57. Mein digitaler Weitsprung ins 21. Jahrhundert – eine späte Blogger-Karriere

Ankunft in der „schönen“ digitalen Welt

Ich war bis zu meiner Entpflichtung im Jahre 2000 bezüglich der Neuen Medien in einem selbstverschuldeten Laienstand oder, krasser ausgedrückt, in digitalen Dingen ein „Idiot“. Meine Blogger-Karriere begann erst vor wenigen Jahren, eigentlich zu spät. Leser aus jüngeren Generationen, die in das digitale Zeitalter hineingeboren wurden und von Kindesbeinen an in dieser Welt ganz selbstverständlich kommunizieren, mögen darüber lächeln und sich amüsieren, wie schwer sich alte Menschen tun, sich mit den neuen Geräten und  Techniken  anzufreunden und sie in Gebrauch zu nehmen. Bis über die Jahrtausendwende hinaus schrieb ich meine Texte, Notizen und den Großteil meiner Korrespondenzen mit der Hand und pflegte meine Handschrift. Meine kaligrafische Neigung fand Gefallen und wurde für außerordentlich leserfreundlich gehalten. Ich war ein Fossil aus der vordigitalen Welt. Vor dem Jahre 2000 hatte ich nie daran gedacht, meine autobiografischen Berichte und Erzählungen später einmal einem Rechner anzuvertrauen, geschweige denn dafür das Format eines Blogs zu verwenden. An der Universität Passau waren die Lehrstühle und wissenschaftlichen Einrichtungen erst seit Anfang der 1980er Jahre mit Personal Computers (PCs) ausgestattet und die Sekretariate in ihre Nutzung eingewiesen worden. Die Begriffe Blog und Blogger waren zu jener Zeit noch unbekannt. Die Nutzung der ersten und zweiten Computergeneration hatte ich meinem Sekretariat und meinen wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern überlassen. Sie mussten meine handschriftlichen Textentwürfe und die bisher mit einer elektrischen Schreibmaschine geschriebenen Schriften jedweder Art in den Rechner eingeben. Ich scheute mich an den „digitalen Kasten“ zu gehen – die Geräte waren damals noch viel größer und schwerer – und mich in seine Technik einzuarbeiten. Doch war es prinzipiell keine technische Gegnerschaft, die mich vom digitalen „Teufelswerk“ zurückschrecken ließ, sondern Bequemlichkeit und vor allem die Zeitfrage. Ich befürchtete, es würde mich zu viel Zeit und Mühe kosten, bis ich mich soweit mit diesen Techniken vertraut gemacht hätte, dass ich sie unabhängig von meinem Hilfspersonal selbst anwenden könnte. In den letzten fünf Jahren vor meiner Pensionierung hatte ich noch einmal meine Arbeitskraft in hohem Maße auf den Abschluss publizistischer Projekte konzentriert, vor allem auf die  drei Monografien, die schon über Jahre in Arbeit gewesen waren, auf mein Lehrwerk über „Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika“ (1997), auf „Die CSU-Hegemonie in Bayern“ (1998) und auf die Edition „Hofer Flugschriften im 16., 17. und 18. Jahrhundert“ (2000). Außerdem hatte ich noch am Ende meiner Amtszeit spezielle Kompendien für die Lehre erarbeitet. Diese Publikationen, die insgesamt mehr als 2000 Druckseiten umfassten, waren mit zahlreichen, zum Teil komplizierten Schaubildern, Tabellen und Merkkästen ausgestattet. Es wäre mir auch mit gutem digitalen Know-how und Einsatz nicht möglich gewesen, diese publizistische Kärrnerarbeit in der noch zur Verfügung stehenden Zeit allein zu bewältigen. Ohne treue, digital kompetente und versierte studentische Hilfskräfte hätte ich am Lehrstuhl mein Publikationsprogramm nicht verwirklichen können. Arno Zurstraßen stellte 1989 die Computerfassung des großformatigen Kunstbuches „Es ist noch Zeit genug“ als erstes digitale Druckwerk her. Anke Wagner, geborene Zepf, brachte über Jahre meine wissenschaftlichen Skripte zur digitalen Druckreife. Sie erarbeitete auch noch in dem Jahrzehnt nach meiner Entpflichtung für mein zweibändiges Werk „Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie“ eine digitale Fassung. Das Werk erschien im Jahre 2011 im Berliner Verlag Duncker & Humblot. Der Passauer Lehrstuhl für Soziologie, den ich aus anderen Gründen und im Vergleich mit anderen Forschungsstätten einen „Micky-Maus-Lehrstuhl“ genannt hatte (siehe Blog-Kapitel 28),  erwies sich trotz seiner äußerst beschränkten Mittel als eine produktive Einrichtung – allerdings mit einem gerütteltem Maß an Selbstausbeutung an  Zeit und Mitteln. Anke Zepf bezahlte ich viele Jahre fast durchgängig aus eigener Tasche, so auch zeitweise Einspringer und mit Korrekturaufgaben beauftragte studentische Hilfskräfte. Ich muss gestehen, dass diese wissenschaftsbetriebliche Arbeitsorganisation und dieser Einsatz von Mitteln ohne meine Befugnisse und Möglichkeiten als Lehrstuhlinhaber nicht möglich gewesen wären. Ich profitierte von meinem Status als Ordinarius.

Dann aber kam die Zeit, von der an ich mich, wollte ich weiterhin publizistisch hervortreten, mit der sich inzwischen rasant fortentwickelnden digitalen Welt vertraut machen musste. Ich musste lernen, die Geräte selbst zu bedienen und für verschiedene Zwecke zu nutzen. Kein Verlag, keine städtischen kulturellen Einrichtungen wie Stadtarchive, keine staatlichen Archive, nicht einmal mehr historische Vereine nahmen mehr Skripte an, die nicht bis zum Komma und Strich digital vom Autor hergestellt waren. Dem Autor wurde in der Regel die komplette digital-druckreife Herstellung seiner Skripte zugemutet. Wer diese Umstellung nicht mitmachte, hatte so gut wie keine Chancen mehr, an dem allgemeinen publizistischen Produktionsprozess teilzunehmen. Er fiel, salopp ausgedrückt, aus dem System und verschwand vom Monitor. Es sei denn, er übertrug die Herstellung der digitale (End-) Fassung einer kompetenten Arbeitskraft.

Schon vor meiner Pensionierung hatte meine Frau mich gedrängt, einen eigenen Computer anzuschaffen und mich noch von meinen Hilfskräften anlernen zu lassen. Sie könne und wolle nicht meine Schreibhilfe werden. Sie hatte für ihre Zwecke, vor allem für die Verwaltung und Pflege der beiden Familienhäuser in Würzburg und im Tessin (siehe hierzu Blog-Kapitel 47 und 48), einen Laptop gekauft, einen Schnellkurs absolviert und sich ausreichende Kenntnisse in der Nutzung ihres Gerätes angeeignet. Sie war mir, als ich nach dem Jahre 2000 endlich einen Rechner kaufte, um viele Nasenlängen voraus. Bis ich selbst hinreichende Grundkenntnisse in der Bedienung des Gerätes erworben hatte, was nicht ohne eine beträchtliche Summe an Lehrgeld und fremde Hilfe möglich war, nervte ich meine Frau mit Hilferufen und Wutgeschrei, wenn ich mit meinem digitalen Latein am Ende war und wieder Textteile abgestürzt waren. Wie oft hatte ich zu speichern vergessen und vergeblich herauszufinden versucht, was mir noch so alles an Fehlern unterlaufen war. Weil aber das Schreiben und Publizieren ein Grundbedürfnis geblieben war, das mich täglich an den Schreibtisch drängte, gab ich nicht auf. Im Gegenteil: Ich war von den schreibtechnischen, gestalterischen und kommunikativen Möglichkeiten und Vorteilen so fasziniert, dass ich mit einem geduldigen „learning by doing“ sogar noch über reine Grundkenntnisse hinauskam. Meine Nichte Tonke Franziska Koch aus Berlin richtete für mich eine Website, einen Wikipedia-Account und zwei Blogs ein und öffnete mir damit Zugang zur digitalen Welt. Aber immer noch reichen meine Fertigkeiten nicht dazu aus, meine digital erstellten Skripte allein in die gewünschte druckreife Fassung zu bringen. Ohne Hilfe geht es nicht. Das trifft nun auch auf die Einfügung zahlreicher Abbildungen in meine Blog-Kapitel zu, eine diffizile Arbeit, die Georg Thuringer, Passau, exzellent durchführt. Und Nina Eisen aus Berlin steht mir mit ihrem Lektorat seit Anfang 2016 zur Seite (www.eisen-lektorat.de). Alle Korrespondenzen laufen über den Computer, alle Fragen und Aufgaben werden digital erledigt. Ich bin im Alter von 84 Jahren in dieser neuen Welt endgültig angekommen.

 

Digitaler Weitsprung ins 21. Jahrhundert

Meine Tochter Theresa war es, die mir 2015 nahegelegt hatte, mein autobiografisches Projekt nicht in der klassischen Buchform anzugehen, sondern das Blog-Format zu wählen, das mir bis dahin unbekannt geblieben war. In meinem hohen Alter würde sich dieses Format geradezu als ein schriftstellerischer Königsweg anbieten, weil es alle Vorteile einer raschen, flexiblen, interaktiven und globalen Verbreitung biete. Ich müsse nicht warten, bis das Projekt endgültig abgeschlossen und ein Verlag gefunden sei. Das Projekt ließe sich in actu und Echtzeit im Selbstverlag verwirklichen. Theresa, selbst publizistisch erfahrene und erfolgreiche Bühnenpoetin, Jugendbuch- und Theaterautorin (www.theresa-sperling.de), hatte mich davon überzeugt, dass das Blog-Format tatsächlich am besten gerade auch meinen vielfältigen schriftstellerischen Neigungen entgegenkäme. Ich disponierte um und wurde, wie die Passauer Neue Presse (Nr. 103, 04.05.2016, S. 21) berichtete, „Passaus ältester Blogger“. Allerdings musste ich erst noch mehr Erfahrungen mit diesem Medium sammeln und mich mit seinen formativen Möglichkeiten befassen. Ich setzte zu einem digitalen Weitsprung ins 21. Jahrhundert an und lernte im Verlauf der Arbeit an meinem Blog viel dazu.

Passauer Neue Presse, Nr. 103 vom 4. Mai 2016, S. 21

Die allgemeine, alle seine Modalitäten übergreifende Beschreibung des Mediums und Formats „Blog“ in der Wikipedia-Enzyklopädie lautet: „Häufig ist ein Blog eine chronologisch abwärts sortierte Liste von Einträgen, die in bestimmten Abständen umbrochen wird. Der Blogger ist Hauptverfasser des Inhalts, und häufig sind die Beiträge aus der Ich-Perspektive geschrieben. Das Blog bildet ein Medium zur Darstellung von Aspekten des eigenen Lebens und von Meinungen zu spezifischen Themen, je nach Professionalität bis in die Nähe einer Internet-Zeitung mit besonderem Gewicht auf Kommentaren. Oft sind auch Kommentare oder Diskussionen der Leser über einen Artikel möglich. Damit kann das Medium sowohl dem Ablegen von Notizen in einem Zettelkasten, dem Zugänglichmachen von Informationen, Gedanken und Erfahrungen, etwas untergeordnet auch der Kommunikation dienen, ähnlich einem Internetforum. Die Tätigkeit des Schreibens in einem Blog wird als Bloggen bezeichnet. Die Deutsche Nationalbibliothek bezeichnet Blogs als Internetpublikationen und vergibt seit Herbst 2013 auch ISSNs an Weblogs [Blogs].“ (https://de.wikipedia,org/wiki/Blog abgerufen 02.04 2019)

Die neue Darstellungsform war kurz vor der Zeit meines Eintritts in den Ruhestand entwickelt worden. Ihre Vorläufer waren in den 1990er Jahren aus der Taufe gehoben worden und hatten dann ein schnelles Wachstum erfahren. 1997/98 waren die ersten „Weblogs“ gestartet worden, bald hatte sich in der Bezeichnung die Kurzform „Blog“ durchgesetzt. Laut einer Allensbacher Computer- und Technik-Analyse betrieben in Deutschland im Jahre 2007 bereits 8,4 Prozent der Internetznutzer einen Blog. Im Oktober 2011 soll die Zahl der Blogs weltweit auf etwa 173 Millionen angewachsen sein. (Quelle: Wikipedia, ebenda). Kurzum, ich war als Blogger zugestiegen, als dieses Medium und Format schon eine rasante Verbreitung gefunden hatte und weiterhin rasch wuchs. Grob schematisch werden zwei Kategorien von Blogs unterschieden: „Solche, die ähnlich dem Software-as-a-service-Prinzip von einem meist kommerziellen Anbieter betrieben und beliebigen Nutzern nach einfacher Registrierung zur Verfügung gestellt werden, und solche, die von den jeweiligen Inhabern auf ihrem individuellen Server oder Webspace meist unter eigener Domain betrieben werden.“ (ebenda Wikipedia). Mein Blog ist ohne Zweifel der zweiten Kategorie zuzuordnen. Allerdings schöpfte ich bisher die kommunikationstechnischen Möglichkeiten des Mediums (zum Beispiel die Verlinkung und Vernetzung) nicht voll aus. Genug der allgemeinen Charakterisierung, die auch bei Wikipedia nachgelesen werden kann!

Was für mich das Medium Blog als Kommunikationsform so spannend und interessant macht, sind seine hohe Individualisierung, seine thematische Reflexivität und Variabilität, seine interaktiven Eigenschaften, die Aufhebung der Grenze zwischen Produzent (Autor) und Rezipient (Empfänger) und seine Unabhängigkeit. Mein Blog ist ein völlig autonomes, individuelles Non-Profit-Unternehmen. Ich blogge ohne jegliche kommerzielle Bindung und Ausrichtung. Ich verstehe meinen Blog als Zeugnis und Dokumentation eines Zeitzeugen im Dienst der Überlieferung.

Der Ratschlag meiner Tochter Theresa erwies sich als ein kreativer Anstoß. Dies ist auch unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten von Bedeutung. Die thematische Reflexivität und Variabilität erlaubt im Rahmen eines autobiografisch angelegten Blogs ganz unterschiedliche Themen und Darstellungsweisen: Berichte, Erzählungen, Episoden, Dialoge, satirische Einschübe, Pasquillen, tagebuchartige Notizen, Auseinandersetzungen mit tagespolitischen Vorgängen, hochemotionale Schilderungen von Unglück, Liebe und Tod, Auszüge aus  amtlichen und privaten Korrespondenzen, politische, philosophische und theologische Reflektionen und Diskussionen bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen. Selbst die Preisgabe zutiefst persönlicher Erfahrungen und innerer Kämpfe, also auch Themen und Darstellungsweisen, die normalerweise die psychische und mentale Schmerzgrenze überschreiten, sind möglich. Ich habe als individueller, unabhängiger Blogger große Freiheiten. Ich liebe und nutze diese und habe verschiedene Darstellungsweisen gewählt. Ich muss, wenn ich nicht will, keine Rücksicht mehr nehmen auf Großinstitutionen, Fakultäten, Fachschaften und Karrierezirkel. Soweit ich keine Persönlichkeitsrechte verletze, kann ich Ross und Reiter beim Namen nennen und Vorgänge aufdecken, über die normalerweise geschwiegen wird. Auf einzelne Aspekte bin ich schon in vorangegangenen Blog-Kapiteln eingegangen (zum Beispiel in der Einleitung „Zwischen den Stühlen war viel Platz“, in Kapitel 23 und 29–31).

Der verstorbene Schauspieler Peter Ustinov hat einmal gesagt: „Wir alten Männer sind gefährlich, weil wir keine Angst mehr vor der Zukunft haben. Wir können sagen, was wir denken, wer will uns dafür strafen?“

Dafür ist ein autobiografischer Blog wie geschaffen. Ich bin 84 Jahre alt. Meine Karriere ist zu Ende. Ich kann sagen, was jüngere und abhängige Leute besser für sich behalten. Das macht einen Blog interessant. Professorenkollegen, die mit aufgeblasener Blasiertheit meinen, den richtigen Geist zu vertreten und sich dünkelhaft inszenieren, können nicht mehr meine Existenz als Wissenschaftler gefährden. Ich vermute, dass Kollegen das Medium und Format Blog schon wegen seiner Freiheiten für unseriös halten.

 

Blogger, Themen, Sprachstile, Leserschaft

Die thematische Vielfältigkeit und die entsprechenden Darstellungsweisen, die das Format Blog ermöglicht, verlangen allerdings bei aller Freiheit selbstkritische und fremde Kontrollen. Mein autobiografischer Blog ist an eine anonyme Leserschaft gerichtet. Generell können sich alle Internetnutzer einloggen, beliebige Kapitel auswählen und lesen und, wenn sie wollen, reaktiv in Form von Kommentaren darauf antworten. Entsprechend seiner thematischen Vielfalt richtet sich mein Blog potentiell an ganz unterschiedliche Internet-Nutzerkreise, an Leser, die an Lebensgeschichten interessiert sind, an wissenschaftliche Fachkreise aus Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie und anderen Fächern, an lokalgeschichtlich und familiengeschichtlich  interessierte Personenkreise, also generell an Fachleute und Laien mit verschiedenem Ausbildungs- und Informationsstatus. Weil ich meinen Blog nicht als Tagebuch angelegt habe, das zu einem täglichen Meinungs- und Informationsaustausch anregen soll, sondern Themen, Fragestellungen, Ereignisse und Erlebnisse relativ ausführlich und anspruchsvoll behandle, verwende ich in der Regel die Berichts- und Erzählform als Stilmittel. Sie entspricht auch am besten den autobiografischen Absichten und Aufzeichnungen. Solchermaßen gestaltete Blog-Kapitel könnten es allerdings Nutzern erschweren, sich in Kommentaren zu den verschiedenen Inhalten zu äußern. Auch die stilistische Form des Essays bietet sich an, könnte aber ebenfalls potenzielle Leser zurückhalten, Kommentare zu schreiben. Damit steht der interaktive Charakter des Mediums Block in Frage. Thematische Vielfältigkeit und Anspruchsniveau bestimmen also die stilistischen Darstellungsweisen. Eigentlich müsste ich ein professioneller Kommunikations- und Informationsexperte sein, um Stilmittel thematisch angemessen einsetzen zu können.

Und hier kommt das Lektorat ins Spiel. Es gibt in meinem Fall noch eine besondere stilistische Problematik, die darin liegt, dass ich als Wissenschaftler und Universitätsprofessor von den 1960er Jahren an bis heute ununterbrochen publizistisch tätig gewesen bin. Ich habe von der Pike an die Regeln und Methoden wissenschaftlichen Schreibens gelernt und befolgt. Ich habe mehrere Bücher verfasst und zahlreiche Artikel geschrieben. Alles Schreiben war der Forderung nach sachlicher Präzision unterworfen. Die Ich-Perspektive war verpönt. Zu den Charakteristika der Wissenschaftssprache gehören Sachlichkeit Genauigkeit, Klarheit, argumentative Erkenntnisvermittlung, Vermeidung von Ich-Bezogenheit und persönlicher Emotionalität.  Natürlich habe ich im Laufe der vielen Jahre eine persönliche „Handschrift“ entwickelt. Dabei haben sich auch stilistische und argumentative „Unarten“ eingeschlichen und verfestigt. Ich neige zu überakribischen Beschreibungen, zu umständlichen Formulierungen, zu Wiederholungen und übertreibe ein wenig die in der Wissenschaft gebotene entpersönlichte, „rein sachliche“ Darstellungsweise. Zu glauben, dass diese jahrzehntelangen „Schreibübungen“ einen dazu prädestinieren, einen Blog zu pflegen, geht fehl. Im Gegenteil: Sie sind eher hinderlich, weil die eingeübte wissenschaftliche Darstellungsweise dem Medium und Format Blog, es sei denn, er wurde von vorne herein für fachwissenschaftliche Zwecke eingerichtet, widerspricht. Quellenangaben und Belege, eine eiserne Pflicht in der Wissenschaft, sind zwar bei anspruchsvollen Blog-Themen nicht ganz vermeidbar, sie müssen aber auf ein geringes Maß reduziert werden. Das Medium Blog, besonders seine autobiografische Variante, zeichnet dagegen ein hohes Maß an Ich-Bezogenheit und Emotionalität aus. Berichte und Erzählungen sind auf den Autor zentriert. Er teilt seine Meinungen, seine Einstellungen, Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse mit und erhofft eine kommunikative Resonanz. Am Anfang meines Bloggens war mir das alles nicht so klar. Ich musste um- und dazulernen. Es war nicht leicht und einfach, aus dem Wissenschaftler einen Blogger werden zu lassen.

Dazu brauchte ich, wie sich rasch ergab, die professionelle Hilfe eines Lektorats. Frau Nina Eisen, meine Lektorin, griff ein und ermahnte mich oftmals, meinen wissenschaftlichen Stil zurückzudrängen, die subjektive Berichts- und Erzählform viel stärker zu betonen und, wo immer es auch geht, aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Der potenzielle Leser müsse auch emotional hineingezogen werden. Nina Eisen überprüfte jedes Kapitel auf stilistische und inhaltliche Mängel und ließ keine Passage durchgehen, in der ich persönlich erlebte Ereignisse und Vorgänge zu umständlich und trocken dargestellt hatte. Ohne ihre kreativen Empfehlungen, konkreten Vorschläge und wiederholten Eingriffe in Texte wäre manches Kapitel schwer genießbar geblieben. Der Wissenschaftler Mintzel kam aber in einigen Kapiteln immer wieder stilistisch zum Vorschein, vor allem in den Kapiteln, die speziell meine Rolle als Wissenschaftler betrafen (sieh zum Beispiel die Blog-Kapitel 32, 43 und 46). Mein autobiografischer Blog bleibt für mich ein interessantes schriftstellerisches Experimentierfeld. Ich studiere von Blog-Kapitel zu Blog-Kapitel seine Funktionsweisen und lerne aus meinen Fehlern. Es macht mir ausgesprochen Spaß, im hohen Alter mit diesem Medium zu arbeiten.

 

„Ruhestörung“

Zur Ich-Bezogenheit, Emotionalität und Privatheit, zu diesen Verbotsnormen wissenschaftlicher Darstellungsweisen ein aktuelles Beispiel. In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 6./7. April 2019 (Nr. 82, S. 30) wurde berichtet, dass ein Privatsender die Öffnung eines altägyptischen Grabes in Ägypten in Echtzeit live überträgt. Eine Sensation! Der Ägyptologe Michael Höveler-Müller wird den Vorgang vor laufender Kamera im deutschen Fernsehen kommentieren. Höveler-Müller wurde von der Süddeutschen Zeitung vorab gefragt, ob diese Grabkammer bislang sein aufregendster Fund gewesen sei. Der Ägyptologe antwortete: „Mein erster Skelettfund 1998. Das Grab war 6000 Jahre alt und völlig unberührt. Es war ein Sandgrab, noch ganz am Anfang der ägyptischen Geschichte, auf einem sehr elitären Friedhof, auf dem rund 500 Jahre später die ersten Könige Ägyptens beigesetzt werden sollten. Das Skelett lag auf der Seite und die Beine waren angezogen, wie bei einem Fötus. Er war in ein Fell gehüllt und hatte Gefäße bei sich und Schmuck und Waffen. Ich war der erste Mensch, der dieses Grab geöffnet hat.“ Die nächste Frage des SZ-Interviewers: „Was empfand man da?“ [warum das entpersönlichende „man“, warum nicht „Sie“? –  A.M.].  Darauf Höveler-Müller: „Ich muss sagen: Ich hatte Schuldgefühle. Ich wollte immer so ein ungestörtes Grab finden, und als ich es dann endlich gefunden hatte, habe ich mich ganz schlecht gefühlt. Weil ich der erste Mensch nach 6000 Jahren war, der die Ruhe dieses Toten gestört hat. Ich habe dann an die Menschen gedacht, die hier wohl am Rand der Grube standen, geweint haben und ihrem Angehörigen Opfergaben mit ins Grab gegeben haben. Ich fand das ganz makaber. Ich hatte lange daran zu knabbern.“

Auf die erste Frage antwortet der Ägyptologe sachlich und nüchtern in der Sprache der Wissenschaft. Er könnte nun des Weiteren schildern, mit welchen modernen Techniken die Archäologie das Grab und seine Inhalte untersucht und welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden können. Aber auf die zweite Frage antwortet der Forscher emotional. Er spricht darüber, wie ihn das in Fell gekleidete Skelett und die Situation am Grab psychisch und mental ergriffen haben. Er gibt seine persönlichen Gefühle preis, sein Erschaudern, sein Schuldgefühl, die Totenruhe gestört zu haben. Das alle gehört nicht in den streng wissenschaftlichen Forschungsbericht der Archäologie. Das gehört in den Bereich des persönlichen Erlebens und in die „Psychologie der Forschung.“  Der Wissenschaftler könnte als Blogger frei darüber berichten. Eine Mischform aus wissenschaftlichen Bericht und Schilderung persönlicher Gefühle würde seinen Blog vermutlich besonders interessant machen. Meine Lektorin Nina Eisen hat den Wissenschaftler Mintzel immer wieder aufgefordert, die ganz persönliche Komponente und Perspektive aufzuzeigen und den Leser mit stilistischer Lockerheit und ungezwungen in seine Gedanken- und Erlebniswelt mitzunehmen. Das war allerdings von Anfang an meine Absicht gewesen. Allein mit der Umsetzung haperte es wiederholt.

Die Ich-Bezogenheit und autorzentrierte Darstellungsweise, die Autobiografien eigen sind, garantieren allerdings nicht automatisch eine spannende Lektüre. Das trifft auf die Buchform ebenso zu wie auf einen autobiografischen Blog. Der emeritierte Politikwissenschaftler und ehemalige bayerische Kultusminister (1970–1986) Hans Maier hat in seiner Autobiografie „Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff.“, die 2012 erschienen ist, einen – so sehe ich das – in Teilen langweiligen Lebens- und Arbeitsbericht vorgelegt. Man liest seine Selbstdarstellung an und ist bald erschlagen von so viel Selbstsicherheit, stets auf der richtigen Seite gestanden, stets das Richtige geglaubt und getan zu haben, immer zu den Guten gezählt und ein makelloses, ehrenvolles Leben geführt zu haben. Wenig Zweifel, keine Irrtümer, keine Rebellion. Persönliche und berufliche Fehlentscheidungen werden bestenfalls angedeutet. In seinen Kapiteln über die 1968er-Bewegung und ihre Auswirkungen bezieht Hans Maier eine entschieden katholisch-konservative Verteidigungsposition, wehrt und wertet die 1968er-Bewegung vehement ab und sieht in ihr nur Unvernunft und Irrsinn wirksam. Er äußert sich süffisant über einen renommierten Kollegen. Er derbleckt, wie man in Bayern sagt, den Berliner Historiker Karl Dietrich Erdmann und zeigt dabei seine abgrundtiefe Abneigung gegen die 1968er-Bewegung und Intellektuelle. Ich zitiere Maier:

„Ich erinnere mich auch an die Berichte über die Beisetzung Ohnesorgs in Hannover und an die Rede, die Jürgen Habermas, der umjubelte Sprecher, aber auch kritische Begleiter der Revolte, bei dieser Gelegenheit hielt. Hier fiel zum ersten Mal sein Wort vom ,linken Faschismus‘; es galt Rudi Dutschke, den ich in Berlin mehrfach bei Demonstrationen erlebt hatte und der mir in seiner Verbindung von fanatischer Entschlossenheit, Gesinnungseifer und oft ziellosen Aktionen tief fremd war. Aber ich habe auch andere Reaktionen erlebt: Ein so nüchterner Kollege wie Karl Dietrich Erdmann flüsterte mir einmal während einer Dutschke–Rede, die wir im Radio hörten, begeistert zu: ,Der junge Luther! Der junge Luther!‘ Das Attentat auf Dutschke im folgenden Jahr – verübt von einem Hitler-Anhänger aus München – hat mich entsetzt und erschüttert, es war der eigentliche Auftakt zu den Osterunruhen  1968, mit denen der studentische Protest in eine breite Öffentlichkeit schlug.“ (ebda., S. 160)

Fast automatisch stellt sich bei mir angesichts so fester Gewissheiten und Selbstgefälligkeiten die Assoziationskette ein: „katholisch, brav, bieder, gottergeben, langweilig“. Aber das ist natürlich ein Klischee. Der katholische Rebell Heiner Geißler (CDU), dem ich meinen Respekt gezollt und ein ganzes Blog-Kapitel gewidmet habe, beweist das Gegenteil. Geißler hat mich mitgerissen in seinen rebellischen Ausführungen zur Frage „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ (siehe Blog-Kapitel 44). Hans Maiers autobiografische Berichte haben mich als Zeitgenosse, der zwanzig Jahre lang in Westberlin, einem Hauptbrennpunkt der 1968er-Bewegung, hautnah die APO-Zeit miterlebt hat (siehe Blog-Kapitel 14,15 und 18), interessiert, aber nicht innerlich ergriffen. Ich sah mich mit seiner Position und Einschätzung konfrontiert und dachte noch einmal über mein eigenes Denken und Handeln in jenen turbulenten Jahren nach. Insoweit waren diese Kapitel für mich spannend. Meine Sympathien gehören aber, so spüre ich es innerlich, mehr Rebellen wie Heiner Geißler, weniger so braven und feinsinnigen Hochschullehrern wie Hans Maier.

Ich erfahre bei der Lektüre autobiografischer Berichte und Erzählungen viel über mich. Trifft das auch auf potenzielle und tatsächliche Leser und Leserinnen meines Blogs zu? Wie kommen meine Blog-Kapitel beim Rezipienten an, was lösen sie aus? Ich weiß es nicht. Bisher wurden nur wenige Kommentare gepostet. Und die waren äußerst knapp.

 

Die EU-Urheberrechtsreform (2019) aus der Sicht meiner Blogger-Praxis

Es gibt noch andere Gründe, mich mit dem Medium und Format des Blogs als solchem zu befassen und aus meiner Blogger-Praxis zu berichten. Ein Grund ist, dass ich angefangen habe, in die einzelnen Blog-Kapiteln Bildmaterial einzufügen: private Fotos, schriftliche und gedruckte Dokumente, Ablichtungen von Korrespondenzen, Abbildungen von eigenen künstlerischen Werken und Skizzen, Zeitungsauschnitte und anderes. Ich bin überzeugt, dass die Abbildungen die Inhalte der Blog-Texte ungemein verlebendigen. Genannte und zitierte Personen erscheinen im Bild und rücken uns ganz nahe. Politische Flugblätter veranschaulichen die damaligen Kontroversen und Konflikte. Mögen die Darstellungseisen meiner Blog-Texte auch gut gelungen sein, Abbildungen bringen uns vieles optisch noch näher. Wir leben im Zeitalter des digitalen Bildes. Das gilt ebenso für das Medium Blog und gerade auch für seine autobiografische Variante. Der andere Grund ist die Verabschiedung der EU-Datenschutz-Grundverordnung Ende März im europäischen Parlament. Die heftigen Auseinandersetzungen darüber gehen mich als Blogger direkt an, weil sowohl meine Texte als auch mein beigegebenes Bildmaterial rechtlichen Rahmenbedingungen des Urheberrechtsschutzes unterliegen. Ich habe mich deshalb über Wochen intensiv mit den Debatten und Berichten über die umstrittenen Artikel befasst und die Konsequenzen für mein Bloggen geprüft. Der aktuelle Einschub dieses Blog-Kapitels ist nicht zuletzt diesen rechtlichen Streitfragen geschuldet, über die ich hier allerdings nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren will und kann. Die Materie ist zu komplex. Eines ist aber gewiss: Ich benutze urheberrechtlich geschützte Bilder und Texte und bewege ich in einem weiten Graubereich. Es könnte sein, dass ich in dem einen oder anderen Fall sogar Persönlichkeitsrechte und strafrechtliche Normen verletze. Jedenfalls muss ich als Blogger, der es nicht mit einem freundlichen Hin- und Her von unverfänglichen Gedanken- und Meinungssplittern bewenden lässt, die einschlägigen Rechte bedenken und beachten. Unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten darf ich mit einer gewissen Kulanz der Rechtseigentümer (copyright) rechnen, weil mein Blog, wie ich eingangs schon hervorgehoben habe, kein gewinnorientiertes  gewerbliches Unternehmen ist, sondern  ein autonomes, persönliches  Non-Profit-Projekt, das obendrein der Dokumentation einer Zeitzeugenschaft dient. Die Süddeutsche Zeitung hat mir deshalb – um ein Beispiel zu erwähnen –  auf meine Bitte hin, Textauszüge und Abbildungen zu genehmigen, „die Online-Nutzung von bis zu zehn SZ-Artikeln/Titelseiten kostenfrei“ erlaubt (Syndikation Süddeutsche Zeitung, 11.03.2019). Auch das gehört, wie ich meine, in den Werkstattbericht eines Bloggers.

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