Mit dieser vierten Folge setze ich meine Beobachtungen und Steh-Greif-Analysen der bayerischen Landtagswahl 2018 fort. Ich versuche die Ereignisse und Vorgänge, die sich auf der parteipolitischen Bühne und im Wahlkampf abspielen, möglichst synchron und im Zeittakt ihres Ablaufs aufzuzeichnen und unmittelbar dazu Stellung zu nehmen. Denn hinterher ist man bekanntlich immer etwas schlauer. Mit dieser Art protokollarischer Aufzeichnung ist es möglich, später bzw. danach zu kontrollieren, ob, inwieweit und wie scharf ich die aktuellen Vorgänge treffend beobachtet habe. Außerdem ermöglichen mir (und anderen) meine im Internet veröffentlichten Texte zu kontrollieren, ob ihre Inhalte woanders verwertet und kommentiert werden. Für Hinweise und Diskussionsbeiträge bin ich sehr dankbar.
Hybris und Demut
Als vor der Landtagswahl demoskopische Umfragen hatten erkennen lassen, dass die CSU bei den Wählern drastisch an Zustimmung verloren und sie mit einem spektakulären Wahldebakel zu rechnen hatte, wuchsen in der CSU-Führung mit jedem Umfrageergebnis Nervosität und Verunsicherung. Je näher der Wahltag kam und je tiefer die Umfragewerte sanken, desto mehr verstiegen und vergriffen sich der bayerische Ministerpräsident und seine Wahlkampfhelfer in ihren Attacken. Markus Söder glaubte, im letzten Moment mit Katastrophenwarnungen und einer „Bayern first“-Rettungsaktion eine Wende zugunsten der CSU herbeiführen zu können. Er fuhr zu Propagandazwecken aus dem ideologischen Arsenal der bayerischen Staatspartei die schwersten Kaliber auf: „Wir befinden uns in einer ernsten Situation, nicht nur für uns, sondern für die Demokratie in unserm Land.“
Man müsse unbedingt „den Mythos Bayern erhalten.“ (PNP NR. 215, 17.09.2018, S.3). Bayern sei immer „ein Modellfall der Demokratie“ gewesen. Bayern sei „einzigartig, es wäre schade, es in falsche Hände zu geben.“ Wenn es so komme, wie es sich in den Umfragen andeute, dass sechs Parteien ins Landesparlament einzögen, dann „könnte Bayern zum Problemfall der Demokratie werden“. Söders Appelle mündeten in Weckrufe wie: „Steht auf, wenn ihr für Bayern seid!“
Rettet mit eurer Stimme die CSU! Rettet Bayern! Rettet die Demokratie in Bayern! Er setzte sinngemäß CSU, Bayern und Demokratie in eins. Einer der CSU- und Bayern-Auguren und Kommentatoren, Professor Dr. Heinrich Oberreuter (Passau), warf in einem Interview mit dem Münchner Merkur (04.10.2018) der CSU Hybris vor. Denn alles, was sie an zugespitzten Gefährdungspotenzialen benenne, beruhe auf der Hybris, dass das Wohl des Freistaats Bayern mit dem Wohl der CSU identisch sei. „Die(se) Position sollte man“, so fügte er hinzu, „in einer pluralistischen Demokratie besser nicht einnehmen, wenn man es mit der Demokratie ernst meint.“ Mitnichten sei „die Demokratie in Bayern gefährdet, wenn die CSU nicht allein regieren kann.“ Mitnichten sei die Stabilität in Bayern gefährdet, wenn es eine Koalition brauche.
In seinem Gastbeitrag für die Passauer Neue Presse (Nr. 233, 09.10.2018, S. 2) warnte Oberreuter: Man sollte das „plurale Volk nicht für dumm verkaufen.“ „Im Wahlendspurt Optimismus zu propagieren und zugleich darüber zu streiten, wer das doch kommende Desaster zu verantworten hat, bugsiert (…) in die nächste Glaubwürdigkeitsfalle.“ Oberreuter gab der CSU-Führung zurecht, wie ich meine, eine Lektion in Demokratiekunde – von wegen „Modellfall der Demokratie“.
Erst in der Woche vor der Wahl begann Söder sich zu mäßigen und von seinen völlig überzogenen Gefährdungssprüchen und seinem aggressiven Vokabular (Asyltourismus, Abschiebeindustrie etc.) abzulassen. Er hatte zudem einsehen müssen, dass einstmals wirksame Identitäts- und Abgrenzungsparolen nicht mehr den erwünschten Effekt haben. Der Verlust der absoluten Mehrheit der CSU war ein Absturz in die gewandelte gesellschaftliche und politische Wirklichkeit des Freistaats Bayern. Markus Söder musste „mit Demut“, wie er seine „Betroffenheit“ pietistisch umdeutete, Wandel und Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Die Ära der CSU-Hegemonie in Bayern ist 2018 endgültig zu Ende gegangen (Alf Mintzel, 1998: Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer). Söders öffentliche Präsentation der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zwischen CSU und der Hubert-Aiwanger-Partei (FW) am Abend des 4. November 2018 zeigte einen Ministerpräsidenten, der sich vom aktionistischen „Politrowdy“ (SZ Nr. 254, 05.11.218, S. 29) zu einem fürsorglichen, kompromissbereiten und sanften „Landesvater“ zu entwickeln scheint. Am Pult neben Söder stand bei diesem Auftritt der Landesvorsitzende der CSU und Bundesinnenminister. Seehofer durfte zur Eröffnung ein paar Segenswünsche für die Arbeit der „Bayern-Koalition“ (CSU/FW) und für Bayern aussprechen. Das alles sei gut für Bayern. Wer genau hinsah und Seehofers Gesichtsausdruck und Redeweise beobachtete, dem konnte nicht entgehen, dass hier ein Mann blass und bleich auf Abruf stand. Von der neuesten Nachricht, wonach der abgesetzte Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, aus Anlass seines Ausscheidens hausintern eine politisch brisante Rede gehalten haben soll, hatte er nach eigener Auskunft keine Kenntnis. Auch die „Personalie Maaßen“ wird nochmals den politischen Druck auf Seehofer so stark erhöhen, dass er in Kürze aus seinen Ämtern ausscheiden muss. Die überraschende Ankündigung (29.10.2018) der Bundeskanzlerin, sie werde im Dezember des Jahres ihr Amt als Bundesvorsitzende der CDU aufgeben und mit dem Ende der laufenden Bundestagsperiode sich ganz aus der Politik zurückziehen, wirkt sich auch auf das gespannte Verhältnis von CDU und CSU aus. Zwar wird in beiden Parteien beteuert, man mische sich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten und Entscheidungen der Schwesterpartei ein, aber es besteht kein Zweifel, dass Wechselwirkungen besonders in Spitzenpositionen unvermeidlich sind und eine Eigendynamik entwickeln, die die gesamte Union betreffen.