Kilometer pro Sekunde durch den Weltraum rast.

(https://de.wikipedia.org/wiki/(14365)_Jeanpaul 15.01.2017.)

Jean Paul hat diese Ehrung verdient. Er ist in dieser Weise auch in die Geschichte der modernen Astronomie eingegangen.

Die Zukunft der Erde – Untergangsszenarien

Das Schicksal der Erde liegt nach heutigen astrophysikalischen und kosmologischen Kenntnissen relativ klar vor unseren Augen. Vermutlich wird sich die Sonne, wenn sie ihren Vorrat an nuklearem Brennstoff verbraucht hat, zu einem riesigen Glutball aufblähen. Der rote Riese wird von innen nach außen die Planeten zu Schlacken machen, die Schlacken verschlucken und infernalisch kollabieren. Unsere Erde wird am Ende in einen Klumpen aus geschmolzenem Gestein verwandelt. Schon bevor sich die Sonne vollends zu einem roten Riesen aufbläht, wird das Ende des irdischen Lebens besiegelt sein. Eine ständig zunehmende Sonneneinstrahlung wird in einigen Milliarden Jahren alles Wasser verdampfen. Dürre und Feuer kündigen die tödliche Gefahr an. Die Vegetation wird versengt und vernichtet werden. Die Ozeane verdunsten. Die Temperatur wird schließlich 2000 Grad Celsius übersteigen. Die Sonne selbst wird ihre äußere Hülle in einer heftigen Teilchenströmung verlieren, unter der Kraft ihrer Massenanziehung kollabieren und am Ende zu einem winzigen, leuchtschwachen Zwerg schrumpfen. Dieser Zwerg wird von ein paar eisigen, erstarrten Planetenkörper in ewiger Dunkelheit umrundet. (Reisen durch das Universum. Die Grenzen der Zeit, S.8).

Ein anderes Untergangsszenario sagt voraus, dass in etwa zweieinhalb Milliarden Jahre Andromeda-Galaxie und Milchstraße kollidieren werden. Der Zusammenstoß selbst wird mehrere hundert Millionen Jahre dauern. In einem intergalaktischen Sternenwirbel werden unsere Sonne und unser Heimatplanet aus ihren galaktischen Verankerungen gerissen und in andere Regionen katapultiert. Die Erde wird irgendwohin in die Dunkelheit des Kosmos taumeln. Noch ehe sie nach heutigen Berechnungen von der Glut des roten Riesen verschlungen würde, verschwände sie im eisigen Weltraum. Alles irdische Leben wäre schon früher zu Ende.

Ob es nun so oder so enden wird: Keine Religion wird den kommenden Untergang der Menschheit aufhalten.

Kosmischer Exodus

Die Menschheit werde sich, so sagt Stephen W. Hawking voraus, Ausweichmöglichkeiten im Weltall für den Fall schaffen müssen, um einer hausgemachten Katastrophe zu entkommen. Die kosmische Migration könnte die Chancen verbessern, der Auslöschung unserer Spezies durch eine globale Katastrophe zu entgehen.

Die Einschiffung auf Weltraumfahrzeuge wird keine Watteausche „Einschiffung nach Kythera“ sein, keine friedliche Einladung zu einer Reise in idyllische Gefilde (Jean-Antoine Watteau, L´Émbarquement pour Cythere, 1717). Da werden keine Puttchen um die untergehende Sonne einen heiteren Reigen bilden. Wer die Letzten sein dürfen, werden allgewaltige Befehlshaber bestimmen, Herrscher der letzten Tage. Da wird kein Jüngstes Gericht sein vor einem Richter-Gott, der die Guten von den Bösen trennt, sondern eine erbarmungslose Selektion nach „Macht“ und „Ohnmacht“, nach „Tauglich“ und „Nichttauglich“ entscheiden. Nur wenigen „Auserwählten“ wird die Flucht auf eine kosmische „Insel des Glücks“ ermöglicht werden. Sie werden Gottes, wenn es ihn gäbe, neues „auserwähltes Volk“ sein. Das irdische Kythera versinkt mit seinen Göttern, das ist sicher, in der kosmischen Glut.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert