53. Abschied von der Bühne des Daseins

Endzeit des Lebens – Was bleibt?

„Tapfer sterben“, kein Hadern, kein Klagen, kein Jammern! Gelassenheit! Ist dieser Vorsatz, mit dem ich Blog-Kapitel 52 abgeschlossen habe, nicht zu pathetisch geraten? Von der Bühne des Daseins still Abschied nehmen, leise weggehen? Ist dies nicht nur eine Demutsbezeugung vor dem unausweichlich Absoluten? Was bleibt mir anderes übrig als gelassen zu warten? Wie könnte sich ein neugieriger Mensch, einer, der zeitlebens mit großem Interesse beobachtet hat, was um ihn herum und in der weiten Welt geschieht, gelassen und leise verabschieden? Viele aufregende Fragen sind offengeblieben, Fragen, die das eigene kleine Leben, und die ganz großen, welche die Menschheitsgeschichte und den Kosmos betreffen. Was bleibt von all dem, was ich unternommen, angestrebt und erreicht habe?

Es stürbe sich leichter, so habe ich irgendwo gelesen, wenn man vorher seine Biografie „geordnet“ habe. Dann sei man gut gewappnet, wenn der Tod kommt. Mit meinem Blog habe ich versucht meine Biografie zu ordnen. Aber was ist am Ende dabei herausgekommen? Als ich mit der Niederschrift begann, schien das erlebte Leben noch so nahe zu sein, dass ich meinte, es – trotz der eingestandenen Schwierigkeiten – wirklichkeitsnah schildern zu können. Jetzt, am Abschluss dieses autobiografischen Unternehmens, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es mir gelungen ist, die verschiedenen Lebensfragmente zu einem klaren Selbstbild zusammenzusetzen. Vieles ist schon so weit in die Vergangenheit gerückt, dass ich mir selbst fern vorkomme und mich kaum noch erkennen kann. Eine Autobiografie zu verfassen führt in viele Fallen und unterliegt selbstgefälligen Täuschungen. Ich stehe vor mir selbst wie ein Archivar des eigenen Lebens und suche nach Erinnerungsstücken. Als sei alles schon eine Ewigkeit her. Die Lebensbedingungen und Anforderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und der 1950er und 1960er Jahre waren so viel anders als die späteren Dekaden. Und auch ich bin nicht mehr der, der ich einmal gewesen war. Ich selbst kann meine Ängste, Kämpfe, schäbigen Handlungen, Niederlagen und Zweifel nur schwer nacherleben. Meine Triumpfe, Freuden und Höhepunkte sind längst verblasste Momente, die zu beschreiben mir nur andeutungsweise gelungen ist. Was ich zu Papier gebracht habe, scheint mir am Schluss noch fragwürdiger zu sein als zuvor. Doch war mir wichtig, so unzulänglich wie es auch immer ausgefallen sein mag, Ordnung und Sinn hineinzubringen, bevor andere sich bemühen und mir allerlei anhängen, was so nicht stimmt.

Gast auf der Erde und im Universum

Ich war Gast auf einem kleinen Flecken Erde und Gast in einem grandiosen Universum, das Milliarden Galaxien und Sterne ins Unendliche auseinander treibt. Ich hörte von den neuesten Erkenntnissen der Astronomie und der Astrophysik und sah die atemberaubenden Bilder, die uns Teleskope und Satelliten aus dem Weltraum senden. Das Hubble-Weltraumteleskop, das in 600 Kilometer Höhe im Erdorbit kreist, ist dreizehn Meter lang und kann mit seiner Optik in den galaktischen Wolken Vorgänge beobachten, die zuvor nie gesehen werden konnten. Mit seinen inzwischen Millionen Bildern hat Hubble die Astronomie revolutioniert. Mit ihm warf ich einen Blick in die unermessliche Unendlichkeit. Galaxien entstehen und sterben, Sterne werden geboren und sterben, Planeten bilden sich aus kosmischen Staubwolken und werden zu Klumpen und Schlacken. Menschliche Gehirne sind nicht für kosmische Größenordnungen gebaut. Zu sagen, man habe in kosmischen Maßstäben nur einen Wimpernschlag lang gelebt, ist euphemistische Poesie und anthropomorphisierende Verbildlichung. Menschen bedürfen offenbar der Selbsttäuschung über die Nichtigkeit ihres Daseins, in dem sie es mit schönen Worten maßstäblich “vermenschlichen.“ Die menschliche Hoffnung, unsterblich zu sein, ist angesichts des kosmischen Werdens und Sterbens ein Wahn. Gott, der ein ewiges Leben verspricht, ist eine evolutive Überlebensfantasterei des Menschen, ein Placebo, um den Schmerz unserer Endlichkeit erträglich zu machen. Auch die Götter der Menschen sind sterblich, sie wechseln seit Jahrtausenden in immer neuen Götterdämmerungen. Kein Pharao ist zurückgekehrt. Es gibt kein „Geistwesen“-Getümmel in den Raumzeitgefilden des Kosmos, es sei denn in den Halluzinationen unserer Ewigkeitsräusche. Da kommen die Schmerzpillen der Religionen ins Spiel. Ich brauche keine christlichen Schmerzpillen, keine Verheißungen, keine Hoffnung auf Heil, kein Gebet, keinen Gott. Solange wir in Erinnerung bleiben, leben wir im Gedächtnis fort. Gewiss ist, dass wir alle ins Reich der Vergessenheit eingehen werden. (aus meinen „Skizzen & Notizen“, 1999).

„Eine Generation kommt und eine Generation geht (…). Da gibt es keine Erinnerung an die Früheren. Und an die Künftigen, die sein werden, auch an sie wird man sich nicht mehr erinnern, bei denen die später sein werden.“ (Der Prediger Salomon, 1,11).

Am Ende kommt mir wieder der poetisch-visionäre Traum Jean Pauls ins Gedächtnis, in dem er – 1797 die moderne Kosmologie und Astrophysik vorwegnehmend – durch das Universum reist. Heute sehen und reisen wir mit Hilfe der wunderbaren Technik des Hubble-Weltraumteleskops bis an den Rand des Universums. Ich hatte damals, als ich vor Jahrzehnten Jean Pauls Vision zu ersten Mal las, tief beeindruckt  Textfragmente in freie Verse gebracht:

Ich ging durch die Welten,

ich stieg in die Sonnen

und flog mit den Milchstraßen

durch die Wüsten des Himmels,

aber es ist kein Gott.

Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft,

Aber ich hörte nur den ewigen Sturm.

Ich blickte auf zur unermesslichen Welt,

sie starrte aus leeren Augenhöhlen mich an.

Ich sah kein göttliches Auge.

Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es.

Ich schaute in die Weiten der Galaxien,

aber es ist kein Gott.

Es schreitet kein Gott in Orkanen

durch das Sternen-Schneegestöber.

Auf unserem kleinen Planeten ereignen sich täglich schreckliche und bestialische Dinge, und doch bin ich innerlich froh und zufrieden in einer Zeit gelebt zu haben, in der unser Wissen über die Welt im Kleinen wie im Großen, im Nahen und im Fernen so revolutionär vorangekommen ist. Edwin Hubbles Vermessung des Universums brachte die Erkenntnis, dass „da draußen“ sehr viel mehr Objekte existieren als erwartet, dass in den Tiefen des Weltalls mehrere hundert Milliarden Galaxien sich wegbewegen, immer tiefer in die unfassbare Unendlichkeit hinein. Die Milchstraße, unsere Heimat-Galaxie, ist mit einem Durchmesser von ungefähr 100.000 Lichtjahren nur eine verschwindend kleine unter den Milliarden. Ihre Spiralarme beherbergen Milliarden von Sternen, die altern und verlöschen. Riesen unter den Galaxien sind „gefräßig“, sie verschlingen kleinere, die ihnen zu nahe kommen. Die Sterne der kleineren Galaxien werden von den Giganten „aufgezehrt“. In den unvorstellbar fernen Welten ereignen sich Super-Explosionen. Astrophysiker haben jüngst Gravitationswellen registriert, die vor 1,3 Milliarden Jahren vom Zusammenstoß und von der Verschmelzung zweier Schwarzen Löcher ausgelöst worden sind. Vor solchen Zeit- und Evolutionspanoramen erscheint die bisherige Entwicklung menschlicher Zivilisationen so kurz wie ein Lichtblitz. Mag die moderne Wissenschaft die Lebensspanne des Menschen auf 120 und mehr Jahre ausdehnen, so währt das menschliche Leben, in kosmischen Maßen gedacht, doch nur einen extrem kurzen Moment. Welche Anmaßung ließe mich auf ein ewiges Leben hoffen? Ich werde sterben, wie Galaxien, Sterne und Planeten sterben – aber nicht mit einem lauten stellaren Knall. Sondern nach menschlichen Maßstäben ganz leise.

Von der Sache her ist es sicher fraglich, die grandiose kosmologische und astrophysikalische Vermessung des Kosmos mit der kleiner irdischer Forschungsfelder zu kontrastieren. Mit Staunen und Respekt verfolgte ich neugierig die rasanten Fortschritte bei den Erkundungen des Weltalls. Und mit argem Verdruss registrierte ich im Vergleich dazu die äußerst beschränkten Forschungsmöglichkeiten und Forschungsbedingungen meines Faches an deutschen Universitäten. Der Technologie, instrumentellen Ausstattung und finanziellen Ressourcen der Weltraumforschung steht in den sozialwissenschaftlichen Fächern nichts wirklich Vergleichbares entgegen. Die Kosten der Weltraumforschung sind extrem hoch. Ein paar Daten: Der deutsche Staat beteiligt sich an der Finanzierung für die International Space Station (ISS) bis 2019 mit etwa 346 Millionen Euro (SZ Nr. 66, 20.03.2018, S. 2). Nach Berechnungen des Forschungszentrums Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) wird der Asteroid „Bennu“ am 2. September 2135 gefährlich nahekommen. Sein Aufprall würde 80.000 Mal mehr Energie freisetzen als die Hiroshima-Atombombe. Die Folgen wären für die Menschheit verheerend. Um diese Gefahr abzuwenden, hat das Forschungszentrum bereits mit einer Weltraummission „Osiris Rex“ begonnen, die rund eine Milliarde Dollar kosten wird.

In der Parteienforschung bleibt es in der Regel beim „kleinen Handwerk“ auch in Forschungseinrichtungen, die größere international verankerte und verbundene Projekte ermöglichen. An den deutschen Universitäten verlieren sich die einschlägige Lehre und die Forschungsinitiativen in der Regel im Vielerlei unterschiedlich gewichteter Fragestellungen. Die Organisation von Symposien und Arbeitstagungen setzt zwar Akzente, führt aber in der Regel nicht zu koordinierten und zielorientierten Großprojekten.

Finissage – Eine letzte Arbeitsbilanz

Was war mein Anteil? In den 1970 und 1980 Jahren war ich zu einem überregional bekannten Parteienforscher geworden, dessen wissenschaftliche Prominenz nicht nur seinen Studien über die CSU und Bayern zu verdanken war, sondern auch meinen Abhandlungen über die Entwicklung der westdeutschen Parteien und des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland allgemein. Dazu hatten auch meine theoretischen Auseinandersetzungen mit den methodischen Ansätzen der Parteienforschung gezählt, die ich im Jahre 1984 in meinem Buch über Typologien der Volkspartei publizierte (siehe Blog-Kapitel l8). Nach meinem Ruf an die Universität Passau (1981) hatte ich gehofft, auf diese Forschungsleistungen aufbauen und langfristig größere Projekte durchführen zu können. 1987 hatte ich den aktuellen Stand und die Hauptaufgaben der deutschen Parteienforschung skizziert („Hauptaufgaben der Parteienforschung“, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 16, Nr.3, 1987), 1993 den Stand der CSU-Forschung („Die CSU in Bayern als Forschungsobjekt. Entwicklung, Stand, Defizite und Perspektiven der CSU-Forschung“,1993). Meine Forschungsperspektiven waren damit deutlich markiert. Wie ich schon in den Blog-Kapiteln 25, 28 und an anderen Stellen ausführlich geschildert habe, hatten sich diese Pläne nicht verwirklichen lassen. Es waren nicht nur äußere Faktoren daran schuld, die mich davon abgehalten haben, in der Parteienforschung kontinuierlich weiterzuarbeiten. Ich schreibe mir im Rückblick selbst ein Quantum an Fehlentscheidungen zu, die meine Arbeitskraft anderweitig in Anspruch genommen haben. Ich hätte mich als Ordinarius kraft Amtsprivilegien in der Fakultät wissenschaftsbetrieblichen Aufgaben und fächerübergreifenden organisatorischen Kooperationsnotwendigkeiten entziehen und auf eigennützige Forschungsarbeiten konzentrieren können. Ich hatte mich 1988/89 jedoch bereit erklärt, am Aufbau und der fachlichen Ausgestaltung des neuen Passauer Studienganges „Kulturwirt“ mitzuwirken (siehe auch Blog-Kapitel 28). Der unerwartet hohe Zuspruch und der große Erfolg dieses interdisziplinären Studienganges hatten dann in einem nicht vorhersehbaren Maße die Arbeitskräfte gebunden. Es hatte sich bald herausgestellt, dass das solitäre Kleinstfach Soziologie, das an der Philosophischen Fakultät nur mit einer Professur und zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgestattet war, in hohem Maße herausgefordert war, wahrscheinlich sogar überfordert. Meine zwei Mitarbeiter und ich wurden von der breit angelegten Lehre fast völlig erdrückt. Die legitimen und unabdingbaren wissenschaftlichen Eigeninteressen der Mitarbeiter hatten die Situation obendrein verschärft. Konflikte waren unvermeidlich. Eine Bündelung der Kräfte in der Parteienforschung war nicht möglich gewesen. Auch die Mittelausstattung des Lehrstuhls für den laufenden Betrieb war lächerlich gering: Pro Jahr standen für alle und alles 6000 Deutsche Mark beziehungsweise Euro zur Verfügung. Die sporadische Einwerbung von Drittmitteln lag unter diesem Betrag. Es war erstaunlich gewesen, was unter diesen Umständen überhaupt noch wirklich Gewichtiges hatte hervorgebracht werden können. Mein Frust war auf dem „Micky Maus-Lehrstuhl“ jedenfalls von Semester zu Semester gewachsen (siehe Blog-Kapitel 28). Ich verabschiedete mich schrittweise von der akademischen Bühne der deutschen Parteienforschung. Die letzte größere publizierte Forschungsleistung war mein Parteiporträt  von Bündnis 90/Die Grünen in Bayern, die 2014 im Historischen Lexikon Bayerns veröffentlicht wurde (>http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern<). Anfang der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts stieg ich dann auch aus dem Triumvirat der politikwissenschaftlichen „Bayern-Auguren“ aus, als das die Professoren Oberreuter, Falter und Mintzel in Medien oft hervorgetreten waren (Blog-Kapitel 26).

Schon am Ende meiner aktiven Berufsjahre hatte meiner Wahrnehmung nach mein Nimbus als Parteienforscher zu verblassen begonnen. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich mich damit abgefunden hatte. Anfangs haderte ich mit meinem Rückzug, war aber dann davon überzeugt, dass es sich für mich nicht mehr lohnen würde, auf diesem Feld weiterzuarbeiten. Der Erkenntnisgewinn schien mir, was die Wirklichkeitsausschnitte und Fragestellungen anbelangte, nicht mehr genug Gewicht zu haben. Mir war klar, dass es sich um temporär und räumlich sehr beschränkte Forschungsleistungen handelte (Notizen & Skizzen, Band 33. 2005/06) Meine Forschungsinteressen hatten sich mehr und mehr auf die „longue duree“ menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsprozesse konzentriert. Tagespolitische Ereignisse und Vorgänge, die in der aktuellen Parteienforschung im Fokus der Beobachtungen gestanden hatten, fand ich nicht mehr so interessant, um mich damit kontinuierlich befassen und auseinandersetzen zu wollen. Viele Diskussionen, die im Alltag hochkochen, sind kurzlebig. An öffentlichen Auftritten in Medien war mir nicht mehr viel gelegen. Gegenüber Kollegen, die ihre mediale Prominenz genossen, hegte ich keine Konkurrenz- und Neidgefühle mehr. Ich war auf den Feldern der Parteienforschung mit meinen bisherigen Leistungen, sprich wichtigen Publikationen, insgesamt mäßig zufrieden. Die letzte Anfrage, ob ich zu einem längeren Interview bereit sei, kam am Morgen des 12. März 2018 von der Rhein-Neckar-Zeitung herein. Ihre Politik-Redaktion wollte aus Anlass des personellen Wechsels im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten und der Berliner Regierungsbildung hören, wie ich die Politik und den Führungsstil des bisherigen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer einschätze. Noch einmal Stress? Schon wieder Fragen zur CSU-Politik!? Nein! Ich lehnte mit ein paar freundlichen Worten das Ansinnen ab. La cosa e finita! Tempi passati! Mit buchhalterischer Penibilität hielt ich den Zeitpunkt der Absage auf die Sekunde genau fest: 13.03.2018, 10.03.Uhr. Schluss! Alte Professoren sollten wissen, wann es an der Zeit ist, endlich abzutreten. Ich verspürte danach eine tiefe innere Ruhe. Es war gut so. Die sanften Klänge einer japanischen Bambusflöte, einer Shakuhachi (gesprochen: Schakuhaschi), begleiteten mich hinaus in eine neu gewonnene Freiheit.

Im Bereich der Kultursoziologie, einem anderen Schwerpunkt meiner Forschungsinteressen, befasste ich mich mit dem Kulturbegriff in der Soziologie und in Nachbarwissenschaften und dann, in der letzten Dekade meines Berufslebens, mit den Entwicklungen, Strukturen und Konflikten multikultureller Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Dabei traten die Makroanalyse und der Vergleich multiethnischer und multikultureller Megastädte, Megalopolen und Metropolen ins Zentrum meiner Lehre. Hierzu publizierte ich 1997 ein umfangreiches Lehrwerk (Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde. Passau 1997) und 1999 weitere Lehrmaterialien (Passauer Papiere zur Sozialwissenschaft. Begleitheft zur Lehre ISSN 0943-0733). Gerade auch diese neue Ausrichtung meiner sozialwissenschaftlichen Lehre führte von der Parteienforschung weit weg und in globale Forschungsgebiete hinein, in denen international zahlreiche Forscher, Forschungsgruppen und Institutionen tätig waren. Ich betrat neue Forschungsfelder, die in weltweite aktuelle Fragestellungen hineinführten und meine ganze Arbeitskraft in Anspruch nahmen. Zu spät! Und für einen „Micky Maus-Lehrstuhl“ nicht zu bewältigen! Ich musste schmerzlich erfahren, dass ein Solitär- und Kleinstfach Soziologie an einer niederbayerischen Universität, und dies vor allem in der empirischen Forschung, trotz großer Anstrengungen dazu wenig beitragen kann. Es bedarf einer international vernetzten Forschung und personell und finanziell angemessen ausgestatteter Forschungseinrichtungen, um die Hauptprobleme der heutigen Menschheit wissenschaftlich angehen zu können.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hatte ich in meinem zitierten Lehrkompendium (1999) zwölf globale Hauptprobleme der heutigen Menschheit benannt: 1. das Bevölkerungswachstum (die „Bevölkerungsexplosion“), 2. die atomare Bedrohung (nach dem „Kalten Krieg“), 3. Kriege (rund 200 Kriege in den letzten 50 Jahren), 4. ethnische und religiös-konfessionelle Konflikte mit Bürgerkriegscharakter, 5. die Massenmigration (die „neue Völkerwanderung“), 6. die ökologischen Krisen und die Bedrohung des Ökosystems der Erde, 7. Armut und Reichtum: Süd-Nord-Diskrepanz, 8. Gewalt, Genozide und Menschenrechte, 9. Verknappung primärer Ressourcen (z.B. „Kampf um Wasser“, 10. Verstädterungs- und Metropolisierungprozesse, Megastädte und Megalopolen, 11. die Alphabetisierung und Aufklärung großer Bevölkerungsteile in bestimmten Gebieten der Erde, 12. Erhöhung des politischen Problem- und Entscheidungsdruckes; Steuerungs- und Regulierungsnotwendigkeit und die defizitäre Führungskapazität politischer Eliten und Entscheidungsträger.

Ich hatte in der Lehre zu einzelnen dieser Problemfelder eine Menge Stoff zusammengetragen und für Lehreinheiten proportioniert. Als ich im Jahr 2000 pensioniert wurde, war klar, dass ich mich nun auch aus diesen Forschungsfeldern zurückziehen musste.

Nach meiner Entpflichtung als Hochschullehrer musste ich mich erst einmal an die neuen Gegebenheiten gewöhnen, nicht mehr über die Ressourcen eines Lehrstuhls zu verfügen, so gering sie auch immer gewesen waren. Mein breites Interessenspektrum bewahrte mich allerdings vor einem „Fall in die Leere“, vor der bangen Frage: „Was nun? Im Gegenteil, jetzt stand ich vor der Frage, welches meiner Forschungsinteressen Vorrang haben sollte. Zudem hatten sich meine künstlerischen Neigungen zurückgemeldet. Wissenschaftlich weiterzuarbeiten hieß in jedem Fall, alle dazu nötigen Hilfsmittel selbst zu besorgen und Texte selbst in den Rechner zu schreiben. Mir blieb als vordigitales Fossil nichts anderes übrig, als einen Computer anzuschaffen und mich in digitale Techniken und Kommunikationsformen einzuarbeiten. Ich trat in eine Übergangsphase ein, in der ich meine Interessen „sortieren“ und meine Kapazitäten neu gewichten musste. Der Sturz in den „Ruhestand“ wirkte sich vielmehr körperlich aus. Quasi über Nacht stellte sich eine partielle Stimmbandlähmung ein und erschwerte mir das Sprechen. Ein beginnender Morbus Parkinson fing an, mich in meiner Bewegungsfreiheit zu stören. In dieser relativ offenen, aber zugleich eingeschränkten Situation wandte ich mich noch einmal der regional und lokal überschaubaren Geschichte des Druckerei- und Verlagswesens Oberfrankens zu. Aus Anlass ihres 375. Jubiläumsjahres hatte mir die Firma Mintzel-Druck ihr gesamtes Archivmaterial übergeben. Das Archiv enthielt viele Dokumente, darunter zahlreiche handschriftliche und gedruckte Dokumente aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Vor allem die alten handschriftlichen Dokumente aus der Markgrafenzeit übten auf mich einen großen Anreiz aus, sie auszuwerten. Ich stellte ein anderes Wunschprojekt zurück, das in den 1990er Jahren nebenbei herangereift war: eine Einführung in Theorie und Empirie der soziokulturellen Evolution. Der Preis für diese Entscheidung war der selektive Bedeutungsverlust, nämlich die raumzeitliche Verkürzung wissenschaftlicher „Vermessung“ auf einen kleinen Flecken unserer Erde.

Seit meiner Jugendzeit hatte ich mich für die Geschichte der oberfränkischen Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel interessiert, die zwischen 1600 und 1844 in fünf Generationen ihr „gebildetes Handwerk“, wie es damals genannt worden war, kontinuierlich betrieben hatte. Die anfangs familiengeschichtlich motivierte Forschung hatte sich im Laufe der Zeit zu einer Geschichte des gesamten oberfränkischen Druckerei-, Verlags- und Pressewesen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart ausgeweitet. Dabei hatte ich mehrmals auch die jüngste politische Stadtgeschichte Hofs mit einbezogen. Die Forschungsergebnisse fasste ich nach meiner Pensionierung in dem zweibändigen Werk „Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie“ zusammen, das 2011 im Berliner Verlag Duncker & Humblot in hervorragender Qualität erschien. Ich erfüllte meine selbstgewählte familiäre Hausaufgabe zur vollen Zufriedenheit aller, die daran Interesse hatten und beteiligt waren. Von Anfang an war die lokale und regionale „Vermessung“ des Forschungsfeldes klar vorgegeben gewesen. Die Arbeit daran war anstrengend, machte mir aber großen Spaß. Ich haderte niemals mit dem solchermaßen begrenzten, aber für mich überaus fruchtbaren Erkenntnisgewinn darüber, woher ich stamme und was mich geprägt hat. Hier war ich mit mir einig (siehe Blog-Kapitel 38). Die Jahrzehnte währende Forschungsarbeit zur oberfränkischen Gewerbe- und Kulturgeschichte und zur politischen Geschichte der Stadt Hof fand im Jahre 2017 mit meinem Beitrag „Über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ ihren Abschluss. Der Artikel erschien im Band XI der „Chronik der Stadt Hof“. Damit verabschiedete ich mich endgültig als direkter Nachfahre des Gründers der ehemaligen Buchdruckerei Mintzel, dessen Namen ich trug und mit dem ich mich seit meiner Jugendzeit identifiziert hatte.

Meine Buchdrucker-Vorfahren hatten das Glück, nicht rasch vergängliche Güter zu produzieren, sondern vergleichsweise dauerhafte Produkte: Bücher und andere gedruckten Schriften. Ihre Berufsarbeit materialisierte sich in Gegenständen und Formen, die heute noch fassbar und für das geübte Auge lesbar sind. Wer heute über die Suchmaschine Google nach dem Buchdrucker und Verleger Johann Albrecht Mintzel (1600-1653) sucht, wird binnen weniger Minuten mit über Hunderten seiner Druckwerke bekannt gemacht. Drucke aus seiner Hand in der meinen zu halten, erfüllte mich stets mit einem ehrfürchtigen Gefühl. Eine von ihm gestaltete barocke Titelseite zu betrachten, hinterließ in meinen Augen einen tiefen optischen Eindruck. Mit meinen Fingern über eine bedruckte Seite handgeschöpften Papiers aus seiner Werkstatt zu gleiten, war ein haptisches Ereignis. Die Mitglieder der Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel hatten sicher, wie aus verschiedenen Quellen hervorgeht, so etwas wie ein kollektives Gedächtnis ausgebildet. Sie kannten ihre gemeinsame Herkunft und berufliche Kunstfertigkeit. Ich sah mich als ein Glied in einer ehrwürdigen Kette von Generationen. Wie ihre Druckwerke wird auch mein zweibändiges Werk über die Druckerverleger Mintzel bleiben. Es steht in vielen Bibliotheken der Welt.

Über Jahrzehnte war ich schriftstellerisch aktives Mitglied des Nordoberfränkischen Vereins für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e.V. in Hof und des Historischen Vereins für Oberfranken in Bayreuth, den Gegenstücken des Passauer Vereins für Ostbairische Heimatforschung und des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen. Meine fränkisch-protestantische Verwurzelung wurde auch darin sichtbar. Auch die vielen Forschungen und Ergebnisse des „kleinen Formats“ haben als Treibsand in den Wirbeln der großen Kulturströme ihre Berechtigung. Man sollte sich nur nicht einbilden, dass sie von weltwissenschaftlicher Bedeutung sind. Der große Soziologe Max Weber hat es in seiner Wissenschaftslehre auf den Punkt gebracht: „Ohne Frage sind nun jene Wertideen >subjektiv>. Zwischen dem >historischen< Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen  Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der >Bedeutungen<, deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben wird“ (Wissenschaftslehre 1988, S. 183/84).

Es hatte für mich immer einen hohen Wert, die Firmen- und Familiengeschichte zu schreiben, aber es war eine Stoffauswahl minderer allgemeiner >Bedeutsamkeit< („Notizen & Skizzen“, Band 45, 21.10.2010). Auch dieses Eingeständnis gehört zu meiner Bilanz.

Das letzte  Wunschprojekt – Zur Theorie und Empirie soziokultureller Evolution

Nach Abschluss der zweibändigen Studie über das Hofer und oberfränkische Druckerei und Verlagsgewerbe in den Jahren 2011/12 begann ich noch einmal damit, den Plan für eine Einführung in Theorie und Empirie soziokultureller Evolution aufzunehmen. Die Problematik hatte mich immer wieder in ihren Bann gezogen. Über Jahre hatte ich eine große Fülle von Materialien zusammengetragen und die wissenschaftliche Diskussion verfolgt. Eine erste Zusammenfassung meiner Vorarbeiten hatte ich 2002 in dem von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff herausgegebenen „Wörterbuch der Soziologie“ (2., völlig überarbeiteten und erweiterten Auflage, S.131-135) unter dem Stichwort Evolutionstheorien publiziert. Mein Lexikon-Beitrag zeigte die Entwicklung von den Gesellschaftslehren des 19. und 20. Jahrhunderts zu den systemtheoretisch fundierten Theorien soziokultureller Evolution (Talcott Parsons; Niklas Luhmann) und den damals aktuellen Forschungsstand auf. Ich wollte diesen Entwicklungsgang in einer leicht verständlichen Einführung darstellen, wobei der Schwerpunkt auf den Prozessen der soziokulturellen Evolution liegen sollte. In meinen „Notizen & Skizzen“ (Band 4) finde ich unter dem Datum des 17. Mai 2012 folgenden Eintrag:

„Nochmals zu meinem Projekt zur soziokulturellen Evolution des Menschen (…). Ich bin bei der Lektüre evolutionstheoretischer Schriften wieder erschrocken, wie viele Beiträge zu >meinem< Thema seit den 1990er Jahren erschienen sind. Ich muss bei meinem Vorhaben höllisch aufpassen, nicht Opfer eines hyperehrgeizigen Planes zu werden, den ich nicht mehr verwirklichen kann Andererseits stört mich, in eine Art Abschiedsstimmung zu geraten und mich nicht mehr herauszufordern. Ich will nicht im Kleinklein ersticken, mich nicht im Oberflächengekräusel des Alltags verlieren. Think big! Habe ich vor Jahren einmal zu meinem Vorsatz gemacht (…) Ich fühle mich blockiert, von außen und von innen (…) Was tue ich? (…) Es ist mein Lieblingsthema (…) Vielleicht sind mir doch noch ein paar äußerst kreative Arbeitsjahre beschieden! Ich sollte nicht über mein Alter lamentieren, sondern mich dem zuwenden, was mich erfreut und zufrieden macht.“

Natürlich glaubte ich nicht, bahnbrechend Neues in die Diskussion einbringen zu können. Ich dachte an ein doppeltes Konzentrat: an einen zusammenfassenden Überblick über den Gang und Stand der Forschung und an eine auch für Laien verständliche Wissensvermittlung. Mir wurde jedoch rasch klar, dass selbst ein bescheiden angelegtes Publikationsprojekt im Alleingang nur schwer zu verwirklichen war. Deshalb wandte ich mich im Sommer 2012 an den Kollegen Prof. Dr. Peter Meyer (Universität Augsburg), einen mit der Soziologie wie mit der Soziobiologie gleichermaßen vertrauten und in beiden Feldern publizistisch ausgewiesenen Kollegen, und fragte, ob er sich an einem solchen Projekt beteiligen wolle. Peter Meyer zeigte sich bereit, gab aber zu bedenken, welche Sisyphusarbeit damit verbunden sei. Mich packten Selbstzweifel, ich zögerte, mich verließ der Mut, ich brach meinen Projektentwurf ab und fiel, was dieses Projekt anbelangte, in einen Blockadezustand. Diese mentale Lähmung hielt an und quälte mich unterschwellig bis heute. Meinem Kollegen Meyer blieb ich eine Erklärung schuldig. Dieses Versäumnis und Versagen machte mir lange Zeit schwer zu schaffen. Ich kam nie wirklich darüber hinweg.

Die Situation erinnerte mich lebhaft an die Hoffnungen alter Emeriti, sich nach ihrer Entpflichtung noch einem Alterswerk zuwenden und darin ihr gesammeltes Wissen einbringen zu können. So hatte Prof. Dr. Otto Stammer (1900-1978), der ehemalige Leiter des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, mein Lehrer, Mentor und Chef, mir gegenüber wiederholt seine Absicht kundgetan, auf dem Felde der politischen Soziologie noch ein grundlegendes Werk zur Parteienforschung verfassen zu wollen. Es war beim Wunsch geblieben. Altersgebrechen hatten ihm Grenzen gesetzt. Ähnlich hatte es sich bei meinem Schwiegervater Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand (1897-1979) verhalten. Er, damals eine international bekannte Koryphäe der Neurologie, hatte sich stets über seine Fachwissenschaft weit hinaus mit philosophischen, religionsgeschichtlichen und vor allem politischen Themen befasst und zu Zeitfragen publizistisch Stellung genommen. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur hatte er eine Schrift über „Deutschland zwischen gestern und morgen“ publiziert und darin „Hitlers Aufstieg und Sturz“ psychologisch gedeutet. Nach seiner Emeritierung hatte er ein Publikationsprojekt über Ideologien in Angriff genommen und dazu schon eine Reihe von Kapiteln verfasst, als er mich bat, die Texte kritisch durchzusehen. Ich musste ihm schonend sagen, dass zur Thematik in den sozialwissenschaftlichen Fächern bereits eine umfangreiche Literatur vorliege, die er berücksichtigen müsse, wolle er in der einschlägigen Diskussion kompetent mitreden. Er brach das Unternehmen ab. Die Liste ehrgeiziger Altersvorhaben ließe sich fortsetzen. Schaltenbrands Universitätskollege Prof. Dr. Friedrich Pfister (1883-1967), von Hause aus Professor der Klassischen Philologie, hatte nach seiner Emeritierung (1951) noch emsig an seinem Alterswerk über „Religion und Wissenschaft. Ihr Verhältnis von den Anfängen bis zu Gegenwart“ gearbeitet. Es war unvollendet geblieben. Das Lektorat des A. Francke AG Verlag machte aus dem unfertigen Manuskript „ein behutsames und nicht um jeden Preis bis zur jüngsten Tagesaktualität herantastendes“ Opus (in der „Vorbemerkung“ zum Buch). Es war folglich schon 1972 bei seinem Erscheinen nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung. Wie immer man hoffnungsvoll geplante und noch verwirklichte Alterswerke beurteilen mag, sie zeigen jedenfalls, dass das Arbeitsleben eines Wissenschaftlers in der Regel nicht mit dem amtlichen Zeitpunkt seiner Pensionierung endet. Darüber, was von unserem Schaffen überliefert wird und bleibt, entscheiden andere und spätere Generationen – und künftige Zeitumstände.

Breaking News – Dringende Eilmeldung – Sondermeldung: Astrophysiker Stehen Hawking gestorben

Gestern, am 14. März 2018, starb der britische Astrophysiker Stephen W. Hawking im Alter von 76 Jahren. Ein merkwürdiger Zufall! Am Morgen dieses Tages saß ich an der Niederschrift meines Abschluss- und Abschiedskapitels und notierte: „Ich war Gast auf einem kleinen Flecken Erde und Gast in einem grandiosen Universum, das Milliarden Galaxien und Sterne ins Unendliche auseinandertreibt. Ich hörte von den neuesten Erkenntnissen der Astronomie und Astrophysik und sah die atemberaubenden Bilder, die uns Teleskope und Satelliten aus dem Weltraum senden.“

Die letzte Botschaft Hawkings, die die Universität Cambridge gestern ins Internet stellte, lautet: „Es war eine großartige Zeit, um am Leben zu sein. Unser Bild des Universums hat sich in den letzten 50 Jahren umfassend verändert und ich bin glücklich, wenn ich einen kleinen Beitrag leisten konnte. (…) schaut zu den Sternen und nicht hinab auf eure Füße (…). Seid neugierig, und wie schwer auch immer das Leben scheinen mag, so gibt es doch immer etwas, das ihr tun und worin ihr erfolgreich sein könnt. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben (…). Dass es uns Menschen, die wir selbst hauptsächlich Ansammlungen von Partikeln der Natur sind, möglich war, so nah an ein Verständnis der Gesetze zu kommen, die uns und das Universum regieren, ist ein großer Triumph“ (www.pnp.de/Hawking).

Für mich war Hawking das Musterbeispiel eines unerschrockenen Wissenschaftlers und Forschers, einer der ganz Großen, die das Weltwissen einen weiten Sprung nach vorne brachten. Er hatte im Unterschied zu mir das Glück, schon in sehr jungen Jahren sein Thema und seine Fragestellungen gefunden zu haben, die er dann sein ganzes Forscherleben lang unablässig bearbeitete. Sein revolutionäres Ergebnis war der Nachweis der Schwarzen Löcher. Mein Vergleich mit ihm mag dämlich und absurd sein, aber im Gegensatz zu ihm fand ich in der Parteienforschung meine Themen und Fragestellungen erst in sehr viel späteren Lebensjahren und verlor dann allmählich mein Interesse daran. Meine „Schwarzen Löcher“, die CSU und Bayern, sogen zwar auch vieles in sich ein und hätten beinahe mich mit verschlungen, aber ich konnte an ihrem Rande der Sogwirkung entkommen. Da mein 1978 neu eingerichteter „Micky Maus-Lehrstuhl“ kein renommierter Newton-Lehrstuhl war, sondern verschiedene kulturwissenschaftliche Fächer in der Regel bloß auf einem Grundstudium- oder Nebenfach-Niveau bedienen musste, war mir nicht beschieden, weiterhin in der vordersten Reihe der Parteienforscher mithalten zu können. Ich traf allerdings auch Entscheidungen, die sich karrierestrategisch als kontraproduktiv erweisen sollten.

Menschlich tief verschuldet – Versäumnisse und Versagen

Ich schließe meinen autobiografischen Blog mit einem Eingeständnis und Bekenntnis ab. Verpfusche nicht das Finale deines Lebens! Habe ich das getan, indem ich dies alles in meinen letzten Lebensjahren niedergeschrieben habe? Was alles habe ich verschwiegen? Menschlich tief verschuldet gehe ich meinem Ende entgegen. Versäumnisse und Versagen sind nicht wieder gut zu machen. Ich schlage einen Bogen zurück an den Anfang meines Blogs. Dort habe ich George Orwell zitiert: „Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen.“

Ich habe vieles von mir preisgegeben, was Autobiografen gewöhnlich oder geflissentlich verschweigen: Niederlagen, schändliches Handeln, Lügen, Unterlassungen, verletzenden Egoismus. Und doch wäre da noch vieles zu berichten und zu klären, was ich anderen angetan und zugemutet habe. Auf jeder meiner sozialen Beziehungen, seien sie familiär, beruflich, freundschaftlich, situativ-flüchtig oder sonstiger Art, lastet auch ein Fehlverhalten, ein Versäumnis, ein Mangel an Verständnis und sogar boshafte Absicht. Ich bin Erklärungen und Offenlegungen schuldig geblieben. Ich habe vielen im Kleinen und im Großen Unrecht getan: meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner Ehefrau, meinen Kindern, Freunden, Bekannten und Kollegen. Manchmal kommen in Albträumen schon fast vergessene Schändlichkeiten wieder an die Oberfläche und türmen sich bedrohlich auf. Einige, denen ich übel mitgespielt habe, sind schon tot. Reue liefe ins Leere. Manches Fehlverhalten hat sich ohne viel Aufhebens im Stillen wiedergutmachen lassen, durch eine kleine Geste, durch ein Eingeständnis, durch ein Zurückstecken. Es wäre eine eitle Pose, mich am Ende meines Lebens hinzustellen und zu beichten und um Vergebung meiner Sünden zu bitten. Für Blessuren, die ich in akademischen Auseinandersetzungen anderen Wissenschaftlern zugefügt habe, muss ich mich nicht entschuldigen. Es ging in der Regel um die Sache, nicht um die Person. Einiges muss ich mit mir ganz allein ausmachen und mit ins Grab nehmen.

Von der Bühne des Lebens Abschied nehmen und leise weggehen: Am Ende fällt es doch schwer. Nicht mehr dabei sein können, nicht mehr zu erleben, was die Zukunft an guten und schlimmen Ereignissen bringt, beunruhigt und stimmt traurig. Was wird auf unsere Kinder und Kindeskinder zukommen? Wie werden sie ihr Leben bewältigen? Was nehmen sie von unseren Erfahrungen und Lebensmaximen mit in ihre sich wandelnde Welt? Ein Grundmotiv dafür, diesen autobiografischen Blog zu verfassen, war zu berichten, was wir in guten wie in bösen Zeiten durchgestanden haben. Was mag in meinem Großvater vorgegangen sein, als wir beide nach dem verheerenden Luftangriff vom 2. Januar 1945 zwischen Schwelbränden und Trümmerhaufen durch das zerstörte Nürnberg liefen? (Blog-Kapitel 4). Er schwieg, als wir einen Weg durch die Ruinenlandschaft suchten. Wie erlebte mein Vater vor dem US-amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg seine Rolle als Verteidiger von Kriegsverbrechern? (Blog-Kapitel 7). Die jüngere Generation fragt die ältere nicht zur rechten Zeit, die ältere versäumt es, sich der jüngeren mitzuteilen. Wir wissen wenig voneinander, zu wenig. Heute gäbe ich viel darum, könnte ich manches versäumte Gespräch nachholen. Beim Abschied von der Bühne des Daseins fällt der Vorhang für immer.

Für einen tief bewegenden Epilog übergebe ich das Wort an die nächste Generation.

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