5. Einmarsch der Amerikaner – Überleben in der Einöde

Wir sind in unserem oberpfälzischen Refugium weiterhin von allen Verbindungen abgeschnitten. Alle öffentliche Dienste sind zusammengebrochen, die Post, die Eisenbahn, die Versorgung. Mit Hilfe eines Stromgenerators der Mühlenbesitzer gelingt es den Erwachsenen, ein paar Nachrichten aus dem Volksempfänger zu gewinnen, doch tönt aus dem Lautsprecher fast nur Propaganda. Über die tatsächliche Lage wird mit pathetischen, hohlen Phrasen hinweggetäuscht. Die Bevölkerung wird zum Durchhalten aufgefordert. Wir erfahren wenig über den Frontverlauf, aber hoch über uns am Himmel zieht eine ganze Armada britischer und amerikanischer Kampfflugzeuge zum nächsten Bombenangriff auf die Städte. Die Winzlinge da oben mit ihren langen Kondensstreifen sind für uns in unserem Waldrefugium ungefährlich. Wer uns auf offenem Feld bedroht, sind die feindlichen Tiefflieger, die plötzlich am Horizont auftauchen. Sie nehmen meistens Kurs auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr, wo die deutsche Wehrmacht die letzten Reserven ausbildet. Einmal hüten wir gerade Schweine auf der Wiese, als zwei Kampfjäger tief über uns hinwegfliegen. Minuten später kommt es zu einem Luftkampf zwischen unseren und feindlichen Jagdflugzeugen. Zwei werden abgeschossen und trudeln zu Boden. Mitten in der Katastrophensituation bereitet mich meine Mutter auf die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium vor. Im Herbst soll ich in das humanistische Melanchthon-Gymnasium eintreten. Meine Mutter sagt mir, was ich wissen muss, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen: „Wie heißt unser Führer?“ – „Wann und wo ist unser Führer geboren?“ – „Was hat der Führer für das deutsche Volk getan?“ Meine Mutter glaubt offenbar bis in die letzten Kriegstage hinein an den Führer und an die Propaganda, es stünde eine Wende bevor, wenn die neuesten „Wunderwaffen“, die Vergeltungswaffe 1 und Vergeltungswaffe 2, zum Einsatz kämen.

In den Märztagen 1945 verlieren wir abermals den Kontakt zu meinem Vater. Auf welchem Weg können wir erfahren, wie es ihm geht? Ob er noch lebt? Meine Mutter und mein Großvater beschließen, dass er und ich uns ein zweites Mal auf einen Fußmarsch nach Nürnberg machen werden. Gegen Ende März ziehen wir los. Wir müssen uns vor Tieffliegern schützen und wählen deshalb Pfade und Landstraßen, die durch den Schutz der Wälder führen. Bei Plech stoßen wir wieder auf die Autobahn Berlin-Nürnberg. Wir laufen mit anderen, die ebenfalls die Autobahn als Fußweg benutzen, ein paar Kilometer nach Süden, auf den Knotenpunkt Hormersdorf zu. Mit einem Mal sehen wir vor uns gefechtsbereite US-amerikanische Panzer. Ihre Geschütze sind auf uns gerichtet. Aus Jeeps, die den Panzerverband begleiten, klettern Soldaten, Maschinengewehre im Anschlag. Sie versperren uns den Weg und fordern uns mit unmissverständlichen Gesten auf, in unsere Wohngebiete und Dörfer zurückzukehren. Es handelt sich wohl um ein Vorauskommando der US-Streitkräfte auf ihrem Vorstoß nach Bayreuth. Noch besteht, was wir nicht genau wissen, ein unbesetzter Korridor zwischen der West- und Ostfront. Wir stehen ohne Zweifel an einer Frontlinie der US-Armee. Es ist unmöglich, an den Panzern vorbei nach Nürnberg weiterzuwandern. Nürnberg ist, was wir auch nicht wissen, zur Festungsstadt erklärt worden.

Das Reich wird von Stunde zu Stunde kleiner: Verlauf der Fronten im Westen und Osten, Mitte April 1945; Markierung: Schauplatz der beschriebenen Situation

Mein Großvater mustert das Gelände und die fränkische Hügellandschaft, die uns umgeben. Links und rechts von der Autobahn liegen die bewaldeten Rücken der Fränkischen Schweiz. Wir treten zum Schein den Rückweg an, schlagen uns aber, als die Panzer außer Sicht sind, rechts in die Wälder und umgehen den Frontabschnitt. In der Deckung der Wälder durchqueren wir die amerikanische Frontlinie und stoßen irgendwo vor Lauf an der Pegnitz wieder auf eine Landstraße, die nach Nürnberg führt. Auf Schleichwegen erreichen wir die Stadt und finden meinen Vater, der alle Angriffe unversehrt überstanden hat. Merkwürdigerweise habe ich das Treffen selbst nicht in Erinnerung behalten. Worüber haben mein Großvater und mein Vater gesprochen? Wie haben sie die Lage eingeschätzt? Was haben sie vereinbart? Wir halten uns in Nürnberg nur für kurze Zeit auf, denn meine Mutter erwartet unsere Rückkehr und unseren Bericht. Mein Großvater wählt wiederum Wege, die uns Deckung bieten und vor Tieffliegern schützen. Es sind beschwerliche Wege, die wir mit äußerster Kraftanstrengung zurücklegen. Dieser zweite Gewaltmarsch über fast siebzig Kilometer bringt mich an den Rand völliger Erschöpfung. Mein Großvater will noch am zweiten Tag in der späten Nacht in der Holzmühle eintreffen. Er drängt mich durchzuhalten und in der Dunkelheit weiterzulaufen, obwohl mich meine Beine kaum mehr tragen. Mich verlassen die Kräfte. Kurz nach Mitternacht treffen wir in der Holzmühle ein. Meine Mutter öffnet die Tür und empfängt uns im Schein einer Petroleumlampe. In der Wohnstube breche ich zusammen. Ich bin so erschöpft und geschwächt, dass ich fast eine Woche brauche, um wieder auf die Beine zu kommen. Von diesem Zeitpunkt an gehe ich nicht mehr zur Schule.

Die letzten Kriegstage im Versteck

Als sei es gestern gewesen, sehe ich noch die Panzerfäuste neben der niedrigen Eingangstüre an der Wand des himmelblau gestrichenen Bauernhauses lehnen. Wieder hatte sich ein versprengter Trupp deutscher Soldaten im Schutze der Nacht zur Einöde durchgeschlagen. Wieder die üblichen Bitten nach Unterkunft, Brot, Bier und kleinen Dingen. Die letzten deutschen Frontlinien hatten sich aufgelöst. Der kleine Trupp hat nichts als seine Gewehre und die vier Panzerfäuste gegen die anrollende Übermacht der US-amerikanischen Landstreitkräfte aufzubieten. Die Erwachsenen sind über dessen Absicht beunruhigt, aus der bewaldeten Talsenke heraus Widerstand gegen die anrückenden feindlichen Truppen zu leisten. Es herrscht große Aufregung im Hof. Bauer und Bäuerin, mein Großvater und meine Mutter beraten sich, suchen nach Auswegen aus der gefährlichen Situation. Wo immer sich in den kleinen Dörfern ringsumher Widerstand gezeigt hatte, waren diese von den Okkupanten beschossen und in Brand gesetzt worden.

Inzwischen hatte sich mein Vater zu uns durchgeschlagen. Er nahm mich oft auf Beobachtungsgänge mit und erläuterte mir das Geschehen. Seit Tagen hatten wir von einer nahen Anhöhe aus den Aufmarsch der US-amerikanischen Panzerbrigade beobachtet, die sich zu einem weiteren Vorstoß auf den deutschen Truppenübungsplatz Grafenwöhr sammelte. Drüben auf den Feldern steht eine schwarze Armada von Panzern. Mein Vater führt die deutschen Soldaten auf die Anhöhe und überzeugt sie von der Übermacht des Gegners. Es wäre gefährlich gewesen, die Soldaten zu drängen, ihre Waffen niederzulegen und den Kampf aufzugeben. Noch in den letzten Kriegstagen wurden zahlreiche Zivilisten und Soldaten wegen Defätismus, Wehrzersetzung und Fahnenflucht standrechtlich erschossen. Ich selbst habe noch die Worte eines Feldwebels im Ohr, sie wollten trotz der aussichtslosen Situation die versprengten Truppenteile bei Amberg zusammenziehen und eine neue Front aufbauen. Die Überzeugungsaktion meines Vaters jedoch verfehlt ihre beabsichtigte Wirkung nicht. Nachdem die deutschen Landser die amerikanische Tankarmada in Augenschein genommen haben, kehten sie auf den Hof zurück und verschwinden mit ihren vier Panzerfäusten im Wald.

Der Bauer und Mühlenbesitzer Georg Reiß lässt die polnischen Landarbeiter die Pferde anspannen. Auf einen langen Leiterwagen werden rasch allerlei Wertgegenstände, Hausutensilien, Wäsche, Kleider, Betten, Decken und Proviant aufgeladen und Planen darüber gedeckt. Genau an meinem zehnten Geburtstag, am 18. April 1945, verlässt der Pferdezug mit Peitschenknall und Hüh-Rufen den Hof und bewegt sich auf einem sandigen Fuhrweg zu einer Schlucht, wo wir uns in das Unterholz und Gestrüpp verkriechen. In diesem Versteck kampieren wir drei Tage und drei Nächte. Uns Kindern erscheint das alles eher als ein abenteuerliches Versteckspiel, obschon wir die gefährliche Kriegssituation spüren. Wir können die Tragweite des Geschehens nicht begreifen. Bei den Erwachsenen dreht sich alles nur noch ums Überleben und um die Rettung von Hab und Gut.

Am Morgen des 20. April, einem trockenen warmen Frühlingstag, hebt plötzlich ein ungeheuerliches Dröhnen, Rattern und Knattern an, zuerst mehr stoßweise, dann allmählich anschwellend. Die Armada der Panzer hat sich in Bewegung gesetzt und rollt auf die Einöde zu. Die Erwachsenen horchen nervös auf den näherkommenden Motorenlärm, der die ganze Landschaft vibrieren lässt. In den nächsten Stunden werden wir besetztes Gebiet sein.

Wieder einmal nimmt mich mein Vater auf einen Beobachtungsgang mit. Er verlässt mit mir unser Waldversteck, und wir gehen auf einem schmalen Fußpfad zur Mühle zurück. Er ist in unserem Kreise die einzige Person, die sich in englischer Sprache verständigen kann, und will vermutlich vorn am Bauernhof sein, wenn die ersten Panzer anrücken. Warum nimmt er mich in dieser gefährlichen Situation mit? Erst viel später kommt mir in den Sinn, ihm könnte stark daran gelegen haben, mich zu einem Augenzeugen der militärischen Besetzung werden zu lassen. Ich sollte mit eigenen Augen sehen, wie wir von einer fremden Macht überrollt werden. Mein Vater ist ein historisch denkender, geschichtsbewusster Mann, der das Außergewöhnliche, das Fürchterliche und Gewaltige dieser Situation wahrnimmt und den historischen Augenblick des Unterganges des Dritten Reiches erfasst.

Zum Hof waren auch unsere zwei polnischen Landarbeiter, die Kriegsgefangenen Stanislaus und Franz, zurückgegangen. Sie trugen maßgeblich zu unserer Rettung bei: Die zwei Polen und die ukrainische Magd Maruschka waren 1942 zusammen mit Tausenden anderen „Ostarbeitern“ nach Nürnberg verfrachtet und von dort auf das Land verteilt worden. Sie schliefen mit im Haus und aßen mit am Tisch der Bauernfamilie. Sie erhielten die gleiche Nahrung und die gleichen Portionen. Sie standen, bevor sich alle zur Mahlzeit an den Tisch setzten, zusammen mit der Bauernfamilie gegen den Herrgottswinkel gerichtet und beteten das „Ave Maria“. Keiner schikanierte sie. War einer von ihnen krank, wurde er selbstverständlich versorgt. War es eine schwere Verletzung, wurde ärztliche Hilfe geholt oder der Patient mit der Pferdekutsche in die nächste Kleinstadt gebracht. Stanislaus und Franz fütterten und pflegten die Pferde. Sie fuhren in den Erntezeiten hinaus auf die umliegenden Felder, holten frischen Schnitt, Heu, Kartoffel und Korn. Waren Baumstämme angefahren worden, entrindeten sie die Stämme, hievten sie auf Loren, stellten die Sägeblätter ein und setzten das Sägewerk in Gang. Maruschka arbeitete im Kuhstall mit und fütterte und melkte die Kühe. Sie half beim Wäschewaschen, Bügeln und Nähen. Sie war eine scheue Frau, redete wenig und verkroch sich gern, aber sie tat, was ihr aufgetragen wurde. Alle paar Wochen backte sie im Backhaus, das frei am Mühlbach stand, Brote und Fladen. Die drei Kriegsgefangenen wurden menschenwürdig behandelt. Ich habe nie erlebt, dass den „Pollacken“ gedroht wurde. Als kleiner Junge hätte ich gesagt, Franz sei mein Freund. Es gibt eine Fotografie, auf der wir beide vergnügt in die Kamera sehen. Es mag sein, dass es eine dunkle Seite gab, die sich meinen Blicken entzog, die für mich unsichtbar war. Stanislaus, Franz und Maruschka waren Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Die Holzmühle jedoch war ein Ort gelebter Humanität, obgleich die Macht- und Gewaltstrukturen der blutigen Kriegszeit sicherlich selbst in dieser bäuerlichen Idylle vorhanden waren, abgemildert und verdeckt.

Auf der Holzmühle bei Eschenbach / Oberpfalz, Sommer 1943 oder 1944; Johann Albrecht (Alf) Mintzel und der polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Franz

Wir stehen in der Küche des Landhauses am Hang und werfen einen Blick durchs Fenster nach draußen hinüber zum Wald. Zwei amerikanische Panzerspähwagen tauchen auf der Schotterstraße auf, fahren langsam aus dem Wald heraus und auf die Mühle zu. Die Geschütze sind auf uns gerichtet. Die Mannschaften fahren näher heran und sehen offenbar die weiße Fahne, die Stanislaus und Franz im letzten Augenblick über dem Pferdestall gehisst haben. Soldaten springen aus dem Bauch der Fahrzeuge, gehen mit schussbereiten Maschinengewehren auf die Gebäude zu. Höchste Spannung, bange Minuten. Meine Erinnerungen werden genau an diesem Punkt ungenau, sie verschwimmen. Zu groß war die Angst, als dass meine Sinne den Vorgang hätten noch präzise registrieren können. Mein Vater geht nach draußen, eine Kapitulationshandlung findet statt. Franz und Stanislaus geben sich als polnische Kriegsgefangene zu erkennen, wechseln aber nicht die Seite. Sie helfen mit Gestik und gebrochenem Deutsch, Kampfhandlungen von uns abzuwenden. Die Panzerspähmannschaften scheinen überzeugt zu sein, hier auf keinen Widerstand zu stoßen. Sie ziehen ab und geben der anrückenden Panzerkolonne ein Signal zu Durchfahrt. Fünf Stunden lang rollt die Armada durch unser Gehöft. Ein ohrenbetäubender Motorenlärm. Inzwischen sind fast alle aus unserem Waldversteck zurückgekehrt. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben dunkelhäutige Menschen. Diese werfen uns Kindern kleine Verpflegungsbüchsen zu.

Zeitweilige Registrierungskarte der US-Miltärregierung für Albrecht Mintzel

Der Krieg ist aus. Am Geburtstag des Führers beginnt für uns die Besatzungszeit, am 2. Juli 1945 kehren wir nach Nürnberg zurück

4. Zwischen Schwelbränden und Trümmerhaufen

Mit Sack und Pack in die Oberpfalz

Spätestens nach dem Fall von Stalingrad bedurfte es keiner Hellsicht mehr, um zu erkennen, dass der Russland-Feldzug in einer Katastrophe enden würde. Die verlorene Schlacht um Stalingrad wurde auch in meinem Leben zu einem Wendepunkt. Ich hatte das Glück, in einer idyllischen Nische den Zweiten Weltkrieg zu überleben. Im Frühjahr 1943 sorgen mein Großvater und Vater dafür, dass sich die Familie in einem abgelegenen Waldwinkel verstecken kann. Wir verlassen die „Stadt der Reichsparteitage“, wie sie zu Hitlers Zeiten genannt wird, und ziehen mit Sack und Pack in die Oberpfalz. Mein Großvater hatte auf seinen Ausflügen nicht weit von Eschenbach entfernt, in einer bewaldeten Senke, eine Einöde entdeckt: die Holzmühle, ein altes Bauernhaus, an das eine Mühle und ein Sägewerk angebaut sind, eine große Scheune und Stallungen für Rinder, Pferde und Schweine. Gegenüber den alten Gebäuden steht auf einem Hang ein Neubau, in den später einmal die nächste Bauerngeneration einziehen sollte. Nun ziehen dort meine Mutter, mein Großvater, wir fünf Kinder und das Dienstmädchen Emmi ein. Wir haben weder elektrisches Licht noch fließendes Wasser. Das fahle Licht der Petroleumlampen hilft uns durch die Dunkelheit der Neumondnächte und der Wintermonate. Das Holzsammeln für den Ofen und das Schleppen der Wassereimer von der Quelle am bewaldeten Hang zum Haus gehören zu meinen täglichen Pflichten. Mein Vater muss in Nürnberg bleiben, wo er, „uk“-gestellt, als “unabkömmlicher“ Oberverwaltungsrat im Dienst der Stadtverwaltung steht. Er hatte sich freiwillig zu Wehrmacht gemeldet und war von 1941 bis 1942 in der Normandie stationiert und dort, mehr Karikatur eines Soldaten, im Schreibstubendienst eingesetzt gewesen. In der Familie hatte es seit Jahrhunderten keine militärische Tradition gegeben. Als schwerkranker Mann kehrte mein Vater aus dem Kriegsdienst zurück und war seither vom Wehrdienst befreit.

Holzmühle bei Eschenbach / Oberpfalz, Sommer 1943; Photo: Kurt O. Mintzel

Holzmühle bei Eschenbach: Sägewerk, Sommer 1943; Photo: Kurt O. Mintzel

Meine Schwester und ich gehen in Tremmersdorf zur Dorfschule, das rund zwei Kilometer von der Holzmühle entfernt liegt. In der typisch bayrischen Zwergschule werden acht Klassen unterrichtet. Die zwanzig Schüler der ersten bis zur achten Klasse sitzen in einem engen Raum in zwei Bankreihen, vorne die Jüngsten, hinten die Älteren. Lehrer Anton Mailer geht am Morgen durch die Bankreihen, jede Klasse erhält ihr Pensum. Im Winter wird der Schulraum mit einem Kanonenofen beheizt. Der Lehrer schiebt ein paar Holzscheite nach. Der Unterricht beginnt morgens um acht Uhr und endet mittags. Die Schüler der unteren Klassen schreiben mit Griffeln auf Schiefertafeln, die der oberen benutzen schon Schulhefte. Das Unterrichtsmaterial ist kümmerlich, verglichen mit heutigen Standards katastrophal. Ich nehme gern am Unterricht teil und verfolge, was Lehrer Mailer bei der Unterrichtung der höheren Klassen vorne auf die große Lehrertafel schreibt und zeichnet. Das war ein Lernvorteil dieses binnendifferenzierten Unterrichts. Ich liebe das Schönschreiben, das zu den täglichen Aufgaben gehört. Zeile für Zeile schreibe ich auf meiner Schiefertafel Buchstabenreihen. Dafür werde ich in meinem Schulzeugnis mit der Note Eins belohnt. Es wird zu einer Manie und hat meine Schriftzüge bis ins hohe Alter geprägt. Der Unterricht für acht Klassen in einem kleinen Raum verlangt Disziplin. Die Schüler, unruhige Bauernjungen, werden wie ehedem mit Stock und Rute bestraft. Dies geschieht in der Regel hinter den letzten Schulbänken an der Wand. Schülerinnen kommen mit einer Verwarnung davon. Lehrer Mailer, ein schmächtiger Mann, wohnt mit seiner Familie im ersten Stock des Schulhauses in einfachen Verhältnissen. Vor dem Gebäude befindet sich ein umzäunter Platz, der Schulhof. An der Seite steht ein Fahnenmast für den nationalsozialistischen Flaggenappell. Der Mast ist höher als das einstöckige Schulhaus. Bis zum Kriegsende hören wir täglich den Kanonendonner, der vom nahen Truppenübungsplatz Grafenwöhr herüberschallt. Am Tag ziehen Geschwader feindlicher Kampfbomber hoch am Himmel ihre todbringende Bahn und hinterlassen lange Kondensstreifen.

Postkarte „Gruß aus Temmersdorf, Oberpfalz“, 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Geschwister Mintzel am Weiher hinter der Holzmühle bei Eschenbach / Oberpfalz, Sommer 1943; von links: Johann Albrecht (Alf), Johann Heinrich (Hein), Dorothea (Dorle); Photo: Kurt O. Mintzel

Als wir uns in den letzten Kriegsjahren dort hinten, tief in der Oberpfalz, versteckt hielten, lag die Landschaft wie vor drei- oder gar vier vierhundert Jahren vor uns. Seit Jahrhunderten hatte der Mensch dieses sumpfige Gebiet so belassen, wie es nach den Rodungen ausgesehen hatte. Manchmal wateten Männer am Rande des Großen Rußweihers durch das Schilf und raubten die Eier der auffliegenden Lachmöwen. In dieses Versteck in der Mühlbachsenke drangen nur wenige Nachrichten von außen herein. Es gab selbst noch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges idyllische Orte und Nischen, wo der Anschein herrschte, sie würden vom Weltgeschehen ausgespart bleiben. Wie vor Jahrhunderten lag dieser Winkel der Welt abseits der entsetzlichen Geschehnisse. Wir waren dahinten fast vergessen worden.

Doch am 2. Januar 1945 holt uns die Realität ein: Die Royal Air Force (RAF) und die US-amerikanischen Luftstreitkräfte greifen die Stadt der Reichsparteitage an. Mit einem verschlüsselten Code soll die BBC britische Agenten im Raum Nürnberg gewarnt haben: „Wagnerfreunde, am 2. Januar bringen wir die Meistersinger.“ Eine zynische Botschaft, hinter den Meistersingern verbergen sich über fünfhundert Bomber, die am Abend des 2. Januars auf ihr Ziel Nürnberg einschwenken und um 18.43 Uhr ihre Bombenschächte öffnen.

Im Inferno des Großangriffes kommen, wie die amtliche Statistik später mitteilen wird, 1794 Menschen um. Hunderttausend Einwohner werden obdachlos. Die „fliegenden Festungen“ der RAF entladen 1825 Tonnen Spreng- und 379 Tonnen Stabbrandbomben, die 4553 Wohngebäude völlig zerstören, 2047 schwer und 2993 mittelschwer beschädigen. Die statistischen Angaben lassen das kolossale Ausmaß der Zerstörungen erahnen. Vom „Schatzkästlein“ des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bleibt nur ein schrecklicher Trümmerhaufen übrig. Unschätzbare kulturelle Werte gehen in dieser Nacht für immer verloren. Das Leben von nahezu zweitausend Menschen wird ausgelöscht. Es wären sicher noch sehr viel mehr Opfer zu beklagen gewesen, hätte ein Großteil der Einwohnerschaft nicht schon vorher die Stadt verlassen und sich auf dem Lande in Sicherheit gebracht. Die Zerstörungen waren so gewaltig, dass damals ein Wiederaufbau der Stadt nicht mehr möglich schien. Ich erlebe das Höllengewitter des Angriffs aus einer Entfernung von etwa fünfzig Kilometern Luftlinie. Wenige Tage später sehe ich die Zerstörungen aus nächster Nähe. Noch heute erschauere ich, wenn ich das Erlebte aus meinem Gedächtnis hochkommen lasse. Ich habe meine Erinnerungen schon vor vielen Jahren niedergeschrieben und greife hier auf meine Aufzeichnungen zurück.

2. Januar 1945. Die Nacht ist hereingebrochen, draußen ist es stockfinster, ein kalter Winterabend. Wir sitzen in der Wohnküche um den großen Tisch: mein Großvater, meine Mutter, wir fünf kleinen Kinder, das Dienstmädchen. Die Suppe dampft im Teller. Im eisernen Küchenherd zerplatzen im Feuer die Fichtenzapfen, das Reisig knistert und prasselt in der Glut, im Messingkessel brodelt das Wasser leise vor sich hin. Die Küche ist in den gedämpften, warmen Schein einer Petroleumlampe getaucht. Wir hören die Mäuse in den Hohlräumen der Wände trippeln und rascheln. Sie sind so frech, dass sie während unserer Mahlzeit über den Absatz des Küchenbuffets laufen und nach unten rutschen. Für viele Mäuse bedeutet ihr Schnelllauf über den Absatz den sicheren Tod. Allabendlich stellt meine Mutter einen Eimer mit Wasser gefüllt ans Büffet, jeden Morgen finden wir darin eine ersoffene Maus. Doch werden wir der Plage nicht Herr. Wir Kinder gruseln und amüsieren uns zugleich über die leichtfüßige Plage. Großvater rezitiert aus E.T.A. Hoffmanns phantastischen Märchen „Nussknacker und Mausekönig“: „Knack – knack – knack – dummes Mausepack – knack – knack – Mausepack – krick, krack!“ Wir kringeln uns vor Lachen. „Nochmal ,Opa!“ – Großvater schmunzelt vergnügt und tut uns den Gefallen.

Plötzlich ein fernes Rollen und Grollen, als zöge ein Gewitter auf. Wir horchen auf, lauschen – ein fernes, dumpfes, ungewöhnliches Donnern. Wir gehen aus der Küche, verlassen das Haus über den hinteren Ausgang. Meine Mutter, mein Großvater und ich laufen auf die Wiese hinter dem Haus. Emmi ist bei meinen Geschwistern im Haus geblieben. Das Donnern kommt aus dem Westen. Wir schauen hinüber. Am Horizont leuchten Blitze auf, der Himmel verfärbt sich rötlich. Wir hören Detonationen, ihre Schallwellen erreichen uns in raschen Folgen. Donner auf Donner, Lichtblitz auf Lichtblitz, rötlicher Horizont. Kein Zweifel mehr, wir beobachten ein furchtbares Geschehen. Nürnberg wird von Bomberverbänden angegriffen. Wir ahnen, dass die Zerstörungen ein fast unvorstellbares Ausmaß haben müssen. Sofort macht die bange Frage die Runde, ob mein Vater den Luftangriff überlebt hat. Er ist Oberregierungsrat in der Nürnberger Stadtverwaltung und in seinem Amt mitverantwortlich für die Organisation der Rettungsdienste und Hilfsmaßnahmen nach Angriffen. Er hält sich zum Zeitpunkt des Angriffes in der Stadt auf. Meine Mutter und mein Großvater sind höchst besorgt.

Wir sind in der Einöde von der öffentlichen Kommunikation weitgehend abgeschnitten. Wir haben keine Elektrizität, keinen Volksempfänger, keine Zeitung. Die Zeitung müssen wir in der nächstgelegenen Kleinstadt holen, in Eschenbach. Mein Großvater, der Zeitungsleser, kann aus ihr nur sporadisch Informationen schöpfen. Nur über die Landpost sind wir mit der Welt verbunden, aber auch die kommt nur einmal in der Woche. Drei Tage warten wir vergeblich auf Post, auf ein Telegramm, auf irgendeine Nachricht von meinem Vater. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrige, als uns selbst auf den Weg nach Nürnberg zu machen, um Gewissheit zu erlangen. Mein Großvater und ich brechen nach auf, um nach meinem Vater zu suchen. Doch die Einöde ist nicht an das große Verkehrsnetz angeschlossen. Die nächste Eisenbahnstation liegt einen Fußweg von eineinhalb Stunden entfernt, und es fahren keine Züge mehr nach Nürnberg. Wir müssen uns also zu Fuß nach Nürnberg durchschlagen, rund siebzig Kilometer Wegstrecke liegen vor uns.

5. Januar 1945, dritter Tag nach dem Luftangriff: Die Bäuerin gibt meinem Großvater und mir einen frisch gebackenen Laib Brot und ein Stück geräucherten Schinken mit auf den Weg. Mein Großvater packt alles Notwendige in seinen alten Rucksack. Wir brechen bei nasskaltem Wetter auf und wandern auf Pfaden, Fuhrwegen und Landstraßen über Kirchenthumbach, Auerbach und Pegnitz zur Autobahn, die von Berlin nach Nürnberg führt. Auf der Autobahn gehen wir mit Strümpfen, die Schuhe sind vom Regen durchweicht und unbrauchbar geworden. Die Füße schmerzen. Ich halte den Gewaltmarsch kaum durch. Eine Übernachtung reicht nicht aus, um genügend Kräfte zu sammeln. Mein Großvater wird in zwei Wochen 75 Jahre alt. Er ist hager, aber körperlich in erstaunlich guter Verfassung. Wir legen die Wegstrecke mit äußerster Anstrengung in gut zwei Tagen zurück, eine Hochleistung.

Gang durch das zerstörte Nürnberg

Am 7. Januar, fünf Tage nach dem Luftangriff, treffen wir in Nürnberg ein. Unterwegs haben wir schon von der Katastrophe gehört, vom Untergang der Stadt. Wir nähern uns, von dem Städtchen Lauf her, auf der Hauptstraße dem Stadtrand und durchqueren die Vorstadt Erlenstegen. Links und rechts Bombentrichter, zerstörte Häuser. Wir erreichen die Äußere Sulzbacher Straße mit – ehemals – dicht bebauten Straßenzügen und Stadtteilen. Ganze Straßenzüge liegen in Schutt und Asche. Ruine reiht sich an Ruine. Fensterhöhlen in Mauerresten, da und dort steigt noch Qualm aus den Schuttbergen. Schwelbrände, es riecht durchdringend brandig. Die Straßen sind nur mehr einspurig passierbar, die Straßenmitte ist provisorisch freigelegt, um überhaupt Verkehr zu ermöglichen. Zur rechten und zur linken Seite türmen sich die Schuttberge. An der Sulzbacher Straße steht fast kein Haus mehr, das Melanchthon-Gymnasium zur linken Hand ist schwer beschädigt. Die Straßenbeleuchtung ist völlig zerstört, das elektrische Netzwerk der Straßenbahnlinien hängt wirr an den Befestigungen herunter. Der Straßenbahnverkehr ist eingestellt, der öffentliche Verkehr weitgehend lahmgelegt. Menschen laufen durch die Trümmer, fahren auf Rädern, schieben kleine Karren, ziehen Leiterwagen hinter sich her, auf denen sie gerettetes Hab und Gut transportieren. Mein Großvater, ein alter Nürnberger Stadtbürger, führt mich in die Stadt hinein. Am letzten stadteinwärts gelegenen Straßenende steht kein Haus mehr. Am Laufer Torturm angekommen sehen wir kilometerweit Trümmerberge und Mauerreste der Altstadt. Die Türme der großen gotischen Kirchen, Sankt Lorenz und Sankt Sebald, sind geköpft. Nur wenige einzeln stehende Häuser ragen aus dem riesenhaften Schuttfeld heraus. Bergungstrupps suchen nach Verschütteten, geborgene Tote liegen abgedeckt auf der Straße zum Abtransport bereit. Mein Großvater hält inne, scheint zu überlegen, auf welchem Wege wir am besten zum Wohnhaus in der Rieterstraße gelangen können. Ich erinnere mich noch daran, in einem ausgebrannten Haus, dessen Stockwerke in sich zusammengefallen waren, an einer der stehengebliebenen Innenwände ein Bild mit Hitlers Porträt gesehen zu haben. Damals wusste ich noch nicht, dass auf dem Bild in der Ruine einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts hing. Für mich war er der Führer. So war es uns eingebläut worden. Auch in der elterlichen Wohnung hing ein großformatiges Bild des Führers. Hitler sah im Herrenzimmer als Feldherr gebieterisch auf meinen Vater herab. Erst drei Jahre später, als mein Vater am Nürnberger Militär-Tribunal als Verteidiger von Nazi-Größen wirkte, erfuhr ich etwas über die Massenmorde der nationalsozialistischen Verbrecher.

1945, Rathenauplatz – früher Feldmarschall-von-Hindenburg-Platz – und Sulzbacher Straße; markiert: Melanchthon-Gymnasium

Mein Großvater und ich schweigen. Die ganze Zeit. Was wir sehen und was wir dabei empfinden, lässt sich nicht in Worte fassen. Vielleicht sind es ein paar einfache Worte gewesen, Bruchstücke eines Satzes. Vielleicht hat sich der alte Mann gescheut, mir, dem erst Zehnjährigen, seine Gefühle auszudrücken. Unter den Überlebenden herrscht eine tiefe Niedergeschlagenheit. Untergangsstimmung greift um sich. Wahrscheinlich ist es diese Lähmung, die meinem Großvater die Stimme nimmt, als wir durch die schwelenden Trümmerwüsten wandern. Ich habe ihn später nie danach gefragt, was er auf unserem gemeinsamen Weg durch die Ruinenlandschaft gefühlt und gedacht hat. Die jüngere Generation fragt die ältere nicht zur rechten Zeit, die ältere versäumt es, sich der jüngeren mitzuteilen. Wir wissen wenig voneinander, zu wenig. Heute würde ich viel darum geben, meinen Großvater fragen und mit ihm darüber ein Gespräch führen zu können.

Als wir in die Rieterstraße einbiegen, fällt uns ein Stein vom Herzen: Keines der Häuser ist zerstört, Hernach heißt es, die Straße sei geplant verschont worden, weil die Häuser Juden gehört hätten. Der Antisemitismus muss auch zur Erklärung purer Zufälle herhalten. Wir treffen in der Wohnung meinen Vater an. Ich sehe eine fremde Frau über den Gang huschen. Sie verschwindet in einem Zimmer. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob mein Vater jemals darüber gesprochen hat, wie er das Inferno überlebt hat. In meinem Leben bleibt der 2. Januar unauslöschlich als Tag des Unterganges von Alt- Nürnberg im Gedächtnis. Ich werde diese Erinnerungen nie wieder los. Bis heute werden diese an jedem 2. Januar geweckt. Um das Schweigen der Generationen zu brechen, werde ich meinen Kindern immer und immer wieder meine Kriegserinnerungen schildern.

3. Und am nächsten Morgen fehlen Kinder

Luftangriffe auf Nürnberg

1942. Nürnberg im dritten Kriegsjahr. Ehemalige Freie Reichsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, jetzt „Stadt der Reichsparteitage“, ein Zentrum des Nationalsozialismus in „Großdeutschland“.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohnen direkte Nachkommen der Druckerdynastie Mintzel, die Familie meines Vaters und Verwandte, in der alten Reichsstadt. Wir wohnen in Nürnberg-Nord in der Rieterstraße 6 oben im dritten Stock. Die Straße liegt etwa einen halben Kilometer außerhalb der Stadtmauern, quer zur Bucherstraße, die hinausführt in das so genannte Knoblauchland. Das Wohnhaus ist wie die meisten an dieser Straße gelegenen im Jahre 1906 erbaut. Das vierstöckige Gebäude aus massiven grauen Keupersandsteinen ist mit Ziegelsteinen unterkellert. Ein großräumiges Bürgerhaus mit repräsentativen hohen Zimmern, die Decken stuckverziert, in jedem Wohnraum ein hoher Kachelofen. Im Hinterhaus eine Waschküche für alle Mieter. Es heißt, das Haus sei vor 1937 in jüdischem Eigentum gewesen. Das hohe, massiv gebaute Bürgerhaus erweckt den Eindruck, unverwüstlich zu sein. In den Jahren 1941 bis 1943 erlebe ich hier erste vereinzelte Angriffe auf Nürnberg, verbringe Bombennächte in den dunklen, verwinkelten Kellerräumen. Der Luftkrieg ist noch nicht weit ins Reich vorgedrungen. Wir haben die Schrecken schwerer Luftangriffe noch nicht erlebt; wir wissen noch nicht, was auf uns zukommen wird. Auf die Idee, eine Fliegerbombe könnte bis zum Keller durchschlagen und alle Hausbewohner töten, kamen wir noch nicht. Nur die Vorbereitungen des organisierten Luftschutzes lassen uns spüren, dass eine tödliche Bedrohung irgendwie in der Luft liegt. Am Ende des Jahres 1942 beginnen sich die Luftwarnungen zu häufen. Es gibt, nach Einflugzonen gestaffelt, drei Alarmstufen: Erste Vorwarnung, zweite Vorwarnung, Hauptwarnung. Wenn die feindlichen Bombergeschwader in das Stadtgebiet einfliegen, gilt es, so rasch wie möglich die Schutzräume in den Kellern aufzusuchen. Schon wir Volksschüler werden über die Luftschutzvorkehrungen unterrichtet und mit Verhaltensmaßregeln bekannt gemacht. Der eingeübte „Ernstfall“ bleibt nicht lange aus.

Im dritten Kriegsjahr werden die Angriffe heftiger. Über die kleinen schwarzen Volksempfänger, das Jedermannsradio von damals, werden die sogenannten Luftlagemeldungen durchgegeben: Anflug der Feindmaschinen auf Luftkorridor drei, zwei, eins. Die Bevölkerung wird aufgerufen, sich sofort in die Luftschutzräume zu begeben. Meine Eltern, ihre fünf kleinen Kinder, Großvater, Dienstmädchen und Kindermädchen, packen ihre Bündel. Wir eilen drei Stockwerke hinunter zum Keller. Die anderen Hausbewohner tun das Gleiche. Wir treffen uns dort alle, schlaftrunken und verstört, und harren der Dinge. Die ersten Angriffe verlaufen glimpflich, die Trefferquote der Bombenabwürfe ist noch gering, das Feuer der Fliegerabwehrkanonen, kurz Flak genannt, noch wirksam. Wir gewöhnen uns an das nächtliche Sirenengeheul. Nicht jede Luftwarnung hat einen Angriff zur Folge.

Der Ernstfall ist gekommen: Wieder sitzen wir im Keller und horchen und horchen. Die Feindmaschinen scheinen Bomben über einem anderen Stadtgebiet abzuwerfen. Mein Vater ist ein sogenannter Luftschutzwart. Er trägt eine grüne Armbinde und muss dafür sorgen, dass die Luftschutzordnung eingehalten wird und bei Bombeneinschlägen erste Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Noch während des Angriffs nimmt mich mein Vater bei der Hand. Als ältestem von fünf Geschwistern wird mir Verantwortung übertragen, wenn es ernst wird. Mein Vater verlässt mit mir den Keller und führt mich im dunklen Stiegenhaus nach oben in den dritten Stock. Wir tasten uns durch die abgedunkelten Gänge unserer Wohnung, mein Vater voran. Licht zu machen ist streng verboten. Jeder Lichtpunkt könnte ein Ziel für die Flugzeugmannschaften sein. Das Nazi-Regime hat überall in der Stadt an Lithfaßsäulen Plakate aufkleben lassen: Ein Knochenmann reitet auf einem feindlichen Flugzeug und schleudert eine Bombe auf ein beleuchtetes Haus Die Plakate weisen drastisch auf die Gefahr hin: „Der Feind sieht Dein Licht! Verdunkeln!“

Der Feind sieht Dein Licht! Verdunkeln!; Otto Sander-Herweg, 1940/43, Plakat für das Deutsche Propaganda-Atelier.
Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg W113 Nr.0071 Bild 1
http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-196980-1

Wir gehen in den Seitengang zum hinteren Teil der Wohnung. Mein Vater öffnet das schmale, hohe Fenster im Toilettenraum. Alle Nachbarhäuser stehen im Dunkeln, nirgendwo ein Lichtschein, nirgendwo eine menschliche Stimme. Ein unheimliches Surren dringt zu uns herab, wir hören das monotone Geräusch der Fliegermotoren. Angestrengt schauen wir in den Nachthimmel. Die deutsche Flakabwehr hat Dutzende Großscheinwerfer in den schwarzen Himmel gerichtet. Mit ihren Lichtkegeln sucht sie den Himmel ab. Die Strahlenbündel wandern hin und her, sie kreuzen sich, sie tasten in die Nacht hinein: ein faszinierendes Lichtschauspiel. Irgendwo Einschläge, ganz nah eine Detonation. Plötzlich scheint in einem Lichtkegel ein Kampfflugzeug auf. In großer Höhe wirkt es wie ein silberner Winzling, wie ein harmloses Silberfischchen, das ins Dunkel zu entkommen versucht. Die Großscheinwerfer verfolgen die viermotorige Maschine, doch bleibt sie für die Flak außer Reichweite. Es fliegen viele dort oben. Das Surren wird schwächer. Wir hören nur noch gedämpftes Grollen und einzelne ferne Detonationen. Aber noch ist keine Entwarnung gegeben.

Während eines anderen Angriffs nimmt mich mein Vater abermals bei der Hand, geht mit mir zum Kellerausgang und führt mich nach draußen auf die Straße. Wir laufen auf dem menschenleeren Gehsteig zur Ecke Bucherstraße/Rieterstraße. An der Apotheke bleiben wir stehen. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben ein lichterloh brennendes Haus. Ich bin zwar erst acht Jahre alt, aber die hautnahen Kriegserlebnisse haben mich wach werden lassen. Die Bombennächte haben meine Wahrnehmungsfähigkeit geschärft. Ich weiß nun, was Angst bedeutet. Noch zehn Jahre nach Kriegsende werde ich angstvoll aufschrecken, wenn Sirenen aufheulen. Sie erinnern mich immer an Krieg, Zerstörung und Tod.

Im vierten Kriegsjahr häufen sich die Luftangriffe auf Nürnberg. Sie werden heftiger, die Zerstörungen nehmen zu. Eines Nachts heulen wieder die Sirenen. Alle Hausbewohner versammeln sich im langen Gang des Kellers. Sie hocken auf Stühlen, die sie für die Bombennächte im Schutzraum bereitgestellt haben. Im schummerigen Licht der schwachen Beleuchtung erscheinen alle fahl und grau, sie werfen kaum Schatten. Die Worte ersterben. Alle horchen, was oben geschieht. Im Keller herrschte immer eisernes Schweigen. Erste, noch ferne Detonationen, als würde irgendwo ein Feuerwerk abgebrannt. Ein dumpfes Grollen, begleitet von den Salven der Flak. Die Bombeneinschläge kommen näher, die Angst wächst. Die Detonationen hören sich an, als seien sie nur noch ein paar Straßenzüge entfernt, der Kellerboden bebt. Die elektrischen Birnen beginnen zu flackern, das Stromnetz scheint getroffen, Sekunden lange Finsternis. Die Ohren der Erwachsenen haben gelernt, die Sprengkraft von Bomben zu unterscheiden: die fast unhörbaren und deshalb so gefährlichen Einschläge von Brandbomben, die krachenden von Phosphor- und Sprengbomben, die ohrenbetäubenden Detonationen tonnenschwerer Luftminen. Plötzlich eine ungeheuer laute Detonation; eine heftige Druckwelle schleudert meine Mutter an die Wand. Wir erstarren vor Angst. Ein Aufschrei aus Dutzend Mündern, das elektrische Licht erlischt. Was ist mit meiner Mutter passiert? Meine Mutter weint. Sie scheint unversehrt geblieben zu sein. Hat es oben eingeschlagen? Wird die Kellerdecke halten? Ist der Durchbruch zum nächsten Haus gangbar? Werden wir ins Freie gelangen, sterben oder überleben? Minuten vergehen. Angespanntes Horchen. Männer gehen zum Kellerausgang und wagen einen Blick ins Treppenhaus. Die Rieterstraße 6 ist nicht getroffen worden. Die Bomben schlagen immer ferner ein. Der Luftangriff ist vorbei. Die Sirenen entwarnen mit einem langen Heulton. Alle sind erleichtert, alle streben aus dem Keller, rennen nach oben, um nach den Schäden zu schauen.

Zurück in der Wohnung. Die Luftdruckwellen der Explosionen haben alle Fensterscheiben zu Bruch gehen lassen. Auf dem Boden liegen unzählige Scherben und Glassplitter. Die Verdunklungsrollos aus schwarzem Papier sind zerrissen, die Fetzen hängen von den Fensterrahmen herab. Am Himmel ist ein heller Widerschein der Feuer zu sehen. Die Erwachsenen räumen rasch die Splitter weg und verhängen die Fenster notdürftig mit Tüchern und Decken. Wir sind einmal mehr mit dem Leben davon gekommen. Eine Riesenluftmine hat zwei Straßenzüge weiter in der Johannisstraße mehrere Gebäude in Schutt und Asche gelegt. Viele Hausbewohner sind in den Kellern umgekommen. Am Morgen fehlen in der Schule Kinder, die dort gewohnt haben.

Wir lesen am Tag darauf bizarre Bombensplitter auf. Auch ich beginne Splitter zu sammeln und tausche Stücke, kleine und große Splitter, die durch die Sprengkraft der Bomben besonders „schöne“ Formen erhalten haben. Wir haben Spaß am Tausch, wie ihn Jahrzehnte später Kinder beim Tauschen von Schlümpfen haben.

Am 2. Februar 1943 geht das grausame Gemetzel im Kessel von Stalingrad zu Ende. Der Bericht der deutschen Wehrmacht meldet den Fall von Stalingrad. Die NS-Führung sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die verheerende Niederlage der deutschen Bevölkerung so mitzuteilen, dass die Wirkungen nicht den, wie es damals hieß, Wehr- und Kriegswillen lähmen. Die Bekanntgabe der verlorenen Schlacht wird propagandistisch bis ins Detail geplant und die Verkündigung des Heldendramas pathetisch inszeniert. Die Erwachsenen hängen am Lautsprecher des Volksempfängers und warten auf die angekündigten Nachrichten. Den Programmablauf habe ich erst viel später als Wissenschaftler kennengelernt: Am 3. Februar um 14.18 Uhr knisterte es in unserem Radio: die Übertragung der Heldenfeier begann mit Beethovens Militärmarsch, dann folgte die Egmont-Ouvertüre, schließlich Liszt. Um 15 Uhr tönte die Sondermeldung aus dem Lautsprecher. Sie war in die berüchtigte Phrase gekleidet: „Sie starben, damit Deutschland lebe“. Es folgte das „Lied vom guten Kameraden“, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied in „großer Fassung – ohne Gesang“. Dann war drei Minuten lang Funkstille. Die pompöse Inszenierung dieser Heldengedenkfeier klang mit dem Trauermarsch aus Richard Wagners „Götterdämmerung“ und Beethovens fünfter Symphonie aus. Die medial inszenierte Verwandlung des Massensterbens in einen Mythos des kollektiven Opfertodes hatte ich selbstverständlich als Kind nicht begreifen können.

Ich erinnere mich noch an diesen Nachmittag. Die Gefühlsbewegungen im Kreise der Erwachsenen sagten mir, dass weit draußen auf einem Kriegsschauplatz etwas Schreckliches passiert sein musste. Wir hatten uns im kleinen Wohnzimmer versammelt, mein Großvater, meine Mutter, unser Dienstmädchen Emmi, unser Kindermädchen Theresa, meine jüngeren Geschwister und ich – mein Vater ist zu dieser Zeit im Rathaus im Dienst. Großvater Mintzel sitzt auf dem alten abgewetzten grauen Sofa, das aus seinem früheren Haushalt stammt. Vorne in der Ecke, nahe am hohen Fenster, steht der schwarze, mattglänzende Volksempfänger auf einem Buffet. Alle lauschen. Theresa lehnt am Buffet und weint. Sie bangt um das Schicksal eines Freundes oder Verlobten. Im Wohnzimmer herrscht Niedergeschlagenheit. Irgendwelche Wortfetzen hängen im Raum. Der hohe weiße Kachelofen strahlt wohltuende Wärme ab. Die Bedeutung des Falls von Stalingrad konnte ich als knapp Achtjähriger nicht einmal erahnen. Dass im russischen Winter die gefangenen deutschen Soldaten den Todesmarsch in die Lager antraten, wusste ich damals noch nicht. Ich spürte aber, dass sich etwas Ungeheuerliches zugetragen haben musste. Der 3. Februar 1943 verbindet sich in meiner Erinnerung mit Theresas Tränen. Ich habe nie erfahren, ob sie den Menschen, um den sie geweint hatte, jemals wiedergesehen hat.

2. Im Schatten des Hakenkreuzes geboren

Ich wurde im Schatten des Hakenkreuzes geboren, im Jahr der berüchtigten „Nürnberger Gesetze“. Der NS-„Rassengrundsatz“ lautete: „Die im nationalsozialistischen Denken verwurzelte Auffassung, dass es oberste Pflicht eines Volkes ist, seine Rasse von fremden Einflüssen rein zu halten und die in den Volkskörper eingedrungenen fremden Bluteinschläge wieder auszumerzen, gründet sich auf der wissenschaftlichen Erkenntnis der Erblehre und Rassenforschung.“ Der zynische Gehalt dieser pseudowissenschaftlichen Rassenlehre wurde bald in der staatlich organisierten Vernichtung sichtbar.

Ich gehöre als Jahrgang 1935 zu einer „Zwischen“-Generation, einer Generation zwischen der, die in ihrer Mehrheit dem Nationalsozialismus erlegen war, und der sogenannten Nachkriegsgeneration, die den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit nur mehr vom Hörensagen kannte. Mich prägten in den 1940er und 1950er Jahren die Nazi-Zeit, der Hunger, eine vom Krieg zerstörte Welt und die Widersprüchlichkeiten der Nachkriegszeit. Die Zeit zwischen Stalingrad und Währungsreform, zwischen Kriegsende und Koreakrieg, das war die Zeit meiner Kindheit und Jugend.

Kinder der NS-Generation und der NS-Mitläufer wollten keinen Schatten auf ihre Väter und Mütter fallen lassen. Sie legten sich nach ihren Wünschen ein Idealbild der Väter zurecht, deuteten deren Handlungen um und rückten sie in ein milderes Licht, um sich mit ihnen identifizieren zu können. Ich will nicht in diese Wunschbild-Falle laufen, sondern mich der Wahrheit stellen. Wir haben gelernt, man solle über den Verstorbenen nicht schlecht, sondern in würdiger Weise reden („De mortuis nil nisi bene“). Wie soll ich also mit der NS-Vergangenheit meines Vaters umgehen? Ich folge der Auffassung Voltaires: „Dem Lebenden schulde man Rücksicht, dem Toten die Wahrheit.“ Ich habe versucht, die Wahrheit herauszufinden, und werde mit Rücksicht auf die Würde einer Person berichten, sei sie Täter oder Opfer, sei sie nur widerwilliger Mitläufer oder erklärter Mitträger des Unrechtsregimes gewesen. Es steht uns heute nicht unbedingt zu, über die Verirrungen und Verwicklungen dieser politischen Generation mit unserem heutigen Geschichtswissen auftrumpfend Gericht zu halten. Aber wir müssen mit den immer noch wirksamen Tabus brechen, die uns zurückhalten, sich mit den Untaten unserer Väter und Großväter öffentlich auseinander zu setzen.

Das fränkisch-protestantische Bürgertum war mehrheitlich dem Nationalsozialismus und dem Führer verfallen. Alle um die Jahrhundertwende 1899/1900 geborenen fränkischen Mintzels gehörten zu diesen Verblendeten. Auch mein Vater war ein überzeugter und enthusiastischer Nationalsozialist. Ich müsste es um der Wahrheit willen noch schärfer ausdrücken: Mein Vater gehörte zu den Abermillionen Deutschen, die der nationalsozialistischen Ideologie verfielen und durch ihre Gesinnung und durch ihr Handeln den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der NS-Diktatur willentlich mit herbeiführten und dann faktisch die NS-Todesmaschinerie am Laufen hielten.

Schon in seinen Jugendjahren war mein Vater, Jahrgang 1906, dem Aufruf der Völkisch-Nationalen gefolgt und hatte sich früh politisch-nationalistisch engagiert. Er ging den radikalen nationalistischen Parolen Hitlers schon auf den Leim, als Hitler in der rechtsradikalen Szene Münchens noch ein fast Unbekannter war. Als am 8. März 1922 im „Völkischen Beobachter“ ein Aufruf zur Gründung von NS-Jugendabteilungen erschien, gehörte mein Vater in Franken zu den ersten, die einen Aufnahmeantrag nach München sandten. Er gründete, noch nicht einmal sechzehn Jahre alt, mit einer kleinen Schar Gleichgesinnter die Nürnberger NS-Jugendgruppe. Als Hitler 1922 mit Anhängern zum ersten „Deutschen Tag“ mit der Eisenbahn nach Coburg fuhr und dort ins Zentrum marschierte, stieg mein Vater in Nürnberg zu und schloss sich der Bewegung an. In Coburg kam es zu Schlägereien und Steinwürfen zwischen Hitler-Anhängern und Kommunisten. Mein Vater lief begeistert hinterher und beteiligte sich an den Rangeleien, wobei er kräftig verdroschen wurde. Mit geschwellter Brust kehrte er nach Nürnberg zurück und begann für die Hitler-Bewegung zu agitieren. Am 16. November 1922 wurde er zum Gauführer für Nordbayern ernannt. Er war nicht nur ein jugendlicher Mitläufer, der zufällig zur NS-Bewegung gestoßen war, sondern ein glühender Aktivist und Draufgänger. Der „Marsch auf Coburg“ wurde bald zu einem nationalsozialistischen Mythos.

Mit Hitler in Coburg 1922/1932; Abzeichen für Teilnehmer des Deutschen Tages in Coburg am 14./15. Oktober 1922; Konvex aus Bronze geprägt, 55,4 x 39 mm.
Das Coburger Ehrenzeichen gehörte zu den höchsten Auszeichnungen der NSDAP, das nur 422 bis 436 „alte Kämpfer“ erhielten.
Bearbeitete Darstellung; Bildgrundlage: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Coburger_Ehrenzeichen.jpg    Creator: PimboliDD

Die Teilnehmer, so auch mein Vater, erhielten später das Coburger Abzeichen „Mit Hitler in Coburg 1922-1932“. Noch in den 1950er und 1960er Jahren erzählte mein Vater stolz davon, am Marsch teilgenommen zu haben und dafür ausgezeichnet worden zu sein. Bei seiner „Entnazifizierung“ vor der Spruchkammer im Februar 1948 wurde diese Tat als Jugendsünde abgetan.

In seiner Studentenzeit an der Universität Erlangen und als „Alter Herr“ der schlagenden Burschenschaft „Frankonia“ nahm er an den pseudoreligösen „braunen Wallfahrten zum Heiligen Berg der Franken“ (Thomas Greif, 2008) teil, an Ausflügen zum Hesselberg. Dieser Berg, eine bewaldete Höhe, die in Westmittelfranken liegt, war zu einer Kultstätte des Nationalsozialismus in Franken geworden. Der „Frankenführer“ Julius Streicher hielt dort seine antisemitischen Hetzreden.

Ja, mein Vater hat auch noch nach dem Zusammebruch der Zivilisation und der Katastrophe, die das verbrecherische NS-Regime zu verantworten hatte, den Aufstieg des Nationalsozialismus verherrlicht. Wie gehe ich damit um? Achtung vor dem Menschen und seinen Irrtümern gebietet sich auch dort, wo Zweifel an der Haltung oder sogar ein böser Verdacht aufkommt, er könnte noch mehr in die unsäglich grausamen Vorgänge verwickelt gewesen sein. Mein Vater war es meines Wissens nicht. Er war im Krieg an keinen Exekutionen beteiligt, er stand wohl nicht im Dienst der Geheimen Staatspolizei, er lieferte wohl niemanden ans Messer der NS-Mörder. Dennoch war mein Vater, ein gescheiter und belesener Mann, engagierter Mitläufer und Maulheld-Propagandist der Nazis, ein rassistischer Antisemit, der seinen Antisemitismus lauthals kundtat. Meine Mutter redete meinem Vater nach dem Munde und hielt für richtig, was der Haustyrann als „reine Wahrheit“ verkündete. Warum? Immer wieder quält mich diese Frage, wenn ich an die Jahre der NS-Zeit und an den Krieg zurückdenke. Meine Kindheit wurde dadurch geprägt.

Hätte nicht auch mir später die ideologische Verblendung zum Verhängnis werden können, wäre ich nur einige Jahre älter gewesen? Hätte nicht auch aus mir ein Täter werden können, wäre ich am Anfang des 20. Jahrhunderts geboren worden? Auch in meiner Persönlichkeitsentwicklung gab es „dunkle Vorgänge“, verwerfliches Handeln und viel Fragliches. Die eigene Schwachheit einzugestehen, auch wenn es sich nicht um Gewalttaten gedreht hat, dazu ermahnt im Alten Testament, im Ersten Buch von den Königen, der vierte Vers des 19. Kapitels: „Ich bin nicht besser denn meine Väter.“

Im September 1941 wurde ich in Nürnberg in die „Hans-Schemm-Schule“ am Bielingplatz eingeschult, benannt nach dem ersten NS-Gauleiter des Gaues Bayerische Ostmark. Vor dem Schulgebäude steht eine Reihe hochgewachsener Pappeln mit silbergrauen Herzblättern. Im Zweiten Weltkrieg musste ich nach Siegen der deutschen Wehrmacht auf dem Schulhof zum nationalsozialistischen Flaggenappell antreten und das Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“ singen. Ich wurde im Elternhaus und in der Schule noch ganz im Sinne des Nationalsozialismus indoktriniert. Mein Werdegang zu einem forschen HJ-Führer war geradezu vorgezeichnet, wäre ich ein paar Jahre älter gewesen. In den letzten Kriegsmonaten wurden schon Fünfzehnjährige zu den Waffen gerufen und in sinnlosen Kampfaktionen verheizt. Ich hatte das Glück, zwei Tage nach meinem zehnten Geburtstag von der US-Armee „befreit“ zu werden; doch diese Einsicht war späteren Jahren vorbehalten.

Das Verschwinden der Juden

Ich erinnere mich noch daran, obgleich nur ein blasses Erlebnisbild zurückgeblieben ist: Es war zur Zeit meiner ersten Einschulung im September 1941. Ich war sechseinhalb Jahre alt. Es könnte auch erst im Oktober 1941 gewesen sein, als ich den letzten Juden verschwinden sah. Meine Erinnerung deckt sich jedenfalls mit den Angaben der Zeitgeschichte: Im September/Oktober 1941 begann die Deportation der Juden.

Nürnberg–Nord. Rieterstraße, eine Straße mit alten Häusern aus der letzten Jahrhundertwende. Das Wohnhaus, in dem meine Familie lebt, ist 1906 erbaut worden. Später hörte ich, dass dieses Haus und andere in der Straße in jüdischem Eigentum gestanden haben soll. Ich sehe mich noch als kleinen Jungen auf der Straße laufen. Als Ältester von fünf Geschwistern schickt mich meine Mutter im Spätsommer oder Herbst 1941 mal wieder zu den nächstgelegenen Läden zum Einkaufen: Zum Milchmann Wasner in der Bucherstraße, zum Gemüseladen Schmittlutz und zum Bäcker Albin, der in unserer Straße schräg gegenüber im Hinterhaus seine Bäckerei und im Vorderhaus seinen Laden führt. Der Einkauf in diesen drei Läden gehört zu meinen ersten Pflichten, meine Mutter schickt mich häufig mit vorher abgezählten Pfennigen und einem Merkzettel hin, mit einem Aluminiumkrug zum Milchhändler, mit einer Netztasche zum Gemüsehändler, mit einer Einkaufstasche zum Bäcker. Ich sehe mich aus dem Haus auf die Straße treten, eine Leinentasche in der Hand. Ich sehe mich die Straße überqueren, die damals noch mit Kopfsteinpflaster belegt ist. Auf dem Weg hinüber zum Gehsteig auf der anderen Seite schaue ich, von den Eltern als Verkehrsregel eingeschärft, nach rechts. Die Gefahr von einem Auto überfahren zu werden, war damals noch sehr gering. So sehe ich, wie in wenigen Metern Abstand von mir ein Jude über die Straße geht. Der gelbe Davidstern an seiner Jacke sagt mir augenblicklich: Das ist einer! Mit sechseinhalb Jahren weiß ein Kind, der mit dem Davidstern, das ist ein Jude. Und mir ist wohl die Verhaltensregel eingeimpft worden: Halte dich fern! Mit „denen“ haben wir nichts zu tun! Der Jude ist hager, sein Gesicht ist fahl, seine Kleidung ärmlich. Er trägt einen grauen zerknitterten Anzug, der an der dürren Gestalt hängt. Er geht nicht aufrechten Ganges, er huscht etwas geduckt, verängstigt. Sein Blick streift mich kurz, als dürfe er mich nicht ansehen. Ich nehme sein verunsichertes Verhalten wahr, seine Scheu, seinen bedrückten Gesichtsausdruck. Mehr kann ich nicht sehen. Ich weiß nicht, wie entrechtet, ausgegrenzt und gedemütigt dieser Jude bereits ist. Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie wird ihn vermutlich bald auslöschen. Ich begegne das letzte Mal einem Juden auf der Straße – plötzlich sind sie alle „verschwunden“. Ich glaube nicht, dass ich damals gefragt habe, wohin die mit dem Davidstern gegangen sind. „Die“ waren einfach nicht mehr da. Aus meiner Kinderperspektive ergaben sich daraus keine Fragen. Ich hatte ja keinen persönlich gekannt, kein gut nachbarschaftliches Miteinander erlebt. Also fehlte keiner von „denen“ in meiner kleinen Lebenswelt. Als ich eingeschult wurde, war die Schule schon arisiert. Wir hatten keine jüdischen Mitschüler mehr.

Die Sprache der Nazi-Propaganda

Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels machte Rundfunk und Film zu Medien nationalsozialistischer Propaganda. Die Kriegswochenschauen, die in Lichtspielhäusern und Filmpalästen liefen, waren gut besucht. Es gab noch kein Fernsehen. Ich erinnere mich noch an diese Wochenschauen, obschon diese Besuche über sechzig Jahre zurückliegen. Ich sehe mich 1942 als kleiner Junge in Nürnberg auf dem Weg zur „Bilderbühne“ am Tiergärtner Tor. Ich gehe von der Rieterstraße über die Bucherstraße zur Jagdstraße und dann hinauf zum Tiergärtner Tor. Gegenüber der Burgmauer öffnet die so genannte „Bilderbühne“, ein Kino, wöchentlich am Sonntagvormittag um elf Uhr ihren Einlass zur Wochenschau über das Kriegsgeschehen. Der Eintritt kostet fünfzig Pfennig. Meine Eltern gestatten mir – das verrät ihre politische Einstellung – diesen Kinobesuch. Es gehört zu meinen Sonntagsvergnügen, die Kriegsfilme der UfA zu verfolgen. Ich erinnere mich an die bequemen Sitze des Lichtspielhauses. Spannung. Es ist aufregend, das Kriegsgeschehen mitzuerleben. Die Kriegsberichterstattung ruft in mir jedes Mal ein starkes Kriegserlebnis hervor. Am meisten imponieren mir die Angriffe der „Stukas“, der deutschen Sturzkampfbomber, auf feindliche Ziele, das Dröhnen der Motoren, der entschlossene Blick der Piloten, der Befehl, das Aufheulen der Motoren, der Sturzflug, das Ausklinken der Bomben, die Einschläge irgendwo unten. Ich sehe im Film die Panzer rollen, Infanterieeinheiten vorwärts marschieren und höre die Soldaten singen: „Die Räder, sie rollen nach Osten! Die Räder, sie rollen für den Sieg!“ So zumindest ist mir der Text im Gedächtnis geblieben. So etwas geht ein Leben lang nicht aus dem Kopf. Die Wirkung der NS-Propagandafilme erfahre ich am eigenen Leib. Ich bin begeistert und werde von der Bildersprache mitgerissen: „Großkampftag“, „Helden“, „Heldentod“, „Endsieg“, die Kampfparolen hallen nach. Zuhause spiele ich meine Kriegserlebnisse mit Spielsoldaten nach, mit deutschen Wehrmachtsoldaten aus Bakelit in Kampfuniform. Die einen werfen Handgranaten, andere mähen imaginäre Gegner mit Maschinengewehren nieder, wieder andere marschieren in voller Ausrüstung selbstverständlich nur vorwärts und gegen Osten. Die Nürnberger „Bilderbühne“ wurde bald von einer Bombe getroffen und zerstört.

In den Nachkriegsjahren nahm ich wahr, wie tief die Nazi-Propaganda in meine Sprache eingedrungen war. Ich erkannte sie in allen Ritzen meines Denkens wieder. Ich sprach vom „inneren Reichsparteitag“, wenn mir eine Sache gut gelungen war und mich zufrieden machte. Ich ärgerte mich über Dinge und Vorgänge „bis zur Vergasung“. Ich nannte Tage, an denen mühsame Arbeiten verrichtet werden mussten „Großkampftage“. Bei Geheimniskrämereien legte ich den Zeigefinger auf die Lippen und sagte „Pst, Feind hört mit“! Ich hatte noch lange die Nazi-Lieder im Ohr, das Horst Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt“ und die Soldatenlieder, die im Krieg jeden Tag im Volksempfänger zu hören waren. Ich schmetterte, wenn ich fröhlich war, das Fliegerkampflied von den „Bomben auf Engeland“ vor mich hin: „Hörst du die Motoren? Ran an den Feind! Bomben, Bomben, Bomben auf Engeland!“ Die Kampf- und Propaganda-Sprache der Nazis hatte in vielen Redewendungen und Begriffen von unseren Köpfen Besitz ergriffen. War vom Jazz die Rede, schwang immer das Vorurteil mit, es handle sich um lärmende „Negermusik“. Mein Vater hatte uns strikt verboten, zuhause „Negermusik“ zu hören. War von „den Russen“. „den Pollacken“, „den Juden“ und von „den Zigeunern“ die Rede, schwang immer mit, das seien „Untermenschen“ oder zumindest schmutzige, übelriechende Kreaturen, die man sich am besten vom Leib hält – wie Ungeziefer. Entsprachen Gemälde und Bilder nicht den Spießernormen, dann war es „entartete Kunst“. Vieles wurde auch nach dem Krieg noch für „entartet“ gehalten. Es war deprimierend zu bemerken, wie leicht uns die Sprache der Nazis von den Lippen ging. Ich verpflichtete mich später selbst dazu, in einem reflektierten Reinigungsprozess mein Gehirn sprachlich vom Nazi-Wortschatz zu befreien. Noch immer treibt er in meinen Erinnerungen sein Unwesen.

Morgen kommt der Weihnachtsmann“

Jeder hatte es gekannt, jedes Kind hatte es gesungen: „Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben“. Eine alte Volksweise, wie es so hübsch und harmlos hieß. Ich höre sie noch heute aus dem Mund meiner Mutter klingen, die uns in der Weihnachtszeit dieses Lied vorsang. Die Volksweise war ein kriegerisches, militaristisches Lied. Der Text stammt von Hoffmann von Fallersleben, der auch das Deutschlandlied schrieb. Von Fallersleben unterlegte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der alten Volksweise in patriotischem Geist einen kriegerischen Text, der später zur Weihnachtszeit nationalliberale, deutschnationale wie überhaupt patriotische Herzen höher schlagen ließ:

Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben:
Trommel, Pfeifen und Gewehr,
Fahn‘ und Säbel und noch mehr,
ja ein ganzes Kriegesheer
möchte ich gerne haben.
Bring uns lieber Weihnachtsmann,
bring auch morgen, bringe:
Musketier und Grenadier,
Zottelbär und Panthertier,
Ross und Esel, Schaf und Stier,
lauter schöne Dinge!
Doch du weißt ja unsern Wunsch,
kennst ja unsere Herzen!
Kinder, Vater und Mama,
auch sogar der Großpapa,
alle, alle sind wir da,
warten dein mit Schmerzen.

Alle haben, so will es das Lied glaubhaft machen, den Wunsch, vom Weihnachtsmann bewaffnet zu werden, sogar die Frau Mama. So war es das damals tatsächlich. Am „Heiligen Abend“ bekam ich Bakelit-Soldaten, Panzerwagen und Kriegsschiffe. Deutschland musste erst die zweite Katastrophe erleiden, um den Weihnachtsmann zu entwaffnen, die „alte Volksweise“ zu entmilitarisieren und schließlich den Wirtschaftswunder-Kindern einen neuen Text auf den Leib zu schreiben:

„Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben.
Puppen, Pferdchen, Sang und Spiel,
und auch sonst der Freude viel.
Ja, o welch ein Glücksgefühl
Könnt´ ich alles haben.

1. Gewalt am Kinderbett und ein geladener Trommelrevolver

Ich kam am 18. April 1935, es war an einem Gründonnerstag, um 16 Uhr 45 in Augsburg gesund und ohne Komplikationen zur Welt. Am 5. Mai 1935 wurde ich an einem für Protestanten besonders ehrwürdigen Ort getauft, in der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Anna. Meine Mutter war eine gläubige, kirchennahe Protestantin, mein Vater ein getaufter und konfirmierter „Kulturprotestant“, mit einem ausgelaugten Verhältnis zur evangelischen Kirche. In der NS-Zeit trat er aus der Kirche aus, nach dem Krieg aus opportunistischen Gründen wieder ein. Sein Glaube war verdunstet. Doch war er protestantischen Denktraditionen verpflichtet geblieben. In diesem säkular verdünnten Sinne wurde ich als evangelischer Christ in ein fränkisch-protstantisches sozial-moralisches Milieu hineingeboren und 1950 in Nürnberg in der kunst- und stadtgeschichtlich berühmten St. Johannis Kirche konfirmiert. Mit zunehmendem Alter wurde mein Gottesglaube, soweit er sich überhaupt gebildet und verfestigt hatte, brüchig. Realität und rationale Widersprüche rieben ihn schießlich völlig auf. Ich trat 1964 aus Überzeugung aus der Kirche aus. Christlicher Glaube war mir so gründlich abhanden gekommen, dass es verlogen gewesen wäre, das Vater Unser auch nur der Höflichkeit halber oder bloß aus Tradition mit- oder nur nachzubeten.

Die ersten Jahre nach der Geburt bezeichnen Entwicklungspsychologen, Hirnforscher, Pädagogen und andere Experten als „Schicksalsjahre“, als die sensiblen Jahre, in denen wir unser Ich und unsere Fähigkeiten entwickeln und Handlungsdispositionen aufbauen, die uns ein Leben lang begleiten. In dieser Zeit bilden sich die meisten Nervenverbindungen, ein Vorgang im Gehirn, der durch Zuwendung und Anregung seitens der Eltern oder Pflegepersonen gefördert und geformt wird. Unser Denkvermögen und unser späteres Lernverhalten werden angelegt und vorgeprägt, angeborene Fähigkeiten durch Umwelteinwirkungen verstärkt oder beeinträchtigt. Ein bildungsbürgerliches familiäres Umfeld bietet in der Regel größere Chancen, später in der Schule, an der Universität und im Beruf erfolgreich zu sein als eine bildungsferne Herkunft. Platt formuliert: „Herkunft bestimmt Zukunft“. Mein Vater hatte schon kurz nach meiner Geburt in einer Art Wunschprogramm meinen Lebenslauf und akademischen Werdegang vorausbestimmt, indem er die Stationen auflistete, die ich in meiner Karriere durchlaufen sollte: Einschulung in die Volksschule, Übertritt ins Gymnasium, Studium an der Universität, Beitritt zur schlagenden Burschenschaft “Frankonia“, Mensuren, Abschluss des Studiums usw. Seinen Fahrplan für mein Leben, der von Anfang an feststand, fand ich viele Jahrzehnte später in seinem Nachlass.

Käthe Mintzel mit Johann Albrecht (Alf) Mintzel, Augsburg, kurz nach der Geburt
am 18. April 1935

Käthe Mintzel mit ihrem Sohn Johann Albrecht (Alf) Mintzel, München Ramersdorf, Sommer 1935

Gerade an diese äußerst sensiblen ersten Lebens- und Lernjahre des Säuglings und Kleinkindes können wir uns nicht erinnern. Das als amnesia juvenilis bekannte Phänomen löscht so gut wie jede Erinnerung daran aus, was an Fähigkeiten und Fertigkeiten angelegt und ausgeprägt worden ist. Was ich über meine ersten vier Lebensjahre weiß, woran ich ich mich zu erinnern glaube, stammt größtenteils aus Berichten meiner Eltern oder verwandter Personen, deren Erzählungen ich nicht überprüfen kann. Das wenige, das über meine Entwicklung und meine Taten der Jahre zwischen 1935 bis 1940 berichtet worden ist, gibt jedoch erste Auskünfte über lebensgeschichtliche Potenziale, die in die Zukunft weisen.

Meine Eltern hatten sich nach ihrem Umzug von Erding in Oberbayern nach Nürnberg eine für einen städtischen Verwaltungsrat auffallend stattliche und teure Wohnugseinrichtung gekauft: das Mobiliar für ein Esszimmer, ein Herrenzimmer und ein elterliches Schlafzimmer. Das neugekaufte Mobiliar war von erlesener Qualität, hergestellt mit wertvollen Hölzern und glänzenden Fournieren. Die Möbel des Herrenzimmers waren aus edlem, braunen Jamaika-Holz. Der riesengroße, an seinen Ecken geschwungene Schreibtisch hatte auf seiner Vorder- und Rückseite von Türen verschlossene Fächer, die Geheimnise zu bergen schienen. Selbst der Körper eines großen Erwachsenen wurde klein, wenn dieser sich in einen der großen Sessel sinken ließ. Auf dem runden Couchtisch standen Utensilien aus Bronze, als Dekor eine Eidechse, die Insekten auflauert, Behälter für Zigarren und Streichhölzer, ein Aschenbecher, Zinnteller für kleines Gebäck und anderes mehr. Alles machte einen „herrschaftlichen“ Eindruck. Das Mobiliar des Esszimmers war aus hellerem, ebenfalls hochpolierten Hölzern. Besondere Schmuckstücke waren eine hohe Vitrine und eine fächerreiche Anrichte für Porzellan und das Silberbesteck.

Johann Albrecht (Alf) Mintzel, 1936

Mein Kinderbett stand, wie meine Mutter erzählte, am Tage im Esszimmer parallel zur großen Anrichte. Die Erwachsenen hatten mich an diesem Platz am besten im Kontrollblick. Der Standort hatte allerdings einen Nachteil, die Anrichte lag in Reichweite der Kinderhändchen. Ich konnte durch die Gitterstäbe das schön polierte Möbelstück erreichen und kleine Fingerabdrücke hinterlassen. Das war für meinen Vater ein Graus, er konnte es nicht leiden, wenn ich „übergriffig“ wurde und mit meinen Fingern die schöne Politur bewunderte und erkundete. Was machte er, um mich davon abzubringen? Er vergrößerte nicht den Abstand zwischen Kinderbett und Anrichte, vielleicht war das auch aus räumlichen Gründen nicht möglich. Nein, er klopfte mir bei jedem meiner Versuche, die Anrichte zu befühlen, kräftig auf die Finger, und das viele Male. Ich lernte bereits im frühkindlichen Alter Gewalt kennen, Gewalt prägte meine Entwicklung. Und schon im Kindesalter – ich glaube im Alter von sechs oder sieben Jahren – nahm ich mir fest vor, der väterlichen Gewalt lautlos zu trotzen. Das mag wie eine nachträgliche Stilisierung und Übertreibung klingen, doch gehörte mein Vorsatz, Schläge meines Vaters still zu ertragen, zu den ersten Maximen meines Lebens. Durchhalten, sich nicht unterkriegen lassen, überstehen, zurückschlagen, psychischer und mentaler Gewalt widerstehen, wurden zu lebensgeschichtlichen Devisen. Die Kehrseite dieser Prägung und Grundorientierung, Stärke zu zeigen, war Angst vor Gewalt. Ich weigerte mich später in meiner Gymnasialzeit, einen damals üblichen Schularrest anzutreten, machte mich auf und davon, wurde in Bremen vom Schiff geholt und in die Zelle 25 des Stadtgefängnis gesperrt. Zeitlebens schauderte mir vor dem Gedanken, rechtlos und wehrlos psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Dass ich mich Jahrzehnte später in meinem Kunstschaffen mit Themen wie „Schrecken des Krieges“, „Folter“, „Opfer“, „Srebrenica“ befasste, war wohl schon in Erfahrungen meiner Kindheit vorherbestimmt.

Käthe Mintzel mit ihrem Sohn Johann Albrecht (Alf) und ihrer Tochter Dorothea (Dorle, geb. 1936), ca 1938

Johann Albrecht (Alf) Mintzel in Schaftstiefeln, ca. 1938/39

Es gibt noch zwei, drei andere unangenehme Ereignisse, die mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben sind. Eines hätte tödlich enden können. Noch heute spüre ich den Schrecken, wenn ich das Ereignis in meine Erinnerung zurückrufe. Ich verdanke mein Leben einem blinden Zufall. Es hätte schon mit fünf Jahren enden können. Mein Großvater Mintzel, im Jahre 1937 Witwer geworden, lebte seit Herbst 1937 mit uns in der elterlichen Wohnung. Er hatte ein eigenes, geräumiges Zimmer, das für ihn Wohn- und Schlafraum zugleich war. Dorthin konnte er sich zurückziehen, wenn ihm der Kinderlärm zuviel wurde und er nach Ruhe suchte. Der Raum war mit Mobiliar aus seinem früheren Hausstand ausgestattet, darunter ein großer schwarzer Schreibtisch mit einem fächerreichen Aufbau. Der alte Mann sperrte sein Zimmer nicht jedesmal ab, wenn er die Wohnung verließ. Solche Situationen reizten meine Neugier. Ich nutzte seine Abwesenheit für heimliche Erkundungen und zog eine Schublade nach der anderen auf. An einem sonnigen Vormittag entdeckte ich in einer der unverschlossenen Schubfächer einen kleinen, sehr handlichen Trommelrevolver. Ich nahm ihn höchst interessiert heraus und begann seinen Mechanismus genauer zu betrachten. Ich drehte an dem Kugellager, sah darin Kugeln stecken und spielte daran herum. Ich hielt den Revolver mal in die Höhe, mal von mir weg, die Finger am Abzug. In der rechten Ecke des Raumes stand als Dekor ein hoher bauchiger Krug. Auf diesen richtete ich spielerisch den Lauf und drückte ab. Der Krug zersprang mit lautem Knall in Scherben. Ich erschrak bis in alle Glieder, legte den Revolver rasch in das „Geheimfach“ zurück und blieb auf dem Schreibtisch sitzen. Unser Dienstmädchen Emmi hatte den ungewöhnlichen und sonderbaren Knall gehört. Sie kam herein und wollte wissen, was geschehen war. Ich sagte, ich sei an den Krug gestoßen, der daraufhin zersprungen sei. Meine Erklärung schien ihr plausibel genug. Sie sammelte die Scherben ein und ging der Sache nicht weiter nach. Von diesem Ereignis war niemals mehr die Rede. Geschehnisse totzuschweigen, scheint oft das Einfachste zu sein.

Überlebensgeschichten eines Grenzgängers

„Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen“. 
(George Orwell, 1946)

Johann Albrecht (Alf) Mintzel, geb. 18.04.1935, Porträt aus dem Jahre 2013;
,In Extremis‘: Zur Frage der Privatheit und der Sphäre der Intimität „in letzter Minute“ eine der möglichen Antworten: „weil der Erzähler sich ständig selbst beobachtet und sehr wohl weiß, dass seine Zweifel, Zwänge und Umständlichkeiten etwas sind, das man normalerweise vor fremden Augen verbirgt“. (Meilke Feßmann über den Roman ,In Extremis‘ von Tim Park, SZ Nr. 2 vom 28. 1. 2019, S. 12)

Lügen wir uns das Biografische im Nachhinein nicht immer etwas zurecht? Erfinden wir in unseren autobiografischen Berichten nicht Identitätsmythen? Es wäre naiv zu glauben, Selbstzeugnisse und die darin enthaltenen Erinnerungen entsprächen in allen Punkten den Tatsachen. Das menschliche Hirn passt sein biografisches Gedächtnis an Bedürfnisse der Gegenwart an. Brüche werden retuschiert, Vorgänge umgedeutet, Widersprüchlichkeiten ausgeblendet, Irrtümer vertuscht. Welcher vor 1930 geborene Mensch gibt angesichts der zivilisatorischen Katastrophe des Hilter-Regimes schon zu, dazu beigetragen und das mörderische Regime in der einen oder anderen Weise ermöglicht und unterstützt zu haben? In solchen autobiografischen Erinnerungen wird die Neigung zur Rechtfertigung und zur Selbstentlastung durch die geschichtliche Last der Katastrophe verständlicher Weise noch verstärkt. Was ich im Hinblick auf die politischen Generationen zu bedenken gebe, die die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit zu verantworten hatten, gilt auch für nachfolgende Generationen, also auch für meine autobiografischen Rückblicke und Selbstzeugnisse. In der Tat, ich habe in meinem langen Leben Ereignisse beschönigt, Vorgänge umgedeutet und gelogen. Mein Leben wurde durch eine Serie von Niederlagen geprägt. Einige dichtete ich zu Erfolgsgeschichten um. Das half mir in manchen Fällen, aus einer Misere herauszufinden und mich neu zu stabilisieren. Auch darüber möchte ich berichten.

Es wäre naiv zu glauben, wir könnten eine vergangene Wirklichkeit authentisch beschreiben, als würde sie sich tatsächlich so und nur so ereignet und zugetragen haben. Haben wir nicht große Schwierigkeiten, schon unsere aktuellen Gedankengespinste, Gefühlslagen, Tagträume und Wunschbilder schriftlich zu fixieren? Was wissen wir über uns selbst, über unsere Motive, über Steuerungsmechanismen unseres Handelns? Wir können ja nicht einmal die Totalität unserer Person begreifen. Erinnerungen werden mit der Zeit von neuen Eindrücken überlagert und umgemodelt. Sie verblassen und verschwinden ganz. Sie werden durch neue Ereignisse erneut hervorgerufen, haben jedoch nur noch entfernt etwas mit den einstmaligen Tatsachen zu tun. Erinnertes wird zur Fiktion. Und doch ist jede Erinnerung für sich eine Tatsache. Erinnerungen können uns täuschen, sie sind aber keine Lügengespinste. Dieses Paradoxon müssen wir in Kauf nehmen.

Was meine eigene Person betrifft, kann ich meine Erinnerungen insoweit überprüfen, als ich von früher Jugend an minutiös Tagebuch geführt habe. Sie reichen bis in das Jahr 1947 zurück. Ich greife zum Teil auf vor Jahrzehnten Erinnertes zurück und schaue so ungefiltert durch spätere Überlagerungen in meine eigene Vergangenheit.

„De nobis ipsis silemus“ – „Von uns selber schweigen wir“
(Francis Bacon: Instauration magna. Praefatio, zit. n. Immanuel Kant)

Dieser Satz und Vorsatz, den der englische Empirist Francis Bacon geprägt hat, weist auf eine Grundregel für Wissenschaftler hin. Nach herrschender Auffassung soll es in der modernen Wissenschaft nicht um die persönlichen Motive, Befindlichkeiten und privaten Lebensphilosophien der Wissenschaftler, nicht um Person und Amt gehen, sondern um die Sache des Erkenntnisgewinns und um die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit. Die Person soll hinter die Sache zurücktreten. Über uns selbst sollen wir schweigen. Unsere Arbeit und unsere Leistungen zu würdigen, sei Angelegenheit anderer aus der Gemeinschaft der Wissenschaftler. Obschon es gute Gründen gibt, die persönlichen Motive, Vorlieben und Sichtweisen vom eigentlichen Forschen zu trennen, ist diese strikte Trennung fraglich geworden. Entstehungszusammenhänge spielen immer selektiv in unsere Forschung und Erkenntnis hinein. Was treibt uns an? Was sind unsere Motive? Wissenschaftliche Erkenntnisse können in außerwissenschaftlichen Bereichen zu vielerlei Zwecken verwendet und dabei missbraucht werden. Ich werde in meinen Erzählungen etwas über meine kulturelle Prägung und persönlichen Motive preisgeben, die meinen wissenschaftlichen Zugang zur Welt bestimmt haben.

Sich am Ende eines langen und ereignisreichen Lebens mit Abrechnungen zu verabschieden, wäre in der Tat ein schmählicher Abgang. Doch es gibt zu viele gravierende Gründe, zu zürnen und aus seinem Zorn keinen Hehl zu machen. Gewisse Auseinandersetzungen wurden hart und rücksichtlos geführt. Als ich im Jahre 1959 zum ersten Mal in eine Universität eintrat, wähnte ich einen Tempel der Wissenschaft zu betreten, als ich im Jahre 2000 verabschiedet wurde, verließ ich erfahrungssatt und enttäuscht ihre Hallen. Leider herrschen im Hause der Wissenschaft nicht nur intellektuelle Redlichkeit und Verantwortung, nicht nur ein weitsichtiger Geist, sondern auch Ignoranz, Eitelkeit, Bornierheit, Gemeinheiten, Intrigen und Anfeindungen, kurzum, alle menschlichen Schwächen, die auch außerhalb der Wissenschaft anzutreffen sind. Nur die „Leidenschaft zur Sache“, nur der Dienst an der wissenschaftlichen Wahrheit, nur Wissbegierde lassen Diffamierungen und Verletzungen überstehen.

Selbstdeutung und Fremdwahrnehmung

Selbstdeutung und Fremdwahrnehmung stehen zeitlebens in einem offenen dialektischen Prozess, dessen Bestandteile oder Momente sich im Laufe eines langen Lebens verändern, verdichten, verflüchtigen und verhärten können. Wir sind nicht wirklich souverän und autonom in unserer Selbstdeutung. Wie wir uns sehen, erleben und selbst deuten, ist von anderen abhängig und mitgeprägt, die in unsere Erlebnis- und Handlungsfelder eintreten. Wir gewinnen unser Selbstbewusstsein in der Begegnung mit anderen. Die Entwicklung und Selbstdeutung unserer Persönlichkeit und Fremddeutungen stehen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis. Meine Selbstverortung als freischwebender Intellektueller hat sich, wie mein Lebensbericht noch zeigen wird, als eine Selbsttäuschung erwiesen, die mich in schwierige Situationen gebracht hat. Man könnte es „physikalisch“ sehen: Wir geraten unvermeidbar in die Gravitationsfelder anderer Personen und Personengruppen, noch lebender und schon verstorbener, wir werden von ihnen angezogen oder abgestoßen.

Eine Generation kommt und eine Generation geht (…) Da gibt es keine Erinnerung an die Früheren. Und an die Künftigen, die sein werden, auch an sie wird man sich nicht mehr erinnern, bei denen die später sein werden“, so spricht der Prediger Salomon.

Der weise König spricht eine Wahrheit aus. Allerdings denkt er in weiten Zeiträumen, in vieltausendjährigen Zeitaltern. Im Wandel der Äonen wird alles Nichtigkeit und Windhauch. Niemand kennt mehr die Namen der Erbauer und Einwohner längst versunkener Reiche und Städte. Schon in der Gegenwart verklingen die Namen der allermeisten Menschen mit der Totenglocke und den Nachrufen.

Doch werden Menschen immer nach ihren Wurzeln fragen. Wir alle haben einen Ursprung in einem geografischen Raum, in einer Zeit, an einem Ort, in einer Gegend, in einem Kulturkreis und in einem Beziehungsgeflecht einer Menschengruppe. Und dieser Ursprung hat wieder einen Ursprung, und so reiht sich Generation an Generation bis an den Punkt, von dem ab es keine Erinnerung mehr gibt an die Früheren. Ich habe mich seit meiner frühen Jugend stets als Glied in einer langen familiengeschichtlichen Kette gesehen und daraus Kraft geschöpft. Ohne diese Kette von Generationen ist meine Existenz nicht zu denken. Mit der Schilderung ihrer Schicksale und meines Schicksals beschreibe ich unser kleines, unbedeutendes Dasein, unsere kurze Existenz zwischen dem Nichts davor und dem Nichts danach. Wir werden wie sie in das Reich der Vergessenheit eingehen. So komme ich auch längst vergangenen Lebensläufen auf die Spur, ich beginne mich auch an die Gehirne verschwundener Generationen anzukoppeln und ihre Sinnorientierungen zu verstehen. Aus Daten werden Schatten, aus Schatten Schemen, aus Schemen Personen, und plötzlich stehen sie vor mir. Für ein paar Minuten, manchmal auch für ein paar Stunden, kehren sie zurück – ins Gedächtnis.Viele sind mir geradezu unheimlich gegenwärtig. Ich höre ihre Stimmen aus der Ferne der Zeit herüberklingen. Sie beginnen aus ihrem Leben zu erzählen. Ich besuche Erinnerungsorte, trete ein und lausche in die Echoräume der Zeit.

In Erinnerungen schwelgen? Erinnerungen genießen? Lieber hätte ich vieles vergessen oder so gut verdrängt, dass es nicht mehr ins Bewusstsein zurückkehrt: Prügel, Demütigungen, Niederlagen, Versagen, schändliches Handeln, Lügen, Unterlassungen – ein Menschenleben ist gewöhnlich voll schlechter, niederdrückender Erfahrungen, zumal in und am Rande von Zivilisationsbrüchen, wie sie sich im 20. Jahrhundert ereigneten. Vergessen und Vergessenkönnen entlastet, befreit von Schuld- und Albträumen. Ich möchte gegen das Vergessen und Vergessenwerden schreiben, um so kleine biografische Pyramiden zu hinterlassen. Hier also sind sie.