55.1 Zur bayerischen Landtagswahl 2018 – 1. Folge (18.10.2018)

Beobachtungen und Steh-Greif-Analysen

Über Jahrzehnte habe ich in Printmedien und Fernsehen zu politischen Vorgängen und Ereignissen in Bayern Stellung genommen. Ich zählte lange Zeit zu den drei „Bayern-Auguren“, die regelmäßig angerufen und um Interviews gebeten wurden, wenn es in Bayern politisch hoch herging, Führungsquerelen in der CSU die Gemüter erhitzten, Köpfe fielen und Wahlergebnisse zu kommentieren und zu deuten waren. Vor ein paar Jahren stieg ich aus privaten Gründen aus dem Auguren-Triumvirat der Politikprofessoren Jürgen W. Falter (Universität Mainz), Heinrich Oberreuter (Universität Passau) und Alf Mintzel (Universität Passau) aus und nahm an der medialen Kommunikation nicht mehr teil. Der Ausgang der bayerischen Landtagswahl 2018 bewegt mich jedoch, zu den neuesten Entwicklungen noch einmal öffentlich Stellung zu nehmen. Ich werde heute und in den nächsten Tagen meine Beobachtungen und Steh-Greif-Analysen ins Netz stellen. Vorweg verweise ich auf einschlägige Kapitel in meinem autobiografischen Blog „Zwischen den Stühlen war viel Platz“ (darin z. B. auf Kap. 26 und 32), auf meinen Beitrag im Historischen Lexikon Bayerns über „Bündnis 90/Die Grünen in Bayern“ von 2014 (htpp://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_45986) sowie auf meine Monografie „Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer“, Passau 1998. Meine Beobachtungen und Stellungnahmen, die ich in lockerer Folge und stichwortartig ins Netz stellen werde, will ich als Diskussionsbeiträge und Denkanstöße verstanden wissen.

Die wahlstatistische Ausgangslage

Knapp und bündig vorangestellt: Gesamtstimmenanteil in Prozent/Veränderung im Vergleich zu 2013: CSU 37,2 (-10,4), Grüne 17,5 (+8,9), Freie Wähler 11,6 (+2,6), AfD 10,2 (+10,2), SPD 9,7 (-10,5), FDP 5,1 (+1,8). Feststeht: In den bayerischen Landtag ziehen sechs Parteien ein, wobei die CSU trotz ihrer Schwächung als noch immer relativ große Mehrheitspartei das Heft in der Hand behält. Die CSU wird, dessen bin ich sicher, eine Koalition mit den Freien Wählern (FW) bilden. Die Grünen sind zur zweitstärksten parlamentarischen Kraft geworden, gefolgt von den Freien Wählern mit einem Gesamtstimmenanteil von 11,6 Prozent. Die Frage ist, ob und inwieweit die Grünen ihren triumphalen Zugewinn in parlamentarische Gestaltungsmacht umsetzen können. Von einer Niederlage der Grünen zu sprechen, wie es ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung (Nr.238, 16.10.2018, S. 4) sieht, differenziert zu wenig die Verhältnisse. Mit 38 Sitzen im Landtag haben die Grünen immerhin eine wichtige und medial sichtbare institutionelle Plattform für ihre oppositionelle Präsenz. Eine vernichtende Niederlage hat hingegen die SPD erlitten, die mit ihrem Wahlergebnis auf Landesebene wohl endgültig auf das Format einer marginalen Kleinpartei zurückgestuft worden ist. Klar ist auch, dass – in Erinnerung an die fünfziger Jahre – eine „Viererkoalition“ gegen die CSU ein rein numerisches Gedankenspiel wäre. Der numerisch addierte „Anti-CSU-Block“ käme zwar gegenüber der CSU (37,2) auf 39,0 Prozent, aber diese Addition entbehrte unter oppositionellen Gesichtspunkten jeder politischen Realität. Im Gegenteil, sie spricht für die weiterhin existierende Vorherrschaft der CSU, die zwar geschmälert, aber nicht wirklich gebrochen worden ist. Die Bildung der CSU/FW-Koalition verweist alle anderen im Parlament mitwirkenden Parteien, also die Grünen, die SPD, die FDP und erst recht die AfD, in die Opposition. Wegen der ideologischen, politisch-programmatischen und bereichspolitischen Gegensätze, die diese Oppositionsparteien voneinander trennt, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie zu einer gemeinsamen Oppositionsarbeit finden werden. Die AfD scheidet erklärtermaßen in der Opposition als Koalitionspartner von vorneherein aus.

Der triumphale Wahlerfolg von Bündnis 90/Die Grünen

Woher kommen sie? Der Zulauf im Wahlkampf und der Wahlausgang haben erneut bestätigt: Die Grünen rekrutieren sich vor allem aus jüngeren Altersgruppen mit höheren Bildungsabschlüssen (Abitur, Fachhochschul- und Hochschulabschlüsse). Sie kommen in hohem Maße aus dem Dienstleistungssektor und quartären Bereich (Kommunikation und Information). Sie repräsentieren vor allem Dienstleistungsberufe, insbesondere Beamte und Angestellte sowie Selbstständige. Sie setzen sich zu einem Teil aus der sozialstatistischen Kategorie der Nicht-Erwerbstätigen zusammen (Schüler, Studenten, Auszubildende), allerdings mit rückläufiger Tendenz. Sie erhalten vor allem Zulauf in urbanen Gebieten, in Mittel- und Großstädten. In Universitätsstädten treffen sie auf für sie besonders günstige Strukturen. Sie weisen ein typisches Land-Stadt-Gefälle auf. Der Frauenanteil ist bei ihnen deutlich höher als bei den anderen Parteien. Hingegen sind Arbeitslose, Arbeiter und Rentner bei den Grünen nur schwach vertreten. In summa: Die Grünen kommen aus den sozioökologischen und liberal-intellektuellen Milieus städtischer Gebiete, am deutlichsten aus den Ballungsräumen und Dienstleistungszentren, zumal aus den Metropolengebieten München/Augsburg, Nürnberg, Fürth /Erlangen, Aschaffenburg und Neu-Ulm. Sie haben inzwischen ihren „Bürgerschreck-Charakter“ verloren. Sie in Anspielung auf inzwischen verlassene programmatische Positionen als linke „Verbotspartei“ zu verteufeln, so Markus Söder im Landtagswahlkampf, taugt nicht mehr zur Abschreckung. Die Akzeptanz nimmt in der Bevölkerung, wie Umfragen zeigen, allgemein zu. Die bayerische Hegemonial- und Staatspartei hat in diesen Gebieten und Milieus, die für sie ohnehin traditionell Problemgebiete sind, in der Landtagswahl 2018 am meisten Stimmen verloren. Besonders auffällig sind ihre Verluste in München, wo die Grünen der CSU fünf Direktmandate abgenommen haben. Das sechste Direktmandat haben sie in der Universitätsstadt Würzburg gewonnen.

Zur Koalitionsfrage

Der Landesverband Bayern der Grünen wird heute allgemein zurecht als „realpolitisch“ eingeschätzt. Er gilt in seiner Programmatik als reformerisch und in seiner Praxis als pragmatisch ausgerichtet. Er hat den Charakter einer „ökologisch-sozialen Reformpartei“ angenommen. In ihren Wahlkampfauftritten zum bayerischen Landtag haben die führenden Köpfe der Grünen diese pragmatische Ausrichtung besonders betont und den Ideologie-Vorwurf ihrer konservativen Gegner zu entkräften versucht. Die bayerischen Grünen haben damit zugleich signalisiert, unter bestimmten Bedingungen sogar mit der CSU koalieren zu wollen. Sie leiten aus dem Ausgang der Landtagswahl einen politischen Mitgestaltungsauftrag ihrer Wählerschaft ab, der sie sogar zu einer Regierungsbeteiligung ermächtigt. Kein geringerer parteipolitischer Gegner als der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hatte bereits 2004 den bayerischen Grünen bestätigt, sie seien „in manchen Bereichen pragmatischer, offener geworden“, sie hätten „Führungsleute, die nicht mehr ideologisch argumentieren und ihre bürgerliche Herkunft verleugnen“.(FAZ Nr. 220, 24.09.2005, S.3). Stoiber schloss schon damals, falls es landespolitische Entwicklungen erforderlich machten, nicht einmal mehr für Bayern eine schwarzgrüne Koalition aus. Nach der bayerischen Landtagswahl 2018 scheint nun das, was bisher für unmöglich gehalten wurde, möglich geworden zu sein. Die gemeinsamen politischen Schnittmengen sind jedoch immer noch zu klein und die Verluste der bayerischen Staatspartei noch immer nicht hoch genug, um im Landesparlament die Bildung einer schwarzgrünen Koalition möglich werden zu lassen. Der amtierende bayerische Ministerpräsident Markus Söder übt sich zwar, wie er kundtut, „in Demut“ und lädt auch die Grünen, eine Novum in der bayerischen Politik, pro forma zu Sondierungsgesprächen ein. Er wird aber alles daransetzen, die Grünen von einer Mitregierung fern zu halten. Die Bildung einer Koalition mit den Grünen wäre in der CSU nicht mehrheitsfähig, sie brächte eine weitere Unruhe in die CSU-Basis. Die Grünen wären gut beraten, ihre gebündelten politischen Kräfte in eine eigene Oppositionsstrategie zu investieren und zu testen, welche Dissonanzen, Differenzen und Konflikte in der CSU/FW-Koalition künftig Chancen bieten, im parlamentarischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess grüne Themen und Ziele zum Tragen zu bringen.

Sieger ohne Macht“?

Das neue Sechs-Parteien-Parlament bringt neue Reibungsverhältnisse und ein neues Kräftemessen in die Parlamentsarbeit. Trotz ihres Debakels behält die CSU mit 37,2 Prozent ihre landespolitische Position als eine noch immer starke Regierungs- und Staatspartei, die bestimmt, mit welcher der parlamentarischen Parteien sie koalieren wird. Sie wird, dessen bin ich sicher, die Freien Wähler (FW) an der Regierung beteiligen, nicht die Grünen. Mit dieser Entscheidung werden die Grünen in die Opposition verwiesen. Das hat zur Folge, dass die Grünen ihr triumphales Wahlergebnis institutionell nur sehr begrenzt in staatliche Gestaltungsmacht umsetzen können. Im bayerischen Landesparlament hat aufgrund der Mehrheitsverhältnisse jede Opposition schlechte Karten in der Hand. In der Opposition die Rolle eines Korrektivs zu spielen, ist eine ebenso schwierige wie undankbare politische Aufgabe. Auch ein noch so einheitliches Stimmverhalten der Opposition kann von der CSU- beziehungsweise von der künftigen Koalitionsmehrheit CSU/FW fast problemlos überspielt werden. (Alf Mintzel/Barbara Wasner, 2004: Landesparlamentarismus in Bayern, in: Siegfried Mielke/Werner Reutter (Hrsg.): Länderparlamentarismus in Deutschland. Geschichte – Struktur – Funktionen, Wiesbaden 2. erg. Auflage). Dies könnte bei den Grünen zu einem politischen Energiestau führen, der die gegenwärtige Hochstimmung in Frust verwandelt. Die Süddeutsche Zeitung bringt es in einem Kommentar negativ ausgedrückt so auf den Punkt:„ Sollten die Grünen nicht in der Regierung landen, wonach es aussieht, haben sie trotz aller Zugewinne eine Niederlage erlitten. Mit 17,5 Prozent in der Oppositionsrolle zu landen, ist kein Erfolg“ (SZ Nr. 238, 16.10.20018, S. 4). Die zukünftige Oppositionsrolle der Grünen wird, was die schwer zu erfüllenden Aufgaben noch erschwert, in einer kritischen Konkurrenz mit drei im Landesparlament vertretenen Oppositionsparteien stehen, mit der SPD, mit den Freien Demokraten und der AfD. Wahrscheinlich kommt es sogar zu gegenseitigen Blockaden. Es ist damit zu rechnen, dass die AfD im Maximilianeum als neue Protestpartei in ihrer Oppositionsrolle viel Unruhe und Streit stiften wird. Gegenseitiges Ausbremsen der drei Oppositionsparteien könnte es der regierenden Koalition erleichtern, ihre Entscheidungen entschlossen durchzusetzen.

Fragliches Identitätsmanagement der CSU

Das ethnozentrische Identitätsmanagement der CSU-Führung diskriminiert andere Bundesländer. Auf eine knappe, vereinfachende Formel gebracht: Ethnozentrismus bedeutet die Höherbewertung der Kultur, der man selbst anzugehören glaubt, und die Abwertung einer anderen. Ethnozentrismus betrachtet das soziale Kollektiv als handelndes Subjekt und grenzt es von anderen Kollektiven ab. Früher: „Wir Bayern“ in Abgrenzung von „den Preußen“ und „Nordlichtern“. Söders ethnozentrischer Zungenschlag 2018: „Wir in Bayern“, Bayern ist anders, Bayern ist besser, Bayern hat wie kein anderes Bundesland eine kulturelle Eigenprägung. Fast im Agitationsstil von Trump: „Bayern first!“, „Bayern is great!“, „Mythos Bayern“ und andere Slogans gewannen im Landtagswahlkampf ausgesprochen ethnozentrische Züge. Das Identitätsmanagement soll innerbayerisch Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit suggerieren und bestärken. Die CSU-Führung neigt zu einer penetranten Höherbewertung der, was immer auch man darunter verstehen könnte, bayerischen Kultur. Sie neigt dazu, ihre eigenen Maßstäbe und ihren eigenen Lebensstil zur Beurteilung und zur Messlatte der Einschätzung anderer regionaler Kulturen in Deutschland und anderswo zu machen. Mit dem „Mia san mia!“ wird das eingebildete Selbstbild zu einer stupiden Selbstüberschätzung. Mir scheint, dass der staatsbayerische Ethnozentrismus in der Landtagswahl 2018 nicht mehr funktioniert hat. Die gestanzten Polit-Formeln wirken abgedroschen, abgestanden und zunehmend realitätsfern, zumal in städtischen Dienstleistungszentren und in sozial stark heterogenen Ballungszentren. Der so häufig apostrophierte „Mythos Bayern“ hat, soweit er realitätshaltig war, seine Wirkung verloren. Der stetig wachsende Zuzug aus anderen Bundesländern nach Bayern und der gesellschaftliche Wandel in Bayern haben eine abnehmende mentale Verbundenheit mit der bayerischen Geschichte zur Folge. Das staatsbayerische Identitätsmanagement greift zunehmend ins Leere. Vielen nachwachsenden Bürgern und Zuzüglern bedeutet die bayerische Staats- und Kulturgeschichte wenig, der „Mythos Bayern“ fast gar nichts. Und in dem Maße verblasst auch der Nimbus der bayerischen Staats- und Hegemonialpartei als erklärte Hüterin bayerischer Eigenstaatlichkeit und Kultur. Es wirkt wie eine museale Phrase oder wie ein Werbegag, wenn heute der Mythos Bayern beschworen und gegen nichtbayerische Verhältnisse in eine Art Abwehrstellung gebracht wird. Für die nachwachsende Generation bedeutet „das schöne Bayern“ etwas anderes.

Das schöne Bayern“ – „ein weltoffener Heimatbegriff“

Die Grünen sahen sich angesichts der Heimatverbundenheit weiter Bevölkerungskreise ebenfalls herausgefordert, sich mit mentalen Inhalten des abgegriffenen Heimatbegriffes auseinanderzusetzen. Auf eigens dafür organisierten Foren versuchten sie „einen weltoffenen Heimatbegriff“ zu kreieren (Dieter Janecek, SZ Nr. 215, 17.09.2010, S. 33). Sie wollten und wollen ihren Heimatbegriff von dem krachledernen, bierseligen, folkloristisch verbogenen, Maibaum- klamaukigen und katholisch-frömmelnden Heimatbegriff absetzen und eine andere Weise der mentalen Verbundenheit mit bayerischen Orten und Landschaften dagegenstellen. Nicht das abgrenzende „Mia san mia“ und das lokalistische „Do bin i dahoam“, sondern ein weltoffener Heimatbegriff sollte es sein. Im Landtagswahlkampf bekundeten die grünen Wahlkämpfer demonstrativ ihr Bekenntnis zum „schönen Bayern“ und trafen damit auf ein in der jüngeren Generation vorherrschendes weltoffenes Lebensgefühl. Besonders die Spitzenkandidatin der Grünen, Katharina Schulze, fiel hierdurch auf. In diesem Sinne besteht auch im alltagskulturellen Bereich eine weitaus größere Distanz zur CSU als zwischen der CSU und den Freien Wählern. Die Hubert-Aiwanger-Partei steht als Stimme ländlich-lokaler Bayerntradition hörbar im Einklang mit den von der CSU gepflegten bayerisch-kulturellen Basistraditionen. Die grüne bayerisch-alltagskulturelle Distanz zur CSU korrespondiert mit einer deutlichen Distanz der Grünen zum institutionellen kirchlichen Bereich, insbesondere zur katholischen Amtskirche.

Religionsverfassungspolitik

Viele Grüne sehen das religiöse Bekenntnis als eine Privatangelegenheit an, was auf ihr kritisches Verständnis des Staat-Kirchen-Verhältnisses hinweist. Ihre kirchenpolitischen Grundsatzerklärungen (Trennung von Staat und Kirche, Ablösung des Konkordats mit dem Vatikan) und Vorstöße in den Kopftuch- und Kruzifix-Debatten speisen sich aus diesen innerparteilichen konfessionellen Spannungsfeldern zwischen laizistischen Positionen und eher kirchennahen Einstellungen. Ihre Gegner, die hautsächlich im konservativen Milieukatholizismus Altbayerns zu finden sind, werfen den Grünen deshalb vor, sie seien kirchenfern und antikirchlich eingestellt. Es fällt auf, dass die meisten grünen Mandatsträger keine Angabe zu ihrer Konfessionszugehörigkeit machen. Die vergleichsweise größere Kirchenferne der Grünen drückt sich auch darin aus, dass das Engagement ihrer Mitglieder in kirchlichen / religiösen Institutionen und Vereinen deutlich geringer ist als das von vielen Mitgliedern der CSU und der stark katholisch geprägten bayerischen grünen Konkurrenzpartei, der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp). In konfessionellen und kirchenpolitischen Fragen besteht also zweifellos eine große Distanz zwischen der CSU und den bayerischen Grünen. Diese Distanzen zum konservativen Milieukatholizismus erschweren die Bildung einer schwarzgrünen Koalition. Ich bin sicher, dass es gerade auch aus diesen Gründen in Bayern nicht zu einer schwarzgrünen Koalition kommen wird. Die Anhängerschaft der Freien Wähler steht weltanschaulich-konfessionell der CSU viel näher.

54. Vierzig Jahre Universität Passau – Wie die Passauer Alma Mater ihre Jungfräulichkeit verlor

Ein satirischer Nachtrag

[Abbildung: Titelblatt „Schenkendes Verströmen von Gedankenlosigkeit“, 1990]

Ich hatte mir im Sommer 1990 zunächst vorgenommen, den dubiosen emblematischen Devotionalien-Gebrauch der Universität Passau, der in seinen Auswüchsen an den nahegelegen Wallfahrtsort Altöttingen erinnerte, satirisch vorzuführen. Auf den Rat von Kollegen hin war ich dann einen amtlichen Weg gegangen (siehe hierzu die Blog-Kapitel 29, 30 und 31). Norbert Entfellner, Schauspieler am niederbayerischen Landestheater, hatte 1996 diese hier wiedergegebenen Auszüge aus meiner satirischen „Denkmalnach-Schrift“ von 1990 auf Vorschlag und Einladung des damaligen Direktors des Humanistischen Gymnasiums, Dr. Dr. Rudolf Segl (1936-2018), in der Aula des Europäischen Gymnasiums vorgetragen. (Zur Lesung hatte ich die Broschüre publiziert: „Was darf Satire. Erklärung zur Lesung von Auszügen aus der Satire von Alf Mintzel Schenkendes Verströmen von Gedankenlosigkeit – der Madonnenstreit. Montag, 13. Mai 1996 “). Aus Anlass des 40Jahre-Jubiläums der Universität Passau und auf Wunsch interessierter Mitglieder der Universität publiziere ich hier zum ersten Mal zum Amüsement der einen und zum Verdruss der anderen ausgewählte Textteile. Die versteckten Anspielungen überlasse ich unkommentiert der Fantasie.

Wer sich im Internet in der universitätsamtlichen Literatur zur Geschichte der Universität Passau über den Streit um das 1978 eingeführte und 2003 faktisch ausgewechselte Logo der Universität Passau informieren will, wird dort weder einen Literaturhinweis, geschweige denn eine sachliche Darstellung finden. Der heftig und erbittert geführte Streit um die „Maria vom Siege“ im Logo wird, als habe es ihn nie gegeben, völlig verschwiegen. „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Christian Morgenstern). Also noch ein triftiger Grund, diesen satirischen Nachtrag zur 40Jahrfeier  zu veröffentlichen. Blamabel für eine Institution der Wissenschaft, eine Fehlentscheidung des Jahres 1978 universitätsgeschichtlich zu vertuschen.

So steht heute im Corporate Design Manual der Universität Passau zu lesen: „Das Herzstück einer Marke ist das Logo. Es ist ein Untouchable (!)“

Die Verehrung der jungfräulichen Alma Mater zu Sankt Nikola

(Aus: Denkmalnach-Schrift Erster Teil)

Wie manche sehr würdige Professoren, also wirkliche Marienverehrer, sich in ihre himmlische Alma Mater vergaffen und diese gar seltsam verehren, darüber berichtet uns ein seriöser Gewährsmann und berühmter Schriftsteller folgendermaßen:

Als der Augenzeuge und Berichterstatter in das Häuslein zur himmlischen Andacht, Alma Mater zu St. Nikola genannt, eintrat, sah er einen allseits bekannten Professor in Andacht vor seiner Herrin knien. Des Professors lüsternes Auge fiel auf den Fuß seiner Herrin, welcher in einem winzigen, zierlichen Schühlein aus persisch-blauer Seide stak. Sie hatte ihren Fuß sorgfältig auf einen Schemel gestützt, weil sie im Lehnstuhl – oder war es ein erotischer Lehrstuhl? – Gottes gar zu hoch saß, was dem Professor einen wunderbaren Einblick gewährte. Er ließ vor Erregung sein Gebetbuch fallen. Der Fuß seiner Herrin war schmal im Ausmaß, leicht gewölbt, zwei Finger breit und etwa wie ein Sperling so lang, den Schwanz mit inbegriffen vorne spitz und kurz, ein Fuß voller Wonnen, ein jungfräulicher Fuß, der des Küssens so wert war wie ein Schelm des Stricks am Galgenbaum, ein mutwilliger Fuß, ein lüsterreicher Fuß, wohl imstande, einen Erzengel in Verdammnis zu bringen, ein augurisch hellsehender Fuß, ein verteufelt aufreizender Fuß, bei dessen Anblick es einen gelüstete, ein Paar neue, ganz gleiche Schülein zu machen, damit hienieden Gottes herrliche Schöpfungswerke nicht ausstürben.

Am liebsten hätte der Herr Professor, den die Versuchung mit aller Macht kitzelte, diesen höchst beredten und überzeugend lockenden Fuß seines Schühleins entkleidet. Zu diesem Behufe huschten seine Augen, aus denen das ganze Feuer seiner Inbrunst sprühte und glühte, geschwind wie der Schwengel einer Glocke von diesem wonnigen Fuß hinauf zum Antlitz seiner Alma Mater und Meisterin. Er berauschte sich an ihrem blütenzarten Antlitz und trank ihren Atem, und da wusste er wieder nicht, was wohl süßer zu küssen wäre, die frischen purpurroten Lippen ihrer Himmlischen Süße oder dieser beredte, einladende Fuß.

Kurzum sei’s aus Ehrerbietung oder aus schierer Angst, vielleicht aber auch aus übergroßer Liebe, er erwählte den Fuß und küsste ihn hastig, wie’s gerade traf, wie eine Jungfrau die sich nicht recht traut. Dann hob der Herr Professor flugs das Gebetbuch wieder auf, spürte derweil, wie sein gerötetes Angesicht noch röter wurde, und schrie, überwältigt und ganz erfüllt von Wonne und Lust, gleich einem Blinden: Janua coeli! Oh Himmelspförtlein!

Und er war durchhitzt vom glühenden Verlangen und über die Maßen glücklich, dass seine Alma Mater es immer von neuem verstand, eine so betörende Jungfrau zu sein. Er verließ das Häuslein ganz wirbelig und taumelig und nach diesem verwegenen Kuss reicher als ein Dieb, welcher den Opferstock für wissenschaftliche Werke gestohlen hat.

Diesen wunderbaren Erlebnisbericht gab unser Gewährsmann in der Fakultätssitzung zum Besten, und alle waren sich einig, dass der Herr Kollege, ein tapferer Ritter vom Heiligen Grabe zu Jerusalem, von der Jungfrau Maria auserkoren war, Dekan zu werden.

[Abbildung: Zeichnung von Prof. Paul Lankes]

 Die feierliche Home-Coming-Prozession

(Aus: Denkmalnach-Schrift Zweiter Teil)

Vorspann: Die Professoren und ihre Gattinnen und Lebensgefährtinnen bringen in einer „home-coming-Prozession“ die Universitätsmadonna mit Gesängen und Rezitationen zurück in den Dom. Nach Fakultäten geordnet ziehen sie durch die Gassen der Altstadt zum Bischofsitz. Die Prozession endet mit der Übergabe der Devotionalien: der marianischen Nahkampfnadeln, Madonnen-Wachsgüsse, der Madonnen-Schlipse, der Madonnen-Biergläser, der Madonnen-Keramikbecher, der marianischen Wimpel und Autoplaketten an den Pforten des Passauer Domes. Der Bischof von Passau nimmt die Universitätsdevotionalien weihrauchschwingend entgegen, erbarmt sich der verstoßenen „Maria vom Siege“ und gewährt ihr huldvoll Kirchenasyl. 

Der intellektuelle Maskeraden-Zug

Der intellektuelle Maskeraden-Zug der Passauer Professorenschaft ist so bunt und quirlig wie eine Schar Morisken-Tänzer, voran die Diplomaten, gefolgt von den

Abwieglern,

Knödelkopf-Ethnologen,

Ökonomisten,

wirklichen Marienverehrern,

Legitimisten,

Polit-Posaunisten,

Traditionalisten,

geistigen Kurzstreckenläufern,

theoretischen Wolkenschiebern,

mexikanischen Kampfhähnen,

Luftblasen-Rhetorikern,

Kulturschrott-Fetischisten,

Scheinheiligen,

Ohne-Mich-Michels,

Hasenfüße,

Krummrücken,

Katzbucklern,

Karrieredebilen,

Ahnungslosen,

Kurzsichtigen,

Hirnrissigen,

Adamriesen,

Mikro-Chipaner

und vielen Typen mehr.

Die Diplomaten

haben gelernt, in sechs Sprachen zu schweigen und sie wissen auch, dass uns die Sprache gegeben wurde, um unsere Gedanken zu verbergen. Die Diplomaten halten Kritiker des Emblems für gescheite Narren, die nahe an die Wahrheit herankommen, sich aber dadurch das akademische Leben schwermachen. Nur Narren sagen, was sie wissen. Weise dagegen wissen, was sie sagen.

 Die Knödelkopf-Ethnologen

vollziehen in ihrer intellektuellen Springprozession einen kulturellen Perspektivwechsel und meinen, das Emblem gehöre zur Landschaft, zum Bayerischen Kongo und seinen Götzenbildern. Die Universität sei ihr intellektuelles Biotop. Mit dem Emblem ließen sich die Ureinwohner leichter anlocken und beobachten. Die „Wilden“ brächten sogar wohlschmeckende Speisen mit.

 Die Ökonomisten

 sagen: „cash“ – und tanzen mit Maria einen Tango. Sie halten es mehr mit dem Zynismus des amerikanischen fund raising. Wer bezahlt, dessen Namen und Emblem sind universitär ehrwürdig. Schließlich ist Bayern ein christlicher Staat und Passau eine Bischofsstadt. Mit Maria lässt sich die Universität besser verkaufen – ganz wörtlich gemeint.

 Die praktizierenden Marienverehrer

halten Emblem-Kritiker noch immer für geflügelte Drachen, in deren Lästermäuler der Kreuzstab gestoßen gehört – sie nehmen das Emblem atavistisch ernst. Seit Urzeiten hat noch jede Menschenhorde ihr Erkennungszeichen, ihr Kampf- und Jagdsymbol. Unter dem friedensstiftenden Banner ihrer Himmlischen Süße sind doch großartige Kulturleistungen vollbracht – und Hunderttausende erschlagen und zu Tode gequält worden. Vor allem die Wissenschaften sind unter diesem Banner gefördert worden. Armer Giordano Bruno! Was hat die katholische Kirche dir für eine lodernde Himmelfahrt beschert. Du bist zu Maria aufgefahren.

Die Marienverehrer schicken tausend Gebete zur himmlischen Glorie. Möge die Universitätsmadonna den feuerspeienden Fakultätsdrachen wegen Beleidigung ihrer himmlischen Majestät und der religiösen Gefühle ihrer Anhänger strafen. Maria hilf!

 Die marianischen Legitimisten

tanzen erst recht nicht aus der Reihe. Sie haben die Häretiker noch unter jedem irdischen Banner verurteilt. Die Herrschaftstechnik ist bekannt: kraft Macht, kraft Mehrheit, in religiösem Wahn und kraft staatlicher Amtsautorität werden Tatsachen auch dort geschaffen, wo sie nicht hingehören. Nach dem Willen des Heiligen Geistes hat sich die Universitas Pataviensis im Kreisrund um das Emblem zu drehen. Von anderen möglichen Weltansichten nimmt der Heilige Geist in Passau nicht Kenntnis.

Die Ahnungslosen

Die schönste Gruppe im intellektuellen Maskeraden-Zug bilden die Ahnungslosen. Sie sind die wahre Zierde der Universität. Sie haben noch gar nicht bemerkt, wie ihnen geschieht. Das sind die wirklich Unschuldigen im Geiste, die die symbolische Attacke auf die Wissenschaft im akademischen Schlaf überrascht.

Die Polit-Posaunisten 

blasen im Lokal-Rhythmus den Erweckungschoral „Ai, ai, ai, Maria (nach einer Samba-Melodie von 1947)

Die Kurzsichtigen

halten das Emblem für eine Briefmarke des Vatikans und verwenden es gedankenlos weiter.

Die Adamriesen und die Mikro-Chipaner

Dann kommen im intellektuellen Maskeraden-Zug die Adamriesen und Mikrochipaner, die das „Maria bit! bit!“ für ein Software-Programm der Universität halten.

Der Narr

Und am Schluss tanzt der Narr [Mintzel] aus dem Ghetto, weil in Passau der intellektuelle Maskeraden-Zug von hinten angeführt wird. 

Die Emanzipation der Wissenschaft oder: Habt Erbarmen mit Maria!

(Aus: „Denkmalnach-Schrift“ Dritter Teil )

Chöre der Wissenschaftler:

1. Chor (Bariton):

Die Wissenschaft hienieden

Sei säuberlich geschieden

Von Bett und Tisch mit Ihr.

2. Chor (Bass):

Es leiden sonst die beiden

An ihrem ew´gen Streiten

Und bringen so allhier

groß Unheil nur herfür. 

Mariechens überirdische Stimme

(Sopran, von einem aus Regensburg entliehenen Sängerknaben zu singen)

Oh Bischof, lieber Bischof mein!

Die Wissenschaft ist so gemein,

ich will sie immer meiden!

Bring mich zurück in deinen Dom,

ich tauge nicht für ein Diplom.

Geschlagen von Einfältigkeit

verbleib ich lieber Bischofs Maid!

Oh Bischof, lieber Bischof mein!

Es muss nun mal geschieden sein.

Bischof (Tenor)

Oh Heilige Simplicitas,

nun gibt´s in Passau auch noch das!

Den Sündenfall der Wissenschaft,

die sich besinnt auf eig´ne Kraft.

Der Drachenwurm auf dem Emblem

erdreistet sich, wie unbequem,

den Globus einfach umzudreh´n.

Chöre der Wissenschaftler:

 Chor (Bariton)

Mariechen auf dem Kopfe steht,

ihr Kleidchen in den Weltraum weht.

Ei, ei, was sieht die Wissenschaft?

Die Zweifel an der Jungfernschaft.

Chor (Bass)

Die Wissenschaft hienieden

Sei säuberlich geschieden

Von Tisch und Bett mit Ihr.

Chor des Klerus (Tenor)

Oh Heilige Simplicitas,

nun gibt´s in Passau auch noch das!

Wie war´s in Passau ehedem

Doch so bequem!

Große Gelehrte wie Max Weber und Poldi von Ranke hätten sich über das Passauer Schlachtengetümmel um die Universitätsmadonna köstlich amüsiert.

[Abbildung: Passauer Satyrikon Nr.1, Vorschläge für ein neues Universitätslogo]

Musterangebote für Leserbriefe und Stellungnahmen oder: Wie man den Emblem-Streit öffentlich befruchten kann

(Aus: „Denkmalnach-Schrift“ Vierter Teil)

(Kleine Auswahl fingierter (!) Leserbriefe und anderer Stellungnahmen, verfasst im Sommer 1990 vor (!) dem Shitstorm in der Passauer Neuen Presse).

Die PNP hatte sich in Herbst 1990 für die Beibehaltung des Marienlogos stark gemacht und zahlreiche erboste und gehässige Leserbriefe abgedruckt, die meine, dem erwarteten Streit vorweggenommenen fiktionalen Leserbriefe, an Realsatire noch übertrafen. 

Leserbrief 

Als gläubige Katholikin möchte ich auf die geschmacklosen, verletzenden und im Geiste ganz und gar widerwärtigen Angriffe auf die Muttergottes und die „Kirche von Passau“ den Nestbeschmutzern, Schmierfinken, Atheisten, Nihilisten und Relativisten Folgendes antworten:

Es sollte bei der Berufung von Professoren an die Universität noch strenger darauf geachtet werden, dass der Glaube und die Interessen der „Kirche von Passau“ nicht missachtet werden. Ich appelliere an die Vertrauensleute der „Kirche von Passau“ unter den Professoren, auf die confessio fidei ihrer Kollegen größtes Augenmerk zu legen. Wir Passauer Katholiken haben kein Verständnis für eine gottlose Wissenschaft, in der die Muttergottes keinen Schutz genießt. Es ist eine Schande für die Universität Passau, dass dort Wissenschaftler lehren, die die Muttergottes nicht achten und aus der Universität ausweisen wollen, hat doch der Zusammenbruch des kommunistischen Systems jedem wachen Geist gezeigt, dass die Wahrheit und die Kraft des Christentums unbesiegbar sind. Niemand wird hier gezwungen, an der Universität Passau zu bleiben. Die widerwärtigen Schmierfinken und Gotteslästerer sollten sich schleunigst an anderen Universität bewerben.

Kreszenz Knödldick, Maria Hilf 101, 8390 Passau

Leserbrief

Da gibt es einige arrogante Professoren, die meinen, sie könnten anderen die Heilige Muttergottes mit dem Hinweis auf Wissenschaftlichkeit und Wissenschaft ausreden. Das ist eine Arroganz des eingebildeten Besserwissens. Man braucht diesen intellektuellen Spaziergängern auf der Innpromenade nur ins Gesicht zu schauen und man sieht schon auf den ersten Blick, wessen Geistes Kind diese Müßiggänger und Pamphlet-Schreiber sind. Die Mehrzahl der akademischen Bürger Passaus wird diese Arroganz sicher unnachsichtig bestrafen.

Anton Himmelreich, Fritz –Schäffer-Promenade 6, 8390 Passau

[Abbildungen von tatsächlichen Leserbriefen]

Leserbrief

Die Marienverehrer und das bayerische Staatsmysterium für Wissenschaft und Marienkultus zeigen marienklar keinen Respekt vor dem Glauben anderer, geschweige denn vor der Autonomie der Wissenschaft. Empfindlichkeit gebührt allein der katholischen Seite!

Vastl Sammarei, Zivildienstler, Marienspital, 8390 Passau

Leserbrief

Ich hatte schon immer den Verdacht, dass die feierliche Haltung der Professoren ein Trick ist, Fehler des Geistes zu verbergen. Die Kritiker des Marienemblems haben ganz Recht, wenn sie sagen, die monokulturelle Synapsen-Verödung der Professorengehirne führe zu einer einfältigen feierlich-devoten Körperhaltung. Das zeigt sich gerade auch in den akademischen Auswüchsen der Marienverehrung an der Universität Passau. Es gibt Professoren, deren Kopf ist nur der Knauf ihres Kleiderständers. Sie vertreten unterwürfig ihren Stand.

Immanuel Königsberger, Gottfried-Schäffer–Korso 13, 8390 Passau

Leserbrief 

In den Kontroversen über das Logo der Marienuniversität Passau ist die Emanzipation der Frau von wissenschaftlicher Lust viel zu wenig bedacht worden. Maria fördert insbesondere auch das Wohlergehen der Wissenschaftlerinnen. Dank Mariä erhielten Frauen schon früh Zugang zur Wissenschaft. Maria ist deshalb auch das vorbildhafte Emblem aller Wissenschaftlerinnen. Ich meine, die Universität Passau braucht keine „Frauenbeauftragte“, sie hat Maria. Das Quotenproblem scheint mir an der Universität endgültig und optimal gelöst zu sein. Die Immaculata weist hier der wissenschaftlichen Nachwuchspflege den Ausweg. Zu den vollkommenen Männern der Fakultäten gehört nun einmal die vollkommene Frau, und da gibt es nur die Eine, Unsere Liebe Frau – den Frauen zum Trost und Vorbild. Die intellektuelle Jungfräulichkeit der Universität Passau ist die terra metaphysica ihrer Hohen Wissenschaft.

Univ.-Prof. Dr. Victor von Lustenau

Thomas-von-Aquin-Institut für christliche Frauenforschung der Universität Passau, Große Messergasse 6, Passau 8390

Stellungsnahmen aus der Universität

Die Fakultät für Mathematik und Informatik hat mit Amüsement die sarkastische Denkmalnach-Schrift über das Universitätsemblem zur Kenntnis genommen und fachbezüglich diskutiert. Die Fakultät goutiert die Ironie des „Maria bit! bit!“. Sie stellt zur Sache fest, dass mit Hilfe der Software-Programme Maria nicht im Großrechner gefunden werden konnte. Es gelang jedoch den Wurm zu entdecken und zu zerhacken. Was den fakultätsoffiziellen Briefkopf anbelangt, sind wir der Emblem-Falle geistesgegenwärtig entgangen. Die Denkmalnach-Schrift hat uns vor einem Virus-Problem bewahrt und viele Kosten gespart.

Das auf unserem Emblem der zuletzt [1985] eingerichteten Fakultät für Mathematik und Informatik gezeigte Symbol „Pi“ sei kurz erklärt: Es bedeutet so viel wie „just born and already pipi“.

[Abbildung: Amtlicher Briefkopf mit dem Emblem „Pi“]

Prof. Dr. Modula Chipnbyte, Sprecherin der Fakultät für Mathematik und Informatik, Universität Passau, Innstraße 33

Stellungnahme der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät

Der Streit über das Marken-Zeichen der Universität Passau erweist sich unter betriebswirtschaftlichem Gesichtswinkel der operations research als kontraproduktiv. Die Muttergottes ist für die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ein reines Verpackungs- und Absatzproblem. Nach der neuesten ökonomischen Entscheidungs- und Risikotheorie ist Maria absatzwirtschaftlich ein Schlager. Wir sehen in „Cash und Tango“ kein wissenschaftsethisches Problem. Zu Glaubensfragen nimmt die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät prinzipiell keine Stellung.

Univ.-Prof. Dr. Justin Time Schmolensky, Lehrstuhl für Corporate Identitiy Research, Universität Passau, Domplatz 1(Vis a vis vom Marienpförtlein)

Lehrstuhl für alteuropäische Kulturideale und katholisch-abendländische Verteidigungsfragen:

Es zeugt von Unwissen und Gesinnungslosigkeit, die Übernahme des Marienemblems als eine „mentalitätsgetragene Gedankenlosigkeit des Knödelfundamentalismus“ zu bezeichnen. Der Leser frage sich selbst: Haben Knödl ein Fundament? Frivol ist vielmehr, sich im nicht-akademischen Stile des Verfassers an den höchsten Kulturgütern des Abendlandes zu vergreifen.

Der schlampige Umgang des Pamphletisten Mintzel mit der Geschichte zeigt sich in seiner Zitierweise und in der falschen Wiedergabe von Namen. Rankes Vornamen war nicht Poldi, sondern Leopold. Ranke ließ sich im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts grob fahrlässig Einseitigkeiten zu Schulden kommen. Er kann deshalb an der Universität Passau nicht als Lektüre empfohlen werden.

Die Universität Passau hat als niederbayerische Regionaluniversität die Aufgabe übernommen, das katholische Land- und Stadtvolk behutsam an die richtig verstandene moderne Wissenschaft heranzuführen. Das Marienemblem betont diese vornehme und großartige Aufgabe. Will der Verfasser des Pamphlets den Kulturkampf des 19. Jahrhunderts an die Universität Passau zurückrufen? Ihm wird eine katholische Lektion erteilt werden!

Mit seinem Hinweis auf das öffentliche Bekenntnis der Marianischen Bürgerkongregation zu Passau stellt der Verfasser eine böswillige Verbindung mit dem Universitätsemblem her. Das Bekenntnis hat folgenden Wortlaut: „Heiligste Jungfrau und Mutter! Im Verlangen, Dir zu dienen, erwähle ich Dich zu meiner Herrin, Beschützerin und Mutter“ (PNP Nr. 104 vom 07. 05. 1990). Der marianische Auftrag der Kongregation lautet: „Die gegenseitige Ermutigung zur Glaubensverbreitung und zum Leben aus dem Glauben in der Welt einzutreten und selbst aus dem Glauben leben.“

[Abbildung: Presseberichte über die Marianische Kongregation und andere religiös-konfessionelle Ereignisse in Passau]

Die Universität Passau ist der Muttergottes unterstellt und geweiht! Fällt das Universitätsemblem, fällt Passau in nihilistische Hände, und fällt die marianische Bastion Passau, geht das Abendland unter. „Die Kirche von Passau“ hat auf amtlichen Wegen der Universität Passau ihr schönstes Emblem vermacht, eine kämpferisch-gegenreformatorische Siegerin in allen Schlachten Gottes. Die anderen Konfessionen an der Universität Passau werden marienemblematisch liquidiert. Das nennt „die Kirche von Passau“ eine gesunde Marienverehrung. Wer sich daran stört, hat die (Heils-) Zeichen der Zeit nicht verstanden.“ (PNP Nr. 99 vom 30. 04. 1990)

Univ. Prof. Dr. Gottlieb-Maria Kleingabriel, Lehrstuhl für alteuropäische Kulturideale und katholisch-abendländische Verteidigungsfragen, Universität Passau, Am Schießplatz 150, 8390 Passau

Stellungnahme der Pressestelle der Universität Passau:

Präsident und Kanzler der Universität Passau sehen sich aufgrund der öffentlichen Kontroversen über das amtliche Emblem der Universität zu folgender Stellungnahme gezwungen:

Die Universitätsleitung bedauert, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck hervorgerufen worden ist, es gäbe in der Universität auch nur im Ansatz eine kontroverse Meinung und Diskussion in Bezug auf das amtliche Emblem der Universität. An der Universität herrscht peinliches Schweigen. Über das Emblem wird prinzipiell nicht nachgedacht. Die Marienkinder sind brav und zufrieden und führen, ein jedes an seinem Platz, ein frommes Leben. Die Professoren befleißigen sich einer sachlichen und frommen Argumentation, weil sie Glauben und Wissenschaft nach modernen Gesichtspunkten auf unerhört kühne Weise zu verbinden wissen.

Die Universitätsleitung stellt prinzipiell fest, dass die freie Meinungsäußerung ihrer akademischen Bürger in Wort, Schrift und Bild ein unveräußerliches Grundrecht ist, es sei denn es dreht sich um gremieninterne Angelegenheiten, die der Schweigepflicht unterliegen. Das Marienemblem unterliegt der Schweigepflicht. Eine Diskussion darüber ist für die Universität rufschädigend und stört den Passauer Religionsfrieden.

Das Emblem hat eine andere Bedeutung als ihm irrtümlich unterstellt wird. Das Emblem soll auf eine wissenschaftsskeptisch eingestellte Bevölkerung beruhigend wirken und die Arbeit der Wissenschaftler vor wissenschaftsfeindlicher Neugier schützen. Die katholisch-christliche Deutungsmöglichkeit muss dabei in Kauf genommen werden. Die Bezeichnung als „geistliche TÜV-Plakette“, als „Denkstopp-Emblem“ und als „Tabu-Zeichen“ ist eine beleidigende Fehldeutung.

Dem Emblem wird universitätsamtlich folgender Bedeutungsgehalt zugeschrieben: Die junge Mutter muss in einer ernährungswirtschaftlichen Notsituation auf Wurm-Fang gehen, um ihr vom Hunger bedrohtes Kind zu ernähren. Es geht darum, einen möglichst großen, nährreichen Wurm zu erwischen. Das Emblem ist darüber hinaus ausgesprochen frauenfreundlich. Es erinnert die Studentinnen und das weibliche Lehrpersonal an ihre kräftige Frauennatur und zeigt, wie eine alleinstehende Mutter mit einem Kind auf dem Arm einen großen Wurm zu fangen imstande ist. Der als Zepter bezeichnete Gegenstand in der rechten Hand der Mutter ist ein Wurfgeschoss, mit dem die aufgespießten Würmer den Gnadenstoß erhalten. Das Emblem ist insofern ausgesprochen tierfreundlich. Es gibt den lehrreichen Hinweis, wie man die Qualen eines armen Wurms verkürzen und seinen Abschied aus dem Leben erleichtern kann.

Der Verfasser der Denkmalnach-Schrift ist in seiner öffentlichen Meinungsäußerung über das geziemende Maß frommer Redlichkeit weit hinausgegangen und hat die tiefreligiösen Gefühle zahlreicher Bürger aufs Gröbste bestätigt. Deshalb muss ihm die Würde eines Professors abgesprochen werde. Nachdenken über den Gebrauch eines irrtümlich für ein religiös-konfessionelles Emblem gehaltenes Logo darf nicht folgenlos bleiben. Der Präsident hat dem Verfasser nahegelegt, die Universität zu verlassen.

Die Universitätsleitung erläutert auf Anfrage gern ihre wurmstichigen Argumente im Sinne einer zweiten Aufklärung. Die Pressestelle wird einen schriftlichen Wurmfortsatz kostenlos zur Verfügung stellen.

Pressestelle der Universität Passau, Dr. Hans-Kapfinger-Straße 2, 8390 Passau

Die Universität Passau führte im Jahre 2003 ein konfessionsneutrales Logo ein und veränderte ihre Selbstdarstellung (corporate identity) und ihr Erscheinungsbild (corporate design) nach innen und außen. Der ursprünglich gedachte Zweck der Satire war auf amtlichen Wegen, wie in den Blog-Kapiteln 29 und 30 beschrieben, mit dem Instrument einer experimentellen Intervention erreicht worden. Die „Maria vom Siege“, die „Untouchable“, verschwand im Jahre 2003 aus dem Universitätshimmel und wurde seither nie wieder gesehen.

53. Abschied von der Bühne des Daseins

Endzeit des Lebens – Was bleibt?

„Tapfer sterben“, kein Hadern, kein Klagen, kein Jammern! Gelassenheit! Ist dieser Vorsatz, mit dem ich Blog-Kapitel 52 abgeschlossen habe, nicht zu pathetisch geraten? Von der Bühne des Daseins still Abschied nehmen, leise weggehen? Ist dies nicht nur eine Demutsbezeugung vor dem unausweichlich Absoluten? Was bleibt mir anderes übrig als gelassen zu warten? Wie könnte sich ein neugieriger Mensch, einer, der zeitlebens mit großem Interesse beobachtet hat, was um ihn herum und in der weiten Welt geschieht, gelassen und leise verabschieden? Viele aufregende Fragen sind offengeblieben, Fragen, die das eigene kleine Leben, und die ganz großen, welche die Menschheitsgeschichte und den Kosmos betreffen. Was bleibt von all dem, was ich unternommen, angestrebt und erreicht habe?

Es stürbe sich leichter, so habe ich irgendwo gelesen, wenn man vorher seine Biografie „geordnet“ habe. Dann sei man gut gewappnet, wenn der Tod kommt. Mit meinem Blog habe ich versucht meine Biografie zu ordnen. Aber was ist am Ende dabei herausgekommen? Als ich mit der Niederschrift begann, schien das erlebte Leben noch so nahe zu sein, dass ich meinte, es – trotz der eingestandenen Schwierigkeiten – wirklichkeitsnah schildern zu können. Jetzt, am Abschluss dieses autobiografischen Unternehmens, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es mir gelungen ist, die verschiedenen Lebensfragmente zu einem klaren Selbstbild zusammenzusetzen. Vieles ist schon so weit in die Vergangenheit gerückt, dass ich mir selbst fern vorkomme und mich kaum noch erkennen kann. Eine Autobiografie zu verfassen führt in viele Fallen und unterliegt selbstgefälligen Täuschungen. Ich stehe vor mir selbst wie ein Archivar des eigenen Lebens und suche nach Erinnerungsstücken. Als sei alles schon eine Ewigkeit her. Die Lebensbedingungen und Anforderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und der 1950er und 1960er Jahre waren so viel anders als die späteren Dekaden. Und auch ich bin nicht mehr der, der ich einmal gewesen war. Ich selbst kann meine Ängste, Kämpfe, schäbigen Handlungen, Niederlagen und Zweifel nur schwer nacherleben. Meine Triumpfe, Freuden und Höhepunkte sind längst verblasste Momente, die zu beschreiben mir nur andeutungsweise gelungen ist. Was ich zu Papier gebracht habe, scheint mir am Schluss noch fragwürdiger zu sein als zuvor. Doch war mir wichtig, so unzulänglich wie es auch immer ausgefallen sein mag, Ordnung und Sinn hineinzubringen, bevor andere sich bemühen und mir allerlei anhängen, was so nicht stimmt.

Gast auf der Erde und im Universum

Ich war Gast auf einem kleinen Flecken Erde und Gast in einem grandiosen Universum, das Milliarden Galaxien und Sterne ins Unendliche auseinander treibt. Ich hörte von den neuesten Erkenntnissen der Astronomie und der Astrophysik und sah die atemberaubenden Bilder, die uns Teleskope und Satelliten aus dem Weltraum senden. Das Hubble-Weltraumteleskop, das in 600 Kilometer Höhe im Erdorbit kreist, ist dreizehn Meter lang und kann mit seiner Optik in den galaktischen Wolken Vorgänge beobachten, die zuvor nie gesehen werden konnten. Mit seinen inzwischen Millionen Bildern hat Hubble die Astronomie revolutioniert. Mit ihm warf ich einen Blick in die unermessliche Unendlichkeit. Galaxien entstehen und sterben, Sterne werden geboren und sterben, Planeten bilden sich aus kosmischen Staubwolken und werden zu Klumpen und Schlacken. Menschliche Gehirne sind nicht für kosmische Größenordnungen gebaut. Zu sagen, man habe in kosmischen Maßstäben nur einen Wimpernschlag lang gelebt, ist euphemistische Poesie und anthropomorphisierende Verbildlichung. Menschen bedürfen offenbar der Selbsttäuschung über die Nichtigkeit ihres Daseins, in dem sie es mit schönen Worten maßstäblich “vermenschlichen.“ Die menschliche Hoffnung, unsterblich zu sein, ist angesichts des kosmischen Werdens und Sterbens ein Wahn. Gott, der ein ewiges Leben verspricht, ist eine evolutive Überlebensfantasterei des Menschen, ein Placebo, um den Schmerz unserer Endlichkeit erträglich zu machen. Auch die Götter der Menschen sind sterblich, sie wechseln seit Jahrtausenden in immer neuen Götterdämmerungen. Kein Pharao ist zurückgekehrt. Es gibt kein „Geistwesen“-Getümmel in den Raumzeitgefilden des Kosmos, es sei denn in den Halluzinationen unserer Ewigkeitsräusche. Da kommen die Schmerzpillen der Religionen ins Spiel. Ich brauche keine christlichen Schmerzpillen, keine Verheißungen, keine Hoffnung auf Heil, kein Gebet, keinen Gott. Solange wir in Erinnerung bleiben, leben wir im Gedächtnis fort. Gewiss ist, dass wir alle ins Reich der Vergessenheit eingehen werden. (aus meinen „Skizzen & Notizen“, 1999).

„Eine Generation kommt und eine Generation geht (…). Da gibt es keine Erinnerung an die Früheren. Und an die Künftigen, die sein werden, auch an sie wird man sich nicht mehr erinnern, bei denen die später sein werden.“ (Der Prediger Salomon, 1,11).

Am Ende kommt mir wieder der poetisch-visionäre Traum Jean Pauls ins Gedächtnis, in dem er – 1797 die moderne Kosmologie und Astrophysik vorwegnehmend – durch das Universum reist. Heute sehen und reisen wir mit Hilfe der wunderbaren Technik des Hubble-Weltraumteleskops bis an den Rand des Universums. Ich hatte damals, als ich vor Jahrzehnten Jean Pauls Vision zu ersten Mal las, tief beeindruckt  Textfragmente in freie Verse gebracht:

Ich ging durch die Welten,

ich stieg in die Sonnen

und flog mit den Milchstraßen

durch die Wüsten des Himmels,

aber es ist kein Gott.

Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft,

Aber ich hörte nur den ewigen Sturm.

Ich blickte auf zur unermesslichen Welt,

sie starrte aus leeren Augenhöhlen mich an.

Ich sah kein göttliches Auge.

Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es.

Ich schaute in die Weiten der Galaxien,

aber es ist kein Gott.

Es schreitet kein Gott in Orkanen

durch das Sternen-Schneegestöber.

Auf unserem kleinen Planeten ereignen sich täglich schreckliche und bestialische Dinge, und doch bin ich innerlich froh und zufrieden in einer Zeit gelebt zu haben, in der unser Wissen über die Welt im Kleinen wie im Großen, im Nahen und im Fernen so revolutionär vorangekommen ist. Edwin Hubbles Vermessung des Universums brachte die Erkenntnis, dass „da draußen“ sehr viel mehr Objekte existieren als erwartet, dass in den Tiefen des Weltalls mehrere hundert Milliarden Galaxien sich wegbewegen, immer tiefer in die unfassbare Unendlichkeit hinein. Die Milchstraße, unsere Heimat-Galaxie, ist mit einem Durchmesser von ungefähr 100.000 Lichtjahren nur eine verschwindend kleine unter den Milliarden. Ihre Spiralarme beherbergen Milliarden von Sternen, die altern und verlöschen. Riesen unter den Galaxien sind „gefräßig“, sie verschlingen kleinere, die ihnen zu nahe kommen. Die Sterne der kleineren Galaxien werden von den Giganten „aufgezehrt“. In den unvorstellbar fernen Welten ereignen sich Super-Explosionen. Astrophysiker haben jüngst Gravitationswellen registriert, die vor 1,3 Milliarden Jahren vom Zusammenstoß und von der Verschmelzung zweier Schwarzen Löcher ausgelöst worden sind. Vor solchen Zeit- und Evolutionspanoramen erscheint die bisherige Entwicklung menschlicher Zivilisationen so kurz wie ein Lichtblitz. Mag die moderne Wissenschaft die Lebensspanne des Menschen auf 120 und mehr Jahre ausdehnen, so währt das menschliche Leben, in kosmischen Maßen gedacht, doch nur einen extrem kurzen Moment. Welche Anmaßung ließe mich auf ein ewiges Leben hoffen? Ich werde sterben, wie Galaxien, Sterne und Planeten sterben – aber nicht mit einem lauten stellaren Knall. Sondern nach menschlichen Maßstäben ganz leise.

Von der Sache her ist es sicher fraglich, die grandiose kosmologische und astrophysikalische Vermessung des Kosmos mit der kleiner irdischer Forschungsfelder zu kontrastieren. Mit Staunen und Respekt verfolgte ich neugierig die rasanten Fortschritte bei den Erkundungen des Weltalls. Und mit argem Verdruss registrierte ich im Vergleich dazu die äußerst beschränkten Forschungsmöglichkeiten und Forschungsbedingungen meines Faches an deutschen Universitäten. Der Technologie, instrumentellen Ausstattung und finanziellen Ressourcen der Weltraumforschung steht in den sozialwissenschaftlichen Fächern nichts wirklich Vergleichbares entgegen. Die Kosten der Weltraumforschung sind extrem hoch. Ein paar Daten: Der deutsche Staat beteiligt sich an der Finanzierung für die International Space Station (ISS) bis 2019 mit etwa 346 Millionen Euro (SZ Nr. 66, 20.03.2018, S. 2). Nach Berechnungen des Forschungszentrums Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) wird der Asteroid „Bennu“ am 2. September 2135 gefährlich nahekommen. Sein Aufprall würde 80.000 Mal mehr Energie freisetzen als die Hiroshima-Atombombe. Die Folgen wären für die Menschheit verheerend. Um diese Gefahr abzuwenden, hat das Forschungszentrum bereits mit einer Weltraummission „Osiris Rex“ begonnen, die rund eine Milliarde Dollar kosten wird.

In der Parteienforschung bleibt es in der Regel beim „kleinen Handwerk“ auch in Forschungseinrichtungen, die größere international verankerte und verbundene Projekte ermöglichen. An den deutschen Universitäten verlieren sich die einschlägige Lehre und die Forschungsinitiativen in der Regel im Vielerlei unterschiedlich gewichteter Fragestellungen. Die Organisation von Symposien und Arbeitstagungen setzt zwar Akzente, führt aber in der Regel nicht zu koordinierten und zielorientierten Großprojekten.

Finissage – Eine letzte Arbeitsbilanz

Was war mein Anteil? In den 1970 und 1980 Jahren war ich zu einem überregional bekannten Parteienforscher geworden, dessen wissenschaftliche Prominenz nicht nur seinen Studien über die CSU und Bayern zu verdanken war, sondern auch meinen Abhandlungen über die Entwicklung der westdeutschen Parteien und des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland allgemein. Dazu hatten auch meine theoretischen Auseinandersetzungen mit den methodischen Ansätzen der Parteienforschung gezählt, die ich im Jahre 1984 in meinem Buch über Typologien der Volkspartei publizierte (siehe Blog-Kapitel l8). Nach meinem Ruf an die Universität Passau (1981) hatte ich gehofft, auf diese Forschungsleistungen aufbauen und langfristig größere Projekte durchführen zu können. 1987 hatte ich den aktuellen Stand und die Hauptaufgaben der deutschen Parteienforschung skizziert („Hauptaufgaben der Parteienforschung“, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 16, Nr.3, 1987), 1993 den Stand der CSU-Forschung („Die CSU in Bayern als Forschungsobjekt. Entwicklung, Stand, Defizite und Perspektiven der CSU-Forschung“,1993). Meine Forschungsperspektiven waren damit deutlich markiert. Wie ich schon in den Blog-Kapiteln 25, 28 und an anderen Stellen ausführlich geschildert habe, hatten sich diese Pläne nicht verwirklichen lassen. Es waren nicht nur äußere Faktoren daran schuld, die mich davon abgehalten haben, in der Parteienforschung kontinuierlich weiterzuarbeiten. Ich schreibe mir im Rückblick selbst ein Quantum an Fehlentscheidungen zu, die meine Arbeitskraft anderweitig in Anspruch genommen haben. Ich hätte mich als Ordinarius kraft Amtsprivilegien in der Fakultät wissenschaftsbetrieblichen Aufgaben und fächerübergreifenden organisatorischen Kooperationsnotwendigkeiten entziehen und auf eigennützige Forschungsarbeiten konzentrieren können. Ich hatte mich 1988/89 jedoch bereit erklärt, am Aufbau und der fachlichen Ausgestaltung des neuen Passauer Studienganges „Kulturwirt“ mitzuwirken (siehe auch Blog-Kapitel 28). Der unerwartet hohe Zuspruch und der große Erfolg dieses interdisziplinären Studienganges hatten dann in einem nicht vorhersehbaren Maße die Arbeitskräfte gebunden. Es hatte sich bald herausgestellt, dass das solitäre Kleinstfach Soziologie, das an der Philosophischen Fakultät nur mit einer Professur und zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgestattet war, in hohem Maße herausgefordert war, wahrscheinlich sogar überfordert. Meine zwei Mitarbeiter und ich wurden von der breit angelegten Lehre fast völlig erdrückt. Die legitimen und unabdingbaren wissenschaftlichen Eigeninteressen der Mitarbeiter hatten die Situation obendrein verschärft. Konflikte waren unvermeidlich. Eine Bündelung der Kräfte in der Parteienforschung war nicht möglich gewesen. Auch die Mittelausstattung des Lehrstuhls für den laufenden Betrieb war lächerlich gering: Pro Jahr standen für alle und alles 6000 Deutsche Mark beziehungsweise Euro zur Verfügung. Die sporadische Einwerbung von Drittmitteln lag unter diesem Betrag. Es war erstaunlich gewesen, was unter diesen Umständen überhaupt noch wirklich Gewichtiges hatte hervorgebracht werden können. Mein Frust war auf dem „Micky Maus-Lehrstuhl“ jedenfalls von Semester zu Semester gewachsen (siehe Blog-Kapitel 28). Ich verabschiedete mich schrittweise von der akademischen Bühne der deutschen Parteienforschung. Die letzte größere publizierte Forschungsleistung war mein Parteiporträt  von Bündnis 90/Die Grünen in Bayern, die 2014 im Historischen Lexikon Bayerns veröffentlicht wurde (>http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern<). Anfang der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts stieg ich dann auch aus dem Triumvirat der politikwissenschaftlichen „Bayern-Auguren“ aus, als das die Professoren Oberreuter, Falter und Mintzel in Medien oft hervorgetreten waren (Blog-Kapitel 26).

Schon am Ende meiner aktiven Berufsjahre hatte meiner Wahrnehmung nach mein Nimbus als Parteienforscher zu verblassen begonnen. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich mich damit abgefunden hatte. Anfangs haderte ich mit meinem Rückzug, war aber dann davon überzeugt, dass es sich für mich nicht mehr lohnen würde, auf diesem Feld weiterzuarbeiten. Der Erkenntnisgewinn schien mir, was die Wirklichkeitsausschnitte und Fragestellungen anbelangte, nicht mehr genug Gewicht zu haben. Mir war klar, dass es sich um temporär und räumlich sehr beschränkte Forschungsleistungen handelte (Notizen & Skizzen, Band 33. 2005/06) Meine Forschungsinteressen hatten sich mehr und mehr auf die „longue duree“ menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsprozesse konzentriert. Tagespolitische Ereignisse und Vorgänge, die in der aktuellen Parteienforschung im Fokus der Beobachtungen gestanden hatten, fand ich nicht mehr so interessant, um mich damit kontinuierlich befassen und auseinandersetzen zu wollen. Viele Diskussionen, die im Alltag hochkochen, sind kurzlebig. An öffentlichen Auftritten in Medien war mir nicht mehr viel gelegen. Gegenüber Kollegen, die ihre mediale Prominenz genossen, hegte ich keine Konkurrenz- und Neidgefühle mehr. Ich war auf den Feldern der Parteienforschung mit meinen bisherigen Leistungen, sprich wichtigen Publikationen, insgesamt mäßig zufrieden. Die letzte Anfrage, ob ich zu einem längeren Interview bereit sei, kam am Morgen des 12. März 2018 von der Rhein-Neckar-Zeitung herein. Ihre Politik-Redaktion wollte aus Anlass des personellen Wechsels im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten und der Berliner Regierungsbildung hören, wie ich die Politik und den Führungsstil des bisherigen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer einschätze. Noch einmal Stress? Schon wieder Fragen zur CSU-Politik!? Nein! Ich lehnte mit ein paar freundlichen Worten das Ansinnen ab. La cosa e finita! Tempi passati! Mit buchhalterischer Penibilität hielt ich den Zeitpunkt der Absage auf die Sekunde genau fest: 13.03.2018, 10.03.Uhr. Schluss! Alte Professoren sollten wissen, wann es an der Zeit ist, endlich abzutreten. Ich verspürte danach eine tiefe innere Ruhe. Es war gut so. Die sanften Klänge einer japanischen Bambusflöte, einer Shakuhachi (gesprochen: Schakuhaschi), begleiteten mich hinaus in eine neu gewonnene Freiheit.

Im Bereich der Kultursoziologie, einem anderen Schwerpunkt meiner Forschungsinteressen, befasste ich mich mit dem Kulturbegriff in der Soziologie und in Nachbarwissenschaften und dann, in der letzten Dekade meines Berufslebens, mit den Entwicklungen, Strukturen und Konflikten multikultureller Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Dabei traten die Makroanalyse und der Vergleich multiethnischer und multikultureller Megastädte, Megalopolen und Metropolen ins Zentrum meiner Lehre. Hierzu publizierte ich 1997 ein umfangreiches Lehrwerk (Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde. Passau 1997) und 1999 weitere Lehrmaterialien (Passauer Papiere zur Sozialwissenschaft. Begleitheft zur Lehre ISSN 0943-0733). Gerade auch diese neue Ausrichtung meiner sozialwissenschaftlichen Lehre führte von der Parteienforschung weit weg und in globale Forschungsgebiete hinein, in denen international zahlreiche Forscher, Forschungsgruppen und Institutionen tätig waren. Ich betrat neue Forschungsfelder, die in weltweite aktuelle Fragestellungen hineinführten und meine ganze Arbeitskraft in Anspruch nahmen. Zu spät! Und für einen „Micky Maus-Lehrstuhl“ nicht zu bewältigen! Ich musste schmerzlich erfahren, dass ein Solitär- und Kleinstfach Soziologie an einer niederbayerischen Universität, und dies vor allem in der empirischen Forschung, trotz großer Anstrengungen dazu wenig beitragen kann. Es bedarf einer international vernetzten Forschung und personell und finanziell angemessen ausgestatteter Forschungseinrichtungen, um die Hauptprobleme der heutigen Menschheit wissenschaftlich angehen zu können.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hatte ich in meinem zitierten Lehrkompendium (1999) zwölf globale Hauptprobleme der heutigen Menschheit benannt: 1. das Bevölkerungswachstum (die „Bevölkerungsexplosion“), 2. die atomare Bedrohung (nach dem „Kalten Krieg“), 3. Kriege (rund 200 Kriege in den letzten 50 Jahren), 4. ethnische und religiös-konfessionelle Konflikte mit Bürgerkriegscharakter, 5. die Massenmigration (die „neue Völkerwanderung“), 6. die ökologischen Krisen und die Bedrohung des Ökosystems der Erde, 7. Armut und Reichtum: Süd-Nord-Diskrepanz, 8. Gewalt, Genozide und Menschenrechte, 9. Verknappung primärer Ressourcen (z.B. „Kampf um Wasser“, 10. Verstädterungs- und Metropolisierungprozesse, Megastädte und Megalopolen, 11. die Alphabetisierung und Aufklärung großer Bevölkerungsteile in bestimmten Gebieten der Erde, 12. Erhöhung des politischen Problem- und Entscheidungsdruckes; Steuerungs- und Regulierungsnotwendigkeit und die defizitäre Führungskapazität politischer Eliten und Entscheidungsträger.

Ich hatte in der Lehre zu einzelnen dieser Problemfelder eine Menge Stoff zusammengetragen und für Lehreinheiten proportioniert. Als ich im Jahr 2000 pensioniert wurde, war klar, dass ich mich nun auch aus diesen Forschungsfeldern zurückziehen musste.

Nach meiner Entpflichtung als Hochschullehrer musste ich mich erst einmal an die neuen Gegebenheiten gewöhnen, nicht mehr über die Ressourcen eines Lehrstuhls zu verfügen, so gering sie auch immer gewesen waren. Mein breites Interessenspektrum bewahrte mich allerdings vor einem „Fall in die Leere“, vor der bangen Frage: „Was nun? Im Gegenteil, jetzt stand ich vor der Frage, welches meiner Forschungsinteressen Vorrang haben sollte. Zudem hatten sich meine künstlerischen Neigungen zurückgemeldet. Wissenschaftlich weiterzuarbeiten hieß in jedem Fall, alle dazu nötigen Hilfsmittel selbst zu besorgen und Texte selbst in den Rechner zu schreiben. Mir blieb als vordigitales Fossil nichts anderes übrig, als einen Computer anzuschaffen und mich in digitale Techniken und Kommunikationsformen einzuarbeiten. Ich trat in eine Übergangsphase ein, in der ich meine Interessen „sortieren“ und meine Kapazitäten neu gewichten musste. Der Sturz in den „Ruhestand“ wirkte sich vielmehr körperlich aus. Quasi über Nacht stellte sich eine partielle Stimmbandlähmung ein und erschwerte mir das Sprechen. Ein beginnender Morbus Parkinson fing an, mich in meiner Bewegungsfreiheit zu stören. In dieser relativ offenen, aber zugleich eingeschränkten Situation wandte ich mich noch einmal der regional und lokal überschaubaren Geschichte des Druckerei- und Verlagswesens Oberfrankens zu. Aus Anlass ihres 375. Jubiläumsjahres hatte mir die Firma Mintzel-Druck ihr gesamtes Archivmaterial übergeben. Das Archiv enthielt viele Dokumente, darunter zahlreiche handschriftliche und gedruckte Dokumente aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Vor allem die alten handschriftlichen Dokumente aus der Markgrafenzeit übten auf mich einen großen Anreiz aus, sie auszuwerten. Ich stellte ein anderes Wunschprojekt zurück, das in den 1990er Jahren nebenbei herangereift war: eine Einführung in Theorie und Empirie der soziokulturellen Evolution. Der Preis für diese Entscheidung war der selektive Bedeutungsverlust, nämlich die raumzeitliche Verkürzung wissenschaftlicher „Vermessung“ auf einen kleinen Flecken unserer Erde.

Seit meiner Jugendzeit hatte ich mich für die Geschichte der oberfränkischen Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel interessiert, die zwischen 1600 und 1844 in fünf Generationen ihr „gebildetes Handwerk“, wie es damals genannt worden war, kontinuierlich betrieben hatte. Die anfangs familiengeschichtlich motivierte Forschung hatte sich im Laufe der Zeit zu einer Geschichte des gesamten oberfränkischen Druckerei-, Verlags- und Pressewesen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart ausgeweitet. Dabei hatte ich mehrmals auch die jüngste politische Stadtgeschichte Hofs mit einbezogen. Die Forschungsergebnisse fasste ich nach meiner Pensionierung in dem zweibändigen Werk „Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie“ zusammen, das 2011 im Berliner Verlag Duncker & Humblot in hervorragender Qualität erschien. Ich erfüllte meine selbstgewählte familiäre Hausaufgabe zur vollen Zufriedenheit aller, die daran Interesse hatten und beteiligt waren. Von Anfang an war die lokale und regionale „Vermessung“ des Forschungsfeldes klar vorgegeben gewesen. Die Arbeit daran war anstrengend, machte mir aber großen Spaß. Ich haderte niemals mit dem solchermaßen begrenzten, aber für mich überaus fruchtbaren Erkenntnisgewinn darüber, woher ich stamme und was mich geprägt hat. Hier war ich mit mir einig (siehe Blog-Kapitel 38). Die Jahrzehnte währende Forschungsarbeit zur oberfränkischen Gewerbe- und Kulturgeschichte und zur politischen Geschichte der Stadt Hof fand im Jahre 2017 mit meinem Beitrag „Über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ ihren Abschluss. Der Artikel erschien im Band XI der „Chronik der Stadt Hof“. Damit verabschiedete ich mich endgültig als direkter Nachfahre des Gründers der ehemaligen Buchdruckerei Mintzel, dessen Namen ich trug und mit dem ich mich seit meiner Jugendzeit identifiziert hatte.

Meine Buchdrucker-Vorfahren hatten das Glück, nicht rasch vergängliche Güter zu produzieren, sondern vergleichsweise dauerhafte Produkte: Bücher und andere gedruckten Schriften. Ihre Berufsarbeit materialisierte sich in Gegenständen und Formen, die heute noch fassbar und für das geübte Auge lesbar sind. Wer heute über die Suchmaschine Google nach dem Buchdrucker und Verleger Johann Albrecht Mintzel (1600-1653) sucht, wird binnen weniger Minuten mit über Hunderten seiner Druckwerke bekannt gemacht. Drucke aus seiner Hand in der meinen zu halten, erfüllte mich stets mit einem ehrfürchtigen Gefühl. Eine von ihm gestaltete barocke Titelseite zu betrachten, hinterließ in meinen Augen einen tiefen optischen Eindruck. Mit meinen Fingern über eine bedruckte Seite handgeschöpften Papiers aus seiner Werkstatt zu gleiten, war ein haptisches Ereignis. Die Mitglieder der Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel hatten sicher, wie aus verschiedenen Quellen hervorgeht, so etwas wie ein kollektives Gedächtnis ausgebildet. Sie kannten ihre gemeinsame Herkunft und berufliche Kunstfertigkeit. Ich sah mich als ein Glied in einer ehrwürdigen Kette von Generationen. Wie ihre Druckwerke wird auch mein zweibändiges Werk über die Druckerverleger Mintzel bleiben. Es steht in vielen Bibliotheken der Welt.

Über Jahrzehnte war ich schriftstellerisch aktives Mitglied des Nordoberfränkischen Vereins für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e.V. in Hof und des Historischen Vereins für Oberfranken in Bayreuth, den Gegenstücken des Passauer Vereins für Ostbairische Heimatforschung und des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen. Meine fränkisch-protestantische Verwurzelung wurde auch darin sichtbar. Auch die vielen Forschungen und Ergebnisse des „kleinen Formats“ haben als Treibsand in den Wirbeln der großen Kulturströme ihre Berechtigung. Man sollte sich nur nicht einbilden, dass sie von weltwissenschaftlicher Bedeutung sind. Der große Soziologe Max Weber hat es in seiner Wissenschaftslehre auf den Punkt gebracht: „Ohne Frage sind nun jene Wertideen >subjektiv>. Zwischen dem >historischen< Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen  Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der >Bedeutungen<, deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben wird“ (Wissenschaftslehre 1988, S. 183/84).

Es hatte für mich immer einen hohen Wert, die Firmen- und Familiengeschichte zu schreiben, aber es war eine Stoffauswahl minderer allgemeiner >Bedeutsamkeit< („Notizen & Skizzen“, Band 45, 21.10.2010). Auch dieses Eingeständnis gehört zu meiner Bilanz.

Das letzte  Wunschprojekt – Zur Theorie und Empirie soziokultureller Evolution

Nach Abschluss der zweibändigen Studie über das Hofer und oberfränkische Druckerei und Verlagsgewerbe in den Jahren 2011/12 begann ich noch einmal damit, den Plan für eine Einführung in Theorie und Empirie soziokultureller Evolution aufzunehmen. Die Problematik hatte mich immer wieder in ihren Bann gezogen. Über Jahre hatte ich eine große Fülle von Materialien zusammengetragen und die wissenschaftliche Diskussion verfolgt. Eine erste Zusammenfassung meiner Vorarbeiten hatte ich 2002 in dem von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff herausgegebenen „Wörterbuch der Soziologie“ (2., völlig überarbeiteten und erweiterten Auflage, S.131-135) unter dem Stichwort Evolutionstheorien publiziert. Mein Lexikon-Beitrag zeigte die Entwicklung von den Gesellschaftslehren des 19. und 20. Jahrhunderts zu den systemtheoretisch fundierten Theorien soziokultureller Evolution (Talcott Parsons; Niklas Luhmann) und den damals aktuellen Forschungsstand auf. Ich wollte diesen Entwicklungsgang in einer leicht verständlichen Einführung darstellen, wobei der Schwerpunkt auf den Prozessen der soziokulturellen Evolution liegen sollte. In meinen „Notizen & Skizzen“ (Band 4) finde ich unter dem Datum des 17. Mai 2012 folgenden Eintrag:

„Nochmals zu meinem Projekt zur soziokulturellen Evolution des Menschen (…). Ich bin bei der Lektüre evolutionstheoretischer Schriften wieder erschrocken, wie viele Beiträge zu >meinem< Thema seit den 1990er Jahren erschienen sind. Ich muss bei meinem Vorhaben höllisch aufpassen, nicht Opfer eines hyperehrgeizigen Planes zu werden, den ich nicht mehr verwirklichen kann Andererseits stört mich, in eine Art Abschiedsstimmung zu geraten und mich nicht mehr herauszufordern. Ich will nicht im Kleinklein ersticken, mich nicht im Oberflächengekräusel des Alltags verlieren. Think big! Habe ich vor Jahren einmal zu meinem Vorsatz gemacht (…) Ich fühle mich blockiert, von außen und von innen (…) Was tue ich? (…) Es ist mein Lieblingsthema (…) Vielleicht sind mir doch noch ein paar äußerst kreative Arbeitsjahre beschieden! Ich sollte nicht über mein Alter lamentieren, sondern mich dem zuwenden, was mich erfreut und zufrieden macht.“

Natürlich glaubte ich nicht, bahnbrechend Neues in die Diskussion einbringen zu können. Ich dachte an ein doppeltes Konzentrat: an einen zusammenfassenden Überblick über den Gang und Stand der Forschung und an eine auch für Laien verständliche Wissensvermittlung. Mir wurde jedoch rasch klar, dass selbst ein bescheiden angelegtes Publikationsprojekt im Alleingang nur schwer zu verwirklichen war. Deshalb wandte ich mich im Sommer 2012 an den Kollegen Prof. Dr. Peter Meyer (Universität Augsburg), einen mit der Soziologie wie mit der Soziobiologie gleichermaßen vertrauten und in beiden Feldern publizistisch ausgewiesenen Kollegen, und fragte, ob er sich an einem solchen Projekt beteiligen wolle. Peter Meyer zeigte sich bereit, gab aber zu bedenken, welche Sisyphusarbeit damit verbunden sei. Mich packten Selbstzweifel, ich zögerte, mich verließ der Mut, ich brach meinen Projektentwurf ab und fiel, was dieses Projekt anbelangte, in einen Blockadezustand. Diese mentale Lähmung hielt an und quälte mich unterschwellig bis heute. Meinem Kollegen Meyer blieb ich eine Erklärung schuldig. Dieses Versäumnis und Versagen machte mir lange Zeit schwer zu schaffen. Ich kam nie wirklich darüber hinweg.

Die Situation erinnerte mich lebhaft an die Hoffnungen alter Emeriti, sich nach ihrer Entpflichtung noch einem Alterswerk zuwenden und darin ihr gesammeltes Wissen einbringen zu können. So hatte Prof. Dr. Otto Stammer (1900-1978), der ehemalige Leiter des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, mein Lehrer, Mentor und Chef, mir gegenüber wiederholt seine Absicht kundgetan, auf dem Felde der politischen Soziologie noch ein grundlegendes Werk zur Parteienforschung verfassen zu wollen. Es war beim Wunsch geblieben. Altersgebrechen hatten ihm Grenzen gesetzt. Ähnlich hatte es sich bei meinem Schwiegervater Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand (1897-1979) verhalten. Er, damals eine international bekannte Koryphäe der Neurologie, hatte sich stets über seine Fachwissenschaft weit hinaus mit philosophischen, religionsgeschichtlichen und vor allem politischen Themen befasst und zu Zeitfragen publizistisch Stellung genommen. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur hatte er eine Schrift über „Deutschland zwischen gestern und morgen“ publiziert und darin „Hitlers Aufstieg und Sturz“ psychologisch gedeutet. Nach seiner Emeritierung hatte er ein Publikationsprojekt über Ideologien in Angriff genommen und dazu schon eine Reihe von Kapiteln verfasst, als er mich bat, die Texte kritisch durchzusehen. Ich musste ihm schonend sagen, dass zur Thematik in den sozialwissenschaftlichen Fächern bereits eine umfangreiche Literatur vorliege, die er berücksichtigen müsse, wolle er in der einschlägigen Diskussion kompetent mitreden. Er brach das Unternehmen ab. Die Liste ehrgeiziger Altersvorhaben ließe sich fortsetzen. Schaltenbrands Universitätskollege Prof. Dr. Friedrich Pfister (1883-1967), von Hause aus Professor der Klassischen Philologie, hatte nach seiner Emeritierung (1951) noch emsig an seinem Alterswerk über „Religion und Wissenschaft. Ihr Verhältnis von den Anfängen bis zu Gegenwart“ gearbeitet. Es war unvollendet geblieben. Das Lektorat des A. Francke AG Verlag machte aus dem unfertigen Manuskript „ein behutsames und nicht um jeden Preis bis zur jüngsten Tagesaktualität herantastendes“ Opus (in der „Vorbemerkung“ zum Buch). Es war folglich schon 1972 bei seinem Erscheinen nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung. Wie immer man hoffnungsvoll geplante und noch verwirklichte Alterswerke beurteilen mag, sie zeigen jedenfalls, dass das Arbeitsleben eines Wissenschaftlers in der Regel nicht mit dem amtlichen Zeitpunkt seiner Pensionierung endet. Darüber, was von unserem Schaffen überliefert wird und bleibt, entscheiden andere und spätere Generationen – und künftige Zeitumstände.

Breaking News – Dringende Eilmeldung – Sondermeldung: Astrophysiker Stehen Hawking gestorben

Gestern, am 14. März 2018, starb der britische Astrophysiker Stephen W. Hawking im Alter von 76 Jahren. Ein merkwürdiger Zufall! Am Morgen dieses Tages saß ich an der Niederschrift meines Abschluss- und Abschiedskapitels und notierte: „Ich war Gast auf einem kleinen Flecken Erde und Gast in einem grandiosen Universum, das Milliarden Galaxien und Sterne ins Unendliche auseinandertreibt. Ich hörte von den neuesten Erkenntnissen der Astronomie und Astrophysik und sah die atemberaubenden Bilder, die uns Teleskope und Satelliten aus dem Weltraum senden.“

Die letzte Botschaft Hawkings, die die Universität Cambridge gestern ins Internet stellte, lautet: „Es war eine großartige Zeit, um am Leben zu sein. Unser Bild des Universums hat sich in den letzten 50 Jahren umfassend verändert und ich bin glücklich, wenn ich einen kleinen Beitrag leisten konnte. (…) schaut zu den Sternen und nicht hinab auf eure Füße (…). Seid neugierig, und wie schwer auch immer das Leben scheinen mag, so gibt es doch immer etwas, das ihr tun und worin ihr erfolgreich sein könnt. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben (…). Dass es uns Menschen, die wir selbst hauptsächlich Ansammlungen von Partikeln der Natur sind, möglich war, so nah an ein Verständnis der Gesetze zu kommen, die uns und das Universum regieren, ist ein großer Triumph“ (www.pnp.de/Hawking).

Für mich war Hawking das Musterbeispiel eines unerschrockenen Wissenschaftlers und Forschers, einer der ganz Großen, die das Weltwissen einen weiten Sprung nach vorne brachten. Er hatte im Unterschied zu mir das Glück, schon in sehr jungen Jahren sein Thema und seine Fragestellungen gefunden zu haben, die er dann sein ganzes Forscherleben lang unablässig bearbeitete. Sein revolutionäres Ergebnis war der Nachweis der Schwarzen Löcher. Mein Vergleich mit ihm mag dämlich und absurd sein, aber im Gegensatz zu ihm fand ich in der Parteienforschung meine Themen und Fragestellungen erst in sehr viel späteren Lebensjahren und verlor dann allmählich mein Interesse daran. Meine „Schwarzen Löcher“, die CSU und Bayern, sogen zwar auch vieles in sich ein und hätten beinahe mich mit verschlungen, aber ich konnte an ihrem Rande der Sogwirkung entkommen. Da mein 1978 neu eingerichteter „Micky Maus-Lehrstuhl“ kein renommierter Newton-Lehrstuhl war, sondern verschiedene kulturwissenschaftliche Fächer in der Regel bloß auf einem Grundstudium- oder Nebenfach-Niveau bedienen musste, war mir nicht beschieden, weiterhin in der vordersten Reihe der Parteienforscher mithalten zu können. Ich traf allerdings auch Entscheidungen, die sich karrierestrategisch als kontraproduktiv erweisen sollten.

Menschlich tief verschuldet – Versäumnisse und Versagen

Ich schließe meinen autobiografischen Blog mit einem Eingeständnis und Bekenntnis ab. Verpfusche nicht das Finale deines Lebens! Habe ich das getan, indem ich dies alles in meinen letzten Lebensjahren niedergeschrieben habe? Was alles habe ich verschwiegen? Menschlich tief verschuldet gehe ich meinem Ende entgegen. Versäumnisse und Versagen sind nicht wieder gut zu machen. Ich schlage einen Bogen zurück an den Anfang meines Blogs. Dort habe ich George Orwell zitiert: „Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen.“

Ich habe vieles von mir preisgegeben, was Autobiografen gewöhnlich oder geflissentlich verschweigen: Niederlagen, schändliches Handeln, Lügen, Unterlassungen, verletzenden Egoismus. Und doch wäre da noch vieles zu berichten und zu klären, was ich anderen angetan und zugemutet habe. Auf jeder meiner sozialen Beziehungen, seien sie familiär, beruflich, freundschaftlich, situativ-flüchtig oder sonstiger Art, lastet auch ein Fehlverhalten, ein Versäumnis, ein Mangel an Verständnis und sogar boshafte Absicht. Ich bin Erklärungen und Offenlegungen schuldig geblieben. Ich habe vielen im Kleinen und im Großen Unrecht getan: meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner Ehefrau, meinen Kindern, Freunden, Bekannten und Kollegen. Manchmal kommen in Albträumen schon fast vergessene Schändlichkeiten wieder an die Oberfläche und türmen sich bedrohlich auf. Einige, denen ich übel mitgespielt habe, sind schon tot. Reue liefe ins Leere. Manches Fehlverhalten hat sich ohne viel Aufhebens im Stillen wiedergutmachen lassen, durch eine kleine Geste, durch ein Eingeständnis, durch ein Zurückstecken. Es wäre eine eitle Pose, mich am Ende meines Lebens hinzustellen und zu beichten und um Vergebung meiner Sünden zu bitten. Für Blessuren, die ich in akademischen Auseinandersetzungen anderen Wissenschaftlern zugefügt habe, muss ich mich nicht entschuldigen. Es ging in der Regel um die Sache, nicht um die Person. Einiges muss ich mit mir ganz allein ausmachen und mit ins Grab nehmen.

Von der Bühne des Lebens Abschied nehmen und leise weggehen: Am Ende fällt es doch schwer. Nicht mehr dabei sein können, nicht mehr zu erleben, was die Zukunft an guten und schlimmen Ereignissen bringt, beunruhigt und stimmt traurig. Was wird auf unsere Kinder und Kindeskinder zukommen? Wie werden sie ihr Leben bewältigen? Was nehmen sie von unseren Erfahrungen und Lebensmaximen mit in ihre sich wandelnde Welt? Ein Grundmotiv dafür, diesen autobiografischen Blog zu verfassen, war zu berichten, was wir in guten wie in bösen Zeiten durchgestanden haben. Was mag in meinem Großvater vorgegangen sein, als wir beide nach dem verheerenden Luftangriff vom 2. Januar 1945 zwischen Schwelbränden und Trümmerhaufen durch das zerstörte Nürnberg liefen? (Blog-Kapitel 4). Er schwieg, als wir einen Weg durch die Ruinenlandschaft suchten. Wie erlebte mein Vater vor dem US-amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg seine Rolle als Verteidiger von Kriegsverbrechern? (Blog-Kapitel 7). Die jüngere Generation fragt die ältere nicht zur rechten Zeit, die ältere versäumt es, sich der jüngeren mitzuteilen. Wir wissen wenig voneinander, zu wenig. Heute gäbe ich viel darum, könnte ich manches versäumte Gespräch nachholen. Beim Abschied von der Bühne des Daseins fällt der Vorhang für immer.

Für einen tief bewegenden Epilog übergebe ich das Wort an die nächste Generation.

52. Begegnungen mit dem Tod

Es ist an der Zeit…

Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Die Lebenskräfte werden schwächer, der Körper zeigt die markanten Alterserscheinungen auf, ich brauche sie nicht aufzuzählen, jeder kennt sie. Doch bin ich im 83. Lebensjahr noch im Besitz meiner kognitiven Fähigkeiten oder mentalen Vigilanz, wie es meine Ärzte ausdrücken und bestätigen. Darüber bin ich froh. Ich könnte sonst nicht meinen Blog verfassen, was ja ein gutes Maß an geistiger Präsenz und Erinnerungsvermögen voraussetzt. Es ist, was das Sterben und den Tod betrifft, an der Zeit, meine Gedanken, Einstellungen und Überzeugungen dazu noch einmal zu überdenken.

Die Mitglieder der oberfränkischen Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel, der ich entstamme, hatten sich alle im Dienste des evangelischen Glaubens und des Christentums gesehen. Ein gottgefälliges Leben zu führen war für sie eine Selbstverständlichkeit. „Recht glauben, christlich leben, selig sterben“, wie die religiös-konfessionelle Formel im „theologischen Zeitalter“ gelautet hatte, war für sie bis ins 19. Jahrhundert hinein eine zutiefst verinnerlichte Lebensmaxime gewesen. Sie war von Generation zu Generation weitergegeben worden. “Selig sterben“ war damals eine stehende, jedem vertraute Wendung gewesen. Der Gründer der Mintzelschen Buchdruckerei, Johann Albrecht Mintzel (1600–1653), hat 1628 die „Güldene Sterbekunst“ des geistlichen Barockdichters Johann Heermann gedruckt: „Hertzlich thut mich verlangen nach einem seligen Ende“. Für seine Drucker-Marke hat er den Spruch „Ecce Agnus Dei Qui Tollit Peccata Mundi“ gewählt (Siehe das Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt trägt). Sein Sohn, Gottfried Mintzel (1642–1713), hat 1710 Johann Heermanns „Exercitium Pietatis“ gedruckt und verlegt. Gottfried hat in seinem Druckersigel bekannt: „Jesum Fidelem Habeo“ (sinngemäß: Ich habe den treuen Christus in meinem Herzen). Mein Urgroßvater Christian Carl Mintzel (1832–1911), der Sohn des letzten Druckers (Johann Heinrich Mintzel, 1763–1840) war ein sehr gestrenger evangelischer Pfarrherr gewesen, der seine Gemeinde, wie er gesagt hatte, gen Jerusalem führen wollte. Diese religiös-konfessionelle Gebundenheit, Gewissheit und gepflegte „Ars morandi“, die „güldene Sterbekunst“, haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Familie allmählich verflüchtigt. Geblieben ist ein unverbindlicher, individualisierter Kulturprotestantismus, und nicht einmal dieser.


Güldene Sterbekunst, 1628, Titelseite


Drucker-Marke von Johann Albrecht Mintzel, 1628


Exercitium Pietatis, 1710


Drucker-Marke von Gottfried Mintzel, 1710

Im 20. Jahrhundert waren in der nächsten und weiteren Verwandtschaft die religiös-konfessionellen Schranken weitgehend zu Gunsten einer multi-konfessionellen Koexistenz gefallen. Nominell etikettiert lebten römisch-katholische Katholiken (einige traten aus ihrer Kirche aus), evangelisch-lutherische Protestanten, reformierte Protestanten, russisch-orthodoxe Christen und eine zunehmende Zahl von Atheisten nebeneinander her. Der allgemeine Säkularisierungsprozess fand auch im familiären Rahmen statt. Dies traf wohl noch stärker auf die konfessionslose Herkunftsfamilie und Verwandtschaft meiner Frau zu, in der nicht einmal mehr der Typus des indifferenten Anpassungschristen vorkommt. Anders betrachtet: Jede konfessionelle Dogmen-Spielart war verpönt. Mein hypothetischer Atheismus wurde als eine mögliche Weltsicht toleriert. Die Religionsfreiheit und Distanz zur institutionalisierten Religiosität gehören seit Jahrzehnten in der Familie und Verwandtschaft zur gängigen Praxis. Diese Atmosphäre religiös-konfessioneller Gleichgültigkeit und Indifferenz wirkte sich ohne Zweifel auf den individuellen Umgang mit Sterben und Tod aus. Vor diesem familiären Hintergrund gewinnen meine Begegnungen mit dem Tod ein spezifisches, individuelles Kolorit.

Mehrmals habe ich schon über meine Begegnungen mit dem Tod berichtet (Blog-Kapitel 10, 19, 36, 37, 40). „On the sunny side of the street“ (Blog-Kapitel 48) habe ich den Schattenmann beobachtet, wie er in vielen Winkeln gestanden und in verschiedenen Erscheinungsformen auf seinen Auftritt gewartet hat. Kein Lebewesen entrinnt ihm. Ich selbst bin ihm mindestens einmal knapp entkommen, als ich 1958 auf einer Fahrt nach Südfrankreich bei Cassis zu weit ins Mittelmeer hinausgeschwommen und von einem Sog erfasst worden bin. Der Hannoveraner Künstler Eberhard WP Eggers (1939–2004), mit dem ich befreundet war, ein kräftiger und geübter Schwimmer, hatte am Strand die Gefahr rechtzeitig erkannt und mir geholfen, mit letzter Kraft gegen den Sog ans Land zurück zu gelangen. Ich hätte meinen Leichtsinn beinahe mit dem Leben bezahlt.

Der Tod hat mich in Angstträumen verfolgt und überwältigt. Ich habe in luziden Traumbildern mich sterben sehen und meinen Tod erlebt. Aus solchen Träumen ins wache Leben zurückzukehren hinterlässt eine Vorahnung, wie es sein könnte, niedergefahren in das Reich des Todes und Auferstehung.

Seit Alters haben Menschen über Sterben und Tod nachgedacht, Totenkulte hervorgebracht, Unsterblichkeitsideen entwickelt und sich grandiose religiöse Weltanschauungen ausgedacht. Geburt, Sterben und Tod gehören, wie zahllose kulturelle Artefakte beweisen, zu den Ur-Themen der Menschheitsgeschichte. Das Panorama kultureller Manifestationen und Traditionen ist viel zu weit und vielfältig, als dass ich es hier skizzieren könnte. Ruft man im Wikipedia-Lexikon einschlägige Stichwörter auf, wird man von der Informationsflut schier weggerissen. Wikipedia registrierte für den Zeitraum von neunzig Tagen (08.11.2017–06.02.2018), um nur einige Beispiele anzuführen, für das Stichwort „Tod“ insgesamt 38 650 Seitenaufrufe, für das Stichwort „Leben nach dem Tod“ 21 017, für „Unsterblichkeit“ 9 086, für „Adam und Eva“ 59 305, für „Dogma“ 36 564 und für „Glaube“ 12 848 Aufrufe. Wie immer wir diese Zahlen interpretieren mögen, sie bezeugen jedenfalls ein vergleichsweise hohes Interesse an diesen Themen und Fragestellungen. Selbst wenn wir die uferlosen Wiederholungen und aberwitzigen Beiträge unbeachtet lassen, haben wir es mit einer Informationsmasse zu tun, die sich schwerlich bewältigen lässt. Was also könnte ich in meinem Blog-Kapitel Originelles und vielleicht sogar Maßgebliches noch hinzufügen oder dem entgegensetzen?

Es sind ja in der Regel nicht die Todesanzeigen und Nachrufe in Medien, die uns besonders berühren oder gar erschüttern, geschweige denn allgemeines Räsonieren über Sterben und Tod, sondern die konkreten persönlichen Begegnungen mit Sterbenden und der endgültige Abschied von Menschen, die uns nahegestanden haben.

„Tapfer sterben“

Ihre Antwort ist mir bis zum heutigen Tag in Erinnerung geblieben. Tante Mariechen, wie wir sie nannten, war eine kleine, pummlige Person (Julie Maria Mintzel, 1866–1955). Sie war die Schwägerin meines Großvaters Otmar Mintzel (1870–1950). 1944 hatte sie bei einem Luftangriff auf Nürnberg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Sie war, als die Sirenen heulten, in den nahe gelegenen mittelalterlichen Neutor-Turm geflüchtet, der zu einem Luftschutzbunker ausgebaut worden war. Als sie nach dem Angriff herauskam, lag das Haus am Neutorgraben, in dem sie gewohnt hatte, in Schutt und Asche. Völlig mittellos war sie im Alter von 78 Jahren zu meinem Vater gegangen, um in unserer Nürnberger Wohnung Unterschlupf zu finden. Meine Eltern erbarmten sich der alten Frau und boten ihr in unserer Familie eine Bleibe an. Tante Mariechen machte sich im Haushalt nütze. Sie flickte Kleider, stopfte unsere Socken und Strümpfe, nähte Knöpfe an, säumte Stoffe und half meiner Mutter, soweit es ihre Kräfte zuließen, auch sonst im Haushalt. Dies waren in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, in den Zeiten des Mangels und der Not, lebensnotwendige Handarbeiten. Ich erlebte die alte Frau als eine sehr genügsame und freundliche Person. Sie war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, und fügte sich anpassungsfähig in unser Familienleben ein. Wir mochten sie alle gern. Sie wohnte bei uns bis zum Jahre 1955, bis zu ihrem Tod. Besonders wegen einer Antwort behielt ich sie tief im Gedächtnis.

In den ersten Nachkriegsjahren – es war wohl in der Zeit, in der ich konfirmiert wurde – besuchte uns eines Tages ein protestantischer Pfarrer. Er wollte mit Tante Mariechen, sie war eine Nürnberger Protestantin, ein seelsorgerisches Gespräch führen. Nachdem der Pfarrer gegangen war, stellte ich ihr als Konfirmand, der gerade mit Glaubensfragen vertraut gemacht worden war, unverblümt und direkt die Frage, wie sie es mit der Kirche und mit dem Tod halte. Es stellte sich heraus, dass sie mit der Kirche nichts am Hut hatte. Sie antwortete auf meine etwas taktlose Frage ohne zu zögern: „Ich will tapfer sterben. Ich brauche keinen Pfarrer. Ich mag keinen Pfarrer an meinem Grab.“ Ich staunte. So eine klare Willenserklärung hatte ich von der alten Frau nicht erwartet. Frauen, so glaubte man allgemein, seien eher treue Mitglieder ihrer Kirche und religiöser eingestimmt als Männer. Ihre lapidare Antwort, „tapfer sterben“ zu wollen, erschien mir wie ein in Stein gemeißelter Vorsatz und Protest zugleich gegen das Pastoren- und Sonntagschristentum. Sie starb im Alter von 89 Jahren an einem Gehirnschlag. Ob ihr Wille respektiert wurde, weiß ich nicht. Ich hatte zu dieser Zeit mein Elternhaus bereits verlassen und habe auch an ihrer Beerdigung nicht teilgenommen. Später hätte mich interessiert, was der Grund für ihre energische Abwehr kirchlichen Beistandes und religiös-konfessioneller Rituale gewesen war.

Chapeau Tante Mariechen! Ihre Antwort wurde später zu einer meiner Maximen.

Dank Tante Mariechen? Das wäre eine Verniedlichung meiner Maxime. Noch zu ihren Lebzeiten war ich zweimal direkt mit Sterben und Tod konfrontiert worden, im Jahr 1950, als mein Großvater Mintzel starb, und 1954, als mein Bruder Hein sich das Leben nahm (Blog-Kapitel 10). In dieser Zeit war ich, obschon völlig undogmatisch, noch religiös empfindsam gewesen. Ich war noch von einem naiven Gottesglauben beseelt gewesen und hatte ernsthaft gefragt, ob es ein Leben nach dem Tod gäbe. Ich hatte nachts gehört, wie mein verstorbener Großvater durch die Gänge der Wohnung schlurfte. Ich war sicher gewesen, dass er an meiner Zimmertüre vorbeiging. Mein Bruder Hein war mir viele Male in meinen Träumen erschienen. (Blog-Kapitel 10 und 50). Er war mir so greifbar nahegekommen, dass ich ihn für noch existent hätte halten konnte (Blog-Kapitel 50). Numinoses Fühlen und Denken hatten mich bis weit in die 1950er Jahre hinein manchmal schauern lassen. Mir hatte das wissenschaftliche Wissen gefehlt, die Erkenntnisse der Psychologie, der Gehirnforschung, der natur- und kulturwissenschaftlichen Anthropologie und anderer Fächer, um rationale Antworten auf numinose Anwandlungen und Fragestellungen geben zu können. Ich hatte mich quasi auf einer Zwischenstation zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Religion und Säkularismus bewegt. Das sollte sich erst mit meinem Universitätsstudium ändern. Wie meine geschilderten Begegnungen mit dem Tod bezeugen, veränderte sich mit den Jahren mein Verhältnis zum Geschehen um Sterben und Tod. Stoische Gelassenheit wurde zu einer Grundhaltung.

„Was ich noch sagen wollte…“

Wie es so meine Art als Wissenschaftler und Chronist der Familie war, „protokollierte“ ich nach dem Ableben meiner Mutter ihre letzten Tage, ihre körperliche und geistige Verfassung, einzelne Vorgänge wie letzte Besuche und Gespräche, und insbesondere die Sterbestunden und den Eintritt des Todes. Im Folgenden handelt es sich um eine komprimierte Zusammenfassung meiner Aufzeichnungen.

Meine Mutter, eine von Grund auf religiös eingestimmte Frau, verlangte in den letzten Monaten und Wochen nicht nach einem geistlichen Beistand. Ihr Sterben ereignete sich außerhalb des kirchlich-religiösen Raumes. Was immer sie gedacht, empfunden oder geglaubt haben mochte, sie hatte niemals ausdrücklich um ein christliches Begräbnis gebeten. Jedoch nach christlich-traditioneller Art und evangelischem Ritus beigesetzt zu werden, war für sie selbstverständlich. Und sie wollte, was sie wiederholt als einen festen Wunsch geäußert hatte, nicht eingeäschert werden. Davor hatte sie eine untergründige Angst, die vermutlich aus dem überkommenen leiblichen Auferstehungsglauben herrührte. Von den protestantischen Kirchenliedern waren es zwei gewesen, die sie besonders mochte und an hohen kirchlichen Feiertagen mit religiöser Innigkeit mitsang: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“. Mein Bruder Kurt (1941–2016) hatte dafür gesorgt, dass unsere Mutter kurz vor ihrem Tod in einem Würzburger Pflegealtersheim einen Platz erhalten hatte. Sie lebte dort nur noch vierzehn Tage. Meine Mutter wusste, dass ihr Lebensende gekommen war, sie hatte sich damit abgefunden und wartete gefasst auf ihr Ende. Sie wollte sterben und verweigerte am Schluss die Nahrungsaufnahme. Am 5. März 1994 endete ihr Leben.

Inge Lu und ich hatten sie am Abend des Vortages ein letztes Mal besucht und mit ihr gesprochen. Wir hatten Fotografien mitgebracht von den Dingen, die sie so sehr geliebt hatte: Ihre alte Nussbaumkommode, ein Glasschränkchen mit Porzellan, eine antike Vitrine und andere Antiquitäten. Über ihr Gesicht war der Anflug eines Lächelns geglitten. Mit einem wehmütigen Blick auf die Bilder hatte sie Abschied von ihren „Preziosen“ genommen. „Das waren schöne Sachen“, hatte sie geflüstert, und am Ende mit kaum mehr hörbarer Stimme die Worte gehaucht: „Was ich noch sagen wollte…“  Der Satz brach ab, sie blickte uns unverwandt an und schwieg. Sie schien irgendwo den verlorenen Einfall zu suchen, richtete dann ihren Blick auf mich, er kam aus einer für mich nicht fassbaren Tiefe. Von weit her schien sie mich anzusehen, sie war anscheinend schon weit weg. Ich sah in ihrem Gesicht keine Anzeichen von Todesangst, nur Gefasstheit und Bereitschaft zum Sterben. Es war ihr wichtig gewesen, ihren Nachlass an schönen Dingen in guten Händen zu wissen. Sie hatte darin offenbar eine kleine Garantie gesehen, in Erinnerung zu bleiben und in den Dingen fortzuleben. Als wir gingen, verabschiedete sie sich stumm mit einem verlorenen Blick, hob leicht ihren Arm und winkte uns einen Gruß zu.

Es sollte ihr letzter sein. Meine Mutter starb tags darauf am Abend des 5. März.


Käthe Mintzel, geb. Pöller, 1913–1994

Als Inge Lu und ich benachrichtigt wurden, dass meine Mutter im Sterben liege, war es schon zu spät, sie noch einmal bei vollem Bewusstsein anzutreffen. Sie war bereits ins Koma gefallen. Das Pflegepersonal hatte, als die letzte Sterbephase eingesetzt hatte, auf einem Tisch eine Kerze angezündet und ein Kreuz dazugelegt. Niemand von uns wäre allerdings auf die Idee gekommen, ein Gebet zu sprechen, jedenfalls kam aus keinem Munde eine Anregung dazu. Wir traten ans Bett und beobachteten den Fortgang des Sterbeprozesses. Die Augen, die bereits gebrochen waren, bewegten sich unruhig hin und her, als suchten sie nach einem letzten Blickkontakt. Die Pupillen schienen wie von einer Mattscheibe unterlegt zu sein. Sie sah uns nicht mehr. Das Pflegepersonal hatte das Gerät, das ihr das Atmen erleichtern sollte, abgenommen. Meine Mutter atmete schwer und stoßweise, was allmählich schwächer wurde. Ich setzte mich an ihr Bett und nahm ihre schon leblose Hand in meine Hände, um sie zu beruhigen und ihr das Gefühl zu geben, dass wir bei ihr waren. Ich streichelte ihre Wangen, strich sanft über ihre Stirn, küsste sie und sprach mit ihr leise ein paar Worte. Es schien anfangs, als hörte sie mich noch. Ein ungeheuer tiefer Ernst lag auf diesem Moment. Ich notierte: „Am Spätnachmittag hatte auf der Westseite des Hauses der Raum im matten Licht gestanden. Kalendarischer Sonnenuntergang 18.09 Uhr. Draußen ein winterblauer Abendhimmel, durchzogen von dunklen Wolkenstreifen. Der Strahl der untergehenden Sonne traf ins Innere des Raumes (…). Im Gelände vor dem Zimmer standen Büsche und Bäume. Eine Meise flog zu einem Futterhäuschen. Im Raum der leiser werdende Atem der Sterbenden. Beklemmende Stille im Familienkreis. Unsere jüngste Tochter, Caroline, die an diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war, stahl sich, überwältigt von ihren Gefühlen, leise aus dem Zimmer. Abendhimmel, Sonnenuntergang, letztes Licht des Tages, ein verlöschendes Leben. Kaum war die Sonne hinter dem Horizont versunken, starb Mama ruhig und friedlich um 18.04 Uhr.“

„Du warst tapfer, Mutter“

Wir Geschwister waren tief beeindruckt, wie gefasst, klar und ergeben unsere Mutter ihrem Tod entgegengegangen war. Mein Bruder Kurt sagte zu ihr, als der Tod schon eingetreten war: „Du warst tapfer, Mutter! Du hast Dich tapfer durchs Leben geschlagen.“ Und weinte. Unsere Mutter hatte in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein entbehrungsreiches Leben durchgestanden, mit äußerst knappen Mitteln auskommen, Demütigungen ertragen und häusliche  Gewalt aushalten müssen. Die schlimmen Zeiten hatten an ihren Kräften gezehrt. Sie hatte im Haushalt unter engen Raumverhältnissen unseren Großvater und zwei alte Tanten mitversorgt. Erst seit den 1960er Jahren hatte sie in einer relativ entspannten Familiensituation zu sich kommen und bisher unterdrückte Neigungen entfalten können. Mit großem Vergnügen war sie in den 1970er Jahren bei ihren Besuchen in Berlin stundenlang im Bayerischen Viertel und in den Straßen rund um den Kudamm in Antiquitätenläden auf Schnäppchen-Jagd gegangen. Meiner Mutter war eigentlich eine Frohnatur mit in die Wiege gegeben worden, gesellige Lebensfreude und Verspieltheit. War sie bei schönem Wetter ausgegangen, hatte sie nach Art prominenter Filmdiven stets einen ihrer breitkrempigen Hüte getragen. Sie hatte ihren Hut, worüber ich mich geärgert hatte, auch im Kino nicht abgesetzt, so dass Personen in den Reihen hinter ihr die Sicht auf die Leinwand genommen war. Bei Regenwetter hatten ihr ein halbes Dutzend alter, plüschiger Damenschirme an der Tür zur Auswahl gestanden. An Zimmerwänden hatten goldgerahmte Modebilder gehangen, kolorierte Reproduktionen, die vergangenen Damenmoden zeigten. Ihre Lust am „Kostümieren“ hatte sogar ihre Enkelinnen amüsiert. Besuchten wir Großmutter Mintzel, hatten sie Spaß daran, in Omas „Requisiten“ aufzutreten.

Meine Mutter hatte gern Freunde und Bekannte um sich geschart und am Nachmittag die Türe für Besucher offengehalten. Sie hatte mit hellem Lachen und heiterem Plaudern ihre Gäste so manchen Kummer vergessen lassen. Diese relativ unbeschwerte Lebensphase war in den 1980er Jahren zu Ende gegangen. Sie war mit der Versorgung und Pflege meines Vaters überfordert gewesen, der 1986 in einem Rotkreuzheim einsam gestorben war. Eine äußerst schmerzliche Arthritis und Altersgebrechen hatten sie selbst zu einem Pflegefall werden lassen.

Meinem Bruder Kurt, der mit seiner Familie in der Nähe gewohnt hatte, war die Rolle des Helfers und Pflegers zugefallen. Er hatte sich in rührender Weise um unsere Mutter gekümmert und seine Betreuung als selbstverständliche Sohnespflicht wörtlich so begründet: „Als wir Babys waren, hat unsere Mutter unsere Popos abgewischt und die Windeln gewaschen. Jetzt, wo sie alt und hilflos ist, wische halt ich ihren Po ab.“

Kurt war der vom Leid geprüfte Vater gewesen, dessen Sohn Christian zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern am 26. Dezember 2004 vom Tsunami in den Tod gerissen wurde (Blog-Kapitel 36 und 37). Seine jüngste Enkelin, Jule Mintzel (2001-2004), wurde bis heute nicht gefunden. Sterben und Tod als geophysikalisches Zufallsereignis! Sinnfragen drängten sich auf. Kurt zerbrach seelisch an dem schauderhaften, sinnlosen Verlust. Er wollte, wie er später einmal sagte, zu seinen Kindern gehen, deren Urnen in Nürnberg auf dem Sankt Johannisfriedhof im Familiengrab Mintzel 2005 beigesetzt wurden.

Ich war bei aller Trauer und Bedrücktheit froh, dass ich meiner Mutter in ihren Sterbestunden zur Seite stehen konnte. Ich war ihr erster und ältester Sohn. Sie hatte mich liebevoll und geduldig aufgezogen, dabei hatte ich ihr viel Kummer bereitet. Sie hatte große Ängste ausgestanden, als ich in den ersten Nachkriegsjahren zu einem notorischen Schulschwänzer und Ausreißer geworden war (Blog-Kapitel 6 und 9). Ich hatte ihr wiederholt übel mitgespielt. Später, nachdem ich zu beruflichen Ehren gekommen war, hatte ich mir zu wenig Zeit für ihre Lebensfragen genommen, ihre Gebrechlichkeit nicht ernst genug eingeschätzt und ihr nicht beigestanden, als sie meine Hilfe gebraucht hätte. Ich kann nicht mehr gutmachen, was ich ihr an Sorgen bereitet und mit meinem Unverständnis angetan habe. Der Tod macht alles endgültig.

Ein Sträußchen verblichener Kunstblumen für das Reich des Todes

Eine Krankenschwester kam herein, und ich band mit ihrer Hilfe das Kinn hoch. Im Beisein von Kurt und Inge Lu zog ich meiner Mutter behutsam einen schmalen silbernen Ring vom Ringfinger und nahm ihn an mich. Inge Lu gab ihr einen kleinen Strauß Kunstblumen, der irgendwo im Zimmer gestanden und aus Mutters Wohnung gestammt hatte, in die Hände und legte einen kleinen Engel dazu. Der Engel hatte meiner Mutter viele Jahre als Weihnachtsschmuck gedient – kleine, an sich wertlose, aber emotional hoch besetzte Dinge, die nun ihren letzten Sinn und Zweck erhielten. Sie sollten meine Mutter ins Grab begleiten. Es war eine spontane Ehrenbezeugung wie sie schon vor vielen Jahrtausenden gepflegt worden war, dem Toten Dinge mit hinüberzugeben in die ewige Vergessenheit. Zwei Pflegeschwestern und ich schoben das fahrbare Totenbett aus dem Zimmer in einen anderen Raum hinein, wo die Verstorbenen verbleiben bis sie eingesargt und abgeholt werden. Inge Lu und Kurt gingen hinterher. Wir wurden gebeten, den Raum für einen Augenblick zu verlassen. Mama wurde in eine Art „Gefriertruhe“ [eine Art Kühlbox – A. M.] gelegt und der Plexiglasdeckel geschlossen. Als wir noch einmal den Raum betreten durften, bemerkte ich, dass noch eine zweite „Gefriertruhe“ im Raum stand, in der eine andere Tote lag. Diese hatte runde, weiße Watteschscheibchen auf ihren Augenlidern, die im dämmerigen Licht des Raumes wie gespenstisch-starr aufgerissene Augen wirkten.  Meiner Mutter waren ebenfalls solche Scheibchen aufgelegt worden. Ich kenne nicht die Bedeutung dieser Vorkehrung. Die Pflegeschwestern hatten Inge Lus Sträußchen verblichener Kunstblumen in die gefalteten Hände gelegt und den kleinen Weihnachtsengel dazu gegeben. Wir warfen einen letzten, wehmütigen Blick auf unsere Mutter und verließen den Raum. Die Schwestern schlossen die Flügeltüren zum dunklen Reich des Todes.

Meine Mutter wurde, wie sie es gewünscht hatte, auf dem Nürnberger St. Johannisfriedhof kirchlich begraben. Ich gab dem Pfarrer für seine Aussegnungspredigt eine Lebensbeschreibung zur Hand. Als die Friedhofangestellten den Sarg an Gurten ins Grab hinabsenkten, entglitt einem der Männer für einen Moment der Gurt. Der Sarg geriet in eine Schieflage und drohte zu kippen. So wurde meine Mutter, wie oftmals in ihrem Leben, selbst noch im Tod durchgeschüttelt.

Ganz anders verstarb, um es hier kurz einzufügen, 1999 Inge Lus Mutter, Luise Schaltenbrand (1898–1999), im Alter von 101 Jahren. „Das Sterben ist so schwer“, sagte sie in ihren letzten Lebenstagen und stemmte sich seufzend und röchelnd gegen den Tod. Sie hatte eine ungewöhnlich zähe Vitalität und wollte nicht sterben. Im Methusalem-Alter hatte sie gewitzelt, der Tod habe vergessen sie abzuholen, und als er dann kam, sträubte sie sich mitzugehen. Inge Lu ließ mich – sie war in Würzburg, ich in Passau – an dem Geschehen telefonisch teilnehmen. Erst ganz am Schluss gab Inge Lus Mutter mit zwei Stoßseufzern auf. Am 5. Februar 1999 wurde die Urne nachmittags um 15.00 Uhr bei stürmischen Wetter beigesetzt. Ein Orkan zog über Unterfranken hinweg in Richtung Südostbayern. Um 15.19 Uhr erhellte ein Blitzstrahl Passau. Darauf folgte ein heftig knallender Donnerschlag. Es war, als wäre meine Schwiegermutter aus der Urne gefahren, um sich mit Blitz und Donner noch extra von mir zu verabschieden. Ich hatte mit ihr so manchen Strauß ausgefochten. Das gleichzeitige Naturschauspiel fand ich einer besonderen Notiz Wert (Notizen & Skizzen, Band 6), obschon mir eine magische Weltsicht fremd ist. Knall und Fall aus dem Leben zu scheiden, wäre mir lieber als ein tagelanges qualvolles Ringen mit dem Tod. Das möge mir erspart bleiben.

„Wir alle sind Sternenstaub“

Für alle diejenigen, die nicht an ein Leben nach dem Tod und an die verheißene Auferstehung glauben, halten die Astrophysik und moderne Kosmologie eine griffige und elegante Formel und in gewisser Weise eine schöne Tröstung bereit: „Wir alle bestehen aus Sternenstaub.“ Der Körper des Menschen besteht im wahrsten Sinne des Wortes zur Gänze aus Sternenstaub, der aus der Asche explodierender Sterne stammt. Das Universum steht uns doch näher, als unser irdischer Alltag vermuten lässt (Harald Lesch). In lokalen Verdichtungen unvorstellbar riesiger Sternenstaubnebel sind vor etwa fünf Milliarden Jahren auch unsere Sonne und ihre Planeten geboren worden. Sämtliche chemische Elemente sind in Sternen durch Kernfusion aus Wasserstoff und Helium entstanden. Der menschliche Körper besteht zu fast 100 Prozent aus den gleichen chemischen Elementen, wie sie in der Materie der Sterne vorkommen. Alle Objekte unseres Sonnensystems und somit jedes Lebewesen unserer Erde bestehen aus Atomen aus dem Kosmos. Das Eisen in unseren Blutzellen, der Sauerstoff in der Luft, die wir einatmen, der Kohlenstoff und Stickstoff in unserem Gewebe und das Kalzium in unseren Knochen haben ihren Ursprung in zahlreichen Sonnen. Es gäbe uns nicht, wenn sich nicht vor Milliarden von Jahren Sonnen zu Supernovae aufgebläht hätten und explodiert wären. Kraft neuester Erkenntnisse der Astrophysik und Kosmologie werden uns auf die großen Lebensfragen alternative Erklärungen geboten, die unseren modernen Bedürfnissen nach einer aufgeklärten Weltsicht mehr entsprechen als die alten Schöpfungsmythen und heilsgeschichtlichen Verheißungen. Die moderne astronomische Forschung geht davon aus, dass jedes Atom unseres Körpers im feurigen Kern eines Sterns entstanden ist. Die geradezu poetische Formulierung, wir seien „Sternenkinder“, erleichtert es uns, fast heiter zu sagen, dass unser menschliches Dasein, Geborenwerden, Wachsen, Sterben und Tod einer kosmischen Gesetzlichkeit folgen. Sternenleben und stellare Zyklen und irdisches Leben und seine Zyklen stehen in einem unaufhebbaren Zusammenhang.  Die poetische Formulierung zaubert uns zurück in unseren kosmischen Ursprung. Ich muss gestehen, dass diese Vorstellung bei mir eine stoische Gelassenheit bestärkt. Manche Naturwissenschaftler setzen der astronomischen und astrophysikalischen Sternenstaub-These vorsichtig ein „im weitesten Sinne“ hinzu, um die Ursprungsthese nicht sprachlich ganz zu verniedlichen. Der prominente britische Astronom und Astrophysiker Martin Rees (http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Rees – abgerufen am 22.02.2018), der seit 1995 das prestigereiche Amt des „Astronomer Royal“ innehatte und Präsident der ältesten Gelehrtengesellschaft der Welt war, der Royal Society (2005–2010), nahm in einem Interview der Formel ihren poetisch-romantischen Nimbus, indem er sie negativ umformulierte: Wir könnten uns auch als „stellaren Atommüll“ bezeichnen (http://www.zeit.de/2008/31/Klein-31 – abgerufen am 07.02.2018). Mit unserem Sterben und unserem Tod zerfallen wir in unsere atomaren und molekularen Bestandteile und kehren als solche in den kosmischen Kreislauf zurück.

Was aber geschieht mit der Person Alf Mintzel, mit meinem „Ich“? Es zerfällt ebenso wie sein materielles Substrat. Was auf der Ebene der kulturellen und individuellen Evolution von mir bleibt, ist der Anteil und Niederschlag meines kulturellen Daseins und Wirkens, der Meme, wie gering sie auch immer sein mögen.

Also: Tapfer sterben! Kein Sträuben, kein Hadern und Aufbegehren, kein Jammern und Klagen! Keine theologischen Placebos! Gelassenheit.

51. Wahre Geschichten des träumenden Gehirns

Traumerlebnisse

Ich, ein noch jugendlicher Mann, besuchte meine Schwiegereltern, Lulu und Georges Schaltenbrand. Beide wohnten in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt. War es in Hannover? Oder in Berlin? Wir saßen zusammen in ihrem Schlafzimmer, das mit ein paar Stühlen wohnlich eingerichtet war. Ich hatte eine Doktorarbeit mitgebracht und daraus vorgelesen. Lulu verwickelte mich, wie sie das oft tat, in ein Gespräch. Sie wollte hören, wie ich die Arbeit beurteile.

„Was hältst du davon?“

Ich weiche aus und antworte nicht direkt.

„Es handelt sich um ein biografisches Werk, in dem der Werdegang und die wissenschaftliche Leistung eines mir gut bekannten Kollegen abgehandelt werden.“

Lulu: „Ist die Dissertation interessant?“

Über unserem Gespräch wird es spät am Abend. Mein Schwiegervater will zu Bett gehen und beginnt sich auszuziehen. Bevor ich gehe, frage ich ihn, ob er noch Doktorarbeiten annehme und betreue. Der alte Emeritus, eine weithin bekannte Koryphäe seines Faches, lächelt müde und gibt zu verstehen, dass er damit aufgehört habe. Ich entschuldige mich, so lange geblieben zu sein, packe die Dissertation und einiges andere in meinen Tragebeutel, verschließe sorgfältig den Sack, hänge ihn mit einem Gurt über meine Schulter, verabschiede mich und gehe aus dem Raum. Durch einen engen Vorraum verlasse ich etwa um 23 Uhr die Wohnung.

Draußen ist es dunkel. Die Straßenlampen werfen im Außenbezirk der Großstadt einen fahlen Lichtstrahl auf Straßen und Wege. Ich gelange im Universitätsviertel zu einer schummerigen Studentenkneipe, in der ein paar Studenten sitzen, und nehme an einem Tisch Platz. Ich spreche am Tisch einen Studenten an:

„Ich habe die Orientierung verloren. Ich weiß nicht, in welcher Stadt und wo genau in der Stadt ich mich befinde. Können Sie mir Auskunft geben?“

Der angesprochene Student sieht mich zweifelnd an und antwortet:

„Sie haben die Orientierung verloren? Das glaube ich Ihnen nicht!  Sie sehen so fit und präsent aus, Sie wissen doch genau, was Sie tun und wo Sie sind. Ich nehme Ihnen nicht ab, orientierungslos zu sein.“

Und er argwöhnt: “Sie machen doch ein philosophisches Experiment!? Da mache ich nicht mit.“

Er lässt sich auf meine Bitte nicht ein, mir zu helfen und Auskünfte zu geben. Er wolle nicht mein Proband sein. Auch Studenten an Nebentischen winken ab. Daraufhin stehe ich auf und gehe im Lokal zu einem Zigarettenautomaten. Mit meinem letzten Kleingeld ziehe ich eine Packung Zigaretten aus dem Automaten und verlasse, auf diese Weise mittellos geworden, das Lokal. Suchend laufe ich in den nächtlichen Straßen umher, immer mit der Frage im Kopf, wo befinde ich mich und welche Richtung muss ich einschlagen, um mein Ziel zu erreichen? Welches?

Nach einer Weile betrete ich das Werksgelände einer Firma. Im Büroraum sitzt ein älterer, weißhaariger Herr in blauer Monteurkleidung. Er trägt einen Dreitagebart und betrachtet mich neugierig. Ich bitte ihn, wie vorher den Studenten, mir zu sagen, wo ich mich befände, in welcher Stadt und wo genau in der Stadt. Ich hätte die Orientierung verloren, bräuchte dringend Hilfe. Auch er will mir keine Auskunft geben. Auch er scheint mir nicht zu glauben, dass ich nicht wüsste, wo ich mich befände.

Ich wandere weiter durch die Stadt, irre in Straßen umher und suche nach Ortsangaben, die mich aufklären könnten, in welcher Richtung ich wohin gelangen könnte. Straßen und Gassen sind in ein graues Dämmerlicht getaucht.

Der Morgen bricht an. Ich stoße auf einen kleinen Platz, auf dem eine Reihe Verkaufsstände für Haushaltswaren auf den Tag warten. Noch ist niemand unterwegs. Auf dem Platz heben sich am Boden mehrere flache rechteckige Objekte hell vom Pflaster ab. Sie bilden insgesamt ein kleines Quadrat, das etwa den Umfang eines normalen Kopfkissens hat. Eine Frau läuft über den Platz, sie kommt auf mich zu und legt sich bei den Objekten nieder, die sie als Kopfstützen benutzt. Ich sage ihr, das seien meine Objekte, sie solle vorsichtig mit ihnen umgehen. Gestalt und Aussehen der Frau bleiben vage, sie ist einfach gekleidet. Auch sie will oder kann auf meine Frage, wo ich sei, anscheinend keine Antwort geben. Ich gehe weiter.

Den Gedanken, mit der U-Bahn oder S-Bahn zu fahren, lasse ich wieder fallen. Ich hatte mein restliches Geld für eine schädliche Ware ausgegeben und war hierdurch völlig mittellos geworden. Mir fehlt das Geld für ein Ticket, also die Möglichkeit, schnell irgendwohin zu kommen. In meiner Orientierungs- und Ratlosigkeit fällt mir ein, eine Polizeistation aufzusuchen, um den wachhabenden Polizisten meine Lage zu schildern und um Fahrgeld zu bitten. Die müssten mir doch von Amts wegen helfen. Sie seien zur Auskunft und Hilfe verpflichtet. Irgendetwas bringt mich jedoch von dem Gedanken ab. Ich wandere weiter durch Stadtteile, in denen halbzerstörte und baufällige Häuserzeilen stehen, an alten, heruntergekommenen Bürgerhäusern vorbei, dazwischen stehen repräsentative Gebäude. Doch bleibt weiterhin ungewiss, in welcher Stadt ich mich aufhalte und wohin ich mich wenden solle. Da ich kein Geld habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß weiter durch die Straßen zu irren.

Am Ende erreiche ich einen Punkt, von dem aus ich einen Panoramablick auf die Stadt werfen kann. Ich sehe über ein Häusermeer hinweg und entdecke in der Ferne ein hohes Gebäude, das ähnlich wie der Berliner „Europa-Center“ über den Dächern herausragt. Ich habe einen Orientierungspunkt gefunden, der mir die Richtung zeigt, in die ich gehen soll. Ich muss sie um 180 Grad ändern und auf das Center zulaufen. Da fällt mir ein, dass dort in der Nähe die Kufsteinerstraße liegt, in der das befreundete Arztehepaar Antje und Friedrich W. wohnt. Sie werden mir sicher für die Rückreise Geld leihen und die Gelegenheit für ein Telefongespräch mit Inge Lu bieten. Ich werde Inge Lu beruhigen und ihr sagen, dass ich nach Hause fahren kann. In dem Moment habe ich meine volle Orientierung und Zielgewissheit zurückgewonnen.

Deutungen und Wahrheitsgehalte

Diese Erlebnisse träumte ich in der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 2018, also einen Tag, nachdem ich mein 50. Blog-Kapitel endgültig abgeschlossen hatte. Ich schrieb den Traum vor dem Frühstück sofort nieder, um den Ablauf und möglichst viele Details festhalten zu können. Es war einer der luziden Träume, die auf einer anderen, einer zweiten Bewusstseinsebene bildhafte Aufschlüsse vermitteln und so Antworten auf existenzielle Fragen geben. Im Traum trete ich an fünf verschiedenen (Stand-) Orten mit verschiedene Personen in einen Dialog: Mit meinen Schwiegereltern in deren Schlafzimmer, in der Studentenkneipe mit einem Studenten, auf einem Werksgelände mit einem Monteur, auf einem kleinen Platz mit einer einfachen Frau  und schließlich in spe – im Sinne einer zu erwartenden Hilfe – mit dem befreundeten Arztehepaar W. Ich sehe und erlebe mich als eine orientierungslose Person, dabei bleibt allerdings ungewiss, ob es sich um eine von mir nur vorgegebene oder eine tatsächliche Orientierungs- und Hilflosigkeit handelt. Die drei Personen, die ich um Auskunft bitte, um dahin zu kommen, wohin ich wolle oder müsse, trauen meiner Aussage nicht, ich sei orientierungs- und hilflos. Ich hinterlasse bei ihnen jedenfalls einen gegenteiligen Eindruck. Auch „Ordnungshüter“, Polizisten, kommen in Betracht, sie werden aber von mir als potenzielle Helfer nicht in Anspruch genommen.

Einen Schlüssel für die Erschließung der Traumbotschaft geben die Anfangs- und Ausgangssituation im Traum, mein Besuch bei den Schwiegereltern und das Gespräch in deren Schlafzimmer. Ich halte eine Dissertation in den Händen, welche „die Biografie eines mir gut bekannten Wissenschaftlers“ zum Gegenstand hat. Ich nehme an, ich selbst bin es, über den gesprochen wird. Ich lenke das Gespräch auf meinen autobiografischen Blog. Meine längst verstorbene Schwiegermutter (gestorben 1999) fragt mich, ob die Dissertation, also mein Blog, interessant sei. Vom Traum synchronisierter Genrationswechsel. Jetzt bin ich ein alter Emeritus, der keine Doktorarbeiten mehr betreut und sich zur Ruhe legen will. Mein Schwiegervater starb schon 1979 im Alter von fast 82 Jahren. Im Gespräch habe ich die Toten ins Leben zurückgerufen, für einen Augenblick vergegenwärtigt und sie mit meinem Blog bekannt gemacht. Ich habe vor ihren Augen darin geblättert und auf einer der ersten Seiten, so meine ich mich vage erinnern zu können, mein Geburtsdatum gelesen, den 18. April 1935. Kurz vor Mitternacht habe ich meinen Blog und andere Sachen in einen Tragebeutel gepackt und die Wohnung verlassen. Ich bin in die Nacht hinausgegangen.

Draußen, in der nächtlichen Stadt, finde ich mich nicht zurecht. Es geht um eine genaue Orts- und Wegbestimmung. Keine der Personen, die ich um Auskunft und Hilfe bitte, kann oder will dies tun. Nachdem der Student meine Bitte entschieden abgelehnt hat, weil er dahinter ein philosophisches Experiment vermutet, ziehe ich aus einem Zigarettenautomaten ein Droge, Tabak. Ein Rückfall! (Ich habe schon 1966 endgültig zu rauchen aufgehört!)   Sicher scheint nur eines zu sein: Ich bin in einer Universitätsstadt. Auf dem Werksgelände, das ich betrete, scheinen Metallwaren produziert zu werden. Am nächsten Ort, auf dem kleinen Platz, liegen meine Objekte. Sie sind aus Stein. Auf ihnen lässt sich schwerlich ausruhen. Sie eignen sich nicht als Kopfkissen, genügen aber offensichtlich der Frau als Kopfstütze. Wer ist sie? Tritt sie im Sinne von C.G.Jung (1875-1961) als ein unbewusster Komplex meines Ich-Bewusstseins auf, als Anima? Repräsentiert sie meine Objektkunst? Ich wandere weiter durch die Stadt.

Der Morgen zieht auf, der Tag bricht an. Ich gelange zu einem (erhöhten) Standort, von dem aus ein weiter Panoramablick eine Orts- und Wegbestimmung ermöglicht. „Mir dämmert“: Das Europa-Center steht in Berlin. Von der Peripherie her gelange ich ins Zentrum. Europa ist meine geistige und psychisch-mentale Mitte.

Die Botschaft meines Traumes lautet etwa:  Keiner kann oder will dir sagen („vorschreiben“), wo du dich existenziell befindest. Du musst selber den Standort finden, von dem aus du einen Überblick (über das Große und Ganze) gewinnst. Dann wird dir auch geholfen werden. Wahrscheinlich sind alle Personen ein Teil von mir und an meiner Selbstfindung beteiligt. Es sind Begegnungen mit meiner innerlichen Wirklichkeit. Das träumende Gehirn ist ein faszinierendes Organ, das mit einer frappierenden Logik sowie mit Bildern und Bildsequenzen unsere Befindlichkeiten vorführt und Wege weist. Es erzählt uns so viel über unsere Ängste, Hoffnungen, Wünsche, Fähigkeiten, Unfähigkeiten und Beziehungen. Das träumende Gehirn nimmt in meinem Blog einen festen Platz ein.

50. Träume, Dramen, Traumata

Durch das Reich der Träume zur Wirklichkeit

„Wer wagt, durch das Reich der Träume zu schreiten, gelangt zur Wirklichkeit“ (E.T.A. Hoffmann, Die Bergwerke zu Falun).

 

Meinen Träumen in eigenes Blog-Kapitel einzuräumen und sehr persönliche Träume zu veröffentlichen, wird vermutlich Kritik hervorrufen. In alle Welt hinauszutragen, was ich in meinem Leben irgendwann einmal geträumt habe, so könnte eingewandt werden, sei sogar eine geradezu peinliche Selbstentblößung, die ich mir hätte ersparen sollen. Zudem sei es doch zweifelhaft, ob persönliche Traumerlebnisse und ihre Deutung andere überhaupt interessierten. Träume gehörten privatissime in die Praxis von Psychoanalytikern und Therapeuten. Ich sehe das anders und meine, mich dabei in guter Gesellschaft zu befinden.

Träume und Traumdeutungen haben in der Kulturgeschichte des Menschen eine lange Tradition. Wir finden sie in den großen Erzählungen der Menschheitsgeschichte, in denen sie immer einen öffentlichen Charakter gewonnen haben. Von der Antike bis zur Gegenwart wird Träumen eine besondere Bedeutung zugemessen. Ich erinnere nur an die biblische Traumvision, die Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau erlebt haben soll, an die Jakobsleiter oder Himmelsleiter (Mose 27,1-46; 28,10-22). Ein anderes berühmtes kulturgeschichtliches Beispiel ist der Schmetterlingstraum des Dschuang Dsi (auch Tschuang Tse gesprochen, um 365 v.Ch.-290 v.Ch.). Traumwelten spielen in der Literaturgeschichte eine wichtige Rolle, ich denke zum Beispiel an E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke, oder an Jean Pauls atheistische „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ (siehe Blog-Kapitel 33), oder an die geheimnisvollen und fantastischen Geschichten von Edgar Allan Poe. Spätestens seit Sigmund Freuds Werk über „Die Traumdeutung“(1899) befassen sich Scharen von Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, Psychologen, medizinische Schlafforscher und Gehirnforscher mit den Phänomen des Träumens und der Funktion von Träumen im menschlichen Leben. Die Traumforschung ist heute ein weites Feld mit vielen Parzellen. Das Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ hat in seinem Heft vom Juni 2016 die Frage „Warum träumen wir?“ zum Titelthema erhoben und darin „wichtige Aufgaben des nächtlichen Kopfkinos“ aufgezeigt (6/16, S.20ff). Träume trügen zur Lebensbewältigung bei, indem sie uns auf soziale (Konflikt-)Situationen vorbereiteten und Problemlösungen simulierten. Gut ein Viertel des Lebens verbrächten wir im Traum. Das Gehirn schläft nicht. Traumerlebnisse gehören also, so könnte man Kritikern entgegenhalten, zwingend in eine Autobiografie, sonst unterschlage man  einen aufschlussreichen Teil des Lebens einer Person.

Es wäre allerdings vermessen zu glauben, ich könnte in einem Blog-Kapitel meine Träume schlüssig in Konzepte der praktischen oder theoretischen Traumforschung einordnen oder gar zu einem wissenschaftlichen Beitrag ansetzen. Das wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Was ich jedoch aus der einschlägigen Literatur entnehmen kann, ist die Tatsache, dass viele meiner Träume gar nicht so individuell und einzigartig sind, sondern allgemein übliche Traumthemen zum Inhalt haben wie zum Beispiel Versagensträume, Flugträume, Prüfungsträume, Todesträume, Sexträume, Verlustträume, Rückfallträume (Tabakrauchen, Alkoholgenuss), Gewaltträume oder, noch allgemeiner gesagt, Albträume und Lustträume. Individuell und einzigartig sind jeweils die persönlichen bildhaften und symbolischen Ausgestaltungen der Traumerlebnisse, wie besondere Örtlichkeiten, in Erscheinung tretende konkrete Personen oder Gruppen, zum Beispiel lebende Partner oder Kollegen oder verstorbene Eltern und Geschwister. Insofern bestätigen meine Träume Befunde der allgemeinen Traumforschung (Ich nenne hier nur Ann Faradays psychologischen Ratgeber „Deine Träume – Schlüssel zur Selbsterkenntnis“, 780-ISBN-3-596-23306-2; Spektrum der Wissenschaft 6/16, S. 20ff). Mein Regelbruch liegt im Folgenden vielmehr darin, meine Träume nicht zu anonymisieren. Wie anders aber sollte es in einem autobiografischen Blog möglich sein? Es sei denn, man verzichtet gänzlich darauf.

Aufgrund meiner Erfahrungen halte ich also nichts von dem alten Spruch „Träume sind Schäume“! Träume spielten in meinem Leben eine ebenso fruchtbare und existenzerhellende wie bedrückende und unheimliche Rolle. Sie führten mich in eine zweite, in eine andere Wirklichkeit hinein und bildeten stets ein wichtiges Medium der Selbstbeobachtung und Selbsterfahrung. Sie öffneten mir den Zugang zu einer zweiten Bewusstseinsebene. In einigen Blog-Kapiteln habe ich bereits darauf hingewiesen und Träume geschildert (siehe Blog-Kapitel 10, 13, 31, 48). Über Jahrzehnte hielt ich in meinen tagebuchartigen „Notizen & Skizzen“ viele Dutzende Träume fest, ohne je die Absicht gehabt zu haben, diese Niederschriften später einmal weiter zu bearbeiten und zu publizieren. Die Niederschriften hatten allein meiner Selbsterfahrung und psychisch-mentalen Selbstvergewisserung gedient. Wenn ich nun in diesem Blog-Kapitel auf meine alten Aufzeichnungen zurückgreife und aus ihnen ausführlich zitiere, belasse ich sie in der Fassung meiner Urschriften. Abgesehen von Fehlern und kleinen stilistischen Korrekturen werde ich sie nicht paraphrasieren, um so den dokumentarischen Charakter zu bewahren und ihre ursprüngliche Authentizität zu unterstreichen. Ich belasse es bei einer dokumentarischen und protokollarischen Wiedergabe. Versiertere Schriftsteller hätten daraus literarisch anspruchsvollere Erzählungen gemacht.

Panoramen meiner nächtlichen Gesichter

„Ich habe eine Reihe von Muster-Träumen, die sich wiederholen, den Fluss-Traum, Fliegen, mich in einer Stadt oder in Straßen nicht (mehr) zurechtfinden. Manche Träume stellen sich in existenziell besonders bedeutsamen Situationen ein. Sie geben mir Hinweise auf meine innere Befindlichkeit, auf bevorstehende Entscheidungen, auf Beziehungen. Auf klare, einprägsame Traumbilder habe ich immer achtgegeben. Ich horche in mich hinein, beobachte mich im Traum in unterschiedlichen Gestalten.“

(Notizen & Skizzen, Band 3, Notiz vom 3. Januar 1997)

„Flusslandschaften–Träume bilden einen bestimmten, immer wiederkehrenden Typus meiner großen klaren Träume. Sie stellen sich in der Regel in kreativen Phasen ein, während des Schreibens eines Buches oder bei der Arbeit an größeren Problemen. Ich hatte solche Flussträume auch 1996/97 zur Zeit der Abfassung meines Buches über die „Multikulturellen Gesellschaften in Europa und Nordamerika“. In den letzten Wochen befasste ich mich mit Fragen der kulturellen Evolution. Immer von neuem gehe ich diese Fragen an. Es kommt in meinem Kopf etwas in Fluss. Flussträume deuten auf Kreativität, positive Entfaltung und Gedankenfluss hin. Ich verbinde damit ein positives, hochgestimmtes Lebensgefühl. Es geht mir gut – auch wenn ich an den Begrenzungen leide.“

(Notizen & Skizzen, Band 6, Notiz vom 10. Januar 1999; siehe auch Blog-Kapitel 31)

„Begrenzungen, begrenzte Lebenszeit, begrenzte Arbeitskapazität, begrenzte Erkenntnisfähigkeit, begrenztes Talent, begrenzte Kraft, begrenzte Sexualität. (…) Mögen sich viele in ihre Begrenzungen einpassen und einfügen, sich in ihren Begrenzungen sogar wohlfühlen, ich leide darunter. Jeden Tag versuche ich gegen eine Begrenzung anzugehen und sie zu sprengen. Ich leide an meinem Unvermögen und Scheitern.“ (Notizen & Skizzen, Band 6, Notiz vom 10. Januar 1999)

Traum und Wirklichkeit

„Klar ist wiederum, dass der rational-wache, real erlebende Bewusstseinszustand nicht die einzige Bewusstseinsweise ist. Im Traum gibt es eine andere Erlebnisebene, eine andere Bewusstseinsweise. Im Traum erlebe ich mich gegenwärtig in einer vergangenen Raumzeitlichkeit beziehungsweise eine vergangene Raumzeitlichkeit wird in die Gegenwart transponiert. Vergangenheit wird nicht nur >vergegenwärtigt< sondern im Traum ganz Gegenwart. (…) Es ist immer wieder faszinierend, welche Bewusstseinsweisen im Gehirn real existieren und in welcher Weise Raum-Zeit-Verhältnisse im träumenden Gehirn hergestellt werden können. Wenn ich meine Träume der letzten Wochen und Monate typisierend ordne, ergeben sich vier unterschiedliche Wirklichkeiten des träumenden Gehirns:

(1) Klare, relativ genaue Bildsequenzen aus einer im rational-wachen Bewusstseinszustand tatsächlich erlebten Welt (gewissermaßen Realitätsabbilder),

(2) klare, relativ genaue „Kunstbilder“ (Fiktionen) und Bildsequenzen, die ich im rational-wachen Bewusstseinszustand (so) nicht erlebe (zum Beispiel meine Fahrten in einem Heißluftballon über großartige Flusslandschaften),

(3) eine Mischung aus (1) und (2); wahrscheinlich träume ich solche „Mischträume“ am häufigsten,

(4) „Bild-Muster“-Träume (zum Beispiel Fluss-Träume, Flug-Träume; Situationsmuster-Träume wie sich verirrt, verlaufen und die Orientierung verloren zu haben; Verlust–Träume, Beziehungsträume und Träume vom eigenen Tod. Ich frage mich, ob diese Träume selbst, gleich welchen Typs, im Gehirn mit anderen Bewusstseinselementen gespeichert, weiterverarbeitet und zu neuen Träumen zusammengesetzt werden.“

(Notizen & Skizzen, Band 3, 21.01.1997)

 

Darunter waren sicher auch Träume, dessen bin ich sicher, die Traumfachleute luzide Träume nennen. Sie rühren aus einer besonderen Art des Traumbewusstseins her. Ein luzider Traumzustand tritt ein, nachdem der Träumer gelernt hat, sich seiner gewöhnlichen Träume so zu bedienen, dass er Klarheit über seine Lebensprobleme gewinnt.

„Die visuelle Wiedergabe meiner Träume ist selbstverständlich eine >Rekonstruktion<, ein bildliches Erinnerungsstück. Ein Traum lässt sich ebenso wenig „abbilden“ wie die Natur in der Malerei. Es bleibt beim rekonstruierten Gesamteindruck, bei einer Moment-Skizze. Im Traum laufen die Szenen wie im Film ab, als sei es in der Wirklichkeit aufgenommen. Was ich mit Collagen und Zeichnungen festhalten will, ist der zentrale Bildeindruck und etwas von der Farb-Grundstimmung des Traumes. Es ist eine Art Traumtopografie, mit der Orte des Geschehens im Umriss oder Grundriss festgehalten werden. Das hilft mir auch Dèjá vu–Erlebnisse zu fixieren.“

(Notizen & Skizzen, Band 3).

Das berühmte Gleichnis von Dschuang Dsi

Das berühmte Gleichnis vom Traum des Dschuang Dschou, das den unentwirrbaren Widerstreit zwischen Wachsein und Traum zur Anschauung bringt. Meister Dschuang Dsi (das ist der chinesische Schriftsteller und Philosoph Dschuang Dschou) berichtet über seinen Schmetterlingstraum:

„Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmettterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.“ (Dchuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenhang/Nan Hua Dschen Ging. Aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm. Jena 1923, S. 21).

Noch bevor ich das Schmetterling-Gleichnis aus der altchinesischen Weisheitslehre gekannt hatte, träumte ich in früheren Jahren wiederholt, ich sei ein großer Maikäfer, der eben aus dem Boden gekrabbelt ist und in einer weiten blühenden Landschaft auf einem Grasfleck sitzt. Er bereitet sich auf seinen (ersten?) Flug über Wiesen und Felder vor, indem er sich eine Weile mit Luft aufpumpt, um sich flugfähig zu machen. Seine rhythmischen Pumpbewegungen befördern beim Ein- und Ausatmen die Luft durch die Tracheen in den Körper. Dabei werden an beiden Seiten des Hinterleibs die für Maikäfer typischen weißen Zacken sichtbar. Die zwei Fächerfühler bewegen sich unruhig hin und her, als nähmen sie Witterung auf, wohin der Flug führen sollte. Das alles beobachte ich im Traum aus nächster Nähe. In dem Moment, in dem ich erwache, fliegt der Maikäfer über die wunderschöne Landschaft hinfort. Bin ich gar ein Maikäfer, der einen Augenblick lang geträumt hat, er sei ein Mensch – ich? Der Maikäfer ist sich nicht bewusst, dass ich er bin. Oder bin ich ein Mensch, der geträumt hat, er sei ein Maikäfer? Im Traum bin ich beides zugleich, ein bewusst beobachtender Mensch und ein Maikäfer, der nicht wissen kann, dass er ein Mensch ist, nämlich ich. Ein bedeutsames Verwirrspiel des träumenden Gehirns! Dieses „sich/mich-im-Traum-Aufpumpen und davonfliegen/überfliegen“ spiegelte wohl meine Situation und meine Gefühle als junger Wissenschaftler wider. Es gab eine Variante dieses Traumtypus, in der ich mich, ohne mich in eine Maikäferexistenz zu verwandeln, direkt – wie ein Maikäfer –  selbst aufpumpte und abflog.

Entdeckungen in einem „Scheiß-Häuschen“ – Ein Gleichnis

„Etwa Mitte November 1994 hatte ich einen sehr klaren, aufschlussreichen Traum. Seine Bildsprache prägte sich fest in meine Erinnerung ein. Ich gehe durch einen weiten (Groß-) Stadtpark, ähnlich dem Volkspark in Berlin-Wilmersdorf. Die Rasenflächen werden von geteerten Wegen durchquert. Hohe Laubbäume mit herbstlich angebräunten Blättern säumen die Wege und überdecken in lichten Reihen den Park. Spätsommerliches Sonnenlicht flutet hell durch die Bäume. Mein Blick gleitet über die grünen, blättergesprenkelten Rasenflächen hinweg und trifft auf ein massiv gemauertes Häuschen. Dessen schmale Türen stehen offen. Das Glas der kleinen quadratischen Fenster ist noch nicht eingeschmissen. Es scheint ein altes Toiletten-Häuschen zu sein. Der kleine Raum ist weiß gekalkt. Auf den Wänden sind die üblichen Schmutzspuren von Klo-Häuschen zu sehen. Die Schmutzflecken sind aber nicht >unappetitlich<. In dem stillgelegten Klo-Raum fließt kein Wasser mehr. Verdreckte Ecken. Ein paar Bretter, irgendwo herausgerissen, versperren den Zugang.

In das Innere des Häuschens dringt heller Sonnenschein. Der Sonnenstrahl fällt durch die kleinen quadratischen Fenster schräg herein und taucht die weißgekalkten, leicht verschmutzten Wände in ein warmes Licht. Mein Blick fällt auf eine tiefe Nische, die an ihrem äußersten Ende durch ein kleines Fenster begrenzt wird. Die Nische läuft, sich verjüngend, auf die Fenstereinfassung zu. Im hinteren Bereich, nahe am Fenster, sehe ich etwa ein halbes Dutzend blaugeflügelter Schmetterlinge sitzen. Sie scheinen sich hier in die Nische zurückgezogen zu haben. Sie sitzen ruhig auf der Nischenwand und haben ihre Flügel zu spitzen Dreiecken gefaltet. Die Schmetterlinge faszinieren mich. Ich trete näher an die Nische heran, versuche die dunkelblau-exotischen Falter genau zu betrachten und zu identifizieren. Während ich sie aus der Nähe ansehe, werden es immer mehr. Am inneren Ausgang der Fensternische, ganz nahe an meinem Gesicht, werden sie alle zu großen, gespinsthaft durchsichtigen Großschmetterlingen, deren weit ausgebreitete, durchsichtige Flügel zarte blaugrünliche Muster tragen. Die Flügelflächen changieren im Sonnenlicht. Ich bin erstaunt über diese unerwartete Entdeckung und gebannt von dem seltsamen Fund in einem alten >Scheiß-Häuschen<!

In dem alten aufgelassenen >Scheiß-Häuschen< hatten die Schmetterlinge in einer Fensternische ein Refugium gefunden, in dem sie ungestört die Wärme des einfallenden Sonnenlichts genossen. Im Traum teilte ich meine Entdeckung Inge Lu mit. Ich war, wie daraus zu schließen war, nicht allein durch den Park gegangen. Die Bildersprache war klar: Selbst in einem >Scheiß-Häuschen< kannst du in einer Nische die schönsten Schmetterlinge finden.“

(Mein Schmetterlingstraum. Aus meinen Notizen & Skizzen, Band 1, Mitte November 1994)

Begegnungen und Gespräche mit Toten

„Ein merkwürdiger Traum der letzten Nacht mit selten klaren Landschaftsbildern, Situationen und Gesten.

Wir sind auf einem Wanderpfad unterwegs der durch wildes, steiniges Gebirgsgelände führt. Wir? Wir sind zu dritt, ich und mein 1954 verstorbener Bruder Hein. Wer ist der Dritte?

Wir gehen nach einem langen Anweg – oder war es eine Anfahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel? – am Fuß hoher Hänge, die mit einer Grasrinde bewachsen sind. Die Gebirgslandschaft ist in ein sattes Grasgrün getaucht, aus dem dunkle Steinbrocken herausragen. Wir sind über das steinige Gelände hinuntergestolpert, auf dem flachen Fußweg angelangt und setzen unsere Wanderung auf dem Pfad fort. Nach einer Weile gelangen wir in die Nähe einer großen Höhle, in die ein Fluss stürzt und darin verschwindet. Er fließt unterirdisch weiter und kommt wahrscheinlich irgendwo wieder ans Tageslicht. Fünfzig bis hundert Meter vor der Höhle strömt das Wasser über ein Gefälle abwärts zur Höhle. Das reißende Wasser ist gefährlich. Wer in seine Strudel gerät, wird mitgerissen und in die Höhle hineingesogen. Es gibt kein Entrinnen, so stark ist der Sog ins Innere des Berges. Ich sage zu meinen Brüdern (war der Dritte auch ein Bruder?): Gebt acht! Kommt nicht zu nahe an den Flusslauf! Überquert den Fluss nicht an dieser Stelle! Haltet euch fern! Sie befolgen wie selbstverständlich meinen Rat, vermeiden es, zu nahe an die gefährliche Stelle zu geraten und abzurutschen.

Wir wandern in sicherer Entfernung auf dem Pfad weiter. Ich lege meinen rechten Arm um die Schultern meiner Brüder, was eigentlich einen >verlängerten Arm< voraussetzt. Im Traum ist es jedenfalls möglich, meinen Bruder Hein, der rechts außen geht, mit meiner Hand zu erreichen und am Hinterkopf im Haar zu streicheln. Er sieht mich an, wir haben Blickkontakt, ich sehe ihn im Alter von etwa fünfzehn Jahren. Seine Haare haben eine dunkelbraune, fasst schwarze Farbe. Er erwidert mit einem zustimmenden Blick meine brüderlich-zärtliche Geste. Unser Blickkontakt bringt ihn mir im Traum ganz nahe, ich sehe in seine dunklen Augen. Mein Streicheln ist eine friedliche Geste, als wolle ich sagen, lass uns Vergangenes vergessen und brüderlich-friedlich auf dem Pfad weiterwandern. Wir sind an der gefährlichen Stelle, wo uns das Wasser hätte mitreißen können, vorbeigekommen.

In der Ferne taucht die Silhouette von Passau auf, wir befinden uns anscheinend auf dem Rückweg zur Stadt. Wir sind von Passau gekommen, haben wohl eine >Rundwanderung< unternommen und kehren dorthin zurück. Auf unserer >Rundwanderung< gab es auf dem gefährlichsten Teil des Weges eine Art Rückbesinnung und eine friedliche, warmherzige und verständnisvolle Friedensgeste.“

(Notizen & Skizzen, Band 49, 04.03.2012)

Der Traum blieb von mir unkommentiert; ich fügte aber eine Skizze des Landschaftsbildes und des Höhleneinganges bei.

Der Traum hat eine dramatische und traumatische Vorgeschichte – den Suizid meines Bruders Heinrich (Hein genannt), ein Ereignis, das ich im Blog-Kapitel 10 schildere.

Warnungen vor lebensgefährlichen Situationen

„Punkt 8.00 Uhr werde ich mit einem Sturmklingeln aus dem Schlaf gerissen. Ich stürme ins untere Stockwerk zum Hörapparat und frage, wer draußen steht: >Hallo!?< – >Plechinger<. Meine Sekretärin spricht mich mit lauter Stimme an und sagt, mein Telefonhörer sei nicht aufgelegt, ich könne deshalb nicht angerufen werden. Ob ich das schon bemerkt hätte? (…) Offenbar hatte ich am Sonntagabend nach Gesprächen mit meinen Brüdern vergessen, den Telefonhörer aufzulegen (…).

Ich war unsanft aus einem Albtraum geweckt worden. Ich hatte geträumt, dass über uns, über Inge Lu und mich, eine große hohe Halle, die aus Holz gebaut war, stückweise über uns einbrach. Der große Stadel lag am Rande und am Fuß eines Berghanges und stand auf grobem massereichen Steingeröll. Er war ein für Mensch, Tier und landwirtschaftliches Gerät bestimmter Raum, der von Balken, Säulen und Querbalken getragen wurde. Die Dachkonstruktion war mit breiten Brettern abgedeckt. Die Hölzer hatten eine vom Alter verwitterte dunkelbraungraue Farbe. Ich sah wie sie sich langsam Stück für Stück vom Dach ablöste, zuerst ein kleineres, aber schweres Brett, dann weitere Balken, die einen Menschen schwer verletzen konnte. Ich rief Inge Lu zu >Obacht! da kommt ein Brett herunter!< Und schon war es geschehen. Ich schaute zur Decke hoch, beobachtete das Gebälk und sah, wie es sich langsam bewegte, wie die großen Balken und Sparren langsam hangabwärts zu kippen anfingen. Steinbrocken waren bereits ins Innere eingedrungen. Balken für Balken löste sich aus der Deckenkonstruktion, sie türmten sich sperrig zu Haufen auf. Es war höchste Zeit ins Freie zu gelangen, um nicht von dem zusammenbrechenden Gebälk erdrückt und begraben zu werden. Wir versuchten zum Tor und nach draußen zu gelangen. Doch war der Weg schon durch ein Gewirr von Balken verstellt. Ich musste meine Warnungen vor herunterbrechenden Balken mehrmals wiederholen. Mit großer Wucht fielen weitere Balken ins Innere der Holzhalle und türmten sich kreuz und quer auf. Ihre Zwischenräume boten allerdings auch Schutz. Plötzlich scheinen auch Tiere im Raum gestanden zu haben. Wir kletterten zwischen Balken und Geräten hindurch zum Scheunentor, das wir mühsam erreichten. Als wir in der Nähe des Tores waren, klingelte Frau Plechinger an der Haustüre Sturm. Der Albtraum riss ab. Noch halb schlaftrunken schrieb ich den Traum nieder.“

(Aus Notizen & Skizzen, Band 9, 07.12.1999)

Meine Deutung des Traumes war damals äußerst knapp: „Die hohe, zusammenbrechende Holzhalle symbolisiert ein gefährdetes Leben. Sie fällt über mir in sich zusammen. In meinem Leben bricht etwas zusammen.“

Nachtrag 2018: Das Jahr 2000 stand unmittelbar bevor, das Jahr meiner Pensionierung. Ich bereitete mich auf meinen Abgang vor.

Träume, orientierungslos zu sein und sich nicht zurechtzufinden

„Gedächtnisverlust, Verlust der Orientierung, verzweifelte Versuche herauszufinden, wo ich mich an welchem Ort befinde und welchen Weg ich einzuschlagen habe.

Ich kam in einer Stadt an, in einer Großstadt. War es Hamburg? War es Hannover? Im Traum versuchte ich mich zu erinnern: Welche dieser Städte war es? Ich konnte es nicht herausfinden. Stadtbilder tauchten auf, die mehr für Hamburg sprachen. Doch ich war mir nicht sicher. Ich war an einer Eisenbahnstation angekommen, es könnte auch eine S-Bahnstation gewesen sein. Ich fragte einen Bahnhofsvorsteher, wann der nächste Zug ginge und in welche Richtung. Er antwortete, es ginge kein Zug mehr auf dieser Strecke. Ich lief auf der grasdurchwucherten Bahnterrasse entlang, auf der keine Schienen mehr lagen. Über dem Gras und durch das Gras der Terrasse zog eine Gleisspur. Bahnhofsbeamte riefen mir zu, ich solle das Gleis verlassen, es drohe Gefahr, wenn ein Zug käme.  Ich ging von der Terrasse herunter und lief unterhalb von ihr auf die Stadt zu.

Dort angekommen befand ich mich plötzlich in einem Universitätsgelände. Ich war in einem Gebäude gelandet, das wie eine Mensa aussah. In einem großen Saal, in dem Essen ausgegeben wurde, hielten sich viele Studenten auf. Nun versuchte ich herauszufinden, in welcher Universität ich mich befinde. An den Wandseiten des großen Saales standen Kreationen von Studenten der Kunstpädagogik, Projekte, die soziale Situationen und Arbeitsbeziehungen zeigten. In einer unteren Etage arbeiteten kleine runde Wesen an Räderwerken. Oben thronte die bessere Gesellschaft. Die runden Maschinenmännchen passten in Hohlformen, in denen das Räderwerk installiert war.

Über Gespräche versuchte ich zu ermitteln, wo ich mich befand. Ich bekam es nicht heraus und verließ den Saal. Ich irrte draußen umher, immer im Ungewissen, wo ich mich wirklich befand und wohin ich ging. Irgendwie stieß ich – an die Traumdetails kann ich mich nicht mehr erinnern – auf meine Tochter Caroline. Ich fragte sie, ob ich bei ihr übernachten könne. Aber auch sie schien an diesem Ort keine feste Bleibe zu haben. Sie kampierte irgendwo in einem Schlafsack. Meine Tochter legte sich im Schlafsack schräg an einen Abhang und stützte sich mit den Füßen an einem großen Stein ab. Ich kampierte notdürftig neben ihr. Es blieb unklar, wo das war. In der quälenden Situation des Gedächtnisverlustes und der damit einhergehenden Orientierungslosigkeit blieb meine Tochter am Ende der einzig bekannte Fixpunkt meiner Erinnerung. Im morgendlichen Frühstücksgespräch mit Inge Lu diskutieren wir eine Interpretationsmöglichkeit: meine stark reduzierten sozialen Kontakte. Caroline war vom 15.04. bis zum 20,04.1995 mit ihrer Freundin Felicitas von Imhoff in Orselina zu Besuch.“

(Traum in der Nacht vom 21. zum 22. 04.1995 in CH – Orselina. Notizen & Skizzen, Band 1)

Nachtrag vom 09.01.2017: „Ein wichtiger Bezugsort und Hinweis, der im Traum nicht namentlich genannt wurde, war die Kunstpädagogik an einer Universität. Zum Fach Kunstpädagogik an der Universität Passau hatte ich aus künstlerischem Interesse stets eine besonders enge Beziehung. Im Jahr 1995 publizierte ich meinen Objekt-Katalog, in welchem ich zu meinem 60. Geburtstag meine „Kreationen“ vorstellte. Ich könnte auf der Suche nach meinem Ort und nach meinem Weg eines der kleinen, runden Maschinenmännchen gewesen sein, die unterhalb der „besseren Gesellschaft“ (der Professoren) an Räderwerken arbeiteten. Es war die Zeit, in der ich mich theoretisch und handwerklich-praktisch intensiv mit der Objektkunst auseinandersetzte und sie als mein eigentliches Metier entdeckte. Auf dem stillgelegten Bahngleis fährt kein Zug mehr. Der Bahnhofsvorsteher (meines Faches?) warnt mich, auf dem imaginären Gleis (weiter) zu gehen. Ich solle es verlassen, sonst drohe mir Gefahr. Es könne ein Zug kommen und mich überfahren. Auch der Traum lässt mich im Stich. Ich muss selbst herausfinden, wo ich mich aufhalte und in welche Richtung ich gehen will. Schon 1959 hatte ich einmal vor der Frage und Entscheidung gestanden, ob ich nach Hamburg auf die Kunstakademie oder an eine Universität (in die Wissenschaft) gehen soll. Träume haben eine frappierende Logik!“

In der eingemauerten Stadt

„In der letzten Nacht, wie üblich gegen Morgen, suchten mich zwei Albträume heim, besonders einer versetzte mich in eine fürchterliche Situation.

Ich war wieder einmal unterwegs und lief zu Fuß durch eine alte Großstadt, die breite Straßen durchzogen. Ich befand mich anfangs wohl im Zentrum, hatte keinen Stadtplan und Handlungsplan und wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen soll, um an irgendein nicht näher bezeichnetes Ziel zu gelangen. Ich irrte umher. An den breiten Straßenalleen standen hohe alte Häuser, keine modernen Hochbauten oder gar Wolkenkratzer, doch viele Stockwerke zählende Backsteinbauten, deren rote Mauerziegeln zerbröckelt und stückweise eingefallen waren. Ich blickte über die Schuttberge eingestürzter Häuser hinweg in größere städtische Areale, wusste aber nicht, wo ich mich in der Stadt genau aufhielt und wohin ich meine Schritte lenken sollte. Ich ging aufs Geradewohl neugierig durch die Straßen dorthin, wo mir die Architektur oder der Zustand alter Gebäude besonders auffiel. Ich kam an Häuserresten vorbei, schaute in die Höhe vielstöckiger Häuserfronten, suchte nach Namensschildern langer Straßenzüge, fand mich in weiteren Arealen nicht zurecht und schritt auf gut Glück forschend weiter durch Straßen. Ich kam, über Schuttberge steigend, bis zu einem Gelände, wo es nicht mehr weiterging.  Die Stadt musste eine historische Metropole gewesen sein, die allmählich unterging. Die hohen Gebäude hatten, ohne klobig zu wirken, nahezu monumentalen Charakter. Auf den Straßen gingen im Stadtgebiet verstreut Menschen in Gruppen, die sich ganz unpersönlich zeigten. Ich hatte keinen Kontakt zu ihnen.

Dann geschah etwas, das dem Geschehen eine besondere Wende gab. Inge Lu, die anscheinend mit dem Auto unterwegs gewesen war, griff mich auf. Plötzlich saß ich neben ihr auf dem Beifahrersitz. Inge Lu lenkte das Auto in ein Haus, durchbrach eine Mauer und landete in einem garagengroßen Raum, der mit Schutt angefüllt war. Wir steckten fest. Inge Lu manövrierte vor und zurück und versuchte durch ein großes Fenster oder durch eine Maueröffnung wieder nach außen zu gelangen. Dabei kippte sie mich ungewollt, so vermutete ich, in einen anderen, rundum abgeschlossenen Stadtteil – in eine andere Welt. Der Stadtteil war von hohen Betonmauern umfasst, die mit starken Stahlträgern abgestützt waren. Es waren mächtige, unüberwindbare Mauern, die alle Menschen einschlossen, die in diesem Stadtgebiet lebten. Das ganze Areal wirkte wie ein riesengroßes Gefängnis und erwies sich als ein Kolosseum der Gewalt. Eine fundamentalistische Clique oder Sekte bestimmte despotisch, wer was zu tun hatte, zu arbeiten, zu beten, sich zu versammeln, andere anzutreiben, nach Eindringligen zu suchen und sie einzufangen. Ich ging in diesem Kolosseum aus Beton und Stahl auf einer breiten Straße an der Riesenmauer entlang und versuchte ängstlich den >Häschern< und >Eiferern< der Clique zu entkommen. Sie waren hinter mir her, wollten mich greifen und gefangen nehmen. Andere eilten an mir vorbei und liefen zur Mauer, um zu beten. Sie salbaderten ihre Gebete herunter, wobei unklar blieb, ob auf Befehl oder aus freien Stücken. Ich beobachtete als verfolgter Fremdling das Treiben, empfand mich eingeschlossen und ausgeliefert. Im Weitergehen suchten meine Augen die Mauern und Gebäude nach einem Ausweg und Fluchtweg ab, entdeckte aber keinen.  Ich konnte aber den Häschern entrinnen. Irgendwann und irgendwo gelang es mir zu entkommen.

Im Moment des Entkommens wurde ich akustisch von einer lauten Stimme geweckt. Inge Lu fühlte sich durch lautes Reden auf der Straße gestört, schimpfte und riss mich hierdurch aus meinem Traum.“

(Notizen & Skizzen, Band 49, 29.05.2012)

Nachtrag 2018: Der Traum spiegelte, so interpretiere ich ihn heute, unsere damalige Berliner Lebenssituation wieder. Der andere Stadtteil, von hohen Betonmauern umgeben wie ein Gefängnis, ist Ostberlin, wo eine fundamentalistische Clique herrscht.

Die Rotationsmaschine

„In der letzten Nacht hatte ich wieder einen Albtraum, an dessen Ende ich um Hilfe schrie und aufwachte. Der Albtraum bestand aus zwei Teilen, wobei der Schauplatz ein und derselbe war: der Grimmaische Torturm im alten Leipzig. Ich betrat den halb zerstörten, aufgelassenen Torturm. Der runde Innenraum war >entkernt<, es standen nur noch die Außenmauern. Deren mächtige Steinquader hatten Lücken, durch die Licht ins Innere drang. Reste eines älteren Bauabschnittes waren durch spätere Einbauten überdeckt.  Der gewölbte Raum war ohne Fußboden. Aus dem Erdreich ragten Fragmente eines Fundaments, es waren Steinsockel für einen Fußbodenbelag. Der Torturm war nicht voll begehbar. Ich sah mich in der verwitterten Ruine um, die den Carceri Piranesis ähnelten. Ich war sicher, dass es sich um den ehemaligen Grimmaischen Torturm in Leipzig handelte, in dessen Nähe das Wohnhaus von Johann Albrecht Mintzel gestanden hatte. Die Stadtmauern und der Torturm waren schon vor mehr als zweihundert Jahren geschliffen worden. Ich warf meinen Blick also in ein Bauwerk, das schon lange nicht mehr existiert. Nicht einmal Reste davon waren erhalten geblieben. Im Halbdunkel des Innenraumes herrschte eine stille, gespenstische Piranesi-Atmosphäre.

Plötzlich ein Szenenwechsel. Genau auf dem Platz, auf dem eben noch der Torturm gestanden hatte, stand eine riesenhafte Rotationsmaschine, auf der große flache Behälter montiert waren. Die Behälter bestanden aus Metallplatten, die verstrebt und verschraubt waren, und aus Plexiglasteilen, die den Blick in das Innere des Behälters freigaben. Die Hohlräume der Behälter hatten gerade einmal Platz für einen liegenden menschlichen Körper. Ich sah mich in einem der Plexiglasgehäuse liegen und verzweifelt nach Hilfe rufen. Ich wurde von der Rotationsmaschine auf und ab bewegt und hin und her gedreht. Ich fand mich dem Geschehen völlig ausgeliefert.  Eine starke Antriebskraft hielt die Rotationsmaschine in Gang. Durch das Plexiglas konnte ich sehen, was sich draußen ereignete. Eine junge Frau ging vorbei, sie schob einen Kinderwagen vor sich her und hatte, wenn ich mich genau erinnere, ein Kind an der Hand. Ich versuchte sie auf mich aufmerksam zu machen und hoffte, sie könne/werde mich aus meiner Lage herausholen. Doch drangen meine Hilfeschreie nicht nach draußen. Es war als befände ich mich in einem schalldichten Raum eingesperrt. Mit meinen Schreien >Hilfe!<, >Hilfe!< endete der [erste] Traumteil.

(Aus Notizen & Skizzen, Band 36, 06.01.2007)

Meine Deutung vom 06.01.2007: „Ich kann die Rotationsmaschine, die ich im Traum gesehen und erlebt habe, zeichnerisch nicht 1:1 wiedergeben, sondern nur ein ungefähres Traumbild aufzeigen. Es scheint mir ein Schlüsselbild meiner Situation zu sein. Der erste Teil des Traumes, der zur Ruine des Grimmaischen Torturms führt, bezeichnet den Ort: Leipzig und ein städtisches Relikt aus vergangener Zeit. Letzteres existiert nicht mehr. Im Innern des Torturms stehen Steinsockel, auf die ehemals ein Boden aufgelegt gewesen war. Ich kann in den Innenraum hineinschauen, ihn aber nicht betreten. Im zweiten Traumteil findet ein Szenenwechsel statt, der Torturm wird mit einer riesenhaften Rotationsmaschine ausgewechselt, die aus mehreren flachen Behältern besteht. Ich stecke in einem der Plexiglasbehältern und liege darin flach eingesperrt. Die runde Rotationsmaschine, die von einer starken Antriebskraft in Gang gehalten wird, bewegt mich in dem Behälter kräftig nach oben und nach unten, seitwärts gekippt auf und ab. Es ist eine Art kreisender Schüttelmaschine. Ich will mich aus dieser Lage befreien. Mir gelingt es aber nicht, mich aus dem Behälter, in dem ich gefangen bin, auszusteigen. Ich schaffe es nicht aus eigener Kraft. Meine Hilfeschreie dringen aus dem schalldichten Behälter nicht nach draußen. Die junge Frau und ihr Kind hören mich nicht.

 Der Traum und seine Bilder schildern meine Arbeitssituation und mein Ziel. Die großflächige, runde Rotationsmaschine symbolisiert mein großes Buchprojekt [Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie. Die Mintzelsche Buchdruckerei und ihr Zeitungsverlag, das ich im Jahre 2001 begonnen hatte]. Die Mintzelsche Buchdruckerei wurde 1625 in Leipzig von Johann Albrecht Mintzel (1600-1653) gegründet. Seine Druckerei und sein Wohnhaus standen in der Vorstadt nahe am Grimmaischen Torturm. Die starke Antriebskraft, die die Rotationsmaschine in Schwung hält, ist meine starke Motivation, dieses Projekt durchzuführen. Rotieren und Schütteln der Maschine stehen für die zahlreichen Fassungen, die die Kapitel durchlaufen. Ich bin auf der Rotationsmaschine in einem der Plexiglasbehälter gefangen und kann mich von diesem Projekt nicht befreien. Die junge Frau und ihr Kind symbolisieren >die Welt draußen< [meine Familie] und die Zukunft. Die Frau [Inge Lu?!] richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Kinder und auf ihren Weg. Sie nimmt anscheinend die Rotationsmaschine nicht wahr und geht an ihr vorbei. Die Rotationsmaschine und der Behälter, in dem ich liege und mich kaum bewegen kann, symbolisieren zugleich mein >Ich<. Ich bin in meinem >Ich< gefangen und vermag aus meinem >Ich-Behälter< nicht auszusteigen. Ich liege darin wie in einem gläsernen Sarkophag, nehme allerdings die Welt draußen hellwach wahr.“

[Abbildungen: Titelblatt des ersten Bandes der Firmen- und Familiengeschichte Mintzel; Ansicht aus dem Leipziger Stadtbild am Grimmaischen Torturm]

Nachtrag 2018: Ich investierte in das Publikationsprojekt von 2001 bis 2011 mehr als 10.000 Arbeitsstunden. Es erschien im März 2011 im Berliner Verlag Duncker & Humblot zweibändig im Gesamtumfang von rund 1600 Seiten auf dem Buchmarkt. Das Buchprojekt über zehn Jahre in Schwung zu halten und zu einem grandiosen Abschluss zu bringen, war nur mit einer enormen Antriebskraft und einem zielorientierten Durchhaltevermögen möglich. Es war die Bilanz jahrzehntelanger Forschung. Es hatte stets ein unauflösbares und konfliktschwangeres Spannungsverhältnis zwischen der Welt in mir und den äußeren Umständen, zwischen meinem „Ich-Behälter“ und der Welt draußen gegeben. Die Spannung löste sich erst nachdem das Werk 2011 erschienen war.

Träume von Flüssen und Flügen

„Ballonfahrt (…). Unter mir eine weite große Flusslandschaft. Ich befinde mich in einem Heißluftballon und treibe direkt über dem Fluss in geringer Höhe dem Fluss entlang. im Traum war der Fluss silbrig-hell, die Flussauen und großen Baumgruppen auf beiden Seiten des Flusses erlengrüngrau bis flechtengrau. Ich stand in der Gondel und manövrierte zwischen hohen Baumwipfeln hindurch. Ich streife die höchsten Baumkronen und habe Mühe, den Ballon zwischen den Wipfeln hindurch zu manövrieren. Der Ballon ist nicht allzu groß. Ich greife nach einem Stück Schnur, das über mir von der Hülle herabpendelt. um die Heißluft zu regulieren, ich will an Höhe gewinnen. Der Fluss ist breit, langgezogene Inseln liegen mitten im Fluss. Der Horizont ist hell. Ich gleite dahin. Nach einer Weile habe ich etwas an Höhe gewonnen. Vor mir liegt eine riesenhafte, flache Wolke, ein Wolkenkörper, etwas Körperhaftes. Es hat die flache Gestalt einer Riesengummi-Wärmflasche. Doch ist die Haut des Riesenluftschiffes aus einem weißen Kunststoff. Es erinnert mich an das riesenhafte, flache, aber runde Raumschiff der Außerirdischen in dem Science Fiction-Film „Independence Day“. Doch gleicht das breite und lange quadratische Ding, das ich mit meinem Heißluftballon unterfliege, eher einer flachen Riesenwolke. Es ist leichter, liegt höher in der Luft. Ich muss darunter hinweg, das Ding liegt mitten über dem Fluss, dem ich wie einem Leitsystem folge.

Ich gleite in der Gondel zwischen Baumkronen und Wolkenluftschiff dahin, streife ein paar Äste. Plötzlich springt mich etwas an, ein frosch- oder krötenartiges Tier, und beißt sich an meiner rechten Wade fest. Es ist etwas Unheimliches an dem kleinen Tier. Ich greife mit der linken Hand nach unten an meine rechte Wade und versuche das Tier loszuwerden. Ich versuche es abzustreifen. Das ist der Moment, in dem ich aufwache. Ich bin nicht sicher, ob es mir gelungen ist, das kleine Biest von der Wade abzustreifen.“

Ich halte diesen Traum fest, weil er der zweite Fluss-Traum innerhalb weniger Tage ist. Im letzten Traum befand ich mich auf einem Felsen in einem Glashaus mitten im Fluss. In diesem Traum befinde ich mich in einer Ballongondel über dem Fluss, der eine zentrale Rolle spielt. Ich folge in der Luft seinem Lauf, ich gleite dem Fluss entlang, er leitet mich, gibt die Richtung an. Ein breiter Strom, der hell-silbrig das Licht des Himmels reflektiert und als silberner Strom mitten durch eine breite, flache Flusslandschaft seinen Lauf nimmt. Ich befinde mich zwischen Himmel und Erde. Ich steuere zwischen den Baumkronen hindurch, reguliere nur etwas die Höhe.“

(Traum, in der Nacht vom 17./18.12 in Auszügen, Notizen & Skizzen, Band 3, 21. Und 25. 12. 1996).

Ich denke, der Traum hat wiederum mit meiner Arbeits- und Lebenssituation zu tun. Der Heißluftballon, so deute ich ihn, steht für die Wissenschaft, die mich trägt und treibt. Die Gondel ist mein Fachgebiet, das an Seilen am Ballon festgehalten wird. Ich stehe in meinem Fachgebiet und schaue von dieser Position aus auf die weite Landschaft herab, wobei der hell-silbrige Fluss und sein Lauf die Richtung vorgeben. Ich folge im Überflug dem großen Fluss. Ich lasse mich hinaustreiben in die Weite des Raumes der Erkenntnisse (?). Die Ballonfahrt ermöglicht mir zumindest einen Überblick über Landschaftsräume. Was ich selbst steuernd tun kann, ist die Höhe regulieren und einen Absturz vermeiden. Mir gelingt es Baumkronen (was bedeuten sie? Hindernisse?) auszuweichen, sie zu überfliegen, durch sie hindurch zu manövrieren, bleibe jedoch so erdnah, dass mich ein frosch- oder krötenartiges Tier anspringen kann. Von unten lauert wohl eine unberechenbare Gefahr, etwas, das sich an mir festbeißt. Mein „Höhenflug“ zwischen Himmel und Erde scheint von oben und von unten bedroht (beengt?) zu werden: Oben von einem riesenhaften Wolkengebilde, das einer Gummi-Wärmflasche gleicht, von unten von einem kleinen ekelhaften Biest, das nicht locker lässt. Die Riesenwolke könnte für das Phänomen Religion stehen, die vielen als mentale Wärmflasche dient. Wer oder was mag die Kröte sein? Will sie mich herunterziehen?

Ich – ein pflügender Bauer und Schrottverwerter

„Hügeliges Land. Über einem rundbuckeligen, weit ausladenden Hügel eine große, sattgrüne Wiese, die hinter der Horizontlinie nicht überschaubar ist. Ein Bauer hat mit einer Mähmaschine, die von einem Pferd gezogen wird, eine zweispurige erste Schneise herausgeschnitten. Die doppelspurige Schneise ist sehr akkurat gezogen und führt in einem weiten Bogen um den Hügel. Rechts vorne ein Fichtengehölz mit lichtem Bestand. Ich betrete die Schneise und folge Schritt für Schritt der Spur durch ein völlig geschlossenes, „makelloses“ Grün, das mehr einem gepflegten Rasen ähnelt als einer von Blumen und Kräutern durchwachsenen Wiese.

Inge Lu scheint irgendwo im Hintergrund zu sein. Ich höre mich zu ihr sagen, sie solle doch einmal auf diese wunderschöne, akkurat gezogene Doppelspur in der grünen Fläche schauen. Ich schaue auf der grünen Spur weiter hügelaufwärts, blicke über den Hügel hinweg und sehe auf der anderen Seite den Bauern hinter seinem Gerät her schreiten, das eher nach einem Pflug aussieht. Das Pferd zieht den Pflug, der die akkurate Doppelspur hinterlässt. Von weitem sieht es aus, als zöge der Bauer nur eine Furche, aber es ist ohne Zweifel ein doppelspuriger Grasschnitt.

Der Bauer war inzwischen einmal im Quadrat über die Wiese gezogen, das ausgeschnittene Quadrat war an den Ecken abgerundet. Er nimmt mich wahr, bemerkt, dass ich seiner Spur gefolgt bin. Zunächst setzt er seine Arbeit fort. Ich beobachte ihn dabei. Ich bleibe in der Spur. Die ausgeschnittene Doppelspur erinnert mich an Skispuren, nur alles in Grün. In der Nähe der Straße, die zu einem Gehöft führt, verlasse ich das Feld und gehe auf der Straße weiter zum Hof. Der Bauer zieht eine zweite Spur. Vom Gehöft aus beobachte ich ihn bei der Arbeit, er beobachtet mich.

Ich bin im Haus. Der Bauer hört auf, sein grünes Feld zu bearbeiten und kommt zum Gehöft herüber. Er scheint sich im Hofgelände unter dem Vorwand umzusehen, eine passende Glasscheibe zu suchen. Wir gehen gemeinsam über das Gelände innerhalb des Hofes, an Schuppen und Stallungen vorbei. Überall liegt eine Menge Schrott herum, alte, verrostete, nicht mehr gebrauchte Gerätschaften; zerbrochene oder angebrochene Glasscheiben lehnen an einem Schuppen; Metalle und kleine Gussformen liegen in Ecken auf Brettern. Wir mustern gemeinsam den Schrott durch, finden aber keine passende Scheibe. Ich habe den Eindruck, dass die Suche nach einer Scheibe (für mich) nur ein Vorwand gewesen ist, um mich auf dem Gehöft näher umzusehen.

Wir gehen ins Haus und durch die Innenräume. Einige Zimmer sind neu mit Ikea-artigen hellen Holzmöbeln ausgestattet. Bei einem Zimmer handelt es sich ohne Zweifel um Carolines (C. wohnt zurzeit mit uns auf dem Lerchenweg 4). Der Bauer hat ebenfalls eine Tochter (oder mehrere Töchter). Eine Tochter ist bei uns zu Besuch. Sie ist anscheinend mit Caroline befreundet. Der Bauer, das ist mein Eindruck, ist vorbeigekommen, um zu sehen, wie wir leben, und um sich zu überzeugen, ob alles in Ordnung ist. Wir scheinen Fremde in dieser Gegend zu sein. Wir haben uns in diesen Hof eingemietet. Der Traum ist wesentlich bestimmt vom Schauen und Beobachten. Es wird nicht viel gesprochen. An das Ende des Traumes erinnere ich mich nicht klar. Der Bauer geht wohl wieder weg und an seine Arbeit.“

(Traum in der Nacht vom 1. zum 2.Januar 1997, Würzburg. „Notizen & Skizzen, Band 3)

Dieser Traum war wieder einer jener kristallklaren Träume über meine Lebens- und Arbeitssituation. Der Bauer bin ich, ich bewege mich auf zwei verschiedenen Arbeitsfeldern, auf dem eines großflächigen sattgrünen Rasens, auf dem ich pflüge und Furchen ziehe, und auf einem bäuerlichen Gehöft, auf dem ich nach Schrott suche und verschiedene Materialien finde. Das grüne, weite Feld, auf dem ich mit Pferd und Pflug ein akkurates Quadrat ziehe, steht für die Wissenschaft. Das Gehöft, in dem der Schrott lagert, steht für mein künstlerisches Schaffen, für meine Objektkunst. Die Doppelspur deutet auf die zwei Bereiche hin, hier die Wissenschaft, dort die Schrott-Kunst. Ich, der Bauer, hinterlasse mit meinem Schaffen eine Doppelspur. Der Bauer beobachtet mich, ich beobachte den Bauern bei seiner Arbeit. Es dreht sich um eine verdoppelte Selbstbeobachtung. Wir beide finden keine passende Glasscheibe. Zur Durchsicht? Zur optischen Trennung der beiden Arbeitsgebiete? Dass der Bauer und ich identische Personen sind, wird durch die (drei) Töchter bestätigt, die er und ich haben. „Wir“ besuchen eine der Töchter, die auf dem Gehöft lebt, in das wir, Inge Lu und ich, uns eingemietet haben. Inge Lu hält sich im Hintergrund auf. Ich möchte gern, dass sie „doch einmal auf diese wunderschöne, akkurat gezogene Doppelspur auf der grünen Fläche schaut.“ Mit anderen Worten: Ich sähe es gern, wenn sie (wenigstens optisch) Anteil nähme an meiner Arbeit. (Inge Lu liest prinzipiell nicht meine wissenschaftlichen Schriften, auch nicht Ausschnitte daraus, weil sie fürchtet, ihre kritische Lektüre könnte Streit auslösen und dazu führen, dass ich mit meiner Arbeit nicht vorwärts komme. Sie nimmt an meiner wissenschaftlichen Arbeit nur am Rande teil).

Ich feilte um die Jahreswende 1996/97 an der Endfassung meines großen Publikationsprojektes über „Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika“, das im Sommer 1997 erschien. Ich hatte bis zur Jahreswende bereits weit über tausend Arbeitsstunden in dieses Lehrwerk investiert. Im Traum war ich dabei, das auf der weiten grünen Fläche fein säuberlich ausgeschnittene Quadrat an seinen Ecken abzurunden. Ich betrachtete dieses Werk zugleich als eine Art „objet vivant“, als Objektkunst in der vom Menschen, von mir geformten Natur. Der Bauer geht wieder unbeirrt seiner Arbeit nach und zieht eine zweite Doppelspur. Ich hielt die Bildwelt dieses Traumes als visuelle Erinnerung fest.

Im Glashaus am Fluss der Zeit

„Ich hatte in der letzten Zeit drei Fluss-Träume, einen vom 15. zum 16.12.1996, einen vom 17. zum 18.12.1996 und einen dritten kurz danach. Den letzten habe ich nicht aufgeschrieben. Die ersten beiden waren sehr klare, einprägsame Träume mit Flusslandschaften. Im ersten Traum befand ich mich mitten im „Zeitstrom“ in einem Glashaus, das auf einem großen, rundbuckeligen, vom Wasser rund geschliffenen Felsen stand. Der reißende Strom glitt mit seinen kräftigen Wellen am Glashaus vorbei. Ich betrachtete aus dem Glashaus die Flusslandschaft und verfolgte den Strom in die Richtung, aus der er kam. Trotze ich in meinem Glashaus auf dem Granitfelsen dem Zeitstrom?

Im zweiten Flusstraum vom 17. zum 18.12.1996 fliege ich in einem Heißluftballon über die Flusslandschaft. Ich halte genau über dem Fluss Kurs in Richtung des Flusslaufes. Bedeutsam ist, dass ich mich in der Luft über dem Fluss befinde, der Fluss mir aber die Richtung weist, in die ich den Ballon steuern will/muss. (dazu Einfälle in Stichworten: im Fluss der Zeit; Zeitstrom; die Zeit fließt dahin; River of no return [song]; die Zeit läuft ab; der Strom des Lebens). Ich denke beide Flussträume verbildlichen innere Gegebenheiten, innere „Beobachtungen“ meiner Lebenssituation im Fluss der Zeit. In meinem Gedächtnis sind offenbar kulturelle Metaphern gespeichert.

Traum 1 und 2 sind zwei Modalitäten: „im Fluss der Zeit“ oder über dem Fluss der Zeit sich zu befinden. Im ersteren beobachte ich von sicherer Warte aus (Granitblock, Glashaus) den reißenden Zeitstrom, wie er an mir vorbeirauscht. Der Zeitstrom kommt aus der Zukunft. Vielleicht bin ich beides zugleich, Granitblock und Glashaus. Ich versuche mich im Zeitstrom zu halten, nicht weggerissen zu werden. Im zweiten Traum folge ich dem breiten Zeitstrom unter mir, aber ich habe oben in der Luft in der Gondel des Ballons mein eigenes Tempo. Der von mir gesteuerte Ballon (mein Leben?) gleitet über dem Zeitstrom, aber richtungsgleich. Möglicherweise stand der Traum im Kontext mit dem Jahresende 1996 und dem Jahreswechsel. Ich erlebe Zeit sehr intensiv“

(Traum vom 06.01.1997, Niederschrift vom gleichen Tag, Notizen & Skizzen, Band 3, 06.01.1997)

Supernova im Sternbild der Kassiopeia, späte Einsicht und Resignation

„In den frühen Morgenstunden wieder von einer großen, weiten Landschaft geträumt, von einer Landschaft am Meer. Gebirgsausläufer streben zum Wasser hin. Die Landschaft zeigt einen üppigen grünen Bewuchs. Pfade ziehen sich über die nahen Hügel hin, Dörfer lehnen sich an die Hänge. Doch die homerische Landschaft trügt. Ich beobachte ein kolossales kosmisches Geschehen. Die Sonne steht hoch am Himmel (…) Sie ist fahl, als würde sie ein dünner atmosphärischer Dunstschleier so verdecken, dass meine Augen in die Sonne schauen können. Ich sehe, wie zahlreiche Protuberanzen rings um den Sonnenball aus dem Innern des Gestirns schießen. Es sind sehr heftige Eruptionen, so gewaltig, wie sie die Menschheit vielleicht noch nicht erlebt hat. Ich erkenne die Gefahr, die von den Gaseruptionen ausgeht. Wer vor der Strahlung keinen Schutz findet oder keinen Schutzanzug anlegen kann, dessen Leben ist gefährdet. Die Strahlung ist tödlich(siehe Blog-Kapitel 33).

Ich scheine mich auf einer Wanderung zu befinden. Ich bin unterwegs. Vor mir liegt die weite hügelige Landschaft. Weit draußen liegt ruhig das Meer. Der Meeresspiegel ist heller als der fahle Himmel. Eigenartig spiegelt sich die Sonne nicht darin. Ich sehe mich mit einem Mal in einer Ortschaft unter Menschen. Sie scheinen mir bekannt zu sein, wenigstens einige von ihnen. Auch sie haben die Gefahr erkannt und schon Schutz gesucht. Ein Mann äußert sich besorgt darüber, dass ich noch keinen Schutzanzug trage. Er zieht aus einem Haufen von Säcken und Packpapieren große Cellophan-Säcke heraus und reicht sie mir. Ich solle mich wenigstens notdürftig gegen die Strahlung schützen. Ich schlüpfe in die glasklaren, durchsichtigen Säcke, die nicht ausreichen, um meinen ganzen Körper zu bedecken.

Dann sehe ich mich im Traum weiterwandern. Ich gehe durch die Ortschaft, in der ich gerade Halt gemacht hatte, um mich zu schützen. Über schmale Pfade führt mich mein Weg hinaus in die weite Landschaft. Ich begegne Menschen. Die Traumdetails werden vage. Ich erinnere mich nicht mehr an das, was weiter geschah.

(Notizen & Skizzen, Band 41, Passau, 06.12.2008)

Meine Deutung am nächsten Morgen:

„Spontan fällt mir zu diesem Traum ein, dass mich vorgestern der Bericht in der Süddeutschen Zeitung über Tycho Brahes Entdeckung einer Supernova extrem fasziniert hat. Tycho Brahe hatte am 11. November 1572 am Nachthimmel im Sternbild der Kassiopeia eine Sternenexplosion beobachtet. Mit seiner Entdeckung erschütterte Brahe das aristotelische Weltbild, wonach der Fixsternhimmel unveränderlich sei. Fasziniert hat mich auch, dass Astronomen jetzt das von interstellaren Staubwolken reflektierte Echo des ursprünglichen Lichtblitzes gemessen und ausgewertet haben. Wahrscheinlich habe ich den Bericht auf die Gegenwart übertragen und im Traum beobachtet, wie die Sonne sich zu einer Supernova entwickelt. In meinem Traum hat unser Zentralgestirn begonnen, sich mit gewaltigen Gasexplosionen auszudehnen. Ich habe ein kosmisches Schauspiel erlebt. Dahinter steckt kein mystisches Geheimnis, keine >Offenbarung<. Es dreht sich um eine der inneren Erregungen, die ich empfinde, wenn Wissenschaftler großartige Entdeckungen machen und unser Weltbild verändern. Meine eigenen wissenschaftlichen Leistungen und >Entdeckungen< nehmen sich dagegen äußerst bescheiden aus. Darüber bin ich manchmal unglücklich.

Seit meiner Pensionierung [im Jahre 2000] habe ich über 4666 Arbeitsstunden [bis 2011 sollten es weit mehr als 10.000 werden] mit dem Schaffen und den Schicksalen kleiner Leute befasst. Ich habe mich in Passau in das örtliche Kunsttreiben eingemischt. Es sind keine großen Fragestellungen gewesen, für die ich meine Arbeitskraft eingesetzt habe. Die großen Theorien der kulturellen Evolution des Menschen [in der Niederschrift unterstrichen], die ich vor 2000 begonnen hatte anzugehen, habe ich leider nicht weiterverfolgt. Jetzt ist es zu spät dafür. Es tut mir innerlich weh, diesem Projekt trauere ich nach. Darauf hätte ich meine ganze Arbeitskraft konzentrieren sollen. Von der so genannten CSU- und Bayernforschung Abstand genommen zu haben, finde ich dagegen eine richtige Entscheidung. Die CSU ist kein wirklich großes Thema! Zeitgeschichtsschreibung hinkt immer hinter aktuellen Ereignissen hinterher. Ein gewichtiges Bauelement einer großen Theorie der kulturellen Evolution [in der Niederschrift unterstrichen] zu konstruieren, wäre eine lohnende Aufgabe gewesen. Diesen Weg nicht beschritten zu haben, macht mich traurig.“

(Notizen & Skizzen, Band 41, Passau, 07.12.2008)

Diese Selbsteinschätzung und dieses Eingeständnis haben den Grundton und das Leidmotiv (!) der verbliebenen Lebensjahre bestimmt, obschon mein wissenschaftlicher Arbeitsertrag nach anderen Maßstäben als eine respektable Leistung angesehen werden kann. Einmal hatte ich sogar geträumt, einer der Großen der Soziologie, Max Weber, habe mir persönlich den Stab weitergereicht (Notizen & Skizzen, Band 5, 19.09.1997). Ich hatte 1994 eine ausgefeilte „Einführung in die >Verstehende Soziologie< Max Webers. Max Weber verstehen lernen“ für Lehrzwecke publiziert (Passauer Papiere zur Sozialwissenschaft- PaPaS, Heft 4).Leider wurden solche didaktisch angelegten Ausarbeitungen der „Grauen Literatur“ in der Fachwissenschaft nicht angemessen honoriert.

Mit dieser Selbsteinschätzung und diesem Eingeständnis komme ich schließlich bei den letzten Kapiteln meines Blogs an. Ich nehme „Abschied von der Bühne des Daseins“ und ziehe Bilanz.

49. Ein Leben mit der Kunst – Kunst als Biografie

„Einer überraschenden Art des Staunens wurde ich fähig. Herausgerissen aus dem Zusammenhang mit den anderen Dingen gewann jeder Gegenstand eine neue Bedeutung“ (Alfred Kubin, 1909 /1962, 103)

Fremdwahrnehmungen und Spiegelungen

In der Sphäre des Kunstschaffens gilt womöglich noch strikter als für die der Wissenschaft der Satz: „De nobis ipsis silemus“, von uns selber schweigen wir. (Francis Bacon: Instauratio magna. Praefatio, zit. nach Immanuel Kant). Unsere Arbeit, Leistung und Verdienste zu würdigen, ist Angelegenheit anderer. Künstler überlassen es in der Regel „Kunsterklärern“, ihre Werke professionell zu entschlüsseln, zu deuten und in das allgemeine Kunstschaffen einzuordnen. Sie weigern sich, ihre Bilder und Objekte selbst zu erklären. Ganz so strikt habe ich mich nicht immer daran gehalten. In meinem Katalog „Objekte 1989–1995“, den ich zur Feier meines 60. Geburtstag selbst gestaltet und publiziert habe (ISBN 3-00-00000-9), beschreibe ich in dadaistischer Weise, wie jedes Objekt, sei es aus Holz, Stein oder Metall, zustande gekommen ist. In diesem Katalog habe ich zugleich ein Arbeitsprogramm für die Zeit nach meiner Pensionierung (2000ff) entwickelt. Doch muss ich zeitlich nochmals weit ausholen, um die späte Rückkehr in mein „zweites Berufsleben“ zu erklären. (Weitere Informationen hierzu finden Sie hier: http://www.bbk-bayern.de/kuenstler/kib/detail_print.phtml?kunr=1767)

Nachdem ich mich 1959 entschieden hatte, mein Studium der Malerei und Grafik nicht fortzusetzen und ein anderes Universitätsstudium zu beginnen (siehe Kap. 11), eröffnete sich für mich nach einigen Semestern des Hineintastens in universitäre Studiengänge (Rechtswissenschaften, 1959–1962) der Weg in die Soziologie und Politikwissenschaft (siehe Kap. 13/14). 1962 wurde ich an der Freien Universität Berlin in ein von der Ford Foundation finanziertes Förderungsprogramm für wissenschaftlichen Nachwuchs aufgenommen und am vormaligen Institut für politische Wissenschaft am Forschungsprojekt „Berlin – Hauptstadtanspruch und Westintegration“ beteiligt. Zur Erinnerung: Ab 1962 durchlief ich zielorientiert mit Glück und Bravour alle Stationen einer sozialwissenschaftlichen Universitätskarriere: das Diplomexamen im Fach Soziologie (1967), die Promotion im Fach Politikwissenschaft und Politische Soziologie (1974, summa cum laude) und die Habilitation und Venia legendi (1978). Alle Stationen waren von Unsicherheiten begleitet, ob es mir gelingen würde, in der Wissenschaft auf Dauer verbleiben zu können. Aufgrund meiner publizierten Studien über die CSU und Bayern, die mich in ganz Westeuropa bekannt gemacht hatten, konnte ich 1974 in die zeitlich befristete Stelle eines Assistenzprofessors einrücken. Ab 1978 galt es auf eine Universitätsprofessur berufen zu werden. In diese äußerst arbeitsintensive und strapaziöse Zeit des wissenschaftlichen Werdegangs fiel die Entscheidung, eine Familie zu gründen: Eheschließung mit Inge Lu 1964, Geburt der Töchter Anne 1968, Theresa 1971 und Caroline 1975. Es bedurfte eines geradezu waghalsigen Durchhaltevermögens und enormen Selbstvertrauens, um nicht zu scheitern. Kurzum, zum Malen und Zeichnen, wie überhaupt für die Kunst, blieb von 1960 bis 1980 nicht einmal als Hobby Zeit. Als unsere Töchter heranwuchsen, standen allerdings von Kindesbeinen an stets Farben, Stifte, Papier und Wasser bereit, um ihre kreativen Impulse zum Ausdruck kommen zu lassen und zu fördern. Ich stellte in dieser Zeit mein Können und meine Freude am Malen und Zeichnen fast ausschließlich in den Dienst ästhetischer Kindererziehung. Erst 1980, als ich die schlimmsten Zeiten akademischer Unsicherheit mit Lehrstuhlvertretungen überbrücken konnte, begann ich mich wieder dem Zeichnen und Malen zuzuwenden. Ich versuchte mich in der Porträtmalerei und ging in Berlin bei einem freischaffenden italienischen Maler, bei Riccardo Adelchi Mantovani, buchstäblich in die Lehre, um mich in der Lasurmalerei zu üben. Es entstanden 1980 auf dem Weg der Schulung im alten Metier die Porträts von Inge Lu und Theresa. Die ersten Arbeitsergebnisse ließen mich hoffen, neben der Wissenschaft im Sinne eines musischen Ausgleichs in die Kunst zurückzufinden.

Alf Mintzel, Portrait Inge Lu Mintzel, 1980, Lasurtechnik

Alf Mintzel, Portrait Theresa Florentine Mintzel, 1981, Lasurtechnik

Ich brauchte nach den strapaziösen Berliner Jahren innere kreative Balance und psychische Erholung. Mit der Berufung auf den Passauer Lehrstuhl für Soziologie gelangte ich glücklicherweise 1981, obschon neue Turbulenzen und Konflikte nicht ausblieben (siehe Kap. 21ff), „on the sunny site of the street“. Zu unserem silbernen Hochzeitstag veröffentlichten Inge Lu und ich im März 1989 in einem gemeinsam gestalteten großformatigen Buch ihre Gedichte und meine Bilder, die bis dahin entstanden waren. Im Titel „Es ist noch Zeit genug“ kam unsere Hoffnung zum Ausdruck, wieder mehr Zeit für künstlerische Impulse zu finden. Seit Beginn der 1990er Jahren wandte ich mich hauptsächlich der Objekt-Kunst zu, nach 2000 auch dem Lithografieren und der Radierung. Die Resultate aus den Jahren 1989 bis 1995 publizierte ich in dem schon genannten und von mir gestalteten Objekte-Katalog (1995). Seither beteiligte ich mich an etwa zwei Dutzend Ausstellungen, darunter auch an einigen in anderen Orten (Wiesbaden, Ortenburg, Vilshofen, Straubing, Bad Kreuznach und Ulm). Die Würdigung überlasse ich im Folgenden anderen.

Krieger, Madonnen, Masken – Der Künstler Alf Mintzel als Schmied seiner Objekte

(Quelle: Prof. Dr. Klaus Dirscherl, in: Stefan Immerfall (Hrsg.): Parteien, Kulturen und Konflikte. Beiträge zur multikulturellen Gegenwartsgesellschaft. Festschrift für Alf Mintzel. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S.283–292.

Persönliches I
Alf Mintzel hat sich zu seinem 60. Geburtstag einen Kunstkatalog geschenkt. Objekte heißt er. Die glücklichen Besitzer, zu denen auch ich gehöre, haben so die Gelegenheit, die Bekanntschaft jener metallenen Schutzengel zu machen, die sich der alternde, aber ewig junge Soziologiekollege für sein >Zweites Arbeitsleben< zurechtschmiedet. Das Geschenk war zum 18. April 1995 datiert. Fünf Jahre später feiern wir seinen endgültigen Eintritt in dieses >Zweite Arbeitsleben< mit einer Festschrift Eigentlich hasse ich Festschriften. Weil man darin allzu häufig allzu Abgelegtes, nicht Verwertbares für ein viel zu teures Buch wissenschaftlich recycelt. Aber Mintzels >Objekte< und das Buch, das er darüber gemacht hat, geben mir die schöne Gelegenheit, mich mit ihm selbst, d.h. dem Künstler im Menschen Mintzel, zu beschäftigen. Also schenke ich auch mir – eben vom Kurzurlaub zurück – ein paar schöne Stunden und Tage auf der sonnigen Aprilterrasse, kurz vor seinem 65., im Umgang mit dem spannendsten Mintzel, den ich kenne: Ich erinnere mich dabei an die beeindruckende Ausstellung einiger dieser Objekte im neu restaurierten Passauer Luragosaal, wo mich damals bereits seine schmiedeeisernen „Leibwächter“ (der Ausdruck stammt von Mintzel selbst) halb streng, halb grinsend anschauten. Ich bin froh, dass der Schlachtenlärm vom letzten Madonnenstreit (geht er mittlerweile in die vierte oder fünfte Runde oder ist es doch ein sur-realistischer cadavre exquis, den Kunst, Kirche und Kitsch auf der Bühne der Hochschule unter Mitwirkung mehrerer Madonnen, Rektoren und Beckmesser aufführen?), ich bin froh, sagte ich, dass dieser Schlachtenlärm zu Beginn der zweitausendsten Osterzeit etwas verklungen ist, und gebe mich ganz der Freude des Spiels mit Mintzelschen Figuren, so genannten ready mades, hin. Aber da regt sich in mir bereits Widerspruch! Und dann Zweifel. Darf man in einer Festschrift widersprechen? Noch dazu dem Gefeierten? Ich will es wagen.

Ready made, wirklich?
Mintzels „Objekte“, die er gerne ready mades nennt, sind gar keine, Marcel Duchamp, der Erfinder dieser hochironischen, antiakademischen Kunstform ‚ernannte‘ mit diesem Begriff irgendwelche beliebigen Alltagsgegenstände provozierend banaler Art (ein Urinal, ein Fahrradteil, einen Flaschentrockner) zum Kunstwerk, indem er sie durch Unterschrift und Datierung nobilitierte und in eine Kunstausstellung stellte. >Durch diese Isolierung und Dislozierung eines gewöhnlichen und unbeachteten Dinges, die natürlich auch die psychologischen Elemente der Ironisierung und Verhöhnung des Dinges mit einschlossen<, wurde das Ding aus seinen ihm normal zugewiesenen Verhältnissen herausgerückt, verrückt … und durch >den Schock, den es in den ihm wesensfremden verrückten neuen Verhältnissen auslöste, als etwas ganz Neues, Anderes, Sonderbares und Merkwürdiges erkannt.<

Alf Mintzel, Wiederkehr der Entsorgten II, 1997, Schmiedeeisen

Doch Mintzels >Objekte< vermitteln diesen Kulturschock, den Dislozierung und Transfer von Alltagskultur in fremde Kontexte normalerweise auslösen, mitnichten. Vielmehr machen diese alten Ölkannen, diese unbrauchbar gewordenen, meist eisernen Werkzeuge vergangener Zeit, die abgeschabten Steinplatten, die der eifrige Flohmarktbesucher eingesammelt, nach Hause getragen, liebevoll gereinigt, manchmal mit anderen >Fundsachen< zusammengeschweißt und dann effektvoll fotografiert hat, auf mich einen beinahe anheimelnden Eindruck. Während Duchamps ready mades das Ende der bürgerlichen Kunst mit ihrer Feier des Künstlers und der sorgfältigen Anfertigung des Kunstwerkes einläuteten, und die Provokation ihres Entstehens zu einem wesentlichen Teil gerade in ihrer (fast schon postmodernen) Reproduzierbarkeit lag, spürt man in Mintzels Objekten allenthalben die liebevolle. formende, von einem starken Ausdruckswillen geführte Hand des Künstlers. Der Ausgangspunkt seiner >Objekte< sind zwar Fundgegenstände wie bei Duchamp. Doch Mintzel legt durch seine Eingriffe – die Reinigung des Verrosteten mit Säuren, das Zusammenschweißen mit verwandten Fundsachen und Materialien u.a.m. – ihre verborgenen Grundeigenschaften, gleichsam ihren Charakter frei, während Duchamps ready mades mit der Banalität der Ausgangsobjekte ein ironisches Maskenspiel betreiben. Trotz ihrer harten Materialität geht von ihnen eine menschliche Wärme aus, die Wärme der künstlerischen Hand, die sie aus dem Dasein des Unbeachteten, Weggeworfenen befreit und durch sorgfältiges, stilsicheres Eingreifen zu Ikonen einer vergangenen, beinahe nostalgisch gefeierten Zeit macht.

Subjektive Objekte
Mintzel nennt seine Objekte >Krieger<, >Nike<, >Getroffener Vogel<, >Kreuzigung<, >Flussgeist< und gibt damit eine Sinndeutung vor, die das dadaistisch geprägte ready made gerade verweigert. Mintzels Objekttitel lassen dem Betrachter gleichwohl noch mächtig Spielraum zur eigenständigen Deutung, öffnen Sinnwechsel durch die Verschränkung unterschiedlicher Kontexte, die seine ehemals nützlichen Fundsachen in einer neuen Metaphorik der Materialien entfalten. Sie erinnern mich sehr viel mehr an die Assemblagen eines Antoni Tàpies, der ebenfalls aus der Bescheidenheit von verbrauchten, abgeschabten, altgewordenen Gegenständen ungewöhnliche, neue Kunstobjekte kreierte. Wie bei Tàpies sind auch Mintzels Objekte von einem starken Ausdruckswillen geprägt. Man spürt allenthalben, gerade weil die verwendeten Materialien hart (eisern, hölzern, steinern) sind, die formende Hand des Künstlers. Hier artikuliert sich nicht die spielerische (und ironische) Beliebigkeit postmoderner Kunst im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit, sondern die Subjektivität eines Künstlers, der in abgenutzten Gegenständen die Würde ihres Ursprungs, fast möchte man sagen die Noblesse ihrer Einfachheit und einstmaligen Stärke hervorkehrt, indem er sie zu Figuren einer dynamisch bewegten, subjektiv geprägten Vorstellungswelt, zu >Kriegern<, zu >Flussgeistern<, zu >Idolen< macht. Mintzels Konfigurationen auf der Basis alter und sorgfältig präparierter Gebrauchsgegenstände aus verschwundenen Handwerks- und Landarbeitszeiten sind keine ready mades, sondern assemblage-verwandte Objekte, die mit subjektiver Kraft uns zum Nach- und Weiterdenken über die Grundelemente unserer Welt anstiften.

Von der Kunst des Aufhebens
Liest man die sorgfältigen Angaben Mintzels darüber, wie seine Objekte entstanden, beispielhaft sei der Katalogtext zu >Objekt: weibliches Idol, 1994< in voller Länge zitiert:

>Idee: idolo femminile; female idol; schon beim Kauf als weiteres Stück meiner Idol-Sammlung betrachtet.

Material: Gusseisen, 14,6 cm x 5,2 cm x 1 cm (Höhe x Breite/breiteste Stelle x Tiefe) Gebrauchsgegenstand: unbekannt; der Trödler konnte keine Angaben zum Objekt machen; die Vermutung, dass es zu einem Pferdezaum gehört, hat sich nicht bestätigt; es muss sich um irgendein Verbindungs- oder Gelenkstück handeln. Fundort: Flohmarkt Pfarrkirchen, Niederbayern, an einem sehr heißen Julitag: 02.07.1994 (Ausflug nach Altötting); Preis DM 2,00.

Geschichte des Objekts: am 05.08.1994 in Orselina, Casa Lu, und am 17.08.1994 Objekt zusammen mit anderen Hammer-Idolen mit Entroster behandelt, wodurch die eigenartige, graufleckige Patina entstand<.


Alf Mintzel, Objekt: weibliches Idol, 1994, Gusseisen, Granit

So entdeckt man, dass vor dem Schaffensprozess der Assemblage, noch vor dem Reinigen und sicher vor dem kunstvollen Foto des Objekts die mühevolle, hartnäckige, aber immer mit dem Glück des Zufalls rechnende Tätigkeit des Sammlers steht. Der Künstler als Sammler, das lässt bei aller Modernität des Objekteschmieds Alf Mintzel an postmoderne Grundprinzipien denken, an die Beliebigkeit der Gegenstände, ihre alltägliche Verfügbarkeit, den Seriencharakter und ihre vermeintliche Austauschbarkeit.

Doch Mintzel bleibt eben nicht beim Sammeln, Ordnen und Aufreihen stehen. Sein Sammelvorgang wird von einem liebevollen Akt der Reinigung und Bloßlegung der Grundmaterialien des Fundes abgelöst, man könnte auch sagen überwunden. Der Fund wird veredelt. Aus dem Fundstück wird ein Werkstück, das mit seiner erneuerten Kraft in die Zukunft weist und mit seinem bewahrenden Gestus die Vergangenheit sichert, aufbewahrt und durch Erinnerung adelt. Mintzel ist ein Künstler der Erinnerung und Erneuerung in einem. Er beherrscht die alte rhetorische Tugend der memoria, bleibt aber nicht im Musealen stecken, sondern fordert mit seiner sanft ästhetisierenden Hand der Bewahrungsarbeit gleichzeitig eine Rückbesinnung auf alte Tugenden/Materialien und eine Erneuerung aus dem Vorgefundenen. Fast möchte man ihn mit einem modischen Schlagwort der ökologischen Bewegung einen Künstler der ‚Nachhaltigkeit‘ nennen. Möchte man. Wäre da nicht der stets spürbare Wille zur Überwindung des Alten, zur Neukreation. Mintzels Figuren-Objekte sind nicht nur eine hommage an alte Gerätschaften. Sie werden in ihrer ungelenken, aber völlig überzeugenden Gestik zu human gewordenen Schutzengeln des schutzbedürftigen, sich nach Wärme und Kraft sehnenden Menschen der Postmoderne. Und mit dieser ihnen eigenen Kraft neuer Zuversicht in die Schöpferpotenz des Menschen überwinden sie ein zweites Mal (nach der bewahrenden Reinigung durch den Sammler Mintzel) ihren armseligen Erstzustand als verlorenes Gebrauchsgut versinkender Zivilisationen.


Alf Mintzel, Gott des Tanzes, Komponiertes Readymade, 1993, Gusseisen, Granit

Damit wird Mintzels künstlerisches Tun der intertextuellen Literatur und ihrem Innovationspotential (beispielsweise des Petrarkismus) vergleichbar. Denn hier wie dort praktiziert man die dreifache Kunst des Aufhebens. (1) Zunächst wird ein altes (Bruch-)Stück aufgelesen, vom Boden aufgehoben, wo es – weggeworfen – belang-los schien, das ist der erste Sinn des Aufhebens. (2) Sodann wird es nach Hause in die eigene Sammlung/Bibliothek zur Aufbewahrung gebracht, also ein zweites Mal aufgehoben, gereinigt, geordnet, vielleicht nummeriert und verfügbar für spätere Neukreationen/Lektüren gemacht. (3) Erst im Akt der Assemblage entsteht ein neues Ding, das ans alte erinnert, doch unvergleichlich und unverwechselbar, ja einmalig ist. Das alte Ding wird durchs neue Objekt überwunden, überholt, in seiner alten Funktion aufgehoben.

Das Komische und das Sakrale
In dieser letzten Aufhebung offenbart sich nicht selten ein Schuss Ironie, eine latente Komik der Mintzelschen Geschöpfe, wenn sie sich hinauswagen ins Licht der Öffentlichkeit. Bei aller Sehnsucht nach dem Erhabenen im Schöpfungsakt, wie sie in Titeln, wie >Gottheit<, >Kreuzigung<, >gotischer Faltenwurf< und ähnlichen, zum Ausdruck kommt und in der statuarischen Monumentqualität vieler seiner Objekte sichtbar wird, schaut bei Mintzel immer auch ein tiefsitzender Schalk hinter der nur scheinbar objektiven Ding-Kunst hervor.


Alf Mintzel, Selene, Assemblage, 1992, Gusseisen, Holz, Granit


Alf Mintzel, Meditation, Assemblage, 1992, Gusseisen, Holz, Granit

Aus einem alten Flachshechel, den er in einem Holzriegel verkeilt, macht er einen >Stier<, dem man die lächerliche Imponiergestalt von weitem ansieht. Die Hausgäste in seinem Schweizer Feriendomizil lässt er mit maskenähnlichen Gerätschaften >Commedia dell’arte< spielen und er selbst schaut verschmitzt durch eine wunderbare >Wurzelbrille< auf den verdutzten Betrachter. Mintzels Objektkunst veredelt und überhöht die armseligen Ausgangsmaterialien zu einer >sakralen Komposition<, so der Titel einer seiner Assemblagen. Und wer Mintzel nur als den Kämpfer gegen die universitäre >Maria vom Siege< kennt, entdeckt in seinem künstlerischen Werk mit Überraschung eine ganze Reihe von Objektkompositionen, die >gotische Madonnen<, ihren edlen >Faltenwurf< oder Gottheiten aus dem Reich der Mythologie zum Thema haben. Doch als hätte der Objektkünstler Mintzel Sorge, von der hohen Ebene des Pathos ganz vereinnahmt zu werden, nutzt er gleichsam als Gegengift das immense Ironie-Potential, das in seinem Material und seinem Schaffensprozess steckt, immer wieder zu befreienden Soli eines komödiantischen Umgangs mit seinem reichhaltigen Flohmarktfundus. So gesehen sind auch seine >komischen< Objekte Objektivierungen starker Gefühle, Geschöpfe, mit denen Mintzel seine Emotionen dingfest macht. Und gerade deshalb überzeugen sie.

Persönliches II
Jetzt, wo ich mit meinem vorösterlichen textlichen Umgang (am 18.04.2000) mit dem dingfesten Mintzel gut gelaunt ans Ende gelange und mich das erste Frühlingsgewitter von der Terrasse vertreibt, kommt es mir wie ein Blitz: Natürlich: Mintzels Madonnenstreit ist eigentlich ein Passauer ready made, oder anders gesagt: Jene >Maria vom Siege<, die als sakrale Komposition auf der Nordseite der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Passau (in der Michaeligasse Nr. 13) in die Wand eingefügt ist, wird von ihm wie so vieles längst Vergessene und etwas Abgenutzte in einen noch lange nicht beendeten Prozess des Aufhebens verwickelt. Miteinbezogen werden – ernsthaft pathetisch und komisch zugleich – auch andere Beteiligte, und so wird den dergestalt Aufgehobenen zu immer neuen Renaissancen künstlerischer und anderer Art verholfen.“

 

Alf Mintzel: Objekte – Grafik – Malerei. Retrospektive & Neues.

Laudatio, gehalten auf der Vernissage der Ausstellung am 24. April 2015 in der Produzentengalerie Passau
Von Florian Lechner

„Ich bin Wissenschaftler aus Passion, gelegentlich auch politischer Publizist, aber da melden sich immer wieder andere Anlagen und Triebkräfte zu Wort. Wissenschaft ermöglicht nur einen Zugang zur Welt. In meiner Person finde ich verschiedene Anlagen, Spannungen und Widersprüche, Lebensmut und Lebenslust. Andere Wege der Welterfahrung und Lebensäußerung hielt ich immer für wichtig. Doppelsinnig gesagt: Ohne meine >Muse< wäre ich nur ein armer Wissenschaftler.“ (so Alf Mintzel selbst, 1988, Katalog zur Ausstellung 1989 im Scharfrichterhaus: Alf Mintzel und Inge Lu Mintzel >Es ist noch Zeit genug<). Er selbst bezeichnet sich des Weiteren als ein maverick (Einzelgänger, Querdenker, Rebell) und Grenzgänger.(…)

Alf Mintzel legt in dieser Ausstellung einen großen Schwerpunkt auf seine Objektkunst, zumeist handelt es sich um aktuelle und neue Arbeiten. Mintzel ist ein Sammler von Gegenständen, die viele gemeinhin als Schrott und Abfall bezeichnen würden. Auf Flohmärkten, Schrottplätzen und Baustellen und bei Wanderungen mit seiner Frau entdeckt er immer wieder >kunstwürdige< Dinge. (Etwa: Nägel, Flachshechel, Hammer, Beile oder Bleche). Seine Kunst hat trotz ihrer modernen Erscheinung auch konservativen/konservatorischen Charakter, denn es geht ihm auch um das Bewahren und Wiederverwenden von vermeintlich verbrauchten Gegenständen. Mitunter ist das Sammeln auch durchaus aufwändig. In den Werken >Letzte Drehung I< und >Letzte Drehung II<, finden sich alte Pflugscharen. Diese hatte Mintzel beim Spazieren an der Ilz, wegen der eleganten Schwünge lange bewundert. Nach einiger Recherche konnte der Besitzer ausfindig gemacht werden und mit Hilfe eines Traktors wurde der Pflug abtransportiert.

Alf Mintzel, Letzte Drehung I und II, 2015, Schmiedeeisen (Photo G. Thuringer)

Verbeulte Dachrinnen, die er beim Abriss des Universitäts-Ghettos fand, erinnern ihn beispielsweise an Faltenwürfe in altmeisterlichen Gemälden, wie etwa bei Albrecht Dürer. Vermeintlicher Schrott wird fantasievoll als Mensch, Tier oder Gottheit interpretiert Man mag zunächst an die provokativen Ready Mades von Duchamp denken. Die Bezeichnung Ready Made greift aber zu kurz, man muss eher von Assemblagen sprechen, wie es bereits Prof. Dirscherl feststellte. Es handelt sich hierbei nämlich nicht um unbearbeitete Alltagsgegenstände, die zur Kunst erklärt werden. Denn Mintzel reinigt diese Fundstücke und entrostet sie (er verwendet dafür Phosphorsäure und hat eine spezielle Rezeptur). Er arrangiert, komponiert und experimentiert mit diesen Gegenständen, bevor er sie zum eigentlichen Kunstwerk zusammenführt. Mitunter dauert es Jahre, oder sogar Jahrzehnte, bis ein fertiges Objekt entsteht. Ist das passende Arrangement gefunden, werden die Einzelteile auf Karton ausgelegt und die Konturen festgehalten, um sie anschließend permanent zu verbinden.

Da es sich meist um Metalle handelt, muss geschweißt werden. Die Schweißarbeit übernehmen Schmiede für ihn. Einen geeigneten Schmiedemeister zu finden, der Verständnis und Interesse zeigt und darüber hinaus die genauen Vorstellungen umsetzen kann, ist nicht leicht. Mit Alois Gobmeier hat er den Richtigen gefunden, so Mintzel. Es entstanden auch sämtliche Stahlobjekte von 2015 in Gobmeiers Schmiedewerkstatt in Pfarrkirchen (…). Die Assemblagen beschäftigten sich thematisch oft mit bedrohlichen Inhalten, wie martialische Wächter aus Nägeln und Beilen, Totemdarstellungen oder Titel: wie >Blumen des Bösen< und >Schwarze Sonne< nahelegen.

Kult, Ritus und Religion spielen eine weitere große Rolle beim Mintzel, auch spricht er immer wieder von Idolen. Mintzels archaische Darstellungen lassen uns immer wieder an alte Kulturen und deren Gottheiten denken (etwa ägyptische, griechische oder orientalische). Ebenso lassen sich oft Bezüge zur Bibel und dem Christentum finden. Neben dem Vogel ist auch der Stier ein beliebtes Tiermotiv von Mintzel. Das symbolträchtige Tier stand von alters her für Stärke und Fruchtbarkeit und findet sich oft in der griechischen Mythologie (z.B. Entführung der Europa durch Zeus in Stiergestalt; Minotaurus). Darüber hinaus ist der Stier ebenso häufig in der Moderne zu finden, etwa bei Picasso (man denke etwa an den Stierkopf aus Fahrradsattel und Lenker).

Trotz der Ernsthaftigkeit seiner Kunst und Themen ist Mintzel äußerst humorvoll, wie etwa die ironische Uminterpretation von der >Schöpfkelle zum Schöpfergott< in Genesis I und Genesis II, zeigt.


Alf Mintzel, Genesis I und II, 1997, Schmiedeeisen

Sein Schalk findet sich auch beim >Vater der Späne<, ein Hobel den er humorig personifizierte. Durch die Titel und die ausgeprägte Symbolik gibt Mintzel einiges vor, dennoch lässt er immer Raum für eigene Interpretationen und Assoziationen. Seine Kunst lässt sich auch schwer etikettieren und bietet dem Betrachter viele Freiräume.

Alf Mintzels Schaffen, das hier natürlich nur fragmentarisch und selektiv präsentiert wird, ist wahrlich vielschichtig. Mögliche Bezüge zu seinen Werken und Themen erstrecken sich von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart. Das alte, und immer noch bestehende, menschliche Bedürfnis nach Erkenntnis und Sinnfindung – die großen philosophischen Fragen – beschäftigen ihn als Wissenschaftler und Künstler. Er verweist auch immer kritisch auf die Schattenseiten der menschlichen Existenz und kreidet auch gesellschaftliche Missstände und Unrecht an. Dennoch zeigt er aber ebenfalls einen humorvollen und besonders einen fantasiereichen, kreativen und spielerischen Blick auf die Welt und die Dinge.

Ein Zitat des Dadaisten Kurt Schwitters bringt dies auf den Punkt: >Ein Spiel mit ernsten Problemen, das ist Kunst<, und das trifft bei Alf Mintzel wahrlich zu.“

Alf Mintzel, … , Schmiedeeisen (Photo G. Thuringer)

 

Alf Mintzel – Retrospektive & Neues in der Produzentengalerie Passau
Von Georg Thuringer
(Quelle: wasistlos das bad füssing magazin Mai 2015, S. 56)

„Während es Mode zu werden scheint, mit fünfzig oder sechzig einem Ghostwriter die Memoiren aufs Band zu sprechen um sich dann für immer zurückzulehnen, liefert der Ausnahmekünstler Alf Mintzel zu seinem achtzigsten Geburtstag eine Ausstellung mit Werken, die so gut wie alle in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind, gut ein Viertel erst heuer: von einer Retrospektive ist nicht viel zu spüren. Wohl ist in der strengen Reduktion die Fokussierung der gereiften Künstlerpersönlichkeit auf das Wesentliche sichtbar – in der Klarheit der Akzentuierung und der intentionalen Entschiedenheit ist beileibe kein altersmilder Hang zur Wohligkeit erkennbar.

Mit Statements wie ,das Einfache ist schwieriger als aufgesetztes Dekor‘ grenzt Alf Mintzel sich entschieden ab gegen eine Kunst, die sich auf ,ein ästhetisches Spiel mit Dingen, Farben, Formen, Techniken und beliebigen und gefälligen Themen‘ begrenzt. Das klare Wort ist gleichsam sein Lebensmotto: obwohl er seine Studien an der Werkkunstschule Hannover begann und heute als Künstler in Erscheinung tritt, dürfte er den Meisten als streitbarer Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Passau und nicht minder streitbarer Publizist in Erinnerung sein.

Wie als Intellektueller ist Mintzel auch als Künstler nicht in eine Schublade zu pressen: in seinen Lithographien bedient er sich einer reduzierten Gegenständlichkeit, überlagert mit assoziativen und symbolischen Elementen. Die Werke seiner Objektkunst verstehen sich einerseits als Reminiszenz an den vergangenen Nutzen der verarbeiteten Fundobjekte – meist Werkzeuge – an eine Art Würde des Dienens, die diesen Gegenständen in Jahrzehnten des Gebrauchs zugewachsen ist. Andererseits schafft er aus diesen alten Nutzartefakten neue künstlerische Artefakte, die dann neue Kontextfelder evozieren: japanisch, minoisch … die möglichen Assoziationen und symbolischen Lesarten treffen sich mit jenen der Lithographien.

Alf Mintzel, … , Schmiedeeisen (Photo G. Thuringer)

Technisch berührt Mintzel mit seinen Objekten auch den Bereich der Konzeptkunst: während er Graphik und Malerei von eigener Hand verfertigt, lässt er die Stahlobjekte von einem traditionellen Schmied fertigen – selbstverständlich nach genauesten Planskizzen und im arbeitsbegleitenden persönlichen Dialog mit dem erfahrenen Handwerker.

Viele seiner Themen kreisen mit wechselnden Radien um düstere Punkte der Geschichte und der menschlichen Psyche. Dies geschieht weder zufällig noch ist es aus Effekthascherei herbeigezogen: Schon in früher Jugend wurde Mintzel von seinem Vater, der nach dem Krieg als Anwalt an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen beteiligt war, mit den Greueln des Dritten Reichs konfrontiert; bei der Katastrophe von Khao Lak an Weihnachten 2004 kamen mehrere Mitglieder seiner Familie in den Fluten um [siehe hierzu Blog, Kap. 36/37 – A.M.].

Die Kraft und Integrität, mit denen Alf Mintzel sich intellektuell und künstlerisch ein Leben lang allen Widrigkeiten und Versuchungen entgegengestellt hat, spricht auch aus seinen Werken: und so ist auch der Begriff ,Retrospektive‘ dann doch nicht ganz falsch. Die Ausstellung rechtfertigt auch längere Anfahrtswege – bitte Zeit und Verstand mitbringen!“

 

 „Ohne Kunst geht mir der Atem aus”
Alf Mintzel lockt großes Publikum zur Vernissage in Produzentengalerie
Von Gabriele Blachnik
(Quelle: Passauer Neue Presse Nr. 96 vom 27. 04. 2015)

„Selten hatte eine Vernissage in der Produzentengalerie so großen Zulauf wie die am Freitagabend. Das Interesse der Gäste galt Alf Mintzel, der eine Woche nach seinem 80. Geburtstag hier eine kleine Retrospektive eröffnete. Mintzel, der von 1981 bis 2000 an der Universität Passau Ordinarius für Soziologie war, konnte zahlreiche Uni-Mitarbeiter und >alte Professoren-Kollegen aus der Gründergeneration< begrüßen, darunter Heinrich Oberreuter, Familienmitglieder und Verwandte, die aus ganz Deutschland und den Niederlanden angereist waren, Bürgermeisterin Erika Träger, den bayerischen Grünen-Vorsitzenden Eike Hallitzky, Stadtheimatpflegerin Gisa Schäffer-Huber, MMK-Fördervereinsvorsitzenden Klaus Schürzinger, Kunstverein-Vizepräsidenten Dietmar Klinger, die Galeristen Gunther Braun und Eva Riesinger und zahlreiche Künstler wie Rudolf Klaffenböck, Eva Priller, Karl Schleinkofer, Georg Thuringer und die Künstler der Produzentengalerie. Kunstpädagoge Florian Lechner ging in seiner Laudatio auf den gehaltvollen Lebenslauf von Alf Mintzel ein (…). Mintzel sei Wissenschaftler aus Passion, aber stets auch anderen Triebkräften gefolgt, so Lechner. Er sei >Querdenker und Grenzgänger<, als Künstler auch Sammler und Wiederverwerter, der sich nicht nur mit ernsten Themen wie dem Krieg auseinandersetze, sondern immer wieder auch Schalk und Humor zeige. Anhand der ausgestellten Arbeiten umriss Lechner anschließend die künstlerische Bandbreite von Alf Mintzel. Zusehen sind etwa Lithografien, Radierungen, Materialbilder, Gemälde und Objekte aus Schmiedeeisen. Darin setzt sich Alf Mintzel mit Kriegsopfern und Gedächtnislandschaften auseinander, mit seinem Lieblingstier Vogel und mit Themen aus Mythos und Religion. Zu sehen sind auch ganz neue Arbeiten.

Mintzel bedankte sich besonders bei Schmied Alois Gobmeier aus Pfarrkirchen, der die Schweißarbeiten für seine Eisenobjekte ausführt, und bei seiner Frau, mit der er in einer >handwerklichen Glanzleistung< 51 Jahre verheiratet sei. Bis auf die Uhrzeit genau konnte er sagen, wann er sie vor 62 Jahren kennengelernt hat. Und gab zu, dass er sie bei all seinem Schaffen >manchmal vergesse<. Ein Leben mit Kunst war für mich stets ein Leitmotiv<, so Mintzel. >Ohne Kunst geht mir der Atem aus<.“


Aus: Passauer Neue Presse Nr. 96 vom 27. 04. 2015

 

InnSIDE ARTS:
Interview mit Prof. Alf Mintzel
(Quelle: InnSIDE Regional Magazin in Ostbayern und im Innviertel/OÖ, 24. Jahrgang Ausgabe 04. Mai 2015, S.44f)

„Vielen ist Professor Alf Mintzel durch den sogenannten Madonnenstreit noch in Erinnerung. Darüber hinaus ist der streitbare Professor, der im April seinen 80. Geburtstag begehen konnte, auch als Künstler tätig. Derzeit ist eine Ausstellung mit seinen Arbeiten in der Passauer Produzentengalerie zu sehen.

Wie würden Sie ihr Kunstschaffen selbst beschreiben und einordnen?

Darauf zu antworten, würde ich gern kompetenten Kunstbetrachtern und >Kunsterklärern< überlassen. Im Spiegel öffentlicher Kritik wird vermutlich manches anders gesehen. Aber ich gebe gern mit ein paar einfachen Worten Auskunft über meine Arbeit. Ein Laie drückt seinen Zugang und seine Eindrücke gewöhnlich mit schlichten Kommentaren aus: Das gefällt mir, das gefällt mir nicht, das verstehe ich nicht, das finde ich interessant, das ist doch Schrott! Sehen, Betrachten und Verstehen bedürfen einer gewissen Übung und Schulung. Ich bin gern bereit, dazu ein paar Hilfen zu bieten. Zunächst etwas Grundsätzliches.

Mein Kunstschaffen will mehr sein als ein ästhetisches Spiel mit Dingen, Farben, Formen, Techniken und beliebigen und gefälligen Themen. Ich verstehe meine künstlerische Tätigkeit als eine intensive, tiefgehende Auseinandersetzung mit der Welt in der wir leben. Es gibt drei Schlüsselzugänge zur Welterfahrung: über Religion, über Wissenschaft und über Kunst. Ich bewege mich seit Jahrzenten als ein >Doppelgänger< und auch Grenzgänger in diesen Bereichen und habe diesen Perspektivwechsel immer als eine geistige Lebensbereicherung erfahren. In meiner Autobiografie steht das Kapitel >Ein Leben mit Kunst – Kunst als Biografie<. Das macht eine Selbsteinordnung allerdings nicht gerade leicht. Wissenschaft und Kunst waren für mich stets, obschon der Spagat schwierig war, gleichwertige Auseinandersetzungen mit unserer menschlichen Existenz.

Sie haben sich in der letzten Zeit wieder mehr der Objektkunst zugewandt. Wie muss sich ein Betrachter die Machart ihrer Objekte vorstellen? Wie würden Sie mit ihm ihre Objektkunst nahebringen?

Es ist ein komplizierter und schwer zu beschreibender Arbeitsprozess, der von einer Objekt-Idee im Kopf bis zum fertigen Objekt führt. Allem voran geht das Suchen und Entdecken von Fundsachen, was wiederum ein entdeckendes Auge und Sehen voraussetzt. Viele Menschen übersehen, ganz wörtlich gemeint, die Schönheit von Dingen oder die menschheitsgeschichtliche Würde von Dingen, die nutzlos am Rande liegen. Ich sammle und verarbeite Fundstücke aus Holz, Stein, Metall und andern Materialien, die früher eine handwerkliche und technische Funktion hatten. Daraus entstehen neue Objekt und Materialbilder.

Welche Geräte sind das aus der alten Welt des Handwerks, nach denen Sie suchen?

In meinem Fundarsenal liegen alte Hämmer, Nägel, Handbohrer, Riffelkämme, Beile, Messer, Schaufeln, Schlösser, Zangen, Stahlträgerfragmente, Metallplatten, Stahlgüsse und andere Materialien aus der weitgehend untergegangenen bäuerlich-handwerklichen, aber auch aus der uns umgebenden technischen Welt. Das ist mein Ausgangsmaterial. Aus Fundstücken werden ästhetische Werkstücke. Ursprüngliche Gebrauchsgegenstände werden durch eine konstruktive Idee in >Geschöpfe< eigener Art verwandelt.

Die einfachen, zwingend funktionalen Grundformen, in die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende Gebrauchserfahrung eingegangen sind, versuche ich in neue ästhetische Konstrukte einzubringen. Schmiedeeisernes Werkzeug vergangener Zeiten wird aus seinem nutzlos gewordenen Dasein in einen neuen ästhetischen Zusammenhang überführt und hierdurch Teil eines Kunstobjektes. Die Ausgangsmaterialien, Fundsachen aus alter Zeit, werden zu skulpturalen Objekten und Figurinen zusammengeschweißt und erhalten hierdurch eine neue >Ding-Würde<. Manche dieser >Geschöpfe< gewinnen geradezu eine sakrale Würde. Tiefere geistige Schichten unseres Daseins werden angesprochen, menschheitsgeschichtliche Erinnerungen wachgerufen. Vor uns stehen Idole, archaische Figurinen, Stelen, Mahnmale, Sonnenscheiben, altorientalische Herrschersitze, Krieger- und Wächterfiguren, Madonnen.

Kunstschaffen, sagen Sie, bedeutet für Sie persönlich keine gefällige und irgendwie beliebig unterhaltsame Beschäftigung mit ästhetischen Dingen und Themen, keine spielerische Sonntagsbeschäftigung, sondern

Nein. Es ist eine sehr ernste, in die Tiefe der Persönlichkeit gehende Beschäftigung. Das drückt sich auch in meiner Formsprache aus. Ich strebe einfache, streng formale Lösungen an. Ich vermeide meinen >Geschöpfen< spielerische Accessoires hinzuzufügen, sie zu gefälligen Vorgartenfiguren zu machen. Das Auge des Beobachters soll an der Gestaltung der Objekte weiterarbeiten, Altes erkennen und Neues ergänzen. Das Einfache ist schwieriger als aufgesetztes Dekor. Ich verzichte auf Spielerei. Einfachheit und Konzentration auf elementare Formen sind mein Arbeitsprinzip. Ich bringe in der Objektkunst zwar nichts Revolutionäres hervor, ich stehe in einer künstlerisch-handwerklichen Tradition, aber ich habe, so glaube ich, eine eigene >Handschrift< entwickelt, die erkennbar von Mintzel stammt.

Sie haben keine eigene Werkstatt. Die lassen ihre Objekte von einem Kunstschmied oder Metallbauer herstellen, Sie schweißen nicht selbst…

Richtig und legitim! Ich habe keine eigene Werkstatt und auch keine Ausbildung zum Metallbauer durchlaufen. Eine eigene Metallbauer-Werkstatt zu unterhalten, wäre viel zu teuer.
Ich liefere die elementaren Bestandteile und die Objekt-Idee, ich liefere den kompletten Entwurf, oft mit genauer Vorzeichnung, wie das Objekt aussehen soll. Ich liefere zudem >Fertigteile<, also die Ausgangsmaterialien, die in früheren Werkstätten hergestellt wurden. Der Kunstschmied oder Metallbauer fertigt dann in meinem Beisein, unter meiner Anleitung und mit meiner Hilfe das Objekt an. Er ist nicht der Schöpfer, sondern sein handwerklich-technischer Hersteller, der den Angaben des Schöpfers oder Entwerfers folgt. Beide Rollen müssen sich aber, soll das Werk gelingen, aufs Beste ergänzen. Der Handwerker muss wissen, was der Schöpfer will und wie er es will. Er sagt mir allerdings auch, was möglich ist und was nicht. Manchmal muss ich einen Objekt-Entwurf wegen der materialen Machbarkeit verändern. Die enge Zusammenarbeit mit dem handwerklichen Hersteller ist für mich ein wunderbares Erlebnis. Die handwerklich-technische Fertigung eines Kunstobjektes nicht selbst durchzuführen, mag manchem befremdlich erscheinen. Diese Praxis ist jedoch häufig zu finden und legitim. Bildhauer übergeben ihre Werkmodelle einer Gießerei. Nicht jeder Künstler kann sich eine große Druckwerkstatt mit einem professionellen Drucker leisten. Viele Künstler hatten Helfer, die ihre Vorgaben umsetzen, Picasso, Henry Moore, Henri Matisse, um nur einige wenige zu nennen. Die notwendigen handwerklich-technischen Hilfeleistungen sind ein legitimer Aspekt des künstlerischen Herstellungsprozesses. Ich nenne die Werkstätten und Namen.

Wie steht es mit Ihren grafischen Arbeiten, mit den Lihtografien und Radierungen? Sie bezeichnen die ausgestellten Blätter der Serie „Folter, Opfer und Schrecken des Krieges“ als experimentelle Lithografien?

Diese Arbeiten sind alle im Kulturmodell Passau in eigener Regie und Handarbeit am Stein entstanden. Ich habe diese grafischen Techniken gelernt und kann sie im Unterschied zu den Schmiedearbeiten ohne Hilfe anwenden und damit auch experimentieren. Die Werkstatt des Kulturmodells war eine ungemein nützliche und für Künstler komfortable Einrichtung. Ich habe sie öfters genutzt, um meine Bildideen umzusetzen. Es ist sehr zu begrüßen, dass die Stadt Passau diese Einrichtung saniert und fortführen will.

Die Themen der ausgestellten Lithografien, >Folter, Opfer und Schrecken des Krieges<, verweisen auf meine Auseinandersetzung mit dem Gewaltproblem in der menschlichen Geschichte und mir der Bestialität, die täglich in Bildern und Berichten gezeigt wird. Die intensive Auseinandersetzung hat gewiss lebensgeschichtliche Gründe. Ich habe Bombenangriffe im Keller überlebt, ich habe das Kriegsende erlebt. Mein Vater war Verteidiger in den Nürnberger Prozessen gegen Kriegsverbrecher. Ich habe schon in früher Jugend von den Nazi-Gräueln gehört.

Wir danken für das Gespräch.“

48. ›On the sunny side of the street‹ (II) – Tessiner Impressionen

»Et in Arcadia ego«

Auch in Arkadien gibt es mich: den Tod. In zahlreichen Varianten und Ausdrucksformen war er allgegenwärtig. Ich habe ihn in meinen ›Notizen & Skizzen‹ in vielen kleinen Geschichten festgehalten. Auch die einstmaligen Eigentümer und Besitzer des Hauses sind ihm anheimgefallen. Sie geistern nur noch in Gedanken und Erinnerungen durch das Haus, das heute Fremden gehört. An den allgegenwärtigen Tod, dem auch ich entgegengehe, erinnert mich nicht nur der Sinnspruch des altrömischen ›memento mori‹, gedenke des Todes! Dieser Spruch steht auf den Wänden vieler Tessiner Kapellen und Kreuzstationen. Auf Fresken hält der personifizierte Tod, der Knochenmann, die Sense bereit – selbstverständlich auch für mich. In unserem Tessiner ›Arkadien‹ war der Tod täglich rund um das Haus zu beobachten. ›On the sunny side oft the street‹ ereigneten sich grausame Vorgänge. Daher schlage ich im Folgenden auch düstere Töne an. Meine Tagebücher, fast fünfzig Bände an der Zahl, sind voll davon. Aus ihnen will ich im Folgenden Einträge wiedergeben und ein paar Impressionen und Erlebnisse in lockerer Folge in Worte fassen.

Ich wollte stets wissen, mit wem und mit was ich es in der Natur zu tun hatte. Seit meiner Kindheit war ich naturkundlich interessiert. Meine Neigung, das Tier- und Pflanzenleben um mich herum zu beobachten und zu beschreiben, war nie verloren gegangen. Das Naturgeschehen zog mich auf jedem Spaziergang und bei jeder Erkundung in seinen Bann. Ich fand im Tessin und rund um das Haus einen vielfältigen Kosmos vor. In der Casa Lu hatte ich zahlreiche naturwissenschaftliche und -kundliche Bücher zur Hand: Fachwerke über Schmetterlinge, Käfer, Libellen, Heuschrecken und Bestimmungsbücher zur Flora Helvetica und über vieles mehr. Ich wusste, wer und was giftig war oder harmlos. Aufgrund dieses Wissens fiel mir in der Familie die Rolle des Tierfängers zu. Bevor die Kinder sich abends schlafen legten, musste ich erst einmal dicke Spinnen fangen, Skorpione vertreiben, Stechmücken totklatschen, verirrte Eidechsen aus den Zimmern scheuchen und Spinnweben entfernen.

Beides machte unser Leben im Tessin so reich an Eindrücken: Natur und Kultur. Wir lernten die Täler kennen, deren reißende Bergflüsse zum Lago Maggiore hinabströmen: das Centovalli, das Valle Onsernone, das Tal der Maggia, das wilde Valle Verzasca und andere. Wir kannten die urigen Dörfer an ihren steilen Hängen, die Brunnen und zahlreichen Wasserfälle. Wir spazierten in all den Jahren viele Dutzende Male auf schmalen Pfaden durch Weinberge und durch enge Gassen, an alten Gemäuern entlang, treppauf und treppab, an den Tessiner Rustici vorbei. Es gibt dort viele verwunschene kleine Plätze. Vor 150 Jahren waren die Täler um den Lago Maggiore die Armenstuben des Kantons, aus denen ausgemergelte Bergbauern und Handwerker nach Amerika aufgebrochen waren. Später kehrten die Erfolgreichen zurück und bauten in den Tälern prächtige Häuser im Tessiner Stil, die einen besonderen Charme in die Landschaft brachten. Jedes kleine Stück Terrain wurde genutzt, sei es für Gemüse, sei es für Blumen und Kamelien, sei es für eine Sitzbank an einem sonnigen Fleck. Wir erlebten den Tessin noch vor der Welle des Massentourismus, die sich später über den Kanton ergoss und manches erdrückte, was den besonderen Reiz dieser Landschaft ausmachte. Wir nahmen am jahreszeitlichen Kulturleben teil, besuchten das ›Teatro Dimitri‹ in Verscio, in Tenero die hochkarätige Kunstsammlung ›Matasci Arte‹, in Ascona die ›Settimane Musicali di Ascona‹, das ›Museo Epper‹, den ›Monte Verita‹ und das Museum moderner Kunst in der Casa Communale. Ich kannte mich in Locarno und Ascona bald besser aus als in Passau. Der Besuch der Kunstsammlungen in der ›Casa Rusca‹ gehörte zu unserem kulturellen Standardprogramm, ebenso die Ausflüge nach Bellinzona, Mendrisio und Lugano, um die dortigen Ausstellungen zu besichtigen. Auf den Spuren von prominenten Künstlern, Schriftstellern, Dichtern und Wissenschaftlern, die im Tessin Station gemacht hatten und eine Weile geblieben waren, kamen wir bis Montagnola, wo Hermann Hesse bis zu seinem Tode (1962) gewohnt hatte. Wir legten im Friedhof Sant‘ Abbondio einen kleinen Stein auf sein Grab. Nach einem abendlichen Sommerkonzert in Ascona notierte ich:

Abenddämmerung.
Die klagende Oboe
dringt tief in mein Herz

(27.07.2009)

Zu den jahreszeitlichen Ereignissen gehörten die Vernissagen, die die Galeristin Eva Lautenbach an Pfingsten und im Spätsommer im Dorf Aurigeno veranstaltete, das im Valle Maggia unweit vom Hauptort des Tales liegt. Sie fanden seit Jahrzehnten an Evas Wohnsitz in dem verwunschenen Castello Ciappui statt. Aus unseren jährlichen Besuchen entwickelte sich eine treue und anregende Künstlerfreundschaft. Auch zur Welt der Tessiner Kunsthandwerker pflegten wir enge und zum Teil freundschaftliche Beziehungen. Inge Lu geriet immer wieder in den Bann formschöner, bezaubernd farbig glasierter Keramik. Ein ästhetischer Genuss, der uns beide erfreute. Natur und Kultur gehen ineinander über und verbinden sich zu einem Gesamtkunstwerk, das vergessen lässt, wie finster und grausam es in der Welt zugeht. Solche gemeinsamen Momente losgelösten Schwebens in einer lichtdurchfluteten Atmosphäre habe ich versucht, in reimlosen Versen auszudrücken. Doch bleibt die Ahnung vom Ende der belles choses stets gegenwärtig.

Wunderbares Schweben

Die Taue lösen,
die uns festhalten.
Wunderbares Schweben.
Zweifel abwerfen
und höher steigen
ins Azur.
Uns festhalten
in der Gondel
der Träume.
Wie lange werden wir fliegen?
Und wohin?
Der Azur
ist kein Ort des Bleibens.
Die Nacht wird kommen
und der Sturz
in die Tiefe.

(Orselina, 15.08.2001; Notizen & Skizzen, Band 16)

Einige der Händler und Trödler auf dem Locarneser Flohmarkt kannten den Objekt-Jäger Mintzel und seine Leidenschaft für alte handwerkliche und bäuerliche Geräte. Ich kam an ihren Ständen nicht vorbei, ohne alles durchzuwühlen. Sie wussten schon, nach was ich suchte, und brachten mir aus den Tälern allerhand ›Schrott‹ mit. Die großflächigen Terrassen der Casa Lu eigneten sich wunderbar zum Auslegen meiner Fundstücke. Ich konnte mit den Materialien, die ich auf den hellen Granitplatten verteilte, in eine ästhetische Kommunikation treten, sie neu kombinieren, drehen und wenden, bis ich ein Ergebnis hatte, mit dem ich zufrieden war. Dann skizzierte und fotografierte ich die ausgedachten skulpturalen Objekte für den Gang in die Schmiede.


Alf Mintzel, Objekt-Entwürfe, 2.8.1997


Alf Mintzel, Kleine Stele, Entwurf, 15.4.1999


Alf Mintzel, Memo für Passau Flohmarkt, 22.4.1999

In Losone, am Eingang zum Pedemonte gelegen, fand ich eine Metallverarbeitungsfirma (Metalcostruzioni, CH-6616 Losone), die sich bereit erklärte, meine Sonderwünsche zu erfüllen. Der Firmeninhaber Aldo V. Döring und seine Mitarbeiter zeigten ein großes Interesse an meinen skulpturalen Entwürfen und Objekten. Früh um acht Uhr stand ich bereits in der Werkstatt und kam erst am Abend wieder heraus, und das viele Male. Es war eine erbauliche und zutiefst kreative Zusammenarbeit mit den kunsthandwerklich gewandten italienischen Schweizern, denen eine artifizielle Ästhetik angeboren zu sein scheint. Ich lieferte die Materialien und Entwürfe, sie führten in meinem Beisein nach meinen Vorgaben die Schweißarbeiten aus (siehe hierzu auch Blog-Kap. 49).

Die Tage in der Losoner Werkstatt bereicherten mein Leben ungemein. Ich fasste noch vor meiner Entpflichtung als Hochschullehrer Fuß im künstlerischen Bereich und nahm an Ausstellungen teil. Im Jahre 1995 veröffentlichte ich zu meinem 60. Geburtstag einen Katalog, in dem ich meine „Objekte(n) 1989–1995 – Holz – Stein – Metall“ vorstellte (ISBN 3-00-000008-9), und 1997 ein Faltblatt mit 14 Abbildungen. Im Epilog zum Katalog bekenne ich: »Er stellt ein dem ständigen Berufsstress und der Überlast der wissenschaftlichen Lehre abgerungenes Stück ›alternatives‹ Leben dar. Am Beginn einer neuen Lebensphase kehre ich zu meinem alten Metier zurück. Wer weiß, ob noch Zeit genug ist.«

 

Aus meinen Tessiner ›Skizzen & Notizen‹

Eine üppige mediterrane Flora und Fauna findet man rund um das Haus: Der etwa 2600 Quadratmeter große Garten beherbergt ein Biotop mit mehreren Binnenzonen, oben der Kastanienwald und hohe Eschen, dichtes Unterholz, zwischen Wald und Haus ein offener Hang mit Gebüsch, Gräsern, Wiesenblumen, Ginster, Hortensien, Sommerflieder. Auf der östlichen Hangseite hin zu einem ausgetrockneten Bachbett ein sperriges Bambuswäldchen, dessen Hölzer und Blattwerk bis zu zwölf Metern in den Himmel ragen. Ein zweites Biotop auf der Hausebene: auf der Schlafzimmerterrasse ein kleines Wasserbecken mit Seerosen und Wasserlilien, das Kröten, Libellen und Wasserläufer bevorzugen und Bienen und Wespen als Tränke benutzen. Ein drittes Biotop rund um das Schwimmbad: kadmiumgelb blühende Arnika-Gruppen. An der Schwimmbadmauer haben sich fleischige Opuntien ausgebreitet, in den locker gefugten Steinen lauern, vom wilden Wein verdeckt, Ringelnattern auf Beute. In der Abenddämmerung flattern Fledermäuse ums Haus und titschen über das Wasser im Schwimmbad. Der Hangabschnitt unterhalb des Hauses reicht bis zur Straße, er ist größtenteils mit Iberikum und Lavendel bewachsen. Khakibäume spenden Schatten. Zur rechten Seite, zum Nachbarn hin, ein flaches Wiesenfeld, auf dem ein weit ausladender, an Ästen reicher Feigenbaum steht, der uns im Spätsommer mit süßen Feigen versorgt. An den Wegen und Pfaden durchs obere Grundstück wachsen Farne, Ginster, Brombeeren, Johanniskraut und Stechpalmensprösslinge. Wohin das Auge schweift, überall Blüten und Farben; wohin man auch immer schnuppert, süße und erdige Gerüche, eine Duftpalette des Südens. Wohin die Ohren lauschen: Summen, Wispern, Rascheln, Rauschen, Zirpen, Vogelgesang. Um die Arnikablüten gaukeln Distelfalter, auf den Granitplatten vor der Küchenterrasse jagen Garteneidechsen lautlos nach Fliegen. Am oberen Hang haben Smaragdeidechsen ihr Revier. In den heißen Sommernächten tanzen Dutzende Glühwürmchen um Büsche und Gräser. Abends und nachts besuchen uns Tiere: Wildschweine, ein Fuchs, ein Rehbock, Skorpione. Käuzchen rufen aus den hohen Ästen einer alten Kiefer, die am Bach steht. Unheimliche Laute. Einem Gast, der einmal das Haus im Sommer für einen Monat gemietet hatte, jagten die nächtlichen Laute einen so großen Schrecken ein, dass er schon nach einem Tag Aufenthalt fluchtartig abreiste. Er bezahlte lieber die vereinbarte Ferienmiete im vollen Umfang, als noch eine Nacht im Haus zu verbringen. Wir waren an die unheimlichen Geräusche gewöhnt und erkannten unsere tierischen Besucher.

Die obere Grundstücksgrenze hin zum Wald ist nicht lückenlos eingezäunt. Wir wussten, wer bei einbrechender Dunkelheit grunzend vom oberen Hang raschelte und durch das trockene Bachbett zum unteren Nachbargrundstück hinunterrutschte. Tapp, tapp, tapp liefen sie an der Schlafzimmerterrasse vorbei. Überraschende Begegnungen gehörten zu unserem Domizil. In den Wochen und Monaten, in denen das Haus nicht bewohnt wurde, nahmen Rehe, Wildschweine und Spechte Besitz vom Terrain. Im späten Frühling wanderte ich durch den Garten und zählte bis zu vierzig verschiedene Frühlings- und Wiesenblumen. Ich wollte wissen, wer sie sind, die meine Lebensfreude so wunderbar steigern, und bestimmte Arten und Namen. (Siehe „Notizen & Skizzen, Bände 6, 7). Ich zeigte sie meinen Kindern und Kindeskindern und hoffte, dass sie mit offenen Augen lernten, welchen Reichtum und welche Kenntnisse über das Leben uns die Natur beschert.


Orselina, Casa Lu, Blick auf die Nordwestseite des Hauses, Photo: Alf Mintzel


Orselina, Casa Lu, Schlafzimmer-Terrasse mit kleinem Wasserbecken, Photo: Alf Mintzel

 

Prähistorische Spuren

Ein verstecktes Dorf, ein magischer Platz. An der Melezza flussabwärts liegt eine hügelige Berglandschaft, die von Intragna/Golino bis Losone verläuft. Oben an den Hügeln lehnt versteckt das Dorf Arcegno. Etwa hundert Meter nach dem Dorfausgang führt eine schmale Landstraße am Berghang entlang in Richtung Intragna/Golino. Nahe am Dorfausgang, beim Campo Enrico Pestalozzi, liegen im Laubwald verborgen zwei große Felsbrocken, auf denen geheimnisvolle ›Bilder‹ eingeritzt sind. In keinem Tessiner Tourismus-Führer werden diese Petroglyphen erwähnt. Selbst die Commune Arcegno scheint ihre prähistorischen Relikte zu verschweigen. (Notizen & Skizzen, Band 6) und vor Touristen verborgen zu halten. Nur Eingeweihte kennen den Ort. Uns hatte Marco Mummenthaler, ein in Arcegno ansässiger Kunsthandwerker, den geheimnisvollen Ort verraten. Jäger und Sammler ritzten hier vor tausenden Jahren auf vom Gletschereis rundgeschliffenen Granitblöcken Dutzende Näpfchen, Schälchen oder Schüsselchen ein, lateinisch cupulae genannt. Einzelne Schälchen sind mit eingeritzten Rillen verbunden. Wozu haben sie gedient? Wer hat sie vor drei Jahrtausenden oder noch früher geschaffen? Wer war der Mensch, der hier gestanden und den Felsblock bearbeitet hat? Wahrscheinlich ist das hügelige Gelände um Arcegno, am Eingang zum Centovalli, das älteste nacheiszeitliche Siedlungsgebiet im Tessin. Das Gelände war prädestiniert für frühe Siedlungen. Dort fanden die prähistorischen Jäger und Sammler zwischen den Felswänden Schutz und Wärme. Von den nach Losone abfallenden Bergrücken hatten sie eine weite Sicht hinüber zu den Alpen und hinunter nach Italien. Sie konnten von diesem Plateau aus rundum die Landschaft überschauen und Himmelsvorgänge beobachten. Weit in die Landschaft blicken zu können, bedeutete mehr Sicherheit, denn sie konnten nahende Gefahr rasch erkennen. Die Bergrücken um Arcegno liegen vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang im Sonnenlicht, was die frühen Siedler optimal mit Wärme versorgte. Die Schwemmebene der reißenden Melezza bot ein wildreiches Jagdgebiet, am Fluss wurde gefischt. Die prähistorische Siedlung hatte kulturelle Verbindungen nach Oberitalien zum Val Camonica bei Bergamo, wo zahlreiche Felszeichnungen zu finden sind. Ich liebe es, mich an Orten und Plätzen menschlicher Urgründe aufzuhalten. Am Abend fuhr ich oft in die Schwemmebene der Melezza hinunter und blickte von Verscio aus hinüber zu meinen prähistorischen Freunden. Archaische Empfindungen, Stille (Notizen & Skizzen, Bände 6, 16, 42).


Felszeichnung/Incisione rupestre, Capo di Ponte, Zurla/Val Camonica. © Ernest Oeschger, CH-6655 Intragna, Ti

In solchen Momenten hielt ich inne und horchte in mein kurzes Leben hinein. Ich fühlte mich von einem Zeitfluss fortgetragen. Sie, die hier gelebt und sich so ›manifestiert‹ haben, sind verschwunden, und doch sind sie mir mit ihren Relikten so nahe. Bald werde auch ich für immer verschwunden und vergessen sein. Ich versuchte diesen Moment, der mich zutiefst berührte, in Worte zu fassen

Im Umriss
der Fußspur aus Urzeit
das Monogramm
eines Unbekannten,
der mir nahe steht.

(Orselina, 27.06.1995; Notizen & Skizzen, Band 6, 16)

 

Die Jagd der Mosaikjungfer

(geschrieben an einem Sommernachmittag im Tessin)

Das Lichtnetz der Sonne
schaukelt im Wasser,
fängt den Schatten der Libelle.
Der Blaupfeil
jagt im Fluge
die arglos tanzenden Mücken.

(Orselina, 26.06.1995; Notizen & Skizzen, Band 16)

Auf der Schlafzimmerterrasse jagt eine blaugrüne Mosaikjungfer, eine Großlibelle, am Seerosenteich nach Insekten. Sie schwirrt blitzschnell in einer Höhe von 50 bis 100 Zentimetern über den Teich, verändert im Bruchteil einer Sekunde ihren Flug, nach links, nach rechts, nach oben, nach unten. Sie bleibt in der Luft stehen und beobachtet die Insekten, die sich im gleißenden Sonnenlicht von der morastigen Farbe des Wassers und den Seerosenblättern abheben. Sie kommt mir bis auf Lineal-Länge nahe, entfernt sich erneut, kehrt blitzschnell zurück und verharrt im stehenden Flug über meinem Kopf. Für Menschen ist sie jedoch völlig ungefährlich. Ich verfolge ihre Flugtechnik und Flugkünste mit großer Faszination. Sie sind modernen Fluggeräten des Menschen, Helikoptern und Drohnen, weit überlegen. Die Mosaikjungfer kann ihre glasig-durchsichtigen zwei Paar Flügel unabhängig voneinander bewegen, was in der Welt der Insekten einzigartig zu sein scheint. Sie muss ein ausgezeichnetes räumliches und scharfes Sehvermögen besitzen, um ihre blitzschnellen Bewegungen ohne Kollisionen durchführen zu können. Ihre blaugrün schimmernden Augen sind auffallend groß und bilden zwei kugelige Halbkreise. Ich würde gern eine Vorstellung davon haben, was sie wie sieht. Der Kopf dieser Großlibelle ist aus der Nähe betrachtet erschreckend, irgendwie urtümlich teuflisch, bedrohlich. Vor 250 Millionen Jahren hatte ihre Art eine Flügelspannweite von bis zu siebzig Zentimeter.

Ihre Jagdzeit am Teich ist nachmittags zwischen 15 und 16 Uhr, also bei einem bestimmten Sonnenstand. Sie stellt sich im Flug so gegen das Dunkel im Hintergrund, dass auffliegende Insekten im Sonnenlicht aufleuchten und einen hellen Punkt bilden. Die Jägerin stürzt sich auf eines herab, greift es in Millisekunden mit seinen drei Paar Beinen, die sich zu einem Fangkorb um das Opfer schließen. Alles geschieht mit einer Geschwindigkeit, der menschliche Augen kaum folgen können. (Aus meinen Notizen & Skizzen, Band 13).

Gut, dass ich kein Insekt bin, das sich am Seerosenteich vergnügt und einer gefräßigen Mosaikjungfer zum Opfer fällt. Nach den Reinkarnationslehren des Hinduismus und des Buddhismus könnte mir blühen, in eine Eintagsfliege verwandelt zu werden.

 

Sommerspiele mit Schwebfliegen

Neben den Flugartisten der Libellen gibt es noch andere Insekten, die wahre Kunstflieger sind: die kleinen Schwebfliegen. Ihre Körperlänge misst nur 1 bis 1,5 Zentimeter. Sie gehören zu meinen Lieblingen unter den Insekten. Ich beobachte sie mit größtem Vergnügen, wenn sie mich umschwirren und aus dem Stand blitzschnell vorwärts oder rückwärts fliegen und überraschende Flugmanöver ausführen. Im Gegensatz zu den Libellen sind sie keine räuberischen Kandidaten. Sie stechen nicht, sie saugen kein Blut, sie sind in freier Natur unsere stillen Gäste am Frühstücks-, Mittags- oder Abendtisch. Anders als Bienen, Wespen oder Hornissen sind Schwebfliegen Einzelgänger, sie leben nicht in Nestgemeinschaften. Ihre Biotope sind Parks, Gärten und Wiesen. Je nach Art – es gibt etwa 6000 Arten – variiert ihre Körpergestalt. Manche sind lang und schlank, manche kurz und gedrungen geformt. Allen Arten gemeinsam ist eine typische Mimikry. Ihre schwarzgelbe oder schwarzorangene Tarnfarbe, die mal quergestreift, mal längsgestreift ist, macht sie Wespen und Bienenarten zum Verwechseln ähnlich. Menschen, die kein geschultes Auge für diese Täuschung haben, schrecken vor diesen völlig harmlosen Insekten zurück, die nur Pollen und Nektar saugen. Sie können nur flüssige Nahrung aufnehmen.

Ich bewundere ihre Flugkünste und habe, wie bei den Libellen, meine wahre Freude daran. Sie bleiben mit mehrere hundert Flügelschläge pro Sekunde in der Luft stehen und schwirren lautlos hin und her, als suchten sie etwas. Auch ihr Flugapparat ist unserer Hubschrauber-Technik überlegen.

Ich amüsiere mich über Richard Dawkins‘ Angst vor Schwebefliegen. Der Evolutionsbiologe und kämpferische Atheist Dawkins schreibt in seinem Buch ›Die Schöpfungslüge. Warum Darwin recht hat‹ 2010: »Das gleiche Problem [Angst zu empfinden – A. M.] habe ich, wenn ich Schwebefliegen in die Hand nehmen soll, die Wespen oder Bienen ähneln, obwohl sie nur ein Flügelpaar besitzen und ich deshalb genau weiß, dass es sich um Fliegen handelt, die keinen Stachel haben.« (S. 73) Wahrscheinlich ist sein Angstbekenntnis nur intellektuelle Koketterie. Ich mache mir jedenfalls am Morgen- oder Mittagstisch einen besonderen Spaß daraus, die anschwirrenden wespenähnlichen Kunstflieger auf meinen Handrücken zu locken. Wenn sie im Flug über dem Tisch schweben, schiebe ich meine Hand ganz vorsichtig unter ihre Flugposition. Und prompt landen sie auf meinem Handrücken und bleiben darauf sitzen. Sie lecken den Schweiß auf, der sich auf meiner Haut gebildet hat, was kitzelt und bitzelt. Ich führe meinen Kindern und Enkelkindern gern dieses kleine Schauspiel vor, um ihnen zu zeigen, dass Wissen und Achtsamkeit die Angst nehmen können.

 

Der Tod des Irokesen

Im Garten und im umliegenden Gelände reihen sich verschiedene Baumgruppen aneinander: Kastanienbäume, Eichen, Eschen, Fichten, Föhren und entlang der Straße Thujen – ein Eldorado für Eichhörnchen. Sie laufen, hüpfen, springen und purzeln durchs Geäst, an den Stämmen hinauf und hinunter, zurück und vor. Wir beobachteten, wie sie von Ast zu Ast und von Baum zu Baum kletterten, und bewunderten ihre Geschicklichkeit. Sie bevorzugten bestimmte Wege durch die Baumgruppen. War die Lücke zwischen Bäumen sehr groß, überbrückten sie die Distanz mit kühnen Weitsprüngen. Sie landeten sicher auf dem nächsten Baum, obschon es manchmal sehr knapp zu gehen schien. Wir alle liebten unsere kleinen Gäste, die täglich bei uns vorbeischauten und ihre Turn- und Kletterkünste vorführten.

Im Tessin gibt es zur Sommerzeit heftige monsunartige Regenfälle, die sich über Tage hinziehen können. Der kräftige Dauerregen tränkt die Erde und durchnässt die ganze Flora. Trockene Bachrinnen werden zu gurgelnden Bachläufen, die Bergbäche rauschen in die Tiefe, überall tropft und perlt das Wasser herab, die Bergflüsse befördern ungeheure Wassermassen hinunter zum See. Sie reißen manchmal Brücken und Stege weg und schwemmen alles in den See, was sich mit den Wassermassen dorthin tragen lässt. Auf dem Lago Maggiore schwimmen Riesenflöße aus mitgerissenen Baumstämmen, Geäst und Wurzeln. Wir haben im Laufe der mehr als vierzig Tessiner Jahre mehrmals solche Wetterkatastrophen erlebt. Auch Casa Lu wurde von Wetterstürzen heimgesucht. Vom hinteren Hang schoss das Wasser auf den Wegen und Pfaden auf das Haus zu und drohte es zu überschwemmen. Dachrinnen und Drainagen konnten die Wassermassen nicht mehr fassen. Wir mussten Gräben schaufeln, Schläuche legen und Wasser schöpfen, damit das Wasser vom Haus wegfließen konnte. Auch die Tiere suchten Schutz und blieben in ihren Verstecken.

Nach einem dieser Monsuntage wagte sich eines unserer Eichhörnchen aus seinem trockenen Platz hervor, den es unter dichten Zweigen gefunden hatte. Der Himmel hatte sich aufgehellt, die heißen Sonnenstrahlen die Landschaft in ein Dampfbad verwandelt. Die Vögel fingen wieder an zu zwitschern. Für das Eichhörnchen schien aber jeder Sprung noch ein Wagnis zu sein, die Äste waren noch nass und glitschig. Der sonst buschige Schwanz des kleinen Tieres wurde zu einem nassfransigen Anhängsel und der Pelz auf seinem Kopf zu einer hochstehenden Popfrisur. Wir amüsierten uns über diesen Auftritt und hatten sofort einen Rufnamen für den putzigen ›Irokesen‹. Der kleine Kerl hatte Pech. Er verunglückte bei einem gewagten Weitsprung, fiel in die Tiefe und schlug so unglücklich auf, dass er offensichtlich halb gelähmt war. Er verkroch sich mit letzter Kraft unter eine Thuja und verendete dort unter großen Schmerzen. Unsere Kinder empfanden tiefes Mitleid mit dem Tierchen.

 

Das Quakkonzert der Kröten und Grasfrösche

Gewitterschwüle.
Der Grasfrosch grüßt die Tropfen
mit Wonnequaken.

Die schweren Tropfen
zerspringen auf dem Wasser.
Der Grasfrosch taucht ab.

(geschrieben am 21. 09. 2002 in Orselina)

Der Lotos
holt im dunklen Teich
aus morastgrüner Tiefe
seine Blütenkraft.
Ohne Wasser
sinkt er haltlos
auf den Schlammgrund zurück.

(Orselina, 27.06.1995, Notizen & Skizzen, Band 16)

 

Krabbenspinnen und Schlupfwespen – auf den Spuren Charles Darwins
(Aus meinen Notizen & Skizzen, Bände 13, 24)

Vom Swimmingpool wenige Meter entfernt wächst, dicht zu Büscheln gedrängt, Arnika, eine reich und üppig blühende Gartenblume. Die Pflanze, ein Korbblütler, ist mit circa fünfzig kadmiumfarbigen Blüten besetzt, mit lanzettförmigen Blättern. Viele Honigbienen umschwärmen die Blüten, ihr munteres Summen hört sich friedlich und wonnetrunken an. Sie lieben den Nektar. Ich beobachtete häufig den Bieneneifer und freute mich über An- und Abflug unserer Honigproduzenten. Einmal saß auf einer Blüte ein kleines gelbes Tier, das sich kaum von den Blütenfarben abhob. Es saß ganz still, rührte sich keinen Millimeter vom Fleck. Sein Körper war kugelförmig, sein Kopf relativ klein. Es streckte vier Gliedmaßen nach vorne wie Greifarme aus, nach hinten vier kurze Beinchen. Hätte ich nicht so lange und hochaufmerksam das Bienenvolk beobachtet, wäre mir die kleine gelbe Kugel im Inneren des Blütenkranzes nicht aufgefallen, so perfekt war die Mimikry des Wesens. Seine Tarnfarbe machte es fast unsichtbar. Bei meinen ersten Beobachtungen wusste ich zunächst nicht, wer da lauerte und was passieren würde. Dann sah ich eine Biene anfliegen und auf den Blütenkorb steigen. Blitzschnell griffen vier Fangbeine nach der Biene. Die Nektarsammlerin hatte offensichtlich den Killer nicht gesehen, die tödliche Gefahr nicht erkannt. Die gelbe Kugel, die sie gegriffen hatte und festhielt, war eine Krabbenspinne. Ihr Biss lähmte die Biene, die keine Überlebenschance hatte. Krabbenspinnen weben kein Fangnetz. Sie lauern ihren Opfern, Insekten und Bienen, in Blüten auf, umfassen ruckzuck ihre Beute mit den vier vorderen Greifbeinen, die – nur unter der Lupe zu sehen – mit Widerborsten besetzt sind. Die Spinne sondert aus einer Drüse am Hinterleib einen feinen Faden ab, mit dem sie ihre Beute umwickelt. Mit einem giftigen Biss lähmt sie das gefangene Insekt und saugt es aus. Über Wochen beobachtete ich auf Kontrollgängen durch den Garten diese Killer, wie sie tagelang völlig unbeweglich an derselben Stelle auf den Arnika-Blüten saßen und auf Beute warteten.

Mich beschlichen merkwürdige menschliche Gefühle und Gedanken: ich bangte um das Leben der arglosen Bienen und wollte sie vor den hinterhältigen und heimtückischen Biestern warnen und schützen. Sympathie und Abscheu, Grausamkeit und heimtückischer Mord sind menschliche Kategorien. Doch kommen mir wieder ketzerische Gedanken ins Gehirn. In der Genesis steht geschrieben, was Gott an seinem sechsten Tagewerk geschaffen haben soll: »Dann sprach Gott: Die Erde bringe alle Arten lebender Wesen hervor, Vieh, Kriechgetier (oder: Gewürm) und wilde Landtiere, jedes nach seiner Art! Und es geschah so. Da machte Gott alle Arten des Viehs und des Getiers, das auf dem Erdboden kriecht, jedes nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war« (Mos.1, 25).

Also lasse ich es, spöttisch gemeint, gut sein und greife nicht in das bestialische Geschehen ein.

In unserem ›Arkadien‹ Orselina ist noch ein anderes Insekt zu beobachten, das über seinesgleichen herfällt und sich merkwürdig an seiner Beute zu schaffen macht: Schlupfwespen. Schon im 19. Jahrhundert waren Philosophen, Naturwissenschaftlern und Theologen gerade auch am Beispiel der Lebensweise der Schlupfwespe Zweifel daran gekommen, ob die Grausamkeit von Tieren mit der Existenz eines liebenden, allgütigen und fürsorglichen Gottes vereinbar sei. Charles Darwin hatte 1860 angesichts der parasitären Fortpflanzungsweise der Schlupfwespe geäußert: »Es erscheint mir zu viel Elend in der Welt. Ich kann mich nicht davon überzeugen, dass ein wohlmeinender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae [Schlupfwespen – A.M.] mit der Absicht erschaffen haben soll, dass sie sich vom Innern von Raupen ernähren, oder dass eine Katze mit Mäusen spiele.« (https://de.wiipedia:org/wiki/Schlupfwespen. Abgerufen am 10.12.2017; Dawkins 2010: Die Schöpfungslüge, S. 418, 447).

Schlupfwespen sind parasitäre Insekten, deren Nachwuchs sich von anderen Insekten beziehungsweise von Eiern und Larven andere Insekten ernährt. Sie lähmen ihr Opfer, zum Beispiel Schmetterlingsraupen. Das Weibchen legt, nachdem es eine Schmetterlingsraupe aufgespürt hat, mit seinem Legestachel sein Ei in deren Körper oder Ei. Aus dem Körper oder Ei des Wirtstiers schlüpft die Larve der Schlupfwespe aus und frisst sein Wirtstier von innen her auf. Bis sich die Schlupfwespen-Raupe voll entwickelt hat, bleibt das Wirtsinsekt am Leben.

Falls es ihn tatsächlich gäbe, wäre zu fragen: Was ist das für ein Gott, der sich solches Getier und dessen Fressverhalten ausgedacht hat? Hat er sich einen pathologischen Spaß daraus gemacht, seine Verrücktheiten in die Welt zu bringen? Dreht es sich nicht um eine ganz und gar pathologische Willkür eines Schöpfers, von dem Propheten, Priester und Theologen behaupten, dass er ein guter und gnädiger Gott sei, der alle seine Geschöpfe liebt? Ist dieser so hochgelobte Gott nicht eigentlich und vielmehr ein selbstverliebter Psychopath?

Darwin weist empört auf das tödliche Spiel der Katze mit der Maus hin. Das kleine Raubtier springt hoch, wirft mit seinen Vorderpfoten die Maus in die Luft, lässt sie einen Augenblick fliehen, um sie mit noch größerer Gier erneut zu krallen und ihre Reißzähne in den winzigen Körper zu schlagen. Und das wiederholt sie ein Dutzend Mal. Die Maus piepst vor Angst. Ich habe dieses grausame Katze-Maus-Spiel oft mit unangenehmen Gefühlen beobachtet. Schmerzen, Qualen und gefressen werden. »Und Gott sah, dass es gut war.« (Mos. 1,20, 25)

 

Krieg der Ameisen

Es geschah an einem Sommernachmittag. Siesta. Die Sonne heizte die Granitplatten der Terrasse auf, wir konnten nicht mehr barfuß über sie gehen. Ich hatte es mir unter dem Balkon im Schatten auf einer Liege bequem gemacht, um die Ruhe zu genießen. Von meinem Platz aus konnte ich die großflächige Terrasse gut überblicken. Zum Schwimmbad hin lag sie im gleißenden Sonnenlicht, unter dem Balkon im Schatten. Rechts von mir ging es einen mit Platten belegten Weg hinunter zum Hauseingang. Trompetenblumen, die zum Balkon hinauf rankten, lockten zahlreiche Insekten an. Schmetterlinge, Distelfalter, Füchse, Admirale, Hauhechelbläulinge und andere gaukelten vorbei und ließen sich für einen Augenblick nieder. Eidechsen liefen geräuschlos vorbei, hielten inne und lauerten bewegungslos kleinen Insekten und Käfern auf. Feuerwanzen hielten Hochzeit. Die locker verfugten Granitplatten boten Schlupfwinkel und Schutz. An der Ecke, an der ich lag, hatten Ameisen unter den Platten in einem Hohlraum ihr Nest gebaut. Sie krabbelten in Scharen hinein und hinaus und zogen auf ihren chemischen Straßen in den unteren Garten. Es waren keine großen Waldameisen, sondern mittelgroße, dunkelhonigfarbene, die hier überall häufig vorkommen. Eine friedliche Idylle, so schien es, ein friedliches Neben- und Miteinander der kleinen Lebewesen, ein arkadischer Sonnentag. Ich tagträumte so vor mich hin und sah dem emsigen Treiben aus halb geschlossenen Augen zu. Vogelgezwitscher. Claude Debussys Nachmittag eines Fauns (Prelude a l’apres d ún faune) hätte musikalisch zur Stimmung gepasst.

Ich entdeckte sie nicht gleich, schon gar nicht ahnte ich, was da kommen würde. Plötzlich sah ich, wie einige Hundert fremder Ameisen, zu einer Kolonne formiert, schnurstracks auf meine Terrassenecke zustürmten. Sie waren etwas kleiner als die an meiner Ecke und hellfarbig wie milchiger Bernstein. In gleichen Abständen von einander marschierten sie wie eine mittelalterliche Heerschar über die Granitplatten auf mich zu, als hätten sie ein gemeinsames Ziel abgesprochen, auf das sie wild entschlossen loszogen. Ich hatte nie zuvor so eine Szene beobachtet. Meine Anwesenheit schien sie nicht im Geringsten zu stören. Erst als sie das Terrasseneck erreicht hatten, wo die dunkelhonigfarbige Ameisenart unter einer Granitplatte ihr Nest gebaut hatte, wurde mir klar, welches Ziel der Heerhaufen hatte: das dortige Ameisenvolk und sein Nest. Dieses erkannte nun offensichtlich die tödliche Gefahr und setzte zur Gegenwehr an. Angreifer und Verteidiger verwickelten sich in einen Nahkampf auf Leben und Tod. Ameise kämpfte gegen Ameise. Nur einen Meter vom Schlachtfeld entfernt konnte ich den Ablauf des Kampfes genau beobachten. Die Ameisen, die bekanntlich das Vielfache ihres Gewichts in die Höhe stemmen und wegtragen können, packten im Zweikampf mit ihren Zangen ihre jeweilige Todfeindin, stemmten sie hoch, bissen ihr Glieder und Fühler ab und wandten sich der nächsten zu. Angreifer und Verteidiger zerstückelten sich gegenseitig in einem unglaublich brutalen Kampf. Es mag eine Viertelstunde, vielleicht auch ein paar Minuten mehr gedauert haben, bis der Kampf entschieden war. Auf dem Schlachtfeld blieben viele Dutzende Leichen und abgebissenen Körperteile liegen. Als Sieger gingen anscheinend die Angreifer hervor, was ich jedoch nicht sicher feststellen konnte. Wie viele Verteidiger mochten unter den Granitplatten überlebt haben? Ich behielt den Krieg der Ameisen als merkwürdigen Vorgang in Erinnerung, vergaß aber ihn naturwissenschaftlich einzuordnen.

Erst Jahre später erfuhr ich, dass sich vor meinen Augen ein dramatisches Naturereignis abgespielt hatte. Eine Horde Argentinischer Ameisen hatte eine einheimische Art überfallen und zu vernichten versucht. Die Argentinische Ameise war auf dem Umweg über die USA auf Schiffen in den europäischen Mittelmeerraum eingewandert. Sie war lange Zeit unentdeckt geblieben. Die Einwanderer hatten sich an den Küsten des Mittelmeeres verbreitet und eine ›Superkolonie‹ gebildet, die auf einer Strecke von fast 6 000 Kilometern von Norditalien bis Portugal reichte. Diese ›Superkolonie‹, die viele Milliarden Arbeiterinnen zählte, verdrängte mit äußerster Aggressivität einheimische Arten. Die Territorialkämpfe der ›Invasoren‹ glichen Stammeskämpfen vorindustrieller Gesellschaften. (www.spektrum.de/news/krieg-der-ameisen/44127; http://programm.ard.de/TV/arte/krieg-der-ameisen/eid_2872…Abgerufen am 15.12.2017).

Warum hat Gott, vorausgesetzt er existiert, mit seinem Schöpfungsakt solche bestialischen Handlungen hervorgebracht? In der Genesis steht geschrieben: »Da schuf Gott die großen Seetiere und alle Arten der kleinen Lebewesen, die da sich regen, von denen die Gewässer wimmeln, dazu alle Arten der beschwingten Vögel. Und Gott sah, dass es gut war.« (Mos.1, 20)


Alf Mintzel, Hornisse überwältigt im Flug Biene, A4-Blatt, Kohlestift, Kugelschreiber, 16.9.2012


Alf Mintzel, Hornisse überwältigt im Flug Biene, A4-Blatt, Kohlestift, Kugelschreiber, 16.9.2012

Das Leiden in der Natur hat ein ungeheures Ausmaß. Warum hat Gott seinen tierischen Kreaturen keine organischen Mechanismen mitgegeben, welche den Gejagten, zu Tode Gebissenen Todesängste und Schmerzen erspart hätten? Gazellen werden von Geparden zu Tode gejagt, wobei sie extreme Angst und Schmerzen haben. Krokodile ziehen Gnus ins Flusswasser und beißen und schütteln sie zu Tode. Eisbären zerfleischen Robben. Katzen treiben mit Mäusen ihr tödliches Spiel. Man könnte mit Richard Dawkins argumentieren: »Ein wohlwollender Gestalter, so könnte man idealistisch annehmen, sollte darauf aus sein, so wenig Leiden wie möglich zu verursachen« (Dawkins, 2010, S. 438). Es sei »die evolutionstheoretische Version der Theodizee, warum muss der Schmerz so groß sein?« (S. 442).

Ich werde
ins Dunkel wandern.
Die Hitze
der Granitplatten
wird meine Füße
nicht mehr
stechen.

(Orselina, 26.06.1995; Notizen & Skizzen, Band 16)

Gleißendes Licht.
Auf dem Granit
brütet die Sonne ihre Hitze aus.
Bei jedem Schritt brennt der Stein
meine Fußsohlen auf.
Ein Falter nascht
an meiner Sandale.

(Orselina, 26.06.1995; Notizen & Skizzen, Band 16)

Im Spiegel des Sees
das Jadegrün der Berge.
Freude des Auges.

(Orselina, 01.06.2008; Notizen & Skizzen, Band 39)

Melancholia.
Das Zirpwispergezwitscher
eines Rotkehlchens.

(Orselina, 18.11.2009)

Ein Trauermantel.
Letzter Sonnenflug,
bevor die dunkle Zeit kommt.

 (Orselina, 21.11.2009)

 

Der Abschied, 2010
(aus meinen Notizen & Skizzen, Band 43)

Tempi passati! Am 3. März 2010 verließen wir endgültig Casa Lu und Orselina. Hier waren an fröhlichen Ferientagen unsere drei Töchter aufgewachsen, hier hatten vier Enkelkinder gespielt. Unsere jüngste Tochter Caroline war traurig, weil ihre zwei Kinder diesen Ort nicht mehr erleben durften. Sie hätte es ihren Kindern gewünscht, wie sie dort aufzuwachsen. Die ganze Familie erlebte den Auszug aus dem ›Paradiesgärtlein‹ als einen großen Verlust. Wir räumten das Haus, soweit noch Mobiliar vorhanden war, in vier Tagen leer und ließen vieles auf die Sperrmüll-Deponie fahren. Eine großbürgerliche Familienära mit ihren Privilegien und Annehmlichkeiten war mit dem Verkauf zu Ende gegangen. Wir verbrachten noch einige Tage in Ascona und verließen die Schweiz am 14. März 2010. Ich schrieb in jenen Tagen meine Gedanken und Gefühle in Form japanischer Haikus nieder, die sehr viel dichter und intensiver meine Stimmung wiedergeben, als es ein prosaischer Bericht könnte. Haiku-Gedichte drücken in drei Versen – fünf, sieben und fünf Silben lang – extrem kurz und oft hintersinnig Erlebnisse und Gedankengänge aus. Wir hatten ein dicht gedrängtes Arbeitspensum zu erledigen, doch für ein Haiku gönnte ich mir fast täglich ein Innehalten.

Noch einmal schlafen
Im leeren Haus der Eltern.
Keiner kehrt zurück.

(Orselina, 27.02.2010)

Bambuszelt am Hang.
Alte Schnur aus Kinderzeit
Hält Vergangenheit fest.

(Orselina, 28.02.2010)

Verwaister Sitzplatz.
Wo ist er hingegangen,
dem ich ein Lied sang?

(Orselina, 28.02.2010)

Gräser ducken sich
unter Tränen des Himmels.
Ein schwerer Abschied.

(Orselina, 01.03.2010)

Letztes Durchschreiten.
Echo in leeren Räumen.
Ein Kindersöckchen!

(Orselina, 01.03.2010)

In leeren Räumen
der Widerhall alter Zeit.
Hier stand das Klavier.

(Orselina, 03.03.2010) 

Boten des Frühlings.
Die ersten Kamelien
pflück ich zum Abschied.

(Orselina, 09.03.2010)


Casa Lu, Untere Etage, Mittelzimmer, Photo: Alf Mintzel


Casa Lu, Terrasse, Photo: Alf Mintzel

Wie tief und schmerzlich der Abschied nachwirkte, verrieten in den Jahren danach Dutzende Träume, in denen ich an diesen Ort zurückkehrte. Die Traumbilder ähnelten sich. Ich näherte mich auf vertrauten Wegen dem Haus, betrat den Garten, ging die Treppe hinauf zur Terrasse und schlich verstohlenen Schritts ums Haus. Ich öffnete die hintere Haustür und sah mich in den Räumen herumirren, als suchte ich nach einem Stück Vergangenheit. Dabei begegnete ich mehrmals den neuen Eigentümern, die mich argwöhnisch musterten und aufforderten, das Haus zu verlassen. Ich kehrte wieder um und versuchte von neuem im Garten umherzuwandern. Die Eigentümer hatten im Gelände inzwischen kreuz und quer Stolperdrähte gezogen, um mich abzuhalten. Ich wolle ja nur alte Zeiten nacherleben und dann wieder verschwinden, sagte ich zu meiner Verteidigung. Aber ich blieb ein unerwünschter Eindringling.


Orselina, Casa Lu, Blick über das Tal, Photo: Alf Mintzel

In diesen Träumen kam eine zweite Wirklichkeit zum Ausdruck, meine Trauer über den Verlust eines Ortes, der für mich der Inbegriff von Lebensfreude geworden war. Ich hatte in meinem Leben gewiss ein Dutzend Mal meinen Wohnsitz gewechselt, aber wenige waren so tief in meinen Erinnerungen geblieben wie unser Tessiner Domizil. Dort hatte ich – trotz der im Blog-Kap. 47 geschilderten Störfaktoren – einen zauberhaften Zusammenklang von Natur, Kultur, Kunst, geistiger Arbeit und Lebensfreude erlebt. Erst jetzt, während ich an diesem Blog-Kapitel schreibe, scheint sich ein Wandel der traumhaften Beziehung anzudeuten.

Vor wenigen Tagen fand ich mich im Traum in ein Untergangsszenario versetzt. Ein gewaltiger Bergsturz machte allem ein Ende. Ich sah vom Bergrücken oberhalb von Casa Lu, nahe der Seilbahn hoch zum Monte Bre, eine riesenhafte Gerölllawine abgehen, die auf ihrem Weg alles niederriss, Bäume, Telefonmasten, Häuser, Hütten und vieles mehr. Das eiszeitliche Geröll wälzte sich auf Locarno zu. Hubschrauber waren aufgestiegen, um aus der Luft Menschen zu retten. Aber es war zu spät. Alle wurden von den Steinmassen begraben. Der Bergsturz hüllte den Hang mit einer riesigen Staubwolke zu, in der auch Casa Lu verschwand. Die Rettungshubschrauber – im Tessin eines der wichtigsten Transportmittel – mussten abdrehen, um nicht selbst von der Staubwolke verschluckt zu werden. Am Hang, wo Casa Lu gestanden hatte, ragten Wipfel und kahles Geäst hoher Bäume heraus, die noch stehengeblieben waren. In den Ästen flatterten fünf Rabenkrähen, sie flogen mit Gekrächze von Baumkrone zu Baumkrone und schienen höchst beunruhigt zu sein. Ich hielt die Fünf für ein Elternpaar mit drei Kindern – für unsere Familie. Seltsam. Plötzlich waren es nur noch zwei Krähen, und diese versuchten mich mit einem aggressiven Flugmanöver zu vertreiben. Waren es der Käufer von Casa Lu und seine junge Lebensgefährtin, die auf mich zuschossen? Ich machte mich von dannen und verließ endgültig diesen Ort, der unter einer grauen Staubschicht lag. Tempi passati!

47. ›On th sunny side of the street‹ (I) – Die Jahre im Tessin

»Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen.«

So prangerte der sozialdemokratische Protestkünstler Klaus Staeck 1971 auf einem Plakat die soziale und gesellschaftspolitische Widersprüchlichkeit in Westdeutschland an, das Leben der Wohlhabenden und Reichen im Gegensatz zur ökonomischen Lebenswelt der Arbeiterschaft. Das provokative Plakat hatte eine Auflage von 70 000 Stück und hing so gut wie in jeder Studentenbude der 1968er Generation. Der Tessin war zum Inbegriff eines paradiesischen Lebensstils wohlhabender und reicher westdeutscher Bürger geworden. Wer in die Südschweiz reiste und am Luganer See oder am Lago Maggiore eine Villa besaß, zählte zu den Privilegierten.

Zur Landtagswahl 1972 in Baden-Württemberg entwarf und publizierte Staeck ein Plakat, das die Gesellschaftspolitik der CDU attackierte: »Die Reichen müssen noch reicher werden. Wählt christdemokratisch.« Es vermittelte eine ähnliche Botschaft: Auf dem Plakat wurde das Matthäus-Prinzip »Wer da hat, dem wird noch gegeben« zum Muss eines christdemokratischen Imperativs erhoben.

Mein Schwiegervater in spe, Georges Schaltenbrand, hatte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre gleich zwei mondäne Villen gebaut, eine am Ort seines beruflichen Wirkens, in Würzburg, und eine im Tessin am Lago Maggiore. Die Familie Schaltenbrand war im Oktober 1961 in die neue Würzburger Villa eingezogen (siehe Blog-Kap. 13), die Tessiner war 1962 bezugsfertig. Casa Lu, so war das Anwesen an Anlehnung an den Vornamen meiner Schwiegermutter getauft worden, lag oberhalb Locarnos in Orselina am Hang an der Via Patocchi 88. Der Panoramablick reichte vom nördlich gelegenen Bellinzona bis zu den Isole di Brissago in Italien und weit darüber hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lago ragten die bewaldeten Massive des Tamaro und des Gambarogno ins durchsonnte Himmelblau. Vom Balkon der Villa konnten wir in gerader Linie hinunter auf den Hafen von Locarno schauen und die ein- und abfahrenden Schiffe beobachten. Das Hanggrundstück umfasste 2600 Quadratmeter. Der obere Teil, einstmals ein terrassierter Weinberg, war bewaldet. Auf dem unteren Teil lag an den Hang gelehnt das neue, modern gestaltete Haus mit seinen lichtdurchfluteten Räumen. Im oberen Stockwerk residierte ›die Herrschaft‹, meine Schwiegereltern, im unteren wohnten in drei Zimmern die Abkömmlinge, also wir, unsere Töchter Anne, Theresa und Caroline und später auch die Enkelkinder.


CH, Orselina sopra Locarno, Casa Lu, Via Patocci 88, in den 1990er Jahren

Das Tessiner Haus war so geplant, gebaut und eingerichtet, dass es als dauerhafter Wohnsitz dienen konnte. Mein Schwiegervater hegte in Gedanken die Hoffnung, sich nach seiner Emeritierung dorthin zurückziehen zu können. Im Gartengelände beider Häuser lud ein Swimmingpool zur Erfrischung ein. Gegenüber Freunden und Bekannten wurde das Schweizer Domizil als bescheidenes ›Ferienhaus‹ kleingeredet, um nicht allzu viel Neid zu erwecken. Innerhalb so kurzer Zeit gleich zwei Villen und eine sogar oberhalb des Lago Maggiore bauen und bewohnen zu können, rief eine gewisse Scham hervor, sich solches leisten zu können und zu den Reichen gezählt zu werden. Ambivalente Gefühle verlangten nach Rechtfertigung, wenn offen oder versteckt danach gefragt wurde, wie es möglich gewesen sei, so rasch nach dem Krieg wieder zu Reichtum zu gelangen. Ein Professorengehalt und selbst hohe Arzthonorare könnten wohl kaum für den Bau zweier Villen ausgereicht haben. Meine Schwiegermutter in spe erklärte damals mir gegenüber, sie konnten sich die beiden Häuser nur leisten, weil mein Schwiegervater zu rauchen aufgehört und hierdurch viel Geld gespart habe. Das hörte sich grotesk an und war zugleich eine moralische Watsche, weil ich noch ein passionierter Zigarettenraucher war. Man könnte diese kuriose Rechtfertigung à la Staeck ironisch-plakativ so umformulieren: Höre zu rauchen auf und auch du kannst Dir eine Villa im Tessin leisten. Ich fühlte mich für dumm verkauft, schwieg aber dazu. Die Begründung hatte allerdings einen weltanschaulich-ideologischen Inhalt. Reichtum verdient man sich legitimer Weise nur durch Leistung, Askese und Verzicht. Doch woher kam das Geld? Und warum legten die Eltern Schaltenbrand es in einer Immobilie im Tessin an?

Eine ›bombensichere‹ Idylle – Flucht in die Illusion

Die neutrale Schweiz hatte schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein in der damaligen Welt einzigartiges, ›bombensicheres‹ Schutzraum–Konzept verwirklicht. Das allgemeine Sicherheitsbedürfnis der Eidgenossen hatte sich geradezu in einer ›Bunkermentalität‹ manifestiert. Im Ernstfall sollten alle gut sieben Millionen Einwohner in Schutzräumen Platz finden können. Mit gesetzlichen Vorschriften hatte die Schweiz durchgesetzt, dass in allen privaten und öffentlichen Gebäuden nach vorgegebenen Mustern Schutzräume eingebaut werden mussten. Als in den 1950er und 1960er Jahren das Wettrüsten der gegnerischen Militärblöcke auf einen atomaren Krieg zusteuerte, wurde es für jeden Schweizer Bauherren zur Pflicht gemacht, sein Gebäude mit einem Atombunker auszustatten. Die Bunker mussten mit massiven Schutzraumtüren, Panzerdecken, Notausstiegen und Fluchtröhren sicher gemacht und innen mit Luftfiltern, Liegen, Wasserreinigungsmittel und mit einer Überlebensration an Lebensmitteln ausgerüstet werden. Diese teuren Maßnahmen wurden damit begründet, die Schweiz sei zwar ein neutraler Staat, aber von NATO-Ländern umgeben und ein potenzielles Angriffsziel der Sowjetunion. Der Slogan der 1960er Jahre war: »Die Neutralität schützt nicht vor Radioaktivität«. Ein US-amerikanischer Fotograf namens Richard Ross, der sich auf Gefängnisse und Bunker spezialisiert hatte, spottete: »Wenn es einen Atomkrieg geben sollte, wäre der Kreis der Überlebenden klein: die amerikanische Regierung, die Mormonen, ein paar Israelis, besonders widerstandsfähige Insekten – und die Schweizer«. (Über die Schweizer Sicherheitsmaßnahmen jüngst SZ Nr. 270, 24.11.2017, S. 3).

Die gesetzlichen Bauauflagen musste natürlich auch mein Schwiegervater erfüllen, als er 1961/62 in Orselina sein Feriendomizil bauen ließ. Er tat es, obwohl er an die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten kam. Denn sein Sicherheitsbedürfnis stand der Schweizer ›Bunkermentalität‹ in nichts nach. Er hatte zwei Weltkriege erlebt, Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes, Massenvernichtung und Grausamkeit und einen politischen Gesinnungs- und Orientierungswandel durchgemacht. Er war von einem deutschnational gesinnten Freikorps-Kämpfer, der an den Grenzen Oberschlesiens Wache gehalten hatte, zu einem Pazifisten geworden, der den Slogan »Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus!« auf sein politisches Panier geschrieben hatte. Er war zu einem entschlossenen Gegner der Wiederaufrüstung Westdeutschlands geworden, hatte sich gegen das atomare Wettrüsten gewandt und sich der westdeutschen Anti-Atomkrieg-Bewegung angeschlossen. Zudem hatte er sich mit seinem Würzburger Universitätskollegen Prof. Dr. Franz Rauhut (1898–1988) zusammengetan und in Würzburg dessen pazifistische Aufrufe und Protestaktionen unterstützt. Sein Schweizer Bauprojekt fiel, auf diesen direkten Zusammenhang will ich besonders hinweisen, genau in die extrem beunruhigenden Jahre 1961/62, in denen das Regime der DDR die Berliner Mauer errichtete (1961) und die Kuba-Krise (1962) zu einer direkten atomaren Konfrontation zwischen der USA und der Sowjetunion führte. Alle Welt fürchtete, dass die Kuba-Krise eine atomare Apokalypse auslösen könnte. Inge Lu und ich verfolgten in Berlin mit Bangen die Nachrichten, weil die Kuba-Krise auch die Insellage Westberlins erneut gefährden konnte. Beobachter befürchteten, Westberlin könnte zu einem Kompensationsobjekt für den Abzug der sowjetischen Atomwaffen von Kuba werden (siehe hierzu Blog-Kap. 14). Am Himmel Westberlins kreisten täglich sowjetische MIG-Kampfjets und durchbrachen mit ohrenbetäubendem Knall die Schallmauer, so dass unten die Fensterscheiben klirrten und schepperten. Ostberliner Volkspolizisten erschossen an der Berliner Mauer flüchtende DDR-Bürger. Es herrschte in der sogenannten Frontstadt des Westens eine nervöse, beklemmende Stimmung. Inge Lu erlitt einen psychischen ›Berlin-Koller‹. Sie fühlte sich dort unentrinnbar eingesperrt und in den Orchideenfächern Sinologie und Japanologie den Launen ihrer Professoren ausgesetzt. Sie versank in eine schwere Depression und rang mit Selbstzweifeln und widersprüchlichen Anforderungen. Besorgte Briefe und Telefonate gingen zwischen unseren Eltern und uns ›Frontstädtern‹ hin und her. Vater Schaltenbrand bat einen befreundeten Berliner Kollegen, den Neurologen Prof. Dr. Arist Stender (1903–1975), sich medizinisch um Inge Lu zu kümmern. Fraglich war, ob es uns wirklich gelungen wäre, aus Westberlin herauszukommen, falls die Stadt von der Sowjetunion okkupiert worden wäre. Doch trotz aller Dramatik und Unsicherheit war mir, was meine Person und Zukunft betraf, eines klar: Für mich hatte sich 1961/62 an der Freien Universität Berlin über ein Förderungsprogramm für wissenschaftlichen Nachwuchs ein Tor zur Wissenschaft geöffnet, durch das zu gehen ich fest entschlossen war. Meine Grundstimmung blieb optimistisch.

Das Schweizer Bauprojekt, dessen Durchführung sich Ende der 1950er Jahre verzögert hatte, gewann in jenen Tagen für meinen Schwiegervater in spe geradezu eine überlebenswichtige Bedeutung. Das investierte Geld und Vermögen schien zu einer Art Lebensversicherung für den atomaren Ernstfall zu werden. Er war ein besorgter Patriarch, der seine Familie in Sicherheit bringen wollte. Ein vermögensbildender Umstand war ihm dabei zeitlich sehr gelegen gekommen, und dies anscheinend reichlich genug. Es muss um das Jahr 1960 herum gewesen sein, als Belgien bis dahin eingefrorenes deutsches Feindvermögen freigegeben hatte. Schaltenbrands Mutter hatte aus einer wohlhabenden belgischen Unternehmerfamilie gestammt, die seit Generationen Vermögen vererbt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Vermögen, um das stets ein großes Geheimnis gemacht worden war, als Feindvermögen für verloren gehalten worden. Über Herkunft und Größe kann ich nur rätseln, raunen und spekulieren. Der Patriarch und familiäre Schicksalslenker hatte sich so gut wie nie in die Karten gucken lassen und keine Auskünfte über solche Vorgänge gegeben. Kein Familienmitglied war von ihm in die tatsächliche Vermögenslage auch nur andeutungsweise eingeweiht worden, wahrscheinlich nicht einmal seine Ehefrau. Georges Schaltenbrand war, worauf ich schon an anderer Stelle zu sprechen kam, eine fast allmächtige, in den Köpfen seiner Familie stets präsente oberste Instanz, die vieles im Alleingang regelte und kontrollierte (siehe auch Blog-Kap. 13). Das Familienoberhaupt, das er nach damaligen Rollenmustern geradezu archetypisch repräsentierte, schwieg sich grundsätzlich über seine finanziellen Verhältnisse und Entscheidungen aus. Als Direktor der neurologischen Universitätsklinik Würzburg und international gefragte und geehrte medizinische Kapazität hatte er zwar ein vergleichsweise hohes Einkommen, aber es waren wohl auch Erbschaften großbürgerlicher und kapitalistischer Herkunft, die es ihm ermöglicht hatten, fast zu gleicher Zeit zwei Häuser an bezaubernd schönen Orten zu bauen. Sein Vater, Eugen Schaltenbrand (1866–1927), war einer der Generaldirektoren der Gutehoffnungshütte (Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb) gewesen, ein Stahlindustrieller also, der Aktienkapital hinterlassen hatte.

Wir, Inge Lu und ich, und später auch die Kindeskinder, unsere drei Töchter, kamen jedenfalls in den Genuss eines Lebens ›on the sunny side oft the street‹. Seit der Geburt unserer ältesten Tochter 1968 verbrachten wir jedes Jahr mehrere Wochen und später sogar Monate auf dem prato pernice, wie dieser Berghang in Orselina sopra Locarno genannt wurde. Ich schrieb dort im ›Studio‹, in dem mein Schwiegervater bis zu seinem Tode 1979 gearbeitet hatte, an Büchern, verfasste Artikel und bereitete mich auf meine Lehrveranstaltungen vor. Ruhten meine Augen vom vielen Schreiben aus, genoss ich einen fantastischen Panoramablick über dieBerge und den strahlenden See. Zähle ich diese Zeiten zusammen, dürften wir mindestens sechs Jahre im Tessin – wörtlich gemeint – zu Hause gewesen sein. Locarno und Casa Lu wurden selbst noch für unsere Enkelkinder zur zweiten Heimat.


Orselina, Casa Lu – selbst noch für die Enkelkinder zweite Heimat; von links: Julian Sperling, Carlotta Bausenwein, Theresa Sperling geb. Mintzel, Mia Bausenwein, Noah Sperling; Ostern 2009, Photo: Alf Mintzel

Doch nach dem Tode meiner Schwiegermutter, die 1999 im Alter von 101 Jahren gestorben war, stritt sich die Erbengemeinschaft, die drei Geschwister Schaltenbrand, um Möglichkeiten und Modalitäten des Erhalts sowie um die Verwaltung des Erbes.

Hätte im ›Kalten Krieg‹ 1962 der Kuba-Konflikt Europa und besonders die zwei deutschen Teilstaaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, tatsächlich in ein atomares Inferno verwandelt, wären wir höchstwahrscheinlich nicht rechtzeitig in die Schweiz gelangt, um in unserem Atombunker Schutz zu finden. Die Schweiz hätte sicher ihre Grenzen geschlossen und den Ansturm auf ihr Territorium und ihre Bunker abgewehrt. Und selbst wenn uns die Flucht gelungen wäre, hätte uns auch dort tödliche Radioaktivität dahingerafft. Die Neutralität hätte im Ernstfall vermutlich nicht vor Radioaktivität geschützt. Die ›bombensichere‹ Idylle war eine Illusion. Unser Atombunker, der von Anfang an nicht vorschriftsmäßig ausgestattet gewesen war, diente im Grunde mehr als Vorratskeller für Getränke, Lebensmittel, Gartengeräte, Farbtöpfe, Gerümpel und seit den 1990er Jahren in zunehmenden Maße als Aufbewahrungsplatz für meinen ›Schrott‹, den ich auf Flohmärkten in Locarno und Ascona für die Konstruktion von Objekten kaufte (siehe Blog-Kap. 50). Meine übervolle Schrottecke missfiel den Geschwistern Schaltenbrand, umso lieber versteckten sich dort dicke Spinnen und gut genährte Skorpione, denen die Ästhetik des Hauses nicht sakrosankt war.

Die Kosten der Idylle

›On the sunny side oft the street‹ zu leben, hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Familiengeschichte besteht aus vielen Episoden, aus bösen und guten, hässlichen und schönen, wahren und erfundenen. Wer ehrlich berichtet, kommt nicht umhin, auch allzu Menschliches aufzudecken, auf unangenehme Charaktereigenschaften zu deuten und weh zu tun. Wer nur Positives und Schmeichelhaftes erzählt, macht sich verdächtig, zu verheimlichen, was das schöne Familienbild verschandeln könnte. Plaudert man allerdings aus dem Nähkästchen, wird man rasch als Nestbeschmutzer beschimpft. Meine Schilderungen bewegen sich am Rande der Indiskretion und des Verrats von Dingen und Vorgängen, von denen man gewöhnlich sagt, sie gingen anderen Leuten nichts an. Ich nehme es in Kauf, dafür gescholten zu werden.

Wir führten in Orselina einen kompletten zweiten Haushalt mit allen Nutzgegenständen für das tägliche Leben. Bei jedem Aufenthalt war ein anstrengendes Arbeitsprogramm zu bewältigen. Casa Lu war also kein Ferienbetrieb im eigentliche Sinne, in dem man sich hätte bedienen lassen und auf die faule Haut legen können. Wir mussten uns selbst versorgen, bei der Gemeinde melden, nach Locarno hinunterfahren und Lebensmittel einkaufen, Getränke holen, Kästen schleppen, waschen, putzen, fegen, kochen, die Betten machen, Teppiche klopfen, die Fenster wieder blank wischen, Türangeln ölen und noch ein Dutzend anderer Dinge erledigen. Der Alltag mit seinen Routinen hatte uns voll im Griff. Zu den häuslichen Arbeiten kam die Gartenpflege in einer üppig wuchernden Natur. Im oberen Teil des Grundstückes schoss der Bambus zwölf Meter in die Höhe. Ich musste die unterirdischen Rhizome kappen und mich mit einer Machete durch das Unterholz kämpfen. Am Hang stand mehrmals im Jahr der Schnitt der Wiese an. Im Frühjahr und im Herbst mussten wir das Laub der Khakibäume wegräumen und in Körben hinauf zu einer Kuhle schleppen. Zweimal im Jahr stieg ich auf das Flachdach des Hauses, um in Schwindel erregender Höhe Dach und Dachrinnen zu reinigen. Einmal im Jahr holten wir für die schwersten Arbeiten einen Gärtner, was im Hochlohnland Schweiz eine Menge Geld kostete. Ich führte über viele Jahre ein Arbeitsheft, in das auch die anderen Familienmitglieder ihre geleisteten Stunden eintrugen. Ich rechnete alle Anteile am Gesamtvolumen aus und zog Bilanz. Kein Wunder, dass es Streit gab unter den Geschwistern. Stimmungen und Spannungen entluden sich in Krächen.

Nachdem die Hausherrin Lulu gestorben war, ließ sich die mühsam gehaltene Balance von Arbeit und vergnüglicher freier Zeit nicht mehr verwirklichen. Die verschiedenen Interessen, Vorlieben und Ansprüche ließen sich nicht auf den nötigen gemeinsamen Nenner bringen für eine dauerhafte gemeinsame Erhaltung und Pflege des Erbes. Inge Lu und ich waren inzwischen Großeltern geworden, vier Enkelkinder waren hinzugekommen (später kamen noch einmal zwei). Wir liebten Orselina. Casa Lu bot sich gerade für eine wachsende Familie als großräumiger Treffpunkt und paradiesisches Ambiente an. Besonders das Schwimmbad lockte die Kinderschar an. Für sie gab es in dem großen Gelände jeden Tag Neues zu entdecken. Inge Lus Geschwister, Jürgen und Else-Li, waren hingegen kinderlos geblieben. Ihre Ehen waren in die Brüche gegangen und auch andere Beziehungen waren gescheitert. Eine äußerst unangenehme Charaktereigenschaft machte sie unverträglich: ihre Pfennigfuchserei, für die sie auch unter Freunden und Bekannten bekannt waren, ja sogar Geiz bis in lächerliche Kleinigkeiten. Sie betrachteten Orselina nicht gleichermaßen als willkommenen Ort für ein vergnügliches Miteinander der Geschwister und Generationen, sondern als einen Ort des Rückzugs in ein ungestörtes Alleinleben, und dies erst recht im höheren Alter. Sie fühlten sich bedrängt, mokierten sich über die Fingerabdrücke der Kinder auf den Glasscheiben der wandhohen Schiebetüren, durch die wir ins Freie gingen, und schimpften über Schokoladenspuren an den weißen Wänden. Sie ärgerten sich über das herumliegende Kinderspielzeug. Für Jürgen und Else-Li boten sich als Einzelgänger Alternativen für Individualreisen in ferne Länder an, die wir in unserer familiären Situation nicht hatten. Inge Lu und ich nutzten dagegen mit unseren Kindern und Kindeskindern über vier Jahrzehnte das von den Eltern Schaltenbrand geschaffene Idyll. Wir fühlten uns dort wirklich zu Hause.  Für mich war Casa Lu trotz der geschilderten Mühen stets ein Ort hoher Kreativität gewesen. Noch heute kehre ich in meinen nächtlichen Träumen oft dahin zurück. Der prato pernice war mein Arkadien.


Orselina, Casa Lu, 1964, Inge Lu Mintzel, Photo: Alf Mintzel


Orselina, Casa Lu, Ostern 1989; die drei Mintzel-Töchter: Anne, geb. 1968, Theresa, geb. 1971, Caroline, geb. 1975; Photo: Alf Mintzel


Orselina, Casa Lu, 2009, Theresa Sperling mit ihrem Sohn Julian im Studio; Julian sagt, er befände sich nun in seiner monochromen Phase. Photo: Alf Mintzel

Die Größe des Wohnraumes im oberen Stockwerk mit seinen wandhohen Panoramascheiben ermöglichte es, sich auch bei schlechtem Wetter, an Regentagen und im kühlen Herbst, drinnen zu beschäftigen. Die Kinder hatten viel Platz für Spiele und Vergnügungen. Inge Lu und ich sorgten dafür, dass den Kindern stets genug Materialien zur Verfügung standen: Malblöcke, Buntstifte, Malpinsel, Wasserfarben, Malkreiden, Scheren, Klebstoff und Kinderbücher. Wir führten sie spielerisch an den realen Kunstbetrieb heran, indem wir in dem 75 Quadratmeter großen Wohnzimmer Vernissagen und Auktionen für ihre Malereien veranstalteten. Die Kinder erfanden Schätzpreise für ihre Bilder, wir boten kleine Beträge, um sie zu weiterem ›Kunstschaffen‹ anzuregen. Inge Lu und ich entwarfen selbst kleine Kinderbücher, schrieben Texte dazu und illustrierten sie mit Zeichnungen und Deckfarbenbildchen. Unsere Kinder und später auch die Enkelkinder machten begeistert mit und begannen die hochkarätige Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst, die im ganzen Haus an den Zimmerwänden hing, mit neugierigen Augen zu betrachten. Einer unserer Enkelsöhne malte ein Bild nach dem anderen und erklärte, er sei nun in seiner monochromen Phase. Ich bewahre noch heute viele Kinderbilder auf und freue mich über den Reichtum an Fantasie und das kompositorische Können. Noch immer animiere ich die Enkelkinder bei ihren Besuchen in Passau zum Zeichnen und zum Malen. Später, als die Häuser verkauft werden mussten, wurde die Beteiligung an Auktionen zur bitteren Realität. Wir lösten die großelterliche, museumswürdige Kunstsammlung schrittweise auf und verteilten sie an unsere Töchter, die in Absprache mit uns einen großen Teil veräußerten. Es war ein trauriger Abschied von der Sammlung Schaltenbrand, die auch viele wertvolle Ostasiatika enthalten hatte, die meine Schwiegereltern Ende der 1920er Jahre aus China und Japan mitgebracht hatten. Mein Schwiegervater hatte, wie ich schon an anderer Stelle hervorgehoben hatte, in den Jahren 1928/29 als Neurologe in Peking am dortigen ›Union Medical College‹ gearbeitet und geforscht (siehe auch Blog-Kap. 42). So ging die ›Welt von gestern‹, um es mit Stefan Zweig auszudrücken, für uns endgültig unter. Nur wenige Einzelstücke, die noch in unserem Eigentum geblieben sind, erinnern uns daran.

Zu Lebzeiten hatten Georges und Lulu Schaltenbrand aus ihrem Vermögen alle anfallenden Rechnungen für Casa Lu beglichen. Nach dem Tode von Lulu, der Alleinerbin von 1979, fiel das Schweizer Erbe zu gleichen Teilen an ihre drei Kinder Jürgen, Inge Lu und Else-Li. Keinem der drei war es kraft seiner ökonomischen Lage möglich, die jeweils zwei anderen auszubezahlen. Dazu wäre wohl das Einkommen eines Top-Managers im Finanz- oder Wirtschaftssektor notwendig gewesen. Selbst wenn wir unsere jeweiligen finanziellen Kräfte gebündelt hätten, wäre der gemeinsame Erhalt dauerhaft kaum zu verwirklichen gewesen. Auf uns wären bald zum laufenden teuren Unterhaltung hohe Reparaturkosten zugekommen. Meine Pension als ehemaliger Professor und Lehrstuhlinhaber nahm sich angesichts der finanziellen Gegebenheiten lächerlich gering aus. Mein Schwager Jürgen Schaltenbrand, der als angestellter Psychologe einer katholischen Einrichtung der Erziehungsberatung die schlechtesten Karten in der Hand hielt, zog sich – auch aus gesundheitlichen Gründen – völlig aus dem gemeinsamen Projekt Casa Lu zurück und zwang uns zum raschen Verkauf. Mit dem Verkauf der Würzburger Villa im Jahre 2002 und des Tessiner Domizils 2010 ging eine großbürgerliche Familienära zu Ende. Selbst unsere Enkelkinder beklagten noch lange den Verkauf, den sie, wie wir Alten, als großen Verlust erlebten. Inge Lu schenkte ihr Drittel an dem Verkauf großzügig unseren Töchtern. Wir investierten unser Vermögen in unsere Kinder und Kindeskinder, um deren Lebenschancen zu verbessern. So kam die nächste und übernächste Generation noch in den Genuss der Relikte einstmaliger großbürgerlicher Lebensverhältnisse. Großvater Schaltenbrand, der 1979 im Alter von fast 82 Jahren verstorben war, hätte es gefreut.

Mein Schwiegervater lebte aber fiskalisch noch zehn volle Jahre weiter. Nach seinem Tod war es ein kurioser Zufall, dass für die Schweizer Erbschaft, die zur Gänze an seine Frau gefallen war, keine Erbschaftssteuer bezahlt worden war. Mir ist der Vorgang nicht in Einzelheiten bekannt. Ich kann ihn nicht präzise schildern. Es muss sich etwa so zugetragen haben: Unser Locarneser Steuer- und Finanzberater hatte anscheinend vergessen, dem Schweizer Finanzamt den Todesfall zu melden. Erst um das Jahr 1990 war dem Schweizer Fiskus irgendwie aufgefallen, dass der Erbfall stattgefunden haben musste. Er forderte eine horrende Summe nach. Wir mussten den Streitfall einem Anwalt und Notar vorlegen. Doch nicht er kam darauf, sondern die schlaue Inge Lu, die herausfand, dass das Versäumnis verjährt und uns durch die Nachlässigkeit des Steuerberaters die Erbschaftssteuer erspart geblieben war. Keines ihrer geizigen Geschwister hat es ihr je gedankt. So hatten der verstorbene Patriarch und Finanzjongleur postum und seine Tochter Inge Lu dafür gesorgt, dass wir noch zwei weitere Jahrzehnte in Orselina ›on th sunny side of the street‹ weiterspazieren konnten.

46. Über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion

Es mag verwunderlich erscheinen, dass ich mich immer wieder auf Erkundungsgänge begab, die mich in umstrittene Grenzgebiete hineinführten. Solange ich in der vormaligen weltpolitischen „Frontstadt Berlin“, in der späteren Hauptstadt der „Heidenrepublik Deutschland“ (Michael Wolffsohn, Passauer Neue Presse Nr. 295, 2.12.2017, S.3), wohnte und arbeitete, ging es in Bereichen der Parteienforschung unter anderem um den „Faktor Konfession“ in Gesellschaft und Politik. Fragen der Abgrenzung von Wissenschaft und Religion spielten, wenn überhaupt, in meinen politikwissenschaftlichen Forschungsbereichen nur eine marginale Rolle. Über religiös-konfessionelle Zugehörigkeiten und Bekenntnisse wurde so gut wie nicht gesprochen. Sie galten als private Angelegenheit. Mit keinem meiner Kollegen, die an der Freien Universität Berlin am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung und am Otto-Suhr-Institut (OSI) mitgearbeitet hatten, führte ich jemals ein Gespräch über religiöse Themen, es sei denn, sie hatten mit dem sozialwissenschaftlichen Faktor Konfessionszugehörigkeit zu tun. Die kirchliche Sphäre blieb in der Berliner Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar.

Da ich in meinen ersten zwanzig Lebensjahren an verschiedenen Orten Bayerns aufgewachsen und sozialisiert worden war, wusste ich aus eigener, hautnaher Lebenserfahrung und Anschauung, dass es dort mit dem Faktor Konfession und dem kirchlichen Leben anders bestellt ist als im „heidnischen“ Berlin. Auch noch im Nachkriegsbayern war zudem der antipreußische Affekt stark religiös-konfessionell eingefärbt. Die Berliner „Heiden“ waren den christlich-sozialen und altbayerischen Parteiführern und Anhängern höchst suspekt. Die erlebten bayerischen Verhältnisse waren es wohl, die mich später in der Themenwahl und Forschung wiederholt auf „Abwege“ führen sollten. Ausgerechnet an der Freien Universität die CSU in Bayern und damit zugleich die Bayernpartei zum Forschungsgegenstand zu machen, war dort schon als recht exotische Themenwahl angesehen worden, ebenso wie mein Habilitationsvortrag zum Thema „Sozialdemokratie und Katholische Kirche“ (1978).

In meinem Beitrag „Aktuelle Herausforderungen des säkularisierten Staates: Schwächelndes Christentum, erstarkender Islam“ (2007), abgedruckt in der Festschrift für Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, habe ich mich zum wiederholten Male mit Aspekten der Beziehung zwischen Religion und Säkularisierung auseinandergesetzt. Die Konflikte haben sich seither fraglos in globaler Hinsicht wie auch innereuropäisch verschärft. Die Auseinandersetzungen sind immer von Machtverhältnissen bestimmt. Die römisch-katholische Kirche steckt aus mehreren Gründen in einer Glaubens- und Verfassungskrise. In Europa laufen ihr die Gläubigen in Scharen davon. Auf einer eher akademischen beziehungsweise dogmatischen Ebene unterliegen Kernstücke der Glaubenslehre dem allgemein erhöhten und wissenschaftlich verschärften Säkularisierungsdruck.

Zur Kontroverse Martin Rees/Richard Dawkins

 Martin Rees – A „compliant qisling“?

Die Kontroverse, die in jüngster Zeit zwischen den beiden weltweit bekannten britischen „top scientists“, zwischen Martin Rees und Richard Dawkins und ihren jeweiligen Mitstreitern über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion entbrannte, erregte abermals mein großes Interesse an dieser Frage. Ich hatte sie selbst in den 1990er Jahren im sogenannten Madonnen-Streit an der Universität Passau öffentlich zur Diskussion gestellt und damit eine heftige Debatte ausgelöst (ausführlich hierzu die Blog-Kap.29, 30, 31). Britische Wissenschaftler sind für ihre hohe Debatten-Kultur bekannt, sie pflegen sich auf ihren Podien in eleganter Weise, also gentleman like, zu bekriegen. Ich hatte auf meinen wissenschaftlichen Vortragsreisen nach London, Oxford, Cambridge und Warwick diesen Debatten-Stil zu schätzen gelernt. Meine Vorträge schlugen sich in einer Reihe englischsprachiger Veröffentlichungen nieder.

Mit Martin Rees und Richard Dawkins traten in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts zwei Kontrahenten auf, die diese Debatten-Kultur unterliefen, Dawkins, der Evolutionsbiologe, mit scharf stechender Herausforderung und gewohnter Aggressivität, Rees, ein exzellenter Astronom, Astrophysiker und Futurologe, mit Ironie und süffisanter Nichtbeachtung. Ihre gegenseitige Verachtung ließ nichts zu wünschen übrig. Dawkins fulminante evolutionsbiologische Streitschrift „Der Gotteswahn“ (englisch: The God Delusion, 2007) erregte international die Gemüter. Rees, der „Astronomer Royal“(seit1995) und Präsident (2005-2010) der altehrwürdigen Royal Society, der ältesten Gelehrtengesellschaft der Welt, löste Unverständnis und Widerspruch aus, als er 2011 den in britischen Wissenschaftlerkreisen umstrittenen Templeton-Preis annahm, der für außerordentliche Beiträge zur Erforschung der spirituellen Seite menschlichen Lebens vergeben wird. Dawkins publizierte daraufhin einen gehässigen Wutausbruch („ugly outburst“), in dem er Rees einen „compliant quisling“ nannte, einen beklagenswerten Verräter an der Sache der Wissenschaft. Dawkins bezichtigte Rees in der großen Streitfrage ein „fervent believer in belief“, also ein glühender Gläubiger des Glaubens zu sein. Rees konterte diplomatisch und empfahl, den Äußerungen Dawkins kein großes Gewicht einzuräumen. (Rees: „Richard Dawkins on his website calls me…What did he call me?“).

„Praktizierender, aber kein gläubiger Christ“

Seither kam diese Kontroverse nicht zur Ruhe. Interviewpartner konfrontierten Rees mehrmals mit dem Gerücht, er besuche regelmäßig Gottesdienste. Der Astronom antwortete jedes Mal darauf: „Ich wurde als Mitglied der Kirche von England erzogen und befolge einfach die Gebräuche meines Stammes. Die Kirche ist Teil meiner Kultur, ich mag die Rituale und die Musik. Wäre ich im Irak groß geworden, ginge ich in die Moschee.“ Auch andere Menschen praktizierten religiöse Rituale, ohne an einen Gott zu glauben. Auf die Zusatzfrage, ob er darin keinen Konflikt mit seinem wissenschaftlichen Weltbild empfände, erklärte Rees: „Überhaupt nicht. Mir scheint, dass Leute die die Religion angreifen, sie nicht wirklich verstehen. Wissenschaft und Religion können (und sollten) friedlich nebeneinander existieren. Allerdings denke ich, dass sie einander nicht viel zu sagen haben. Am liebsten wäre mir, Wissenschaftler würden das Wort >Gott<gar nicht gebrauchen. Ich weiß doch, dass wir noch nicht einmal das Wasserstoffatom verstehen – wie könnte ich da an Dogmen glauben? Ich bin ein praktizierender, aber kein gläubiger Christ.“ (http://www.zeit.de/2008/1/Klein-31,abgerufen am 07.02.2018).

Interviewpartner und Kollegen gaben sich mit Rees´ Antworten nicht zufrieden und drängten ihn, sich doch genauer zu äußern, wie er das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion sähe. Doch Rees wich jedes Mal mit „weichen“ Antworten aus. Er könne dazu wenig sagen, schon gar nichts zur Gottesfrage. An Gott zu glauben und eine Kirche zu besuchen, seien allgemeine traditionelle Rituale und als solche Teil einer Kultur. „I participate in occasional religious services which are the customs of the society I grew up. I´m not allergic to religion.” (https://www.theguardian.com/science/2011/apr/astronome… 22.02.2018). Mehr wolle er nicht dazu sagen, außer dass seiner Meinung nach beide Bereiche, Wissenschaft und Religion, in friedlicher Koexistenz existieren könnten. Beide unterschieden sich freilich sehr in ihren Aktivitäten. Er habe großen Zweifel, ob beide Bereiche überhaupt in einen konstruktiven Dialog eintreten könnten und sich etwas zu sagen hätten. Er vermiede es, sich an dieser Debatte zu beteiligen. Den Äußerungen der Atheisten Stephen Hawking und Richard Dawkins messe er kein besonderes Gewicht zu. Hawking habe, so wie er ihn kenne, zu wenig über Philosophie und erst recht zu wenig über Theologie gelesen. Er halte es für ziemlich verrückt, wenn Wissenschaftler behaupten, die Entstehung des Universums hätte keines Gottes bedurft. Darüber ließe sich schwerlich diskutieren. „I´ve got no religious beliefs at all.“ Sein wiederholtes „Bekenntnis“, ein „praktizierender, aber kein gläubiger Christ“ zu sein, beließ es bei dieser argumentativen Unschärfe. Kritiker waren sich nicht ganz sicher, wie sie Rees´ Position einschätzen sollten.

Rees wird gelegentlich für einen Atheisten gehalten. Ich meine jedoch, dass alle seine „weichen“ und „ausweichenden“ Äußerungen ihn mehr als einen vorsichtigen Agnostiker und friedfertigen Pragmatiker ausweisen, der sich scheut, sich überhaupt auf solche grundsätzlichen Fragen einzulassen.

Rees´ argumentative Unschärfe

Genau an dieser Unschärfe der Rees´schen Argumentation gegen religiösen Fundamentalismus und jegliche religiöse Dogmatik setzt auch meine Kritik an. Ein praktizierender Ungläubiger zu sein, der sich nicht an Religion störe – wie ist das möglich? Macht Rees es sich mit seiner „weichen“ Unentschiedenheit und mit seinem Lavieren zwischen den Frontlinien nicht allzu leicht?

Die britischen Streitigkeiten erinnerten mich lebhaft an die Auseinandersetzungen an der erst 1978 gegründeten Universität Passau darüber, ob eine jesuitische gegenreformatorische Kampfmadonna im Logo und als Identifikationsprodukt einer modernen wissenschaftlichen Institution akzeptabel sei. Im sogenannten Madonnen-Streit war es auf bayerischer lokaler und regionaler Ebene im Grunde um die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion gegangen. (siehe Blog-Kapitel 29, 30, 31). Ich hatte in dieser Frage den Präsidenten der Universität Passau, Prof. Dr. Karl-Heinz Pollok, und die damaligen Vizepräsidenten, die Professoren Helmut Schmalen und Klaus Dittmar Haase, und andere für Verräter an der Wissenschaft gehalten – für „beklagenswerte „Quislinge“. Die Passauer Debattenkultur hatte sich zudem unter dem intellektuellen Niveau einer Universität abgespielt. Selbst der jüngst verstorbene CDU-Politiker Heiner Geißler hatte in seiner provokativen Auseinandersetzung mit theologischen Dogmen eine intellektuelle Sehschärfe, welche die der Universitätsleitung bei Weitem übertraf (Blog-Kapitel 44).

Rees zog bei all seinem Respekt gegenüber der Religion für sich zwei Grenzen: Er sei grundsätzlich gegen jeden religiösen Fundamentalismus und Fanatismus eingestellt und er habe mit religiösen Dogmen nichts am Hut. Fundamentalismus sei eine wirkliche Gefahr, gegen den wir mit allen möglichen Verbündeten zusammenstehen müssten, auch mit der Kirche von England. Der Kreationismus zum Beispiel könne von Astronomen, Astrophysikern und Biologen nicht akzeptiert werden. Daneben ziehe auch die Bioethik rote Linien, die etwa reproduktives Klonen von Menschen nicht erlaube. Man müsse sich die rote Linie als ein Kontinuum vorstellen, an dem mehrere Kulturen mitwirkten, seien es religiöse, rationalistische oder technologische, seien es atheistische oder theistische. Sie müssten sich aus ihren jeweiligen kulturellen Blickwinkeln gegen Fundamentalismus, Dogmatismus und unethischen Tendenzen stellen. Rees fordert Toleranz gegenüber den „Kulturen“, gerade auch gegenüber „Religion“, soweit sie nicht dogmatisch seien (https://www.theguardian.com/science/2011/apr/06/astronome…aaberufen am 22.02.2018; https://www.theguardian.com/commentisfree/belief/2011/apr…25.02.2018; Reith Lectures 2010: Scientific Horizons, Lecture 3).

Rees´ Antworten und Erläuterungen hörten sich angenehm, sympathisch und hoch reflektiert an, blieben aber, gerade was die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion betrifft, alle im Ungefähren und Ungenauen. Seine Ausführungen liefen auf einen schwammigen politischen Pragmatismus hinaus. Es waren Appelle an die verschiedenen Kulturen, Streitfragen tolerant und friedfertig zu behandeln. Seinen Erläuterungen fehlte es an erkenntnistheoretischer und analytischer Schärfe, was zum Beispiel die beiden Kulturen Wissenschaft und Religion tatsächlich verbindet oder trennt. Was heißt es genau, beide Kulturen könnten zwar in einer friedlichen Koexistenz nebeneinander bestehen, hätten sich aber wenig zu sagen? Zwischen beiden, so Rees, sei kein konstruktiver Dialog möglich. Liegt es an den Dogmen der Religionen? Welcher Religionen? Wissenschaftler sollten zwar die Religionskulturen tolerieren und als mögliche Verbündete respektieren, aber sich gefälligst von dem religiösen Territorium fernhalten, weil sie davon zu wenig verstünden. Der Astronom, Astrophysiker und Futurologe Rees blieb seinen Kritikern präzise Antworten schuldig. Richard Dawkins Vorwurf, Rees verrate mit seinen Stellungnahmen die Wissenschaft, hatte folglich zutreffende Gründe.

Im Folgenden will ich das Verhältnis von Religion und Wissenschaft aus meiner Sicht am Beispiel der dogmatischen Erbsündenlehre der römisch-katholischen Kirche fokussieren und erörtern.

Katechismus der Katholischen Kirche – Ein Handbuch religiöser Tollheiten

„Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.“ (Mose 2:17)

„Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserem Herrn.“ (Aus dem Brief des Paulus an die Römer, 6: 23)

Der aufmüpfige Katholik und Kritiker der Glaubenslehre seiner Kirche, der jüngst verstorbene CDU-Politiker Heiner Geißler, nannte die dogmatische Lehre von der Erbsünde einen Wahnsinn und einen Super-GAU aller faulen Ausreden (H. Geißler 2017:  Kann man noch Christ sein, S.32; siehe Blog-Kapitel 44). Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Wolfgang Wickler, schrieb im Blick auf die römisch-katholische Glaubenslehre, sie verkünde naturwissenschaftlich unhaltbarer Unsinn. (Wolfgang Wickler 2010, 106). Ich halte den Katechismus der Katholischen Kirche für ein „wahrhaftiges“ Handbuch religiöser Tollheiten. Dass an staatlichen Universitäten und Hochschulen noch immer Professuren für katholische Dogmatik angesiedelt sind und mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, halte ich für ein Skandalon des staatlichen Wissenschaftsbetriebes. „Glaube und Vernunft“ (Papst Benedikt XVI., 2006; siehe Blog-Kapitel 43) stehen hier zweifellos in einem unversöhnlichen Widerspruch. Außerhalb der Universitäten und (kirchlichen) Hochschulen möge das Dogma von der Erbsünde, schlimm genug, unter anderen Fahnen als denen der Wissenschaft „gelehrt“ und verbreitet werden. In der Wissenschaft haben ewige Wahrheiten und dogmatische Verbohrtheit keinen Platz.

Nach allgemeinchristlicher Glaubenslehre waren es angeblich unsere „Stammeltern“ Adam und Eva, die durch ihren Ungehorsam wider Gott der gesamten Menschheit die Erbsünde aufgebürdet haben. Ihr Ungehorsam sei es gewesen, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben. Auch die evangelische Kirche hält noch immer an der theologischen Erbsünden-Lehre fest, allerdings mit modifizierten und modernisierten Versionen. (evangelischer Glaube.de DIE ONLINE-DOGMATIK). Die römisch-katholische Lehre geht jedoch noch einen großen Schritt über die allgemeinchristliche Version hinaus: Nach herrschender katholischer Dogmatik, 1993 festgeschrieben im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK 1993), haben die beiden paradiesischen Nackedeis mit ihrem Ungehorsam nicht nur gesündigt, sondern mit ihrem Ungehorsam erstmals den Tod in die Menschheitsgeschichte gebracht. Ihnen hätten wir es zu verdanken, Sterbliche zu sein.

Die evangelische Theologie verwirft diese abstruse Behauptung. Die Empörung des prominenten Katholiken Heiner Geißler über den, von ihm wörtlich so gesagt, Irrsinn dieser theologischen Erfindungen und das naturwissenschaftliche Verdikt gegen diesen Unsinn haben mich zu einem weiteren Grenzgang herausgefordert, um die Quellen dieses Irrsinns zu erkunden und dazu Stellung nehmen zu können. Könnte es sein, dass ich mich an einer Theologie abarbeite, an deren Dogmen inzwischen selbst viele katholische Kirchenmitgliedern nicht mehr glauben?

Die Genese des Todes als Strafe für Ungehorsam

Die theologische Lehre von der Ursünde oder Erbsünde stellt ein Kernstück des „Katechismus der Katholischen Kirche“ (KKK, Absatz 7, 385-421) dar, der im Jahre 1993 als offizielle und für jeden Katholiken verbindliche Glaubenslehre veröffentlicht wurde. Darin wird „die Sünde auf dem Leben und der Geschichte des Menschen“ so dargestellt (KKK 1993, 387 – 404):

Der Sündenfall sei ein Urereignis gewesen, das zu Beginn der Menschheitsgeschichte tatsächlich stattgefunden habe. Die ganze Menschheitsgeschichte sei bis auf den heutigen Tag (und bis zum Ende aller Tage) durch die Ursünde gekennzeichnet und belastet, die von den Stammeltern der gesamten Menschheit, von Adam und Eva, freiwillig begangen worden sei. Die freiwillige Ursünde habe darin bestanden, sich gegen Gott gewandt zu haben. Ihr Ungehorsam gegenüber Gott habe sich so zugetragen:

„Eine verführerische widergöttliche Stimme“ sei es gewesen, die sie dazu verleitet habe, die Stimme des Teufels oder Satans. Gott habe Satan zunächst zwar als einen guten Dämon geschaffen, doch habe sich dieser „durch sich selbst“ böse und zum Widersacher Gottes gemacht. Adam und Eva seien seinen Einflößungen erlegen und hätten damit die Sünde ein für alle Male in die Welt gebracht. Dieser Sündenfall habe eine „unwiderruflichen Charakter“ (KKK 1993,393).

Bei der Erbsünde handele es sich nicht um eine in der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen persönlich begangene Sünde, sondern um eine, die mit der biologischen Geburt eines jeden Menschen automatisch übertragen und weitergegeben werde. Es sei also eine Sünde, die man von Anfang an miterhalten habe. Sie sei „ein Zustand, keine Tat“ (KKK 1993, 404). In diesem Sinne seien wir Menschen von Adam und Eva an alle unabhängig von unserem persönlichen Tun stets Sünder. Seit Adams und Evas Ursünde habe sich „eine wahre Sündenflut über die Welt ergossen“. Das begründe die „Universalität der Sünde und des Todes“ (KKK 1993, 402). Zu den verhängnisvollen Folgen des „ersten Ungehorsams“ gegen Gott gehöre die „Tatsache“, dass der Mensch hierdurch sterblich geworden sei: „Wegen des Menschen ist die Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen“ (KKK 1993, 400; Röm. 8, 20). Im Katechismus der Katholischen Kirche wird felsenfest behauptet: „Der Tod hält [mit dem Sündenfall] Eingang in die Menschheitsgeschichte“ (KKK 1993, 400).

Diese Darstellung wird keinesfalls für einen symbolischen Deutungsversuch ausgegeben, sondern als eine unverbrüchliche Wahrheit hingestellt. Im Umkehrschluss gesagt heißt das: Vor ihrem Abfall von Gott seien die Stammeltern der Menschen in ihrer „ursprünglichen Heiligkeit“ (KKK 1993, 399) unsterblich gewesen. Im Katechismus der Katholischen Kirche wird ausdrücklich festgestellt:

„Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (KKK 1993, 402). Die Erbsünde oder Ursünde habe „die Herrschaft des Todes“ in die Welt gebracht. (KKK 1993, 407).

Satan sei es gewesen, durch dessen bösartige Verführung der Stammeltern sei „der Tod in die Welt gekommen.“ (KKK 1993,413). Und in einer heilsgeschichtlichen Folgebehauptung wird dann erklärt, der Tod werde erst durch die Auferstehung Christi überwunden. Erst durch das Opfer Christi gewönne der Mensch seine Unsterblichkeit zurück. Ohne die Erbsünde wären die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und dessen Kreuzestod nicht erklärbar. Allein die Gottesmutter Maria sei nach Gottes Heilsplan als Mensch ohne Erbsünde geboren worden, so dass auch ihr Sohn Jesus frei davon gewesen sei. (Mit der römisch-katholischen Mariologie habe ich mich schon in den Blog-Kapiteln 29 und 30 aus Anlass des sogenannten Madonnen-Streits an der Universität Passau auseinandergesetzt). Auf einer äußerst schmalen biblischen Basis haben der Kirchenvater Augustinus (354-430) und das Konzil von Trient (1545-156) die Lehre von der Erbsünde entfaltet, die noch heute als gültiges Glaubensgut aufrechterhalten und verkündet wird.

Es wäre ja ein wunderschöner vorwissenschaftlicher Erklärungsversuch aus antiken und mittelalterlichen Zeiten, gäbe die Katholische Kirche in ihrem Katechismus dieses Dogma nur als verbindliche Glaubenswahrheit aus. Sie hält aber daran fest, dass es sich auch um eine historische Tatsache handele. Im Katechismus werden alle Ereignisse und Vorgänge so dargestellt, als hätten sie sich tatsächlich so zugetragen. An keiner Stelle wird diesen Aussagen auch nur andeutungsweise ein bloß symbolhafter oder mythologischer Charakter zugesprochen. Ganz im Gegenteil, im Katechismus wird ausdrücklich bekräftigt: „Der Bericht vom Sündenfall verwendet [zwar] eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewissheit, dass die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeltern freiwillig begangen haben.“ (KKK 1993, 390) Kritikern wird entgegnet, die Weitergabe der Erbsünde (sei) „ein Geheimnis, das wir nicht völlig verstehen können“ (KKK 1993, 404).

Gegen alle modernen naturwissenschaftlichen und paläoanthropologischen Erkenntnisse und Wissensbestände wird an der aberwitzigen Behauptung festgehalten und von einem „Geheimnis“ gesprochen, das unserer „Verstandesschwäche“ nicht ganz zugänglich sei. Kardinal Ratzinger orakelte im Jahre 2000 „in bemerkenswerter Denk-Akrobatik“: „Hier stehen wir wieder vor einem abgründigen Problem“ (zit. n. Wolfgang Wickler 2010, S. 109). Ich frage mich, wie kann ein halbwegs aufgeklärter Mensch solchem „Mysterium“ Glauben schenken?

Die offizielle katholische Glaubenslehre gesteht zwar ein, dass heutzutage viele Christen Schwierigkeiten damit hätten, die Lehre von der Erbsünde anzunehmen, weist aber umso entschiedener daraufhin, dass diese Lehre „das zentrale Geheimnis des christlichen Glaubens unmittelbar“ berühre. Die grundsätzliche Wahrheit der Erbsünde könne anhand des Zustandes des Menschen und der Welt [empirisch!] erkannt werden, auch wenn die genaue historische Einordnung [man höre!] dieses vor allem übernatürlichen Ereignisses auf Schwierigkeiten stieße. (http://www.kathpedia.com/index.php?title=Erbs%C3%BCnde, 07.01.2018).

Im Erwachsenenkatechismus der deutschen Bischöfe heißt es, dadurch, dass „die Menschheit bereits an ihrem Anfang das Heilsgebot Gottes ausgeschlagen“ habe, sei eine „heillose Situation“ universale Wirklichkeit geworden. Zur Schwindel erregenden Denk-Akrobatik kommt heute noch eine Wortklauberei hinzu. In die argumentative Defensive gedrängt und unter Anpassungsdruck wird statt von der Erbsünde von einer „allgemeinen Sündhaftigkeit“ oder von der „Erbschuld“ des Menschen gesprochen. Theologen, Geistliche aller Ränge und Glaubenshüter eiern um angebliche Wahrheiten herum, die von der modernen Wissenschaft und ihren Erkenntnissen längst als unhaltbare religiöse Konstrukte und Fiktion angesehen werden.

Der Sinn des „Unsinns“

Doch ist das fabulöse Spintisieren von Priestern und Theologen nicht völliger Unsinn. Ihr Sinn ergibt sich nach modernem Wissen und Verständnis vielmehr aus der sozialen Funktion solcher dogmatischen Doktrinen. Der immanente Sinn und die Logik dieser Konstrukte liegen ganz anders, nämlich in einer totalitären theologischen Lehre vom Menschen. Es dreht sich um eine religiöse Herrschaftsideologie. Dem Menschen wird nach katholischer und allgemein christlicher Sicht generell Sündhaftigkeit unterstellt. Alle Menschen seien seit Adam und Eva Sünder. Aus katholischer Sicht können sich die Sünder nur in, durch und mit der Kirche gemäß eines von Kirchenvätern und anderen Theologen ausgedachten Heilsplanes befreien.

„Versöhnung aus dem Ganzen der Vernunft“?

Papst Benedikt XVI. (der ehemalige Kardinal Joseph Ratzinger) hat im Jahre 2006 in seiner umstrittenen Regensburger Rede 2006 der modernen Wissenschaft, insbesondere den Naturwissenschaften vorgeworfen, einer „positivistischen Vernunft“ zu erliegen und eine Hinwendung zu einem ganzheitlichen Vernunftbegriff angemahnt. „Glaube und Vernunft“ sollen nicht als Gegensätze verstanden, sondern „im Ganzen der Vernunft“ versöhnt werden. Die Theologie stehe an staatlichen Universitäten und Hochschulen „in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten [man höre!] Gebrauch der Vernunft, indem sie nach der Vernunft des Glaubens“ fragt. In diesem Sinne gehöre die Theologie „nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft an die Universität und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein“ (siehe Blog-Kapitel 43).

Der Papst hat mit seinen Ausführungen und Postulaten für die römische Kurie nichts weniger als die Wahrheit und das richtige Weltverstehen reklamiert und die moderne Wissenschaft auf seine Wahrheit zu verpflichten versucht (siehe auch Blog-Kapitel 43). Die kirchenamtliche Erbsündenlehre und ihr aberwitziger Wahrheitsanspruch liefern ein eklatantes Beispiel, warum diese angemahnte „Versöhnung in einem Ganzen der Vernunft“ nicht möglich ist. Die katholische Priester-Oligarchie tradiert noch immer ein Gemisch aus antiker Metaphysik und mittelalterlichem Denken (Alf Mintzel: Passauer Papiere zur Sozialwissenschaft. Begleitheft zur Lehre 2, Soziologische Exkurse in die Antike. ISSN 094-0733). Ihre „Heilige Ordnung“ wirkt bis auf unsere Tage in der katholischen Glaubenslehre und Praxis nach. Auf katholischen Lehrstühlen für Dogmatik werden an den staatlichen Universitäten weiterhin auf Kosten der öffentlichen Hand gehorsam diese abstrusen Lehren tradiert. Ich plädiere dafür, alle Dogmatik-Professuren, die ja sowieso der kirchlichen Autorität unterstellt sind, aus dem Wissenschaftsbetrieb staatlicher Universitäten und Hochschulen auszugliedern und kirchlichen Einrichtungen anzuschließen, die von den Kirchen selbst finanziert werden.

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Wissensbestände

Ich muss es mir hier selbstverständlich ersparen, die neueren und neuesten Forschungsergebnisse der verschiedenen einschlägigen Wissenschaftszweige zu referieren, um diese schauerlichen Lehrbehauptungen über die Erbsünde (und andere Kernstücke der Glaubenslehre) bloßzustellen. Solche „ewigen Wahrheiten“ zu entkräften dürfte allerdings angesichts der Dauerhaftigkeit und Virulenz religiös-konfessioneller Sinnwelten schwer gelingen. In der Menschheitsgeschichte hat es am Anfang nicht einmal in einem metaphorischen oder symbolischen Sinne das Stammelternpaar Adam und Eva gegeben. Und mitnichten ist mit dieser ihnen angedichteten Ursünde der Tod in die Menschheitsgeschichte gekommen. Der Tier-Mensch-Übergang beginnt vor etwa vierzig Millionen Jahren. Frühe Hominiden tauchen vor etwa vier Millionen Jahren auf, die Stammesgeschichte der Gattung Homo setzt vor rund zwei Millionen Jahren ein. Es gab fließende und verzweigte Übergänge, phylogenetische Sackgassen und klimatisch bedingtes Sterben und Aussterben. Die menschlichen Vorfahren haben über Jahrhunderttausende höchstwahrscheinlich keinen Gott gekannt, von dem sie hätten abfallen können. Sie sind als Sammler und Jäger in Gruppen umhergezogen. Sie starben wie seit Milliarden Jahren alle Lebewesen.

Ich halte es für viel ergiebiger, sich in die seit den 1990er Jahren erschienene evolutionswissenschaftliche Literatur einzuarbeiten. Ich weise hier nur auf ein paar Neuerscheinungen hin, die zur Entstehung, zu den Funktionen, zur Dauerhaftigkeit und zum Wandel religiöser Weltanschauungssysteme und religiöser Institutionen luzide, evolutionstheoretisch basierte Erkenntnisse beitragen: „Darwin`s Cathedral. Evolution, Religion and the Nature of Society“(D. S. Wilson, 2002), „Gott, Gene und Gehirn“(Rüdiger Vaas und Michael Blume, 2009, 3. Aufl. 2012), „Die Schöpfungslüge“(Richard Dawkins, 2012), „Evolution in Natur und Kultur“(Gerhard Schurz, 2011) und „The Divine Archetype: The Sociobiology and Psychology of Religion“(B. Wenegrat).

Sie entzaubern die aus der Spätantike und aus dem Mittelalter überkommenen Glaubenslehren und religiösen Institutionen, zumindest in aufgeklärten westlichen Gesellschaften, und setzen sie zunehmend einem Legitimationsdruck aus.

Die Wissenschaft, dem übergeordneten Beurteilungsmaßstab aufgeklärter Rationalität verpflichtet, muss unhaltbare Positionen räumen. Kirchen können dagegen an ihren tradierten Lehren und damit an angeblichen Glaubenswahrheiten festhalten, seien sie unter wissenschaftlichen Wahrheitskriterien noch so obsolet und absurd. Ich weise hier nur auf die Zeugungs- und Vererbungslehren der griechischen Antike hin, insbesondere auf die von Aristoteles. Auch die Lehre des mittelalterlichen Kirchenvaters Thomas von Aquin (1225/26-1274) von der biogenetischen Minderwertigkeit des Weibes ist aus moderner wissenschaftlicher Kenntnis und Beurteilung pseudowissenschaftlicher Unsinn und obendrein eine unhaltbare Rechtfertigungslehre des maskulinen Primats. Papst Leo XIII. erhob Thomas von Aquin 1879 zum ersten Lehrer der römisch-katholischen Kirche und 1880 zum Patron aller katholischen Schulen.

Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit von Religion

Der Verhaltensphysiologe Wolfgang Wickler gibt zu bedenken, „dass nachweislich dummes und falsches Argumentieren jede, auch die kirchliche, Autorität untergräbt, und zwar auch für den Fall, dass sie berechtigte Anliegen vertritt.“ (Wickler 2010, 117). Die Glaubens-Spaltung zwischen denen, welche die Achsel zucken oder den Kopf schütteln, und denen, die gehorsam glauben, was mit päpstlicher Billigung verkündete wird, gäbe dem modernen Atheismus kräftig und nachhaltig Hilfestellung (ebd., S.119). In Wicklers These, dass nachweislich ignorantes und unhaltbares Argumentieren in the long run selbst auch kirchliche Autorität untergraben wird, steckt natürlich generell die Frage, wie lange sich solche religiös-konfessionellen Fiktionen und Lehren halten werden und wann sie als evolutionäre Tatsachen nicht mehr den Gegenkräften aufgeklärter Rationalität standhalten können. Trotz und ungeachtet der vielfältigen rational-aufklärerischen Bemühungen und Säkularisierungstendenzen erweisen religiös-konfessionelle Glaubensvorstellungen und ihre institutionellen Repräsentationen, wie weltweit zu beobachten ist, eine zähe Widerstandskraft und Dauerhaftigkeit. Die „irrationale“ Kraft von Religionen scheint schwer zu brechen. Die evolutionstheoretische Frage ist, wie lange ihre selektive „Eignungsprüfung“ anhalten wird. Es kann noch Jahrhunderte und länger dauern, bis sie einzelne ihrer Effekte verlieren werden.

Religiöser Glaube generiert gemeinsame Werte und Regeln und stabilisiert hierdurch eine Glaubensgemeinschaft. Er fördert Kooperation und Gegenseitigkeitsverpflichtungen. Die religiöse Glaubens- und Wertegemeinschaft wird durch ihren Glauben an eine höhere Macht, an einen Gott, nach innen abgesichert und bestärkt. Glaube hat einen stark kohäsiven Effekt. Dem regelkonformen Gläubigen wird im Christentum eine ewige Belohnung versprochen:

„Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben“ (Römer 5, 7)

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen…“ (Johannes 5, 24,9,40)

„Und das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat: das ewige Leben“ (1. Johannes 2: 25)

Dagegen wird dem Regelbrecher, Abtrünnigen oder Ungläubigen mit ewiger Verdammnis gedroht:

„Weh den Gottlosen! Denn sie haben es übel, und es wird ihnen vergolten werden, wie sie es verdienen“ (Jesaja 3:11)

„Und sie werden in die Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Matthäus 25:46).

Eine religiöse Glaubens- und Wertegemeinschaft folgt einem mehr oder weniger institutionalisierten Straf- und Belohnungssystem. Die Priesterkaste verwaltet das von ihr kodifizierte Heilsgut und kontrolliert die Einhaltung der Regeln. Auch im Islam funktioniert dieses Bestrafungs- und Belohnungssystem. Wenn du im Kampf gegen die Heiden stirbst, kommst du direkt ins Paradies, wo dich 78 Jungfrauen erwarten. Konvertierst du zum christlichen Glauben, wirst du mit dem Tod bestraft. Medien führen uns diese Effekte im Positiven wie im Negativen täglich vor Augen.

Gerhard Schurz gibt in seinem Werk über „Evolution in Natur und Kultur zu bedenken (2011, S. 399f): „Die erläuterten Selektionsgründe für Religionen haben D. S. Wilson (20002, 220ff) und in noch stärkerem Ausmaß Wenegrat (1990, 144ff.) dazu veranlasst, sich insgesamt für Religionen auszusprechen. Dieser Einstellung folge ich nicht, sondern bleibe Anhänger eines geläuterten Aufklärungsprogramms. Denn Religionen besitzen ein Janusgesicht: Die Kehrseite ihrer wohltuenden Placebo-Effekte ist ihr hohes Gefahrenpotenzial. Dennoch halte ich es für äußerst wichtig, die Selektionsgründe von Religionen, ihre positiven Eigenschaften für Menschen, herauszuarbeiten: erstens, um die evolutionäre Nachhaltigkeit von Religionen erklären zu können, und zweitens, um im Sinne einer Metaaufklärung die Illusionen eines überzogenen Aufklärungsprogramms aufzuzeigen. Es ist wohl kaum möglich, so wie Marx oder Freud es dachten, Religionen aus der Welt zu schaffen und durch Vernunft oder Wissenschaft zu ersetzen. Wichtig wäre es (…), Religionen zu transformieren, dass sie ohne den Verlust ihrer wohltuenden Placebo-Effekte ihr Gefahrenpotenzial abstreifen. (…). Die große Gefahr aller Religionen ist ihre Tendenz zum Fundamentalismus, also zum Absolutheitsanspruch ihres jeweils eigenen Gottes und der Abwertung der Lehren anderer Religionen als Verfehlungen“.

Ich selbst teile diese Einstellung in ihren Grundpositionen und ihre Postulate. Gerade im letzten Jahrzehnt meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit (1990-2000) und in den ersten Dezennien des 21. Jahrhunderts erschienen zur Problematik der kulturellen Evolution und über polyfunktionale Effekte von Religionen erkenntnisreiche Publikationen. Ich selbst wandte mich in dieser Zeit von den bisherigen sozialwissenschaftlichen Entwicklungskonzepten und Theorien linearer „Höherentwicklungen“ ab und neuen evolutionstheoretischen Fragestellungen zu. Es war klar geworden, dass Vorstellungen kontinuierlicher, irreversibler unilinearer Kausal- und Höherentwicklungskonzepte nicht mehr haltbar waren. Meine Ausarbeitungen zur evolutionstheoretischen Systemtheorie Niklas Luhmanns und anderer Wissenschaftler blieben allerdings in der Schublade.