45. Vom Agnostiker zum Atheisten – Im Schutze eines aufgeklärten Wertekanons

Gottesbilder, Gottesbegriffe und die Theodizee

Im höheren Alter und mit zunehmendem Wissen bin ich vom Agnostiker zum Atheisten geworden. Meine Position in den großen Streitfragen über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes ist nach langem Nachdenken und kritischen Prüfungen die: Ich bin Atheist, ohne in Religion(en) bloßes „Blendwerk“, „Opium des Volkes“ (Karl Marx), eine menschliche „Zwangsneurose“ (Sigmund Freud; Carl Jung), nur eine „reine Projektion“ menschlicher Wünsche (Ludwig Feuerbach) oder einen dumm-dreisten „Gotteswahn“ (Richard Dawkins) zu sehen. Wahrscheinlich kommen hypothetische Elemente aller dieser religionskritischen Entwürfe für neue theoretische und empirische Ansätze in Betracht. Ich bin ein ex-protestantischer Atheist, also einer, der nicht durch kirchliche Glaubensanmaßungen und Gängelungen katholisch-ekklesiogen geschädigt worden ist. In ein liberales kulturprotestantisches Familienmilieu hineingeboren bin ich als ehemaliges getauftes und konfirmiertes Mitglied durch theologisch-philosophische und (natur-)wissenschaftliche Lektüre der evangelisch-lutherischen Kirche schrittweise entwachsen und 1964 ausgetreten (siehe Kap.1).

Ich habe mich mit den überlieferten Gottesbildern und -begriffen lange auseinandergesetzt und die philosophischen Argumentationsketten der Theodizee gedanklich nachvollzogen. Mit dem Gottvater meiner Kinder- und frühen Jugendtage kann ich mich nicht mehr anfreunden. Ich erkenne in den Zweifeln an den überlieferten Gottesbildern einen Prozess der soziokulturellen Evolution des Menschen. Die überlieferten Gottesbilder sind Erfindungen des Menschen und Produkte ihrer Kultur. Mein Atheismus ist hypothetischer Natur, er ist nicht an einen Glauben mit absolutem Wahrheitsanspruch gebunden. Ich kann weder die Existenz noch die Nichtexistenz Gottes beweisen. Aber ich kann die überlieferten Gottesbilder und -begriffe unter verschiedenen Gesichtspunkten in Frage stellen und sie als soziale Tatsachen anders interpretieren. Die Glaubensvoraussetzungen der glaubensgebundenen Theologie sind hingegen absoluter Art.

Dass ich freimütig „bekenne“, auf die Position eines Atheisten hinübergewechselt zu sein, ist keine intellektuelle Koketterie. Das wäre angesichts der entsetzlich gewaltsamen und fundamentalistischen Religionsverhältnisse in der Welt purer intellektueller Leichtsinn. Indem ich eine atheistische Position beziehe und sie öffentlich vortrage, weiß ich zu gut, dass ich in anderen Ländern und Staatsgebilden ein Todeskandidat wäre. Überall da, wo ein fundamentalistischer Islam herrscht und das religiöse Leben eines jeden überwacht wird, hätte ich nach religiöser Weltsicht mein Leben verwirkt. Ich schätze es hoch und bin froh, in Westeuropa im Schutze eines moderaten aufgeklärten Wertekanons leben und wirken zu können. Und ich weiß, dass selbst hier dieser facettenreiche und pluralistische Wertekanon mit seiner positiven und negativen Religionsfreiheit verteidigt, gehütet und weiterentwickelt werden muss.

Zwei- bis dreitausend Jahre Glaubens- und Religionsgeschichte, moderne Religionswissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Aufklärung lassen sich nicht auf ein paar Blog-Seiten abhandeln. Die Literatur auf diesen Gebieten füllt in Bibliotheken auf der ganzen Welt Regalkilometer. Wer sich daransetzt, dem ist ein Sisyphos-Scheitern gewiss.

Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit Glaubensfragen, religionsgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Abhandlungen. Ich bin zwar kein Laie mehr, aus mir ist aber auch kein „Religionsvirtuose“ (Max Weber) geworden. Ich will mich zu diesen Gebieten nur insoweit äußern, als meine Neugier und meine Selbstvergewisserung sich in dieses Gestrüpp hineinwagen. Ein paar Schlaglichter müssen genügen, um die Richtung meiner Überlegungen zu kennzeichnen, und ich muss es bei fragmentarischen Stellungnahmen bewenden lassen. Ich zähle mich weder zu den denkfaulen „Wohlfühl-Gläubigen“, die sich mit der Behauptung oder Überzeugung begnügen, da gäbe es doch noch „etwas Höheres“ oder einen Schöpfer, der den Weltlauf reguliert. Noch ringe ich, wie man es mir wohlmeinend unterstellen könnte, mit einem göttlichen Wesen oder einem personalen Gott um Glaubensfragen. Nachdem ich in den 1960er Jahren die Reste des christlichen Glaubens verloren hatte, in den ich hineingeboren worden war, bezeichnete ich mich lange Zeit als Agnostiker. Ich hätte es mir leichter machen können und in den sogenannten Gottesfragen auf der bequemen Position eines agnostischen „Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht“, verharren und es dabei belassen können. Warum sich an etwas gedanklich weiterhin abmühen, was nur mit Spekulationen und Ungewissheit beantwortet werden kann. Der Agnostiker wird in der Regel respektiert und in Frieden gelassen. Agnostiker gelten als unentschiedene, „weiche“ Atheisten, die aus Bequemlichkeit Konfessionsfragen aus dem Weg gehen. Agnostizismus ist in Westeuropa weit verbreitet. Anders steht es mit der Selbst- und Fremdbezeichnung, Atheist zu sein. Einem erklärten Atheisten wird sogleich eine Minderheitenposition zugesprochen.

Angesichts der vielerorts zu beobachtenden religiösen Gewaltverhältnisse gehöre ich allerdings nicht zu jenen, die meinen, Gottesfragen seien reine Privatsache, die niemanden etwas angingen als das Individuum selbst, das Religionsfreiheit genieße. Religion halte ich trotz allgemeiner Individualisierungstendenzen in Westeuropa per se immer zugleich für eine kollektive soziale Tatsache, weil Religionen und religiöse Bedürfnisse, so meine evolutionstheoretische Sicht, bis heute und auch in Zukunft evolutionäre Grundtatsachen der Menschheitsgeschichte sind. Ich bin kein Religionsfeind, sondern Religionsforscher und -kritiker. Religionen verschwinden nicht, sie wandeln sich, sie durchdringen sich gegenseitig, sie verändern ihre rituellen Formen, sie reformieren sich, sie passen sich an neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen an, benennen ihre Götter und Göttinnen um oder erstarren und fossilieren.

Die Kontinuität religiöser Motive

Im tiefkatholischen Passau lenkte ich an der Universität im Fach Soziologie die Aufmerksamkeit der Studierenden mit Bedacht auf die Kontinuität religiöser Formen und Praktiken. Herodot (um 490-425 v.Chr.), der erste große Geschichtsschreiber der alten Griechen, berichtet in seinen Historien über die religiösen Bräuche der alten Ägypter, zum Beispiel über deren Schiffsprozessionen zu Ehren der Göttin Artemis:

„Festliche Aufzüge und Prozessionen haben zuerst von allen Menschen die Ägypter veranstaltet, und von diesen lernten es die Hellenen.(…) Die Ägypter veranstalteten solche Prozessionen nicht nur einmal im Jahr, sondern mehrmals und am liebsten nach der Stadt Bubastis der Artemis zu Ehren.(…) Wenn sie aber in der Prozession nach der Stadt Bubastis ziehen, so machen sie es folgendermaßen: Es fahren zu Schiff Männer und Frauen miteinander, und eine große Zahl von ihnen auf jedem Fahrzeug. Einige von den Frauen haben Klappern und rasseln damit, Männer spielen auf der Flöte in jedem Schiff, und die übrigen Frauen und Männer singen und klatschen in die Hände. Wenn sie aber auf ihrer Fahrt an einer Stadt vorüberkommen, dann lassen sie die Barke näher zum Ufer treiben und tun folgendermaßen: Ein Teil der Frauen macht es wieder so, wie ich es schon geschildert habe, andere verhöhnen durch ihre Zurufe die Frauen in der Stadt, wieder andere tanzen und manche stehen auf und entblößen sich. Das machen sie bei jeder Stadt am Fluss, wo sie vorüberkommen. Wenn sie aber dann endlich in Bubastis sind, dann feiern sie das Fest mit großen Opfern und verbrauchen dann mehr Wein bei diesem Fest als sonst im ganzen Jahr. Und es kommen da, Männer und Frauen ohne Kinder, an 100.000 Menschen, wie die Einheimischen sagen.“ (Herodot 1958: 11f; Herodot 1977 II: 251f).

Die von Herodot geschilderten altägyptischen Schiffsprozessionen auf dem Nil ähneln katholischen Schiffsprozessionen auf dem Wörthersee in Österreich und am Rhein zu Ehren der christlichen Muttergottes. Antikes religiöses Brauchtum hat sich in gewandelter Form bis auf den heutigen Tag erhalten. An die Stelle der Göttin Bast oder der griechischen Artemis ist die römisch-katholische und christlich-orthodoxe Marien-Verehrung gerückt. Die altägyptischen Barken sind heute motorgetriebene Passagierschiffe. (Mintzel 1992: Soziologische Exkurse in die Antike). In die sich später herausbildende christliche Glaubenslehre und -praxis sind viele religiöse Elemente der altägyptischen und hellenistischen Kulturen eingegangen. Die Verwandtschaft der christlichen Auferstehungslehre mit dem altägyptischen Isis- und Osiris-Kult, mit der Verehrung des Sohnes Horus und dem römisch-hellenistischen Mithras-Kult sind unverkennbar. In der Gottkönigsideologie altorientalischer Reiche wurden Herrscher offiziell als Gottessöhne bezeichnet. Der ägyptische Pharao war Sohn des Gottes Amun. Im Hellenismus wurde Alexander der Große als Sohn des Gottvaters Zeus verehrt. Nach dem Tod und der Apotheose (Gottwerdung) Julius Caesars zum Divi filius nannte sich Kaiser Augustus ab 42 v. Chr. „Sohn Gottes“

https://de.wikipedia.org./wiki/Sohn_Gottes, 30.06.2017).

Ähnlich ist es mit der christlichen Lehre vom Gottessohn beschaffen. Das Christentum hält Jesus Christus für den menschgewordenen Sohn Gottes und den Erlöser. Im gemeinsamen christlichen Glaubensbekenntnis sind die für gläubige Katholiken und Protestanten absolut verbindlichen „Glaubenswahrheiten“ in folgende Kernsätze gegossen:

„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, / und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, / empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, / gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, / hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tag auferstanden von den Toten, / aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtige Vaters; / von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. / Ich glaube an den Heiligen Geist (usw.)“

(Außer dass es einen Juden namens Jesus gegeben hat, der in Palästina als Wanderprediger eine revolutionäre Heilslehre verkündet hat und deswegen am Kreuz getötet und hernach begraben worden ist, glaube ich an keinen dieser Kernsätze des christlichen Glaubens).

Dass Maria, die Mutter Jesu, vom „Heiligen Geist“ geschwängert worden sei und einen Sohn Gottes geboren haben soll, entspricht einem altorientalischen und römisch-hellenistischen Götterglauben. Schon der Göttervater Zeus näherte sich in wechselnden Gestalten, als schöner Stier, als weißer Schwan, als Schlange oder als wallende Wolke, jungen Frauen, seien es göttliche oder sterbliche, um sie zu schwängern. Die von ihm Beglückten gebaren wiederum Gottessöhne und Gottestöchter. Aus dem Goldstaub, der während des göttlichen Zeugungsaktes auf die Auserwählte niederrieselte, wurde bei Maria der Heilige Geist:(Lukas 1,35: „Heiliger Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten dich überschatten).

In den Worten heutiger katholischer Marienandachten schwingt noch die ehemals offenkundige Lust und Erotik mit. „Sieh ich bin rein / und will die Magd des Herren sein; / Dein Wille, Herr, gescheh´ an mir, / Mein Herz, o Gott, das schenk ich dir.“ Der alte, lüsterne Zeus wurde durch einen etwas spröden Christengott ausgetauscht. Die katholische Priesterkaste verkündete 1950 das zweite Mariendogma, wonach die verstorbene Magd des Herrn „mit Leib und Seele in die Prächtigkeit des Himmels aufgenommen“ worden sei. Maria wurde nach alten Religionsmustern zur „Himmelskönigin“ erhoben. Was sich eine Priesterkaste ausdachte, beflügelt kollektive Fantasien und blüht in einem idyllischen Provinzkatholizismus in kitschigen Formen fort. Mariens Himmelfahrt wird in überkommenen rituellen Formen gefeiert, auch mit Schiffsprozessionen. Religionswissenschaftler beschreiben vielfältige Formen und Weisen religiöser Fantasien und Praktiken. Eine theologische Priesterkaste nimmt in Anspruch, die ganze und absolute Wahrheit zu kennen, murmelt ihr Credo wie ein Mantra zigtausendmal vor sich hin und indoktriniert die Köpfe ihrer Gläubigen. Aber es kommt wissenschaftlich nicht darauf an, ob ich mich intellektuell daran störe, ob ich persönlich Geschmack finde an den Mariendarstellungen oder sie für religiösen Kitsch halte. Ich suche nach Erklärungsansätzen für soziale Tatsachen, die in vielfältiger Weise als Religion und Religiosität wirksam sind.

Als Atheist war mir das neugierige Interesse an Religion und Religiösem also nicht abhandengekommen. Im Gegenteil: Fragen nach den Wirkkräften, die Religionen und Religiosität zum Überleben und da und dort zu ihrer Revitalisierung befähigen, beschäftigten mich mehr als zuvor. Mit meinem atheistischen Weltbild wechselte ich nicht meine Interessen, nur meine Position: Reste einer durch die primäre Sozialisation verbliebenen protestantischen Innensicht verloren sich fast gänzlich. Ich wurde zu einem Außenbeobachter, der die Entwicklung von Religionen und Religiosität unter den Bedingungen des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses studiert. Für mich, für meine psycho-mentale und intellektuelle Befindlichkeit, brauche ich keine Religion mehr und auch keine esoterische Sinnfindung. Dennoch: Es sind immer wieder der Ärger und der Zorn, die mich überkommen, wenn ich auf Anmaßungen von Priestern und Theologen im heutigen gesellschaftlichen und staatlichen Leben stoße.

Eine ärgerliche Theologie

Was mich an Theologen und kirchlichen Würdenträgern ärgert und mich zornig macht, sind deren geradezu widersinnigen und aberwitzigen Äußerungen über Gottes vermeintliche Absichten und angebliches Handeln. Ich frage mich, woher sie ihre Kenntnisse nehmen und wissen wollen, was Gott angeblich vorhat, tut oder nicht tut, wovor er warnt, was ihn erzürnt. Zur Rede gestellt, sagen sie alle, sie beriefen sich auf die Bibel und Offenbarungen. Aber ihre Auslegung der Bibel ist beliebig und suspekt.

Beispiel 1:

Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising. Weihnachtsbotschaft in der Passauer Neuen Presse Nr. 299 von Weihnachten 2010, S.1:

Kardinal Marx: „>Fürchtet Euch nicht<(…), das heißt auch für uns heute: Gott will uns keine Angst machen, aber er überrascht uns. Nicht wir müssen zu Gott kommen, sondern er kommt zuerst zu uns. Er hat nämlich keine Angst vor den Menschen, wie also könnten wir Angst vor ihm haben. Seine Sehnsucht nach uns Menschen ist so groß, dass er alle Grenzen überwindet. Nur er kann die Entfernung zwischen sich und uns aufheben. Gott ist sich nicht zu schade, in unseren Alltag zu kommen, mit all unserer Unausgeglichenheit, unseren vollen Kalendern, unseren langen Merkzetteln und großen Plänen. Er überwindet die Grenzen, die wir in unserem Alltag setzen und die, die wir hinnehmen. Gott schafft sich Patz in unserem Leben in diesem ganz konkreten Menschen Jesus, der als Kind in der Krippe liegt.(…) Gott trifft uns so, wie wir sind mit all unserer Hoffnung und aller Angst, mit all unseren Antworten und allen ungelösten Fragen, mit allem Kummer und auch mit aller Unzulänglichkeit. Er weiß in jedem Moment des Lebens, wie es um uns steht. Aus seiner Güte können wir nie ganz herausfallen. Und wenn er durch seine Engel zu uns sagt: Fürchtet euch nicht, dann glauben wir diesem Wort, weil es uns tief im Innersten trifft und rührt (…). Ich wünsche Ihnen und allen, die zu Ihnen gehören (…) den unermesslichen Segen Gottes auf allen Ihren Wegen.“

Der Kardinal und Erzbischof von München und Freising – ich muss es so ungeschminkt und derb sagen – schwafelt und schwafelt. Fast jeder Satz ist eine Zumutung an den Intellekt nachdenkender Menschen im aufgeklärten Europa. Warum sollte der angeblich Allmächtige (omnipotente), Allwissende, „der in jedem Moment des Lebens weiß, wie es um uns steht“, und absolut weise Schöpfergott vor seinem Ebenbild, vor dem Menschen, Angst haben? Hat dieser Gott nicht das Wissen und die Macht, seine Geschöpfe im Zaum zu halten?

Beispiel 2:

Am 24. 03. 2015 um 10.41 Uhr zerschellt der Germanwings-Flug 4U9525 in den südfranzösischen Alpen. Der Copilot Andreas Lubitz hat nach Erkenntnissen der französischen Ermittler den Airbus absichtlich gegen eine Felswand gelenkt und 149 Passagiere und Besatzungsmitglieder mit in den Tod gerissen. Der Copilot hat die Einstellung des Autopiloten absichtlich so verändert, dass sie die Maschine in den Sinkflug steuert, bis sie mit dem Bergmassiv kollidiert. Die Cockpit-Tür hat er verriegelt, auf Funksprüche und Klopfen nicht mehr reagiert.

Interview mit Margot Käßmann, Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017, Bischöfin a.D., zur Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ (Passauer Neue Presse Nr. 77, 02.04.2015, S.20):

PNP: „Angesichts des Leids dieser Katastrophe werden viele an Gott zweifeln, oder?“

Käßmann: „Das Leid wird nicht ausgeklammert. Auch Gott leidet. Wir alle denken doch gerade viel an die Opfer der Flugzeugkatastrophe. Da ist das Gebet eine Hilfe für die Angehörigen und für diejenigen, die mit Empathie an sie denken. Die Trauer braucht jetzt Raum und Zeit. Es muss die Gelegenheit zum Gespräch und zum Schweigen geben.“ (…). „Sicher, die Frage, >Wie kann Gott das zulassen?< kommt angesichts solcher Katastrophen immer. Aber Gott schickt kein Leid. Gott lässt doch keine Flugzeuge abstürzen, schickt nicht hier mal Terror und dort einen Tsunami. Was wäre das denn für ein Gottesbild? Christen sagen: Gott gibt dir Kraft, wenn du leiden musst. Wir müssen damit leben lernen, dass es 100 Prozent Sicherheit in unserem Alltag nicht gibt.“

PNP: „Der Co-Pilot soll das Flugzeug mit Absicht zum Absturz gebracht und unter psychischen Problemen gelitten haben. Kann es da Vergebung geben?“

Käßmann: „Niemand kann Opfer drängen, einem Täter zu vergeben. Aber Opfer erzählen oft: Wer vergeben kann, findet eher zu neuer Freiheit im Leben.“

Die Theologin und ehemalige Bischöfin weicht aus! Sie redet über die Hilfsmittel des Gebets, des Gesprächs und des Schweigens. Die bohrende Frage, wie Gott das Leiden zulassen kann, beantwortet sie nicht. Sie macht Gott selbst zum Opfer. Er leidet, so beschwichtigt sie, mit dir und gibt dir Kraft. Leid schicke er nicht. Käßmann exkulpiert den Gott der Christen. Der tut so was nicht! Der spendet lediglich Kraft, Leiden zu ertragen, von was sie auch herrühren möge. Gott, selbst leidendes Opfer, bliebe nichts anderes übrig, als die Leiden seiner Geschöpfe zu teilen. Der göttliche Schöpfer befände sich folglich selber in einer erbärmlichen existenziellen Situation. Selbst wenn ich von den Verkürzungen und Vereinfachungen solcher „Medien-Theologie“ absehe, sind Käßmanns Antworten banal und entsetzlich billig. In Westeuropa laufen die Großkirchen in ihrer Defensive gegen die säkularen Wirkkräfte Gefahr, ihre religiöse Kernsubstanz zu verlieren und zu bloßen gesellschaftlichen Werteagenturen und Wohlfühlorganisationen zu werden. (Wolfgang Huber: Mit Gott und allen Agnostikern, in. DIE ZEIT Nr. 51, 13. 12. 2012, S. 54).

Jean Pauls poetisch-visionärer Atheismus

Die Begegnung mit dem Freidenker Jean Paul (1763-825), auf die ich schon im Kapitel 33 zu sprechen kam, brachte mir die Gedankengänge und Visionen eines radikalen antichristlichen Atheismus näher. Jean Pauls literarisch-poetische Vision, die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ (in: „Siebenkäs“, 1796/97), kann an atheistischer Radikalität kaum überboten werden. Bei Jean Paul tritt der tote Jesus nicht als Verkünder einer Frohen Botschaft auf, nicht als Gottes Sohn, sondern als Berichterstatter über seine Reisen durch einen unermesslich weiten, kalten Kosmos. (Text vgl. Kapitel 33)

Jean Pauls radikaler Atheismus tritt noch im Modus einer verabsolutierenden Behauptung auf, nicht als hypothetischer Denkansatz. Christus, höchste Autorität der christlichen Religionen, angeblich Offenbarer und Erlöser in Gottes Heilsplan, widerruft entschieden die christliche Heilsbotschaft. Es gibt keine Auferstehung, Christus ist tot. Es gibt keinen Gott! Also kann er auch nicht Gottes Sohn sein! Die Natur ist nicht Gottes Werk, der Mensch nicht Geschöpf und Ebenbild Gottes. Jede tröstliche Hoffnung, jeder Glaube an einen erlösenden Gott sei nichts als eine Illusion. Jean Paul denkt radikaler als später Friedrich Nietzsche, der Gott für tot erklärt und folglich dessen vorherige Existenz als Tatsache anerkennt. In Jean Pauls Weltsicht und Vision hat dagegen niemals ein Gott existiert. Da war niemand, der da oben von Gottes Thron hätte heruntergestoßen werden können.

So gesehen wird jedes menschliche Nachdenken über Gott, jedes Ausmalen von Bildern eines geglaubten Gottes, jede Zuschreibung von göttlichen Eigenschaften zu einer illusionären Beschäftigung mit einem Phantom menschlicher Einbildungen. Es wäre vergeudete Zeit, sich mit diesen Phantombildern zu befassen und sie zu zerstören. An diesem Punkt muss jedoch der radikale Atheismus weitergedacht werden. Wie kommt es menschheitsgeschichtlich zu diesen Phantombildern? Wir haben es mit globalen sozialen Tatsachen zu tun, sie sind beobachtbare Gegebenheiten sozialer Wirklichkeit. Wie haben sie sich entwickelt? Welche Wirkungen haben sie entfaltet? Welchen Nutzen haben sie für menschliche Sozietäten? Welche Gefahren gehen von ihnen aus? Theologische Antworten darauf mit all ihren argumentativen Spitzfindigkeiten, Tricks, Projektionen und Glaubensbeweisen sind obsolet geworden. Wenn Theologen und „Religionsvirtuosen“ (Max Weber) aller Art nicht weiterwissen, dann erklären sie, Gott sei das absolute, unergründliche Geheimnis („mysterium strictissime dictum“) oder er habe sich zurückgezogen und schweige.

Der Gott Hiobs – Die Hiob-Antwort

„Da stand Hiob auf und zerriss

sein Kleid und raufte sein Haupt und

fiel auf die Erde und betete an

und sprach: Ich bin nackt von

meiner Mutter Leib gekommen nackt

werde ich wieder dahinfahren. Der

Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s

genommen; der Name des Herrn

sei gelobt!

In diesem allem sündigte Hiob

nicht und tat nichts Törichtes wider Gott!“

(Hiob 1, 20-22)

Ich lese das Buch Hiob, dieses großartige Märchen der Weltliteratur aus der Perspektive des Wissensbestandes des 21. Jahrhunderts und als Wissenschaftler, der ein besonderes Interesse an religiös-konfessionellen Fragen hat und die Inhalte der Sinnangebote nach Denk- und Argumentationsmustern absucht.

Hiob ist ein Archetypus des geschundenen und leidenden Menschen, des „Heimgesuchten“, der nichts Böses getan hat und dennoch von Übeln geplagt wird und deshalb mit seinem Gott hadert. Auf die Urfrage nach dem Sinn aller Übel und allen Leidens wird hier eine Antwort gegeben, die „Hiob-Antwort“: Nimm die Übel als gottgewollte und gottgegebene Prüfung an, er meint es letztendlich nur gut mit dir, auch wenn du Gottes Gründe nicht verstehen kannst. Also füge dich in dein Leid, das der Herr über dich gebracht hat, und verliere nicht deinen Glauben an seine Allmacht, Weisheit und Güte.

Die zynische Formel für diese Zumutung lautet im christlichen Lobgesang: „Was Gott tut, das ist wohlgetan; der Name des Herrn sei gelobt!“

Welche Antworten gab der Text in früheren Zeiten auf die „Sinnfrage“, warum so viele unschuldige Menschen so viele und große Übel erleiden müssen? Aus heutigen Denkperspektiven und von heutigen Standpunkten aus den Untertanen von damals Gedanken und Gefühle zuzuschreiben, wäre nichts als eine Übertragung auf eine im Denken und Glauben anders gepolte Welt. Übel aller Art seien letztendlich göttliche Prüfungen. Gott unterwerfe gerade auch gottesfürchtige und gottgefällige Menschen, die nichts Böses getan haben, seinen Prüfungen, indem er auch die Guten und Unschuldigen heimsuche und leiden lasse. Er prüfe damit ihre Glaubensfestigkeit.

Es ist uns wissenden Menschen heute schwer geworden, uns einen persönlichen Schöpfer vorzustellen und gar als Vater anzubeten, wie es die Menschen der damaligen Zeit tun konnten. Uns ist diese Kindlichkeit verloren gegangen. Wir finden Formen alter Frömmigkeit, sofern sie heute noch gepflegt werden, nicht mehr zeitgemäß, belächeln sie oder ordnen sie ethnographischen Studien zu. Auch über die Weisheit ist uns der Rückweg zu einem kindlich-frommen Glauben an einen bärtigen Gottvater versperrt. Ein moderner Deismus erkennt zwar aus Vernunftgründen einen Weltschöpfer an, glaubt aber nicht, mit diesem in ein frommes Zwiegespräch treten zu können. Angesichts der ungeheuerlichen technischen Gewalt- und Zerstörungspotentiale, die der Mensch weiterentwickelt hat, angesichts des organisierten Holocausts, des Bombenterrors im Zweiten Weltkrieg, der Massenvernichtung in Josef Stalins Lagern und der sich weiter nach oben drehenden Spirale menschlicher Gewalttätigkeit, haben heute viele Menschen diese Glaubenssicherheiten verloren. Gott müsste, wenn wir diese Auslegung zu Ende denken, ein blutrünstiges Monster sein, ein Tyrann oder ein Sadist schlimmster Sorte. Hiobs Unglück und Leiden kamen ja nicht von ungefähr über ihn. Es war Gott, der den Teufel beauftragte, seinem frommen Knecht Hiob die übelsten Leiden zuzufügen. Es war dieser fürchterliche grausame Gott, der den Teufel beauftragte, Hiob bis aufs Blut zu piesacken und in die tiefste Verzweiflung zu treiben. Gott befriedigt seine selbstgefälligen Bedürfnisse, indem er den Menschen Schläge und Grausamkeiten zufügt, und stachelt sie hierdurch auf, sich von ihm loszusagen. Die „Hiob-Antwort“ ist heute allgemein suspekt und unglaubhaft geworden. Hiobs Selbsterniedrigung und Kotau vor seinem Gott spiegelt eine altorientalische Tyrannenherrschaft wider.

Jeremias Gott – Die „Jeremia-Antwort“

„Wir, wir haben gesündigt und

sind ungehorsam gewesen; darum hast

Du billig nicht verschont;

sondern du hast uns mit Zorn

überschüttet und verfolgt und ohne

Barmherzigkeit erwürgt.

Du hast dich mit einer Wolke verdeckt,

dass kein Gebet hindurch konnte.

Du hast uns zu Kot und Unflat

gemacht unter den Völkern.

Alle unsere Feinde sperren ihr

Maul auf wider uns.

Wir werden gedrückt und geplagt

mit Schrecken und Angst:“

(Die Klagelieder Jeremias 3, 42-47)

„Denn du hast uns verworfen

Und bist allzu sehr über uns erzürnt.“

(Die Klagelieder Jeremias 5, 22)

Ultraorthodoxe Juden deuten noch heute auf diese Weise den Holocaust als selbst verschuldete Strafe Gottes, der über sein abtrünniges Volk dermaßen erzürnt war, dass er sich im Himmel mit einer Wolke den Blicken entzog und sein Volk mit Plagen und Vernichtung strafte. Ein tyrannischer Gott spricht aus diesen Versen, der sich beleidigt abwendet und in seinem maßlosen Zorn sein Volk massenhaft in den Tod schickt.

Und der Herr sprach zu mir [Jeremia]:

Und wenngleich Mose und Samuel

vor mir stünden,

so habe ich doch kein

Herz zu diesem Volk; treibe sie weg

von mir und lass sie hinfahren.

Und wenn sie zu dir sagen: wo

sollen wir hin? So sprich zu ihnen: So

spricht der Herr: Wen der Tod trifft,

den treffe er; wen das Schwert trifft,

den treffe es; wen der Hunger trifft.

den treffe er; wen das Gefängnis trifft,

den treffe es.

Denn ich will sie heimsuchen mit

vielerlei Plagen spricht der Herr:

Mit dem Schwert, dass sie erwürgt

werden; mit Hunden, die sie schleifen

sollen; mit den Vögeln des Himmels

und mit Tieren auf Erden, dass sie

gefressen und vertilgt werden sollen.“

(Jeremia 15, 1-3)

Meinungsführende streitbare Theologen und höchste geistliche Würdenträger der römisch-katholischen und protestantischen Kirche haben sich angesichts der gottlos erlebten Welt immer wieder mit der Frage befasst, ob Gott (der „deus absconditus“) die Welt verlassen habe. Zur Erklärung der gottlosen Verhältnisse in der Welt von heute wird von kirchlicher und theologischer Seite die „Jeremia-Antwort“ gegeben: „Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurch konnte“ (Die Klagelieder Jeremias 3, 44). Gott habe sich von den Menschen abgewandt, angewidert von dem, was die Menschen treiben. Er habe sich in seinen Himmel zurückgezogen und die Gotteskinder sich selbst überlassen, so argumentieren heute Theologen. Papst Johannes Paul II. zitierte in seiner Weihnachtsansprache 2002: „Hast du denn Juda ganz verworfen, wurde dir Zion zum Abschaum?“ (Lt. Der Spiegel Nr. 3, 13.01. 2003, S.47). Die Deutung des Papstes, Gott könnte sich in seinen Himmel eingeschlossen haben und wolle sich nicht mehr sehen lassen, weil er vom Handeln der Menschen angewidert sei, widerspricht zentralen Zuschreibungen göttlicher Eigenschaften.

Die theologische Denkfigur, die den allmächtigen Schöpfer und Christengott der Verantwortung für die Untaten der Menschen enthebt, sorgt dafür, dass in Gott kein Monster gesehen werden darf. Die Wahrheit einer Religion und göttlicher Allmacht darf, so die Amtskirche, „nicht aufgrund des Verhaltens einzelner Gläubiger oder Glaubensgruppen beurteilt werden.“ (PNP Nr. 252, 2006, S.13) Es gäbe den dramatischen Widerspruch zwischen Glauben und unserem Leben und Verhalten. Ein hochgestellter katholischer Gottesmann sieht heute das Problem so: „Wenn sich […] die Religionen von den Ideologien verseuchen lasse, können sie Krieg oder Intoleranz verursachen. Aber Gott ist nicht der Polizist der Welt, sondern deren liebevoller Vater. Deshalb sollten sich alle religiösen Menschen an der Wahrheit Gottes messen und sich ständig von der Ideologie distanzieren. Religion und Krieg verbinden sich nur, wenn die Ideologie zum Parasiten der Religion wird.“ (Karl Kardinal Lehmann in: FAZ Nr. 219, 20.09.2006, S.8)

Auf die lapidare Frage, warum der angeblich allmächtige und gütige Gottvater den bestialischen Grausamkeiten des Menschen und menschlicher Kollektive nicht Einhalt geboten hat, warum er den Holocaust, Stalingrad, Hiroshima und zahlreiche andere Massaker an unschuldigen Menschen zugelassen hat, haben Theologen und amtliche Gottesdiener keine schlüssige und überzeugende Antwort. Die Hiob-Antwort hat wohl – zumindest in Westeuropa – als Erklärungsmuster weitgehend ausgedient.

Die klassischen biblischen Zuschreibungen göttlicher Eigenschaften

Die drei monotheistischen Weltreligionen schreiben ihrem Gott folgende Eigenschaften zu, von denen sie glauben, dass er sie habe und nutze. Gott sei

– Schöpfer der Welt

– allmächtig (omnipotent)

– allwissend

– allwirksam

– allgütig (väterlich)

– ein seine Geschöpfe liebender Gott („Gott ist die Liebe“)

– allgegenwärtig (omnipräsent)

– gerecht

– in seinem Wirken absolut und ewiglich

– ein Seher, der weiß, was in Zukunft geschehen wird.

Vor dem allwissenden und allgegenwärtigen Gott gäbe es kein Entfliehen. Angeblich kenne und sähe Gott alles Handeln und Denken eines jeden Menschen, schon bevor dieser gezeugt und geboren wird. Er kenne die Zukunft eines jeden Menschen. Seinem Auge entginge nichts, er wisse alles. Wo immer ein Mensch liegt, sitzt oder geht, was auch immer passiert, Gott sei gegenwärtig und überprüfe, was vorgeht. Er kenne die geheimsten Gedanken der Menschen. Warum hat er, der Allwissende und Allgütige, den Copiloten nicht daran gehindert, das Flugzeug gegen eine Felswand zu steuern und 149 Passagieren mit in den Tod zu reißen? Warum hat Gott, indem er dem Copiloten nicht Einhalt geboten hat, den Passagieren faktisch seine Liebe entzogen? Warum hat der liebende Gott die Passagiere dieses Flugzeug besteigen lassen, obwohl ihm die böse Absicht des Piloten bekannt sein musste? Diese Fragen nach der Rechtfertigung des Handelns oder Nichthandelns Gottes könnte an tausenden Beispielen durchdekliniert werden.

Der Gottesbegriff nach Auschwitz (Hans Jonas)

Hans Jonas, ein jüdischer Philosoph und Autor, dessen Mutter im KZ Auschwitz ermordet wurde, zog 1984 eine harte Konsequenz aus dem grausamen Geschehen in den Konzentrationslagern, indem er den theologischen Allmachtsbegriff für obsolet und unbrauchbar erklärte. In seinem Büchlein „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ (aus dessen 15. Auflage von 2016 ich zitiere) setzte sich Jonas in einem „Stück unverhüllt spekulativer Theologie“ mit der Theodizee-Frage und speziell mit der Frage nach der Allmacht Gottes auseinander. „Wer vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will(…), der muss, um ihn nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage eine neue Antwort finden (…). Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?“ (S. 14) Die philosophisch-theologische Abhandlung von Jonas zog mich ebenso in ihren Bann wie Jean Pauls poetisch-visionäre Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab.

Jonas kommt angesichts der ungeheuerlichen Erfahrungen und des Ausmaßes des Schrecklichen in seinen Überlegungen zu einem radikalen Ergebnis: „Dies ist nicht ein allmächtiger Gott!“ (S. 33) Wir könnten „die althergebrachte (mittelalterliche) Doktrin absoluter, unbegrenzter göttlicher Macht nicht aufrecht erhalten“ (S.33). Und er setzt hinzu: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, dass eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder(…) total unverständlich wäre“ (S. 39). Jonas hält jedoch am Gottesbegriff fest, schränkt ihn aber in einer gewagten Denkoperation auf den Akt der Schöpfung der Welt ein. Gott habe sich im Moment seines Schöpfungsaktes kraft eigener souveräner Vollmacht und eigener Autorität zugleich entschlossen, sich aus der von ihm eben geschaffenen Welt zurückzuziehen und der Welt ihren freien Lauf zu lassen, der Natur ebenso (Evolution) wie den Menschen. Gott habe sich in einer sich selbst auferlegten Selbstbeschränkung jeder Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben, was seine Ohnmacht gegenüber Naturgewalten ausmache. Und mit seinem Verzicht auf seine göttliche Macht habe er dem Menschen die Freiheit des Handelns gegeben und damit den Menschen ermächtigt, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden (S. 42ff). Gott werde jedoch von dem Entwicklungsgang der mit seinem Schöpfungsakt entäußerten Welt „affiziert“, also rückwirkend beeinflusst, und dadurch selbst verändert und „verzeitlicht“. Er sei ein „werdender Gott“ (S. 18ff, 27ff). Der Ewige werde „fortschreitend anders durch die Verwirklichung des Weltprozesses“, aus ihm werde mit der Evolution des Menschen allmählich auch ein „sorgender Gott“, der allerdings kein Zauberer sei, der alles bewirken könne. Da gäbe es auch noch immer die anderen Akteure im Entwicklungsprozess, die aus dem Eigenlauf und aus ihrer Eigenmacht hervorgegangen seien und sich gegen Gott wenden können und es auch tun. Gottes Macht ist durch sie begrenzt, „durch etwas, dessen Existenz aus eigenem Recht und dessen Macht, aus eigener Autorität zu wirken, [Gott] selbst anerkennt“ (S. 40). Das Böse sei „aus dem Herzen der Menschen erwachsen“ (S.43), was Gott durch seine Selbstbeschränkung und seinen Verzicht auf Allmacht ermöglicht habe. Aus seinen Denkoperationen folgert Hans Jonas: Aus dem von Gott gewollten freien Weltentwicklungsprozess waren Nazis, Mörder, Henker, Despoten wie Hitler und Stalin hervorgegangen, denen Gott nicht Einhalt gebieten konnte. „Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott(…), nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein“ (S. 41). Der „sorgende Gott“ habe sich selbst geknebelt und zum Zuschauen verpflichtet. Aus jüdischer Glaubensperspektive sei Christus nicht der menschgewordene Gottessohn, den der „leidende Gott“ zu einer bestimmten Zeit zum Zwecke der Erlösung des Menschen sandte. Jonas geht glaubensaxiomatisch davon aus, dass Gott „vom Augenblick der Schöpfung an, und gewiss von der Schöpfung des Menschen an“, ein „leidender Gott“ gewesen sei (S. 25). Gott habe zwar als solcher mitgelitten, ohne aber eingreifen zu können. Er musste schweigen. Er konnte nicht anders. Das ist Jonas` Antwort auf die bedrängende Frage: “Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?“(13f).

Wir haben es auch bei diesem Erklärungsversuch und dieser Antwort auf die Hiobsfrage mit einem vom menschlichen Geist erfundenen „Mythos von Gottes In-der-Welt–Sein“ (S. 16) zu tun. Jonas räumt ein: Alle philosophisch-theologische Denkarbeit am Gottesbegriff beweist nicht Gottes Existenz (S. 9). Es bliebe letztendlich nur die Hoffnung, dass es ihn gäbe. Dieser so gedachte Gott kann für Auschwitz und alles Schreckliche und Entsetzliche, was Menschen anderen Menschen antun, nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

„Testfall der Theodizeefrage: Gott in Auschwitz?“ (Hans Küng)

Der prominente katholische Theologe Hans Küng widersprach in seinem Buch „Credo. Das apostolische Glaubensbekenntnis (1992) entschieden und lapidar der Behauptung, der allmächtige Gott sei nicht in Auschwitz gewesen. Man dürfe die Zuschreibungen, Gott sei allmächtig, gut und gerecht, nicht aufgeben, täte man dies, hätte man es nicht mehr mit Gott zu tun. „Ein aller Macht beraubter Gott hörte auf, Gott zu sein.“ (Alle Zitate zu Küng aus http://www.dober.de/religionskritik/kuengtheozidee.html 01.10.2012) Eine theoretische Antwort auf das Theodizee-Problem gäbe es nicht. Keiner der großen Geister habe das „Urproblem“ gelöst. Es gäbe keine Antwort. Atheisten und Skeptiker hätten Recht, alle Versuche seien gescheitert, angesichts der Übel in der Welt den Allmächtigen und Allgütigen zu rechtfertigen. Das unlösbare Problem liefere die stärksten Argumente gegen Gott und für eine atheistische Position. Küng stellt der „Vermessenheit des Menschengeistes, ob sie nun im Kleide der theologischen Skepsis, der philosophischen Metaphysik, der idealistischen Geschichtsphilosophie oder der trinitarischen Spekulation daherkommt“, einen absoluten Glauben an Gott entgegen. „Übergroßes, unschuldiges, sinnlose Leid lässt sich – im individuellen wie im sozialen Bereich – nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen(…). Gott ist und bleibt für den Menschen letztlich unbegreiflich, und doch ist dem Menschen die Möglichkeit geschenkt, diesem unbegreiflichen Gott statt Resignation oder Verzweiflung ein unerschütterliches, unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen.“ Er, Küng, habe zwar die konkrete Frage, warum Gott in Ausschwitz nicht eingegriffen und millionenfache Vergasung nicht verhindert habe, auch nicht theoretisch beantworten können, aber im Rückgriff auf die Hiob-Erzählung eine Antwort gefunden: ein grenzenloses Vertrauen auf einen unbegreiflichen Gott. „Leiden und Hoffnung gehörten zusammen, Hoffnung auf einen Gott, der sich trotz allem nicht als launisch-apathischer Willkürgott, sondern als Gott der rettenden Liebe“ zeige. Jesus Christus habe die „furchtbare Erfahrung der Opfer des Holocaust vorausgenommen, jene Erfahrung, dass man von allen Menschen verlassen werden kann, dass man sogar des Menschseins verlustig gehen kann, dass man von Gott selbst aufgegeben werden kann.“ Küng drehte sich einmal im Kreis und kehrte zum Hiob-Beispiel zurück.

All diese Anstrengungen des philosophisch-theologischen Denkens und des Glaubens an einen Gott und die Antworten der Theologen und Religionsvirtuosen mit ihren Lehren von Gott liefen und laufen nach wie vor auf religiöse Fantasien und Fundamentalismen hinaus. Hans Jonas entwarf einen poetisch-erzählerischen Mythos, Hans Küng „in verzweifelter Hoffnung“ ein fundamentalistisches Glaubensmanifest. Beide versuchen den Glauben an einen Gott gegen das Übel und das Leiden zu verteidigen. “Gott schwieg(…), weil er nicht konnte, griff er nicht ein“, so Jonas. Er schlägt bei dieser schwierigsten Frage eine Theologie des Schweigens vor.

Mein Fazit heute: Ich halte diese Antworten für Selbstblockaden des Erkenntnisgewinns, ziehe die Position eines aufgeklärten hypothetischen Atheismus vor und plädiere für theoretische und empirische Forschungsansätze nach methodologischen Regeln der modernen Wissenschaft. Philosophisch-theologische Betrachtungen und Spekulationen über die „Unbegreiflichkeit“ und „unerforschlichen Ratschlüsse Gottes“ bringen keinen Erkenntnisgewinn, mehr noch, sie sind Zeitverschwendung – es sei denn ich nehme diese menschheitsgeschichtlichen soziokulturellen Gegebenheiten als Forschungsmaterial für anthropologisch-evolutive Studien.

Anthropologen schätzen, dass es im Laufe der Menschheitsgeschichte etwa 100 000 Religionen gegeben haben mag. Religionen sind eine zentrale Begleiterscheinung von menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften. Der US-amerikanische Evolutionsbiologe Edward O. Wilson hält die Prädisposition zu religiösem Glauben für die konsequenteste und mächtigste Kraft des menschlichen Geistes. Religion sei aller Wahrscheinlichkeit nach ein unauslöschlicher Bestandteil der menschlichen Natur. Der Evolutionsbiologe stellt auf der Grundlage dieser Beobachtung die These auf, dass Religion/religiöser Glaube einen Evolutionsvorteil verschafft, Religionen hätten sich nicht dauerhaft durchgesetzt, läge darin nicht ein evolutiver Vorteil für die Spezies Mensch.

44. „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ Zum Tode des CDU-Politikers Heiner Geißler, 12.09.2017

Heiner Geißler (1930–2017), ein CDU-Politiker, der die Provokation als Mittel des politischen Streits liebte, starb vor wenigen Tagen, am 12. September 2017, im Alter von 87 Jahren. Sein Tod traf mit der Niederschrift dieses Blog-Kapitels merkwürdig zusammen. Ich kannte ihn nicht persönlich, war aber mit seiner Person aus der Politik und meiner Parteienforschung gut vertraut. Über Jahrzehnte beobachtete ich seine öffentlichen Auftritte. Seinen Lebenslauf und seine steile politische Karriere können im Internet bei Wikipedia im Detail nachgelesen werden. Nur so viel sei in diesem Blog-Kapitel als Kurzinformation zum Verständnis vorangestellt: Geißler war Zögling der Jesuitenschule Kolleg St. Blasius im Schwarzwald. Nach dem Abitur trat er 1949 als Novize dem Jesuitenorden bei und studierte auf der jesuitischen Ordenshochschule in München Philosophie. Nach vier Jahren verließ er den Orden, weil er sich, wie er sagte, nicht für den Zölibat geeignet sah, studierte Rechtswissenschaften in München und Tübingen und erwarb 1960 den juristischen Doktorgrad. Er heiratete und hatte drei Kinder. Seine politische Karriere führte ihn von 1967 bis 1977 in die Landesregierung von Rheinland-Pfalz. Er war Minister unter den Ministerpräsidenten Peter Altmeier, Helmut Kohl und Bernhard Vogel. Von 1982 bis 1985 war er Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett Kohl, von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU. Gegen Ende der 1990er und zu Anfang des 21. Jahrhunderts wechselte Geißler seine politisch-ideologischen Einstellungen und Überzeugungen. Er bezog auf mehreren Politikfeldern linke Positionen.

Der konservative Christdemokrat Geißler galt lange Zeit in seiner eigenen Partei, aber auch in den Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern als Scharfmacher, Querdenker und rebellischer Unruhestifter. Seine scharf zugespitzten Wortattacken und verbalen Entgleisungen gegen links waren gefürchtet. Er war in vielen Auseinandersetzungen ein „wortmächtiger Hetzer“ (Peter Reinhardt in: Mannheimer Morgen, 13.09.2017 https://www.morgenweb.de/mannheimer-morgen_artikel,-politik-vom-grossen-zuspitzer-zum-verbindlichen-schlichter-_arid,1111812.html.) Ein paar Beispiele: Im sogenannten Deutschen Herbst 1977 (siehe Blog-Kap.15) hatte er bei der Abwehr der Terroraktionen der Roten Armee Fraktion in einer von ihm verantworteten Broschüre linke und liberale Kulturschaffende und Politiker der Bundesrepublik Deutschland (Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz, Günter Wallraff, Herbert Markuse, Bundesminister Werner Maihofer und andere) als „Sympathisanten des Terrors“ hingestellt. 1983 hatte Geißler, als es um die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa gegangen war, die SPD als „Fünfte Kolonne der anderen Seite“ bezeichnet, gemeint war der Ostblock. Er hatte dem „Pazifismus der dreißiger Jahre“ eine Mitschuld am Massenmord in Konzentrationslagern zugeschrieben, weil angeblich „dieser Pazifismus (…) Auschwitz erst möglich gemacht“ habe. Sein Auschwitz-Pazifismus-Vergleich hatte Empörung hervorgerufen. 1985 hatte Willy Brandt Geißler vorgeworfen, „seit Goebbels der schlimmste Hetzer im diesem Land“ zu sein. Die Liste der verleumderischen Entgleisungen Geißlers ließe sich unschwer fortsetzen. Auch nach seinem politischen Positionswechsel hatte der streitbare CDU-Politiker und nunmehrige Linkskatholik seine Neigungen zu kritischen Zuspitzungen und angriffsbereiten Stellungnahmen beibehalten. Er hatte zum Beispiel die Wirtschaftspolitik der von der CDU geführten Bundesregierung als „ultrakonservativ“, „turbokapitalistisch“, „neoliberal“, „rückwärtsgewandt“ oder „von gestern“ bezeichnet. „Das gegenwärtige Wirtschaftssystem (sei) nicht konsensfähig und zutiefst undemokratisch, es (müsse) ersetzt werden durch eine neue Wirtschaftsordnung“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Heiner_Gei%C3%9Fler..17.09.2017 2016 hatte er die CSU als „Totengräberin der Union“ beschimpft und die CDU aufgefordert, in der Flüchtlingspolitik schärfer entgegenzutreten (http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_7…28.09.2017).

Seine späte Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie ließ ebenfalls nichts an Schärfe zu wünschen übrig. In seinem kritischen Rundumschlag gegen den christlichen Glauben und die christlichen Großkirchen fand ich die vielen Gedanken wieder, die mich seit Jahren beschäftigen.

 

Geißlers Abrechnung mit der christlichen Theologie, 2015/2017

Es wäre eine intellektuell unverantwortliche Verharmlosung, zu sagen, wie es in der Wikipedia-Biografie unter „Sonstiges“ steht, „Geißler (habe) sich mehrfach kritisch zur katholischen Kirche“ und selbstkritisch und zweifelnd zu seinem katholischen Glauben geäußert. Nein! Geißler wandelte sich in späteren Jahren, pointiert formuliert, von einem Paulus zu einem Saulus. Aus dem Jesuitenzögling und tiefgläubigen praktizierenden Katholiken wurde ein Agnostiker und radikaler Kritiker nicht nur der katholischen Kirche, sondern allgemein der christlichen Theologie. In zweien seiner letzten Buchveröffentlichungen setzte er zu einer radikalen und rabiaten Abrechnung mit dieser an: in seiner Broschüre „Was müsste Luther heute sagen“ (2015) und noch drastischer in seiner letzten Schrift „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifelt?“ (2017). Noch zwei Wochen vor seinem Tod sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (Nr. 211, 13.09.2017, S. 11): „Es muss Streit geben über das Gottesbild der katholischen und protestantischen Theologie. Solch einen Gott kann es nicht geben. Auf der einen Seite erschafft er die Welt so, wie sie ist, was ja im Glaubensbekenntnis betont wird. Gleichzeitig hat er solch einen Pfusch geschaffen, dass er seinen eigenen Sohn in einem etwas komplizierten Manöver mit Hilfe einer Jungfrau auf die Welt gebracht hat, der dann in solidarischem Auftreten und Handeln sich an die Seite der leidenden Menschheit gestellt und alle Mühen und Leiden durchlitten hat, die andere auch erleiden, und dadurch die Welt erlöst hat. Was soll das für ein allmächtiger Gott sein, der erst eine Welt schafft, die dann aber so schlecht ist, dass sie vom eigenen Sohn wieder erlöst werden muss?“

Im Blick auf die protestantische Theologie setzt er hinzu: Auch „die [Protestanten] müssen dringend theologische Veränderungen vornehmen, etwa die Erbsündenlehre von Luther auf den Abfall der Geschichte schmeißen.“ (SZ, 13.09.2017, S. 11)

Geißler übt in den beiden oben genannten Schriften einen wuchtigen Rundumschlag gegen die christliche Theologie und ihre speziellen Ausprägungen aus (Sündentheologie, Droh- und Straftheologie, Moraltheologie, Gnadentheologie). Er fragt: „Ist die christliche Religion nicht ein großes Theater, zu dem die Theologen das Drehbuch geschrieben haben? Ist sie nicht ein Täuschungsunternehmen, eine Drogenfabrik?“ (Geißler 2017: Kann man noch Christ sein, S. 9).

Man könnte versucht sein dagegenzuhalten, mit diesem Rundumschlag käme wiederum der alte Polemiker und Zuspitzer zum Vorschein, einer, der mit fraglichen Vereinfachungen und böswilligen Unterstellungen arbeite, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. In der Tat riefen Geißlers Streit- und Glaubensschriften unter Theologen und Kirchenmännern heftige Erwiderungen aus. Beide Schriften führten „erhebliche Verwerfungen und Zerwürfnisse in der katholischen Kirche“ und auf protestantischer Seite „einen Verriss der übelsten Sorte“ herbei (so Geißler in: SZ 13.09.2017, S. 11). Geißler gibt zu: „Einem Ratzinger würde ich gerne theologisch wehtun.“ (ebd.)

Die katholische Kirche hat allerdings einen großen Magen, der allerhand verdaut. Die Nachrichtenagenturen melden, Geißler werde nach katholischem Ritus in der Kirche ausgesegnet. Vor vierhundert Jahren hätte ihn die katholische Inquisition auf einem Scheiterhaufen zu Tode gebraten.

Geißler stellt in seiner Abrechnung mit der christlichen Theologie all die Fragen der Theodizee, die auch ich hier in meinem Blog stelle. Er gibt auf sie ähnliche Antworten, nur noch radikaler, noch aggressiver, noch direkter. Die Moraltheologie der katholischen Kirche sei „eine Moraltheologie der Scharia“, die Lehre von der Erbsünde eine „theologische Erfindung, deren Wahnsinn den Irrsinn jeder Rassenideologie weit“ übertreffe. Die Rechtfertigungslehre sei „der Super-Gau aller faulen Ausreden“, nämlich, dass sich nicht Gott rechtfertigen müsse, sondern der Mensch. Und überhaupt: Die christliche Theologie böte nur faule Ausreden auf die wirklich drängenden Grundfragen des menschlichen Seins und Leidens an und verletze und beleidige die menschliche Würde (Geißler 2017: Kann man noch Christ sein, S. 15, 22, 32, 34f). Wenn es Gott gibt, wie ihn die christliche Theologie beschreibt, dann müsse er auch in Auschwitz, in der Hinrichtungsstätte Plötzensee, in Guantanamo und in allen Folterkammern der Welt anwesend gewesen sein.

Aber den Gott der christlichen Theologie gäbe es nicht. Geißler meint dies an empirischen Tatsachen demonstrieren zu können. Er führt zahlreiche Beispiele an. Die raffinierteste Erfindung der Theologie, um das Übel der Welt zu erklären“, (sei), so Geißler, „der ,freie Wille‘: dass nämlich Gott von den Menschen geliebt werden wolle und dies nur dann wertvoll sei, wenn sie auch die Freiheit hätten, ihn nicht zu lieben (…) und ihre Freiheit zu Ungeheuerlichkeiten [zu] missbrauchen in Auschwitz, durch Pol Pot, den ,Islamischen Staat‘, Terrorakte mit schweren Lkws [Lastkraftwagen] in Nizza und auf dem Berliner Weihnachtsmarkt“  (ebd. S. 26f).

Obschon ich in Geißlers Rundumschlag gegen die christliche Theologie und ihre Gottesbegriffe eine Reihe argumentativer Schwächen sehe, laufen seine Auslassungen doch in die gleiche Richtung wie meine Kritik an der christlichen Theologie und den Kirchen. Ich kann seine Wut, seinen Zorn, seine Empörung und seine Lust an der radikalen Attacke gut verstehen und nachvollziehen. Sie sind auf jeder Seite seiner Streitschriften zu spüren und meiner Person nicht fremd.

Als Sozialwissenschaftler teile ich allerdings nicht seine Hoffnung, über ein elementares Christsein die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und den Weg in eine friedlichere und freundlichere Weltgesellschaft finden zu können. (ebd. S. 73f). Ich komme am Schluss noch einmal darauf zu sprechen. Geißlers Vorschläge und Forderungen unterschätzen und verkennen die Funktionen von Großorganisationen in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften.

Geißler kommt in seinen Antworten letztendlich zu einem ebenso fundamentalen wie radikalen Ergebnis: Die christliche Theologie und ihre Kirchen haben „keine ehrlichen Antworten“ auf die grundlegenden Fragen der Menschheit (ebd., S.62). „Mit Sicherheit steht fest: „Den Gott, wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen beschreibt, kann es [aus logischen und empirischen Gründen – A.M.] nicht geben“ (ebd., S. 67). Die christliche Theologie und ihre Dogmen „sind nicht maßgebend für das Christsein und versperren [sogar – A.M.] den Weg zu einem möglichen Gott“ (ebd. S. 74).

Alles theologische Gerede über Gott sei müßig. Geißler und ich hören auf der gleichen Wellenlänge. Schon in früheren Jahren fragte ich mich im Stillen, wie es klänge, wenn alle bestialisch ermordeten und durch Naturkatastrophen aus dem Leben gerissenen Menschen in einem einzigen Augenblick ihr Leid und ihren Schmerz hinausbrüllen würden. Alle Trommelfelle würden in dem ohrenbetäubenden Brüllorkan platzen und die Welt würde durch die akustischen Druckwellen zerbersten. Ich war erstaunt, als ich in Geißlers letzten Streitschrift vom März 2017 (ebd., S. 11) las: „Könnte man die Schreie dieser gequälten, gesteinigten, gedemütigten, geschlagenen, ermordeten Menschen – die Schreie der Tiere mitgerechnet – alle gleichzeitig hören, würde dieser unerträgliche Schrei alles Leben auslöschen.“

Und Geißler wiederholt an dieser Stelle seinen Zweifel und seine dringliche Frage: „Der Gott, der so etwas nicht nur möglich macht, sondern es in jeder Minute zulässt, soll auch noch ein liebender, gnädiger, gerechter Gott sein?“

 

Heiner Geißlers religiös-fundamentale Antwort und Forderung

„Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ Heiner Geißler bleibt ein Zweifler und überzeugt davon, dass es keinen Gott gibt, „wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen beschreibt.“ (ebd., S. 67, auch 39). Er halte die Existenz eines „anderen, von der christlichen Theologie weitgehend bereinigten Gott“ für möglich (ebd., S.39). Die Lehren und Dogmen der christlichen Theologie seien auf alle Fälle hinderlich, weil diese auf antiquierten, heute nicht mehr akzeptablen Positionen und Sichtweisen verharren. „Die Theologie beider Kirchen bleibt bei der unverschämten und unglaublichen Behauptung, die Menschen müssten sich für Unglück und Leid, die ihnen milliardenfach seit Tausenden Jahren widerfahren, vor Gott rechtfertigen und nicht umgekehrt Gott vor den Menschen. Gott, der doch als ,der Schöpfer des Himmels und der Erde‘, so das Credo des ersten Konzils von Nicäa, eigentlich den Menschen und den Tieren ohnehin Rechenschaft ablegen müsste, weil er sie gar nicht gefragt hat, ob sie so ein Leben haben wollen“ (ebd., S. 10). Geißler dreht die Rechtfertigungslehre, so wie er sie versteht, einfach um. Sein Argument, Gott hätte bei seinem Schöpfungsakt Menschen und Tiere fragen müssen, ob sie die von ihm zugedachten Lebensweisen haben führen und Lebensumstände haben hinnehmen wollen, scheint mir absurd zu sein. Ein Schöpfungsmythos einer göttlichen Urdemokratie. Solche gedanklichen Eskapaden sind ebenso schnurrig wie müßig. Das mag ausgebuffte und ausgekochte Theologen zur Weißglut bringen. Es wäre jedoch Zeitverschwendung, sich weitere Gedanken darüber zu machen.

Ob ein Gott existiert oder nicht und welche Qualitäten er haben könnte oder gar müsste, darüber kann man, so Geißler, nur spekulieren und als Christ hoffen, dass es einen gäbe. In dieser Gottesfrage gäbe es keine Gewissheit. Eines sei aber absolut sicher und empirisch erwiesen, dass Jesus gelebt und gelehrt hat. Er habe die sinnvollste Botschaft hinterlassen, die je ein Mensch verkündet hat, die Botschaft der Nächstenliebe (ebd., S. 71, 73). „Dieser Jesus“, so fasst Geißler seine Gedanken zusammen, verkörpert das Ideal der Glaubwürdigkeit, das heißt der Einheit von Idee, Reden und Handeln, der Einheit von Anspruch und Wirklichkeit. So wie er damals die Menschen gegen die Machthaber sowie Sitten- und Glaubenswächter vertreten hat – unabhängig, freimütig, selbstbewusst, furchtlos -, müssten auch heute Bischöfe, Kirchenpräsidenten und charismatische Führer mit dem Widerstandsgeist eines Martin Luther zur treibenden Kraft für eine neue und gerechte Welt-, Friedens-, und Wirtschaftsordnung werden“ (ebd., S. 74). Dieser historische Jesus und seine revolutionäre Lehre müssten unbedingt vor der christlichen Theologie, insbesondere vor der Sünden- und Gnadentheologie gerettet werden, um wieder voll wirksam werden zu können.  Die Botschaft Jesu sei eine der „Befreiung mitten im Leben“ (ebd., S. 37). Geißler kämpfte sich in seiner radikalen Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie und den Kirchen zu einer Art fundamentaler Befreiungstheologie durch, die auch ohne Gott denkbar sei. „Wir haben als Christen“, so schließt er seine Streitschrift ab, „keine bessere Sinndeutung des Leidens in der Welt als jeder andere auch. Deswegen wird das Leiden für viele immer mehr zum ,Fels des Atheismus‘ “ (ebd., S. 69, siehe auch S. 22.)

43. Säkularer Staat, religiös-konfessionelle Erosionen und islamische Neubürger

Vortragsreisen nach Trient

In sozial- und geschichtswissenschaftlichen Fachkreisen hatte sich wohl allmählich herumgesprochen, dass sich meine Forschungsinteressen und Fragestellungen vom engeren Bereich der Parteienforschung entfernt und sich der bekannte „CSU-Mintzel“ in kritischer Distanz zur bayerischen Staats- und Ordnungspartei (CSU) allgemeinen Fragen der religiös-konfessionellen Entwicklungen und institutionellen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Kirchen zugewandt hatte. Gewiss, es waren vor allem spezifisch staatsbayerische Verhältnisse und Anstöße, die mich bewegten, mich generell mit Fragen der Säkularisierung und dem Wirken der Konfessionen und Kirchen zu befassen und dazu Stellung zu nehmen. Es waren zugegebenermaßen auch persönliche berufspolitische Erfahrungen, die meine Interessen an solchen Fragestellungen lenkten und verstärkten, so das Ärgernis der Konkordatslehrstühle (siehe Blog-Kap. 21) sowie der penetrante Klerikalismus und die staatliche Alimentierung der katholischen hohen Klerisei. Anfang der 1990er Jahre waren im sogenannten Madonnen-Streit an der Universität Passau die verdeckten und verschleierten internen und externen katholisch-konfessionellen „Selbstverständnisse“ an den Tag gekommen, aber auch säkulare Gleichgültigkeit und niederträchtige Gesinnung (siehe Blog-Kap. 29/30). In den Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil des Bundeverfassungsgerichtes hatte es 1995 eine katholisch-konfessionell geprägte Aktionseinheit des bayerischen Staates mit der katholischen Kirche und ihren Laienorganisationen gegeben (siehe Blog-Kap. 32). Die Stellung und Finanzierung der Katholisch-Theologischen Fakultäten an sieben bayerischen Universitäten waren angesichts der konfessionellen Erosionsvorgänge am Ende der 1990er ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geraten. Ich hatte mich zu diesen Vorgängen, wie in meinem Blog dokumentiert, in wissenschaftlichen Analysen und Printmedien mehrmals ausführlich geäußert. In Kollegenkreisen waren die kritischen und bissigen Auseinandersetzungen des „CSU-Mintzel“ mit diesen Verhältnissen und Entwicklungen wohl mit etwas Verwunderung verfolgt worden, zumindest von denen, die in mir einen als Wissenschaftler zwar in freundlicher Distanz stehenden, aber doch treuen Anhänger der CSU vermuteten. In der Tat waren meine kirchen- und konfessionspolitischen Ansichten mehr und mehr in einen scharfen Gegensatz zur CSU-Politik geraten, für die das vom bayerischen Staat 1933 mit dem Vatikan geschlossene Konkordat sakrosankt war. Ganz konnte ich mich jedoch auch auf internationalen Tagungen nicht meinen lebensgeschichtlichen und wissenschaftlichen bayerischen Bindungen und Verbindungen entziehen.

Meinen letzten großen Beitrag über die CSU hatte ich im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung für die Akademie der Wissenschaften in Moskau verfasst. Er war 2007  in der  Moskauer Reihe “Urgent Problems of Europe” in russischer Sprache unter dem Titel “Die Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU). >Politik für Bayern, für Deutschland und für Europa<” in Moskau erschienen.|

Ich war hocherfreut und sah mich abermals wissenschaftlich herausgefordert, als mich in den Jahren 2005/06 der Direktor des renommierten Italienisch-Deutschen Historischen Instituts (ITC) in Trient, Prof. Dr. Gian Enrico Rusconi, zweimal dazu einlud, auf hochkarätig besetzten Tagungen Vorträge zu halten. Im November 2005 stand das Thema „Die Kruzifix-Debatte in Deutschland“ auf dem Institutsprogramm, im Oktober 2006 das Thema „Der säkularisierte Staat und seine Veränderungen heute.“ Die Einladungen gaben mir die willkommene Chance, meine kritischen Auseinandersetzungen auf einer internationalen wissenschaftlichen Plattform zur Diskussion und somit auf den Prüfstand zu stellen. Kollege Rusconi bat mich 2005, das Kruzifix-Urteil und vor allem die spezifisch bayerischen Reaktionen darzustellen und zu erläutern. Das Tagungsthema 2006 griff hingegen sehr viel weiter aus. Teilnehmer auf deutscher Seite waren neben mir Ernst-Wolfgang Böckenförde (Freiburg), Thomas M. Schmidt (Frankfurt a.M.), Klaus Eder (Berlin) und Jörg Luther (Alessandria). Mein Thema lautete: „Herausforderungen des säkularisierten Staates heute: Kruzifix-Debatte, Moscheenbau, Marktl, Konkordatslehrstühle und andere Formen freundlicher Kooperation.“ Die Anstrengungen der Teilnahme wurden reich belohnt, die Vorträge waren facettenreich und multiperspektivisch: theologisch-philosophisch, politisch-philosophisch, verfassungs- und kirchenrechtlich, historisch und soziologisch. Meine Frau begleitete mich auf beiden Vortragsreisen. Selbst sie, die mich sonst scharf kritisierte und stets etwas an meinen Auftritten auszusetzen hatte, war voll des Lobes. Meine sorgfältig vorbereiteten Vorträge waren offensichtlich gut aufgenommen worden. Sie wurden zu einem Buchbeitrag zusammengefasst, ins Italienische übersetzt und 2008 publiziert (in: Lo Stato secolarizzato nell´eta post-secolare, a cura di Gian Enrico Rusconi, Bologna). Mit anderen Schwerpunktsetzungen, die vor allem das deutsche Religionsverfassungsrecht und das religionspolitische Auseinanderdriften der westlichen und östlichen Bundesländer thematisierten, steuerte ich einen Beitrag zur Festschrift für Heinrich Oberreuter zu dessen 65. Geburtstag bei (Res publica semper reformanda, 2007, S. 135-148).

Aktuelle Verhältnisse und Zukunftsperspektiven

In den Jahren 2006 und 2007 drängten mich insbesondere zwei Ereignisse, mich erneut mit hochaktuellen Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche zu befassen: Es waren der Staatsbesuch des damaligen Papstes Benedikt XVI. in Bayern und seine Rede über das „Thema „Glaube, Vernunft und Universität“, die er am 12. September 2006 an der Universität Regensburg hielt, sowie der Artikel des deutschen Bundesministers des Innern Wolfgang Schäuble zum Thema „Muslime in Deutschland“. Die Rede Benedikts XVI. wurde am 13.09.2006 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt (Nr. 213, S.8). Schäubles Artikel erschien aus Anlass der ersten Deutschen Islamkonferenz in Berlin am 27. September 2006 ebenfalls in dieser Zeitung (Nr. 225, S.9). Meine jeweiligen Zitate stammen aus diesen Quellen.

Ich verfolgte mit großem Interesse die darauffolgenden öffentlichen Debatten, und dies über Jahre. Ich sah mich auch als Zeitzeuge erneut herausgefordert, meine Beobachtungsschärfe und meine Zeitdiagnostik auf den Prüfstand zu stellen. Wir stehen als Zeitgenossen und informierte Beobachter mittendrin in gegenwärtigen Entwicklungsverläufen und können nur schwer ausmachen, wie der Wandel weiterhin wirklich verlaufen wird. Zu brandaktuellen Vorgängen und Streitfragen Stellung zu nehmen, birgt natürlich die Gefahr in sich, Fehlbeurteilungen zu unterliegen. Doch gerade die Mühen, aktuelle Entwicklungsverläufe zu beobachten, Tendenzen zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, verleiht Zeitgenossenschaft ihr besonderes Gewicht. Ich werde es nicht mehr erleben, ob und inwieweit meine analytischen und deutenden Bemühungen bestätigt werden oder sich als falsch erweisen.

Ich gehe in meiner Skizze von zwei Thesen aus: Der säkularisierte Staat, hier die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bundesländer, sind heute in doppelter Weise konfessionspolitisch herausgefordert: Auf der Seite der sogenannten „christlichen Mehrheitsgesellschaft“ werden angesichts sich drastisch verändernder religiös-konfessioneller Verhältnisse bestimmte Privilegien und Rechte der christlichen „Großkirchen („Volkskirchen“) fragwürdig und reformbedürftig. Auf der Seite der islamischen Minderheit ist deren konfessionspolitische Integration über dauerhafte institutionelle Arrangements zu einer dringenden und permanenten Aufgabe geworden. Beide Herausforderungen stellen das hoch gepriesene „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) auf den Prüfstand.

Die päpstliche Kritik an der säkularisierten Welt

Mit seiner Regensburger Vorlesung forderte der Papst den säkularisierten Staat frontal heraus. In der Konfrontation zwischen „westlicher Welt“ und „islamischer Welt“, so warnte Benedikt XVI. 2006, sei die „westlichen Welt“ nicht nur von außen, sondern auch von innen her bedroht. Es ging dem Papst nicht nur um eine theologisch-philosophische Positionierung des Christentums gegenüber dem Islam, sondern konkret um eine Lektion über die geistige Selbstgefährdung der „westlichen Welt“. Er warf der modernen Wissenschaft, insbesondere aber den Naturwissenschaften vor, einer „positivistischen Vernunft“ zu erliegen. Der Mensch selbst werde dabei in seinem Wesen verkürzt. Der Papst verlangte eine Abkehr von der „modernen naturwissenschaftlichen Vernunft“ und die Hinwendung zu einem weiten, ganzheitlichen Vernunftbegriff. „Glaube und Vernunft“ sollten nicht als Gegensätze verstanden, sondern „im Ganzen der einen Vernunft“ versöhnt werden. Im Hinblick auf den säkularisierten Staat der „westlichen Welt“ sagte er sinngemäß, dieser Staat sei eine in sich selbst gefährdete Institution. In Bezug auf die Aufgabe und Stellung der Theologie an den staatlichen Universitäten stellte er fest: Die Theologie stehe „in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten [sic!] Gebrauch der Vernunft […], „indem sie nach der Vernunft des Glaubens“ frage. In diesem Sinne gehöre Theologie „nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft an die Universität und ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein.“ Der Papst nahm damit zu einer innerkirchlichen und öffentlichen Streitfrage im Verhältnis von Staat und Kirche Stellung und verteidigte die Existenz und den Platz der Theologie an staatlichen Universitäten. Er erteilte sowohl laizistischen Kräften als auch Bestrebungen in der katholischen Amtskirche eine Absage, welche die Theologie in der staatlichen Wissenschaftsorganisation marginalisieren oder sogar aus der Universität herauslösen wollen.

Mit seiner Ermahnung zum „rechten Gebrauch der Vernunft“ und seiner Positionierung der Theologie in der staatlichen Wissenschaftsorganisation sprach der Papst auch christlich-interkonfessionelle Streitfragen und Frontstellungen an. Die schrille Empörung in der islamischen Welt über sein fragwürdiges Zitat lenkte zunächst von den offenen und versteckten Einwänden gegen die evangelische Theologie ab. Er wandte sich gegen das „Subjektive“ und gegen das „subjektive Gewissen und seine Beliebigkeit“ und teilte damit Seitenhiebe gegen den evangelischen Glauben aus, der ein anderes Verständnis von Kirche und individuell geprägter Religion vertritt. Der Papst reklamierte mit seinen Ausführungen und Postulaten für die römische Kurie die Wahrheitsfrage und das richtige Weltverstehen, er sagte es nur nicht so unverhohlen und schroff. Was der Papst mit theologisch-philosophischer Friedfertigkeit und Dialogbereitschaft vortrug, enthielt genau besehen brisante Ansprüche an den säkularisierten Staat von heute. Auf einer theologisch-philosophischen Metaebene mögen sein gedankliches Konstrukt vom „Ganzen der einen Vernunft“ und seine Teleologie des sich in der Geschichte entwickelnden Logos und Gottesverständnisses plausibel und schlüssig sein. Doch halte ich es wenig wahrscheinlich, dass die von ihm angemahnte Besinnung und Umkehr in der westlichen Welt eintreten werden. Die inmitten von Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse voranschreitende westliche Zivilisation und moderne Wissenschaft werden weiterhin Gegenpositionen hervorbringen und den wissenschaftlichen Pluralismus des Weltverstehens eher verstärken, als zur Akzeptanz der päpstlichen Denkfiguren und Postulate führen. Aus der Pluralisierung und Fragmentierung der Wertsphären resultierenden Wertkonflikte und Spannungen können unter den Bedingungen der modernen Lebenssphären nicht mehr hierarchisch, geschweige denn ex cathedra, „von oben“, „im Ganzen einer Vernunft“ versöhnt werden. Mit seiner Regensburger Rede forderte der Papst den säkularisierten Staat auch insofern heraus, als er diesen quasi auf seine „Wahrheit“ zu verpflichten versuchte. Diese Anmaßung ist nicht akzeptabel.

 Die konfessionspolitische Integration der Muslime

Im Wochenblatt DIE ZEIT wurde Anfang Oktober 2006 dem Bundesinnenmister Wolfgang Schäuble bescheinigt, mit seiner jüngsten Stellungnahme und Initiative zur Integration der über drei Millionen Muslime in Deutschland sei ihm „ein gesellschaftspolitischer Coup“ gelungen. Schäuble hatte öffentlich anerkannt, dass der Islam in Deutschland für alle erkennbar kein Gastarbeiterglaube mehr sei, der mit seinen Trägern wieder verschwinde, sondern neben dem Christentum die zweitstärkste Konfession bilde. „Es leben drei Millionen Muslime in Deutschland, die Teil der deutschen Gegenwart und Zukunft sind, so wie der Islam ja auch ein Teil Europas ist. Das müssen und wollen wir zur Kenntnis nehmen; deswegen muss der Staat in eine vernünftige Beziehung zu den Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft eintreten, deshalb versuchen wir einen Dialog in Gang zu bringen.“ (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S. 4). Das Problem von Staat und Religion müsse, so mahnte Bundesminister Schäuble, auch innenpolitisch gelöst werden. Mit den drei Millionen Muslimen habe sich in Deutschland der religiös-konfessionelle Pluralismus um den Islam dauerhaft erweitert. Es sei eine der großen Aufgaben des Staates, durch kooperative Arrangements eine die Gegensätze entschärfende konfessionspolitische Integration zu erreichen. „So wie wir zu der katholischen und der evangelischen Kirche Beziehungen haben“, so führte Schäuble aus, „müssen wir in Deutschland versuchen, ein Verhältnis zwischen Staat und muslimischen Gläubigen zu entwickeln.“(SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S.5) Die Devise der Initiativen lautet: „Wir wollen aufgeklärte Muslime in unserem aufgeklärten Land“ (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr. 222, 26.09.2006, S.5). Die angekündigten staatlichen Bemühungen liefen auf die Förderung eines „Euro-Islam“ im Sinne des deutschen Staatskirchenrechtes hinaus. Die staatlich kontrollierte Ausbildung und Einsetzung von Imamen wurde zu einer der neuen aktuellen Aufgaben des säkularisierten Staates gemacht. Das päpstliche Plädoyer für die Ausbildung von Theologie an staatlichen Universitäten und Hochschulen in der gemeinschaftlichen Verantwortung von „Glaube und Vernunft“ gewann so in Deutschland im Zusammenhang mit den konfessionspolitischen Herausforderungen des Islam eine neue integrationspolitische Bedeutung. Auch die islamische Religionsgemeinschaft und ihre Imame sollten, wie ehemals die katholische Kirche, der staatlichen Kontrolle unterstellt werden.

Allerdings müsse die konfessionelle Pluralisierung durch die muslimische Einwanderung, so Schäuble, im Sinne der „spezifisch deutschen Lösung im Verhältnis von Staat und Religion“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) geregelt werden. Es sei deshalb höchste Zeit, den Islam konfessionspolitisch zu integrieren und dafür auf der Basis der Verfassung und des deutschen Religionsverfassungsrechts dauerhafte kooperative und institutionelle Arrangements zu schaffen. Wörtlich sagte er hierzu: „Muslime in Deutschland sollen sich als deutsche Muslime fühlen können. Sie sollen als Bürger eines religiös neutralen, aber nicht religionsfreien demokratischen Rechtsstaates gefeit sein können gegen die Verlockungen und Irrwege terroristischer Extremisten“ (Schäuble: Muslime in Deutschland). Schäuble korrigierte sich in seinem Beitrag gleich selbst. Der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland sei natürlich weltanschaulich und religiös-konfessionell nicht neutral. Weltanschaulich beruhe er auf den Voraussetzungen eines Wertekanons (Menschenrechte, Grundfreiheiten, Pluralismus). Religiös-konfessionell hätten seine Traditionslinien, Werte und sein Rechtsverständnis christliche Wurzeln. Allerdings sei die Bundesrepublik Deutschland „kein christlich dominierter Staat oder >Christenclub<“ (Schäuble: Muslime in Deutschland) Der Bundesminister verband mit dem religiös-konfessionellen Gleichberechtigungsangebot jedoch Bedingungen, die, realistisch gesehen, in absehbarer Zeit wohl weder von staatlicher noch von muslimischer Seite erfüllt werden können. Im konfessionspolitischen Integrationsangebot war ein Haken enthalten: „Die Muslime wollen vom Staat gleichberechtigt behandelt werden, so wie die christlichen Kirchen.“ Der Islam müsse als eine „Religion ohne Kirche“ dafür erst die organisatorischen Voraussetzungen schaffen und Bedingungen erfüllen, um wie die hochorganisierten christlichen Großkirchen in Verhandlungen mit dem Staat eintreten zu können (SZ-Interview mit Schäuble, SZ Nr.222, 26.09.2006, S. 5). Der Bundesminister zeigte sich überzeugt, dass mit „der spezifisch deutschen Lösung im Verhältnis von Staat und Religion“ ein „richtiges“ und noch immer mustergültiges Verhältnis ausgehandelt worden sei, das nun auch die Integration der Muslime als Glaubensgemeinschaft ermögliche. Das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“, das sich zu anderen europäischen Modellen abgrenze, gewähre allen Religionen eine Chance. Es sei auch den neuesten Herausforderungen des säkularisierten Staates durch den Islam gewachsen. Die Bundesrepublik Deutschland sei „für die aus der Globalisierung und den Migrationsströmen sich ergebenden religionsrechtlichen Herausforderungen bestens gewappnet“ (Schäuble: Muslime in Deutschland).

Das deutsche Modell: Formen freundlicher Kooperation

Bei konfessionspolitischen Konflikten und rechtlichen Streitigkeiten, die das Verhältnis von Staat und Kirche betreffen, wird in Deutschland stets auf die historischen Erfahrungen und das ausgewogene, friedensstiftende und gut eingespielte Verhältnis von Staat und Kirchen hingewiesen. Die religionsgeschichtliche und -rechtliche Entwicklung brachte ein deutsches „Modell“ hervor, das in Europa zwischen dem laizistischen Modell lateinischer Staaten und dem staatskirchlichen Modell Großbritanniens und skandinavischer Staaten einzuordnen ist. Im konfessionsgespaltenen Deutschland wurden im „Verhältnis von Staat und Religion“ enge Formen einer freundlichen Kooperation entwickelt, welche die mit der konfessionellen Spaltung und ihren Spannungen gegebenen Verhältnisse allmählich entschärften. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter E.-W. Böckenförde bezeichnete das historische Ergebnis als „Konzept der übergreifenden offenen Neutralität“ des Staates. (Böckenförde, 2006: Der säkularisierte Staat, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, Vortag am 17.10.2006). Die Großkirchen („Volkskirchen“) erhielten den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes und wurden hierdurch mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Ihnen wurden kraft eigenen geistlichen Auftrages in dieser Welt, so die allgemeine Begründungsformel, besondere Mitwirkungsrechte in Staat, Politik und Gesellschaft eingeräumt. Als heutige Beispiele seien genannt: der Religionsunterricht an staatlichen Schulen, der Bereich der Jugendarbeit, die dem Bundesverteidigungsministerium unterstellte Militärseelsorge, Sitz und Stimme in Gremien des öffentlichen Rechtes, der Bereich der Ausbildung von Theologen an staatlichen Universitäten, das entscheidende Wort bei der Besetzung bestimmter Professuren in religionsfreien Fakultäten und, nicht zu vergessen, beim Einzug der Kirchensteuer durch staatliche Finanzämter.

In Deutschland decken die Kirchen ihre Ausgaben für Personal, Seelsorge und soziale Dienste hauptsächlich aus zwei großen Einnahmequellen, aus der Kirchensteuer und über staatliche Dotationen (Zuwendungen). Durch die von den Kirchenmitgliedern erhobenen und über die staatlichen Finanzämter eingezogenen Kirchensteuer kommen jährlich – abhängig von den staatlichen Steuereinnahmen – über neun Milliarden Euro in die Kirchenkassen, rund fünf Milliarden auf katholischer, etwa 4,5 Milliarden auf evangelischer Seite. Der Betrag, den die beiden Großkirchen über staatliche Zuwendungen erhalten, übersteigt das Volumen der Einnahmen durch die Kirchensteuer. Noch heute, nach mehr als zweihundert Jahren, wird ein Teil der Dotationen damit begründet, ein legitimer Ausgleich für die Zwangsenteignungen durch die Säkularisation von 1803 zu sein. Mit öffentlichen Mitteln, also aus dem Steueraufkommen aller Erwerbstätigen ohne Rücksicht auf kirchliche Mitgliedschaft, werden unter anderem extra bezahlt oder bezuschußt: die Militär-, Anstalts- und Polizeiseelsorge, die Kirchentage beider Konfessionen, Denkmalpflege, Religionsunterricht, kirchliche Kindertagesstätten, Kirchenbibliotheken und Konfessionsschulen. In den meisten Bundesländern werden zudem Bischöfe und höhere Geistliche wie Beamte vom Staat besoldet. Der Staat verzichtet auf viele Milliarden Euro an Einnahmen, indem er den Kirchen steuerliche Privilegien einräumt. Alles in allem sind die Kirchen Deutschlands folglich in einem hohen Maße von den verschiedenen Formen der „Staatshilfe“ abhängig, nicht zuletzt natürlich von der staatlichen Steuergesetzgebung und den Steuereinnahmen. Würden die Großkirchen heute tatsächlich auf eigene finanzielle Füße gestellt, dann zeigten sich in aller Schärfe ihre schwindenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Von kirchlicher Seite wird freimütig bestätigt, dass die Abschaffung des gegenwärtigen Kirchensteuersystems die Kirchen eines Finanzsystems berauben würde, das mehr Vorzüge hat als jedes andere System. Die staatliche Entreibung trage wesentlich zur Freiheit und Autonomie der Kirchen bei. Wichtige Gebiete kirchlichen Wirkens wären akut gefährdet, ja sie kämen zum Erliegen, wenn das bestehende Kirchensteuersystem abgeschafft würde. Der Staat erhalte zwar für seine Steuererhebungshilfe eine Vergütung, er verzichte aber auf jeden Einfluß und jede Kontrolle der Verwendung der Kirchensteuer. Das historisch gewachsene Religionsverfassungsrecht und die mit ihm gegebenen engen Kooperationsformen zwischen Staat und Kirchen geraten zunehmend in Diskrepanz zu den religiös-konfessionellen Entwicklungen.

Noch christliche „Volkskirchen“ oder schon christliche „Minderheitenkirchen?

Schon die Kruzifix-Debatte und die von der katholischen Kirche und ihren Laienorganisationen 1995 organisierte Großdemonstration für die Anbringung von Kreuzen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen haben auch die Frage provoziert, wer in Deutschland und in seinen Bundesländern eigentlich Mehrheit und wer Minderheit ist (siehe meine Ausführungen dazu in Blog-Kap. 32). Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hatte sich zu einem Wortführer der „beleidigten Mehrheit“ in Bayern gemacht. Kardinal Lehmann, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sprach am 20. September 2006 in seiner Verteidigung der Regensburger Vorlesung des Papstes wie selbstverständlich von der „christlichen Mehrheitsbevölkerung“ (Kardinal Karl Lehmann: Kampf der Kulturen? in: FAZ Nr. 219, 20.09.2006, S. 8). Mit der empirischen Mehrheiten-Minderheiten-Problematik ist die Frage nach der künftigen Entwicklung der sogenannten Volkskirchen und ihrer Privilegien aufgeworfen. Machen die großen christlichen Religionsgemeinschaften tatsächlich noch die Mehrheit aus? Sind die zwei christlichen Großkirchen tatsächlich noch „Volkskirchen“? Werden die privilegierten christlichen Konfessionsgemeinschaften im Zuge der weiteren Säkularisierung zu Minderheiten? Inwieweit sind die den Großkirchen ehemals eingeräumten Privilegien obsolet geworden? Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hatte 1996 dazu geäußert:

„Vielleicht müssen wir von den volkskirchlichen Ideen Abschied nehmen. Möglicherweise steht uns eine anders geartete, neue Epoche der Kirchengeschichte bevor, in der das Christentum eher wieder im Senfkornzeichen stehen wird, in scheinbar bedeutungslosen, geringen Gruppen, die aber doch intensiv gegen das Böse anleben und das Gute in die Welt hineintragen […]. Die katholische Kirche hat immer noch eine Provokationsmacht, sie ist Stachel und Widerspruch, oder wie der heilige Paulus es ausdrückt, ist Skandalon, ein Stolperstein“(Kardinal Ratzinger, zit. nach Stern, Nr. 18, 25.04.2005, S. 46).

Die Schreckensvision des damaligen Kardinals Ratzinger, die Kirche müsse sich in Europa möglicherweise auf eine neue Epoche der Kirchengeschichte einstellen, scheint von den konfessionspolitischen Entwicklungen bestätigt zu werden. Mit dieser 1996 von Ratzinger angedeuteten und in der Tendenz empirisch nachgewiesenen Entwicklung werden auf den säkularisierten Staat ohne Zweifel Herausforderungen zukommen, die das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ infrage stellen. Gewisse Privilegien, Einflußbereiche und sogar Vetopositionen der Kirchen werden in einem ganz anderen Sinn zum Skandalon.

Um meine Argumente abzustützen und zu bestärken, muss ich ein paar Daten und Hinweisen aus der amtlichen Konfessionsstatistik Deutschlands und aus anderen Quellen anführen. Aus der jüngeren und jüngsten Konfessionsstatistik (2006-2016) geht hervor: Von rund 81 Millionen deutschen Staatsangehörigen gehören rund 46 Millionen nominell einer der beiden Großkirchen an, rund 24 Millionen der katholischen und etwa 22 der evangelischen Kirche. Schon 30 Millionen Staatsbürger gehören keiner der zwei großen Konfessionsgemeinschaften an. Rund 36 Prozent, also bereits ein Drittel der deutschen Staatsbürger, bezeichnen sich als konfessionslos. Die Vereinigung Deutschlands hat die konfessionspolitischen Verhältnisse verändert und einen Säkularisationsschub mit sich gebracht. Unterscheidet man die alten und neuen Bundesländer nach konfessionellen Gesichtspunkten, dann ergibt sich: In den fünf neuen Bundesländern gehören 66 Prozent der deutschen Staatsangehörigen keiner Konfessionsgemeinschaft an, das sind zwei Drittel. Nur ca. 4 Prozent gehören der römisch-katholischen Kirche an, lediglich 27 Prozent der evangelisch-lutherischen Kirche. Alle anderen Konfessionsgemeinschaften, christliche Freikirchen und nicht christliche Konfessionsgemeinschaften, machen zusammen nicht einmal zwei Prozent aus. Die Lebenswirklichkeit ist in allen östlichen Bundesländern nur noch rudimentär religiös-konfessionell geprägt. Es gibt dort faktisch keine „christlichen Mehrheitsgesellschaft“ und keine christlichen „Volkskirchen“ mehr. Die Christen sind zu einer Minderheit geworden, die Konfessionslosen bilden ohne Zweifel die Mehrheit. Umfragen ergaben, dass dort die Hälfte der Befragten „Religion und Kirche“ für völlig unwichtig halten. Achtzig Prozent der Befragten glauben an keinen Gott, drei Viertel der Befragten bezeichnet sich als „nicht gläubig“.

In den alten Bundesländern hat sich der Anteil der Befragten, die sehr selten zur Kirche gehen von 42 auf 50 Prozent erhöht. Eine Studie (Shell-Studie) über Jugendliche zeigt, dass es im Elternhaus mit der Religiosität schlecht bestellt ist. In den alten Bundesländern bezeichnen 72 Prozent der befragten Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahre ihr Elternhaus als weniger und nicht religiös, in den neuen Bundesländern sind es 90 Prozent. In den neuen Bundesländern ist die religiöse Sprachfähigkeit praktisch völlig abhandengekommen. Wertevermittlung und die Ausbildung von Selbst- und Weltverständnis werden nicht mehr in der Sprache religiöser Tradition formuliert.

In den alten Bundesländern, wo im Westen und Süden territorial die katholischen Schwerpunkte liegen, sehen die Verhältnisse im Gegensatz zur weit fortgeschrittenen Dechristianisierung und Entkirchlichung der neuen Bundesländer noch relativ günstig aus. Zwar gibt es dort noch eine nominelle „christliche Mehrheitsgesellschaft“, aber auch sie unterliegt der säkularen Erosion. Der anscheinend noch einigermaßen intakte Provinzidyllen-Katholizismus in Teilen Bayers und anderswo kann immer weniger darüber hinwegtäuschen. Die katholische Kirche leidet schwer unter dem zunehmenden Priestermangel, sie muß an vielen Orten Pfarreien zusammenlegen, die Zahl der Erstkommunionen nimmt ständig ab und die Austritte nehmen beträchtlich zu. Die Missbrauchsskandale und andere Faktoren wie der Zölibat und eine weltfremde Sexualethik verstärken die negativen Effekte.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zeichnet ein eher düsteres Bild ihrer Zukunft und befürchtet ebenfalls, dass die Zeit der „Volkskirchen“ schon bald abgelaufen sein könnte. Der Traditionsprotestantismus nimmt die „Pastorenkirche“ fast nur noch an Knotenpunkten des Lebens in Dienst, bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen (K. Engelhardt, H. von Loewenich und Peter Steinacker, Hrsg., 1997: Fremde Heimat Kirche). Die evangelische Kirche ging in den Jahre 2005/06 davon aus, dass die Zahl ihrer Mitglieder bis zu 30 Prozent sinken und die Zahl der Pfarrer von 21.000 auf ca. 16.500 zurückgehen werden (SZ Nr. 153, 06.07.2006, S.1; FAZ Nr. 264, 12.11.2005, S. 10). Die Zahl ihrer Kirchengemeinden verringerte sich bis 2014 noch schneller als erwartet auf 14.241. Die Erosionskräfte halten unvermindert an. Die Anzahl der Taufen, der Konfirmierten und der Bestattungen nahm ab. In der evangelischen Kirche ist von einer künftigen Kirche als „Minderheit mit Zukunft“ die Rede (SZ Nr. 153, 06.07.2006, S.1).

Während in den neuen Bundesländern die Konfessionslosen die große Mehrheit bilden, sind es in den alten Bundesländern, sehen wir einmal von der nominellen Mitgliedschaft in einer Kirche ab, faktisch die Indifferenten geworden. Gerade auch die zunehmende Indifferenz führt zur Delegitimation kirchlicher Formen und Ansprüche. Kurzum, Distanzierung der Menschen von der Institution Kirche, Rückgang der Zahl der Kirchenbesucher, Schließung und Umwidmung von Kirchen nehmen ein Ausmaß an, das Kirchenleitungen beunruhigt. Die vorliegenden Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft, zu Kirchenaustritten, zur Häufigkeit des Gottesdienstbesuches, zur Gebets- und Glaubenspraxis, zur Gottesfrage und zu anderen Formen religiösen Lebens weisen auf eine gravierende und weiterwachsende Legitimationskrise der Kirchen hin. Die ihnen bisher zugebilligten Entfaltungsräume und Einflußpotentiale stehen mehr und mehr im umgekehrten Verhältnis zu dem, was die Kirchen aus eigener Kraft noch zu leisten vermögen. Das trifft insbesondere auf die neuen Bundesländer zu.

Der Staat als Missionsgehilfe bei der Neuevangelisierung?

Angesichts dieser konfessionellen Verhältnisse drängt sich die Frage geradezu auf, ob der säkularisierte Staat sich in den neuen Bundesländern mit dem Abschluss von Verträgen und mit der Neueinrichtung Katholisch-Theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten faktisch zum Missionsgehilfen der Kirchen macht. Die politischen Begründungen für diese Restauration freundlicher Kooperationsformen im neuen Missionsgebiet laufen immer auf den gleichen Tenor hinaus: Die Kirchen hätten in Gesellschaft, Politik und Staat fundamentale transzendentale Funktionen. Der gänzlichen Säkularisierung müsse Einhalt geboten werden, weil eine Verselbständigung der Welt, die sich von ihrem göttlichen Ursprung lossagt, entweder weltlichen Heilslehren oder dem Nihilismus Vorschub leiste. Der säkularisierte Staat müsse deshalb im christlich-abendländisch geprägten Deutschland transzendental an den christlichen Glauben rückgebunden werden. In den neuen Bundesländern läuft diese Begründung auf eine staatliche Abstützung des transzendentalen Missionsauftrages der Kirchen hinaus. Provokativ und zugespitzt formuliert: Der Staat wird zum Mitträger der „Neuevangelisierung“. Die zwei großen Konfessionsgemeinschaften wären aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage, die ihnen zuerkannten Aufgaben zu erfüllen. Die Verhältnisse werden, wie Böckenförde prognostizierte, für sie „in hohem Maße prekär“ bleiben und sich noch verschlechtern. Der Staat könne „mithin nur noch recht begrenzt und für die Zukunft mit abnehmender Tendenz auf die christliche Religion als gemeinsam verbindende und ein tragendes Ethos vermittelnde Kraft bauen.“(Böckenförde, 2006: Der säkularisierte Staat; FAZ Nr. 164, 17.07.2004, S. 41). Und an anderer Stelle bekräftigt Böckenförde jedoch noch einmal sein Theorem: „Voraussetzung [für ein einigendes Band und eine tragende stabilisierende Kraft] ist allerdings, daß die Religion bei ihren Gläubigen, den Bürgern, lebendig ist und als gelebte Religion Verhaltenswirksamkeit entfalte. Das hat der säkularisierte Staat indes nicht in der Hand. Er vermag Fortbestand und Lebenskraft der Religion mit dem ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht zu garantieren, kann auch die Religion nicht zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens erklären“ (Böckenförde: Der säkularisierte Staat).

Welche Bindekräfte sind es aber dann, wenn das Christentum weiter erodiert und als Wertgrundlage entschwindet? Ein Verfassungspatriotismus allein sei kein wirklich tragender Ersatz, meinen die Befürworter einer christlich fundierten Leitkultur.

Entgegen dem Theorem Böckenfördes versucht der Staat der Bundesrepublik Deutschland besonders in den neuen Bundesländern die schwache gesellschaftliche Verankerung der beiden Großkirchen zu stabilisieren und zu kräftigen. Ich neige allerdings zur Einschätzung, dass es auf weite Sicht nicht gelingen wird, die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Wie lange der semisäkularisierte bayerische Staat die in seinen Gebieten vergleichsweise noch stark ausgeprägte Lebendigkeit und staatstragende Kraft der katholischen Glaubens- und Lebenswelt verteidigen und schützen kann, wird sich zeigen. Ich habe als junger Mann noch die Zeit des erzkatholischen und sittenstrengen Kultusminister Alois Hundhammer (CSU) und seiner katholisch-fundamentalistischen Mitstreiter kennen gelernt (siehe Blog-Kap.32). Sie hatten verbissen an den Konfessionsschulen festgehalten und katholische Macht- und Einflusspositionen verteidigt. Tempi passati!-Fragen, wie lange sich historisch festgeschriebene kirchliche Machtpositionen in verschiedenen Bereichen noch in dem bestehenden Umfang rechtfertigen und halten lassen, werden sich verschärfen. Wahrscheinlich wird es auch in den noch stark katholisch geprägten Bundesländern im Zuge des säkularen Erosionsprozesses zu Lockerungen in den bisherigen Kooperationsformen kommen. Auf der Ebene der Bundesländer werden sich wahrscheinlich laizistische Tendenzen verstärken und kraft kulturhoheitlicher Landeskompetenzen Lösungen auseinanderdriften.

Der schwindende Einfluss der christlichen Großkirchen resultiert nicht aus einem gänzlichen Schwund religiöser Bedürfnisse nach Sinn und Weltverstehen. Viele Menschen suchen im zunehmenden Maß individuell und in außerkirchlichen Gemeinschaften jenseits der kirchlichen Dogmen, Riten und Angebote nach Antworten. Religion gewinnt hierdurch einen „privaten“ und „individuellen“ Charakter. Ein anderer Faktor ist die allenthalben wachsende religiöse Indifferenz, die wahrscheinlich eine größere Bedrohung kirchlicher Ansprüche darstellt als die für die Kirchen unbequeme freischwebende Religiosität. Beobachtbare Formen der „Revitalisierung des Religiösen“ bedeuten in Europa folglich nicht eine „Rückkehr der Religion“ in ihren traditionellen institutionalisierten Formen. Der These von der Rückkehr der Religion, die von christlichen „Hoffnungsträgern“ vertreten wird, ist entgegenzuhalten, dass Dechristianisierung und Entkirchlichung nicht zwingend bedeuten, Säkularisierung/Verweltlichung schreite ungebrochen voran. Der Säkularisierungstrend folgt keinem eindimensionalen und geradlinigen Entwicklungspfad, er ist komplex und in sich widersprüchlich. Möglicherweise Zu unterscheiden sind Religion und Religiosität, also verfestigte und institutionalisierte Formen von Glauben und institutionell und dogmatisch ungebundene religiöse Bedürfnisse und Sinnsuche. Religiosität löst sich im Säkularisierungsprozeß nicht auf. Religiöse Transzendenzbedürfnisse entkoppeln sich von den Kirchen, so lautet eine plausible These der Religionswissenschaft.

„Aufgeklärte Muslime in unserem aufgeklärten Land“ (Wolfgang Schäuble)

Dem schwächelnden Christentum steht in Deutschland (und nicht nur in diesem europäischen Land) eine erstarkende und wie es scheint glaubensfeste islamische Konfessionsgemeinschaft von Einwanderern gegenüber, die den säkularisierten Staat in anderer Weise mit ihren Glaubensüberzeugungen, Riten, Konventionen und Ansprüchen (Stichworte: Kopftuch, Schächtung, Nichtteilnahme von muslimischen Schülerinnen am koedukativen Schulsport, islamischer Religionsunterricht, Leichentuch statt Sargpflicht nach christlicher Tradition) herausfordern. Demographische Extrapolationen kommen zu dem Ergebnis, dass in etwas mehr als zwanzig Jahren knapp sieben Millionen Muslime dauerhaft in Deutschland leben werden. Zwei Drittel von ihnen werden voraussichtlich deutsche Staatsbürger sein. Ein glaubensstarker, nur teilsäkularisierter Euro-Islam könnte schon bald einem weiter verblassenden Christentum konfessionspolitische Probleme bescheren und den säkularisierten Staat in religionsrechtliche Bedrängnis bringen. Die politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen über die Modalitäten der Ausbildung und der staatlichen Einsetzung von Imamen, über die Institutionalisierung des islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache, über das Tragen des Kopftuches oder über den Bau von Moscheen werden über kurz oder lang zeigen, inwieweit das „einzigartige deutsche Religionsverfassungsrecht“ den aktuellen Herausforderungen des säkularisierten Staates wirklich gewachsen sein wird.

Die fortschreitende Dechristianisierung und Entkirchlichung werden die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der bestehenden Privilegierung der Kirchen verstärken und Forderungen nach Revisionen drängender und lauter werden lassen. Im Stadtstaat Berlin und in den „gottlosen“ neuen Bundesländern werden andere Entscheidungen getroffen werden als in noch stark katholisch geprägten alten Bundesländern. Wie Brandenburg und Bayern zeigen, gibt es zwei parallel und quasi gegensätzlich verlaufende Entwicklungsrichtungen: Im Norden und Osten der Bundesrepublik Deutschland, in den Bundesländern mit christlichen Minderheiten, wird sich das Verhältnis von Staat und Kirche in Richtung des „Konzepts der distanzierenden Neutralität“ (E.-W. Böckenförde) entwickeln. Die religiös-konfessionellen Verhältnisse werden sich in der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls in den nächsten Jahrzehnten weiterhin stark verändern. Säkulare Indifferenz gegenüber dem institutionalisierten Christentum und „Gottlosigkeit“ werden vermutlich alle drei monotheistischen Religionsgemeinschaften in eine Minderheitenposition versetzen. Die Bunderepublik wird sich wahrscheinlich mehr in Richtung eines „etat laic“ französischen Musters verwandeln.

Der katholische Koloss bewegt sich

Analysieren, räsonieren, publizieren – was hat es gebracht? Genügte es, als wissenschaftlicher und politischer Beobachter die kritisierten Vorgänge und Entwicklungen bloß intellektuell zu verfolgen? Habe ich damit etwas bewegt? Es sah so aus, als würden alle diese intellektuellen Bemühungen ins Leere laufen. Doch der katholische Koloss bewegt sich. Er wird gezwungen sich zu bewegen!

Am 30./31. Januar 2013 traten die bayerischen Bischöfe in Waldsassen zusammen und beschlossen zur Überraschung vieler Kritiker, künftig auf ihr im bayerischen Konkordat zugebilligtes Vetorecht bei der Besetzung von 21 Lehrstühlen an bayerischen Universitäten zu verzichten. Die „geschichtlichen Rahmenbedingungen“ seien heute anders, so soll der Münchner Kardinal Reinhard Marx sich dazu geäußert haben. (http://saekulare-gruene.de/katholische-bischofe-bayerns-verz…08.09.2017.

Der Verzicht stellt allerdings nur einen halben Rückzug dar. Denn die Bischöfe gaben mit ihrem Verzicht nicht prinzipiell das ihnen mit Artikel 3 Paragraf 5 des Bayerischen Konkordats zugesicherte Recht preis. Sie erklärten sich nur bereit, von diesem Recht keinen Gebrauch mehr zu machen. Sie lassen ihr Zustimmungsrecht lediglich „ruhen“.

Im Gespräch zwischen bayerischem Staat und Episkopat ist zudem die direkte staatliche Besoldung des hohen Klerus, die von einer Pauschalzahlung an die Kirche abgelöst werden soll. Das wäre letztlich reine Augenwischerei, denn der Staat zahlt weiterhin die Gehälter, aber eben nur indirekt. Lediglich die Durchführung der Besoldung würde der Kirche übertragen. Die Besoldung aus staatlichen Steuereinnahmen, direkt oder indirekt, bleibt ein Skandalon.

Nochmals frage ich mich: Was habe ich in diesen Auseinandersetzungen mit meinen Anstößen bewirkt? Es sind viele Akteure und Faktoren, die den katholischen Koloss zwingen werden, vorsäkulare Positionen zu räumen. Ich bin nur eine einzelne Stimme, die sich an den historisch obsolet gewordenen Privilegien stört.

42. Gedächtnisrede auf Luise Schaltenbrand, gehalten am 29.01.1999

Familiengeschichten im Miniaturformat

Meine Schwiegermutter Luise Schaltenbrand, genannt Lulu, eine geborene Kleinwort, verstarb am 26.Januar 1999 in Würzburg im Alter von 101 Jahren. Am 29.Januar hielt ich auf der Abschiedsfeier der Familie in einem größeren Kreis eine Erinnerungsrede. Sie bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil schilderte ich ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft und Herkunftsfamilie, ihre Ehegeschichte an der Seite von Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand (1897-1979) und besondere Charaktereigenschaften aus dem Blickwinkel ihres verstorbenen Ehemanns. Hierzu benutzte ich als Quelle Eintragungen meines Schwiegervaters in seine Tagebücher, die frisch und lebendig über sein Leben mit Lulu berichteten. Ich las die Zitate vor und fügte die eine und andere erläuternde Anmerkung hinzu. Im zweiten Teil betrachtete ich Lulus Persönlichkeit aus meinem Blickwinkel und markierte meine spannungsreiche Beziehung zu ihr als Schwiegersohn und Vater ihrer Enkelkinder. Im dritten Teil brachte ich ihre Enkelkinder ins Gespräch mit Großmutter Schaltenbrand.

Die Auszüge aus den Tagebüchern meines Schwiegervaters sind wortwörtlich wiedergegeben und nur der heutigen Orthografie angeglichen.

Teil I: Tagebuchauszüge aus den Jahren 1928 bis 1935

„1928. In diesem Jahr hat sich mein Schicksal entschieden. Während der Karnevalszeit wurde ich meinen Prinzipien mehrmals untreu und lernte auf dem >Künstlerfest< eine junge Dame kennen. Sie ist genau gleichaltrig mit mir. Groß, schlank, brünett, mit lebhaften braunen Augen, von einem unheimlichen Temperament. Sehr graziös, wenn auch manchmal noch etwas geziert. Gymnastiklehrerin, aber, wie sie mir gleich am ersten Abend beichtete, nur als Ersatz. Sie hielt mich für ungefährlich und 25, und ich sie für 25 und eine Witwe. Zu meinem Schrecken stellte ich in den nächsten Tagen fest, dass es sich um eine höhere Tochter handelt. Gott sei Dank aber eine sehr emanzipierte, ohne Vorurteile. Sie hat sehr viel Geschmack, einen ganz guten psychologischen Blick, aber zu viel Temperament, um systematisch zu sein. Wir stoßen des Öfteren hart mit den Köpfen zusammen, vertragen uns dann aber wieder inniglich. Wir versuchen uns beide zu erziehen, sie mich zum Kavalier, ich sie zu einem ebenso unerreichbaren Ideal.“

(Über Lulus Mutter): „Lulus Mutter ist eine (Gott sei Dank oder leider?) schwerhörige Dame, von beängstigendem Temperament. Sie kann sehr liebenswürdig sein. Sie ist nicht übermäßig praktisch, ziemlich egoistisch, hält glücklicherweise nicht nach. Geräuschvolle Kräche waren an der Tagesordnung und nicht gerade sehr erfreulich.“

(Über Lulus Brüder): „Lus ältester Bruder, ein schöner, begabter Schwadroneur, hat im letzten Jahr das ziemlich beträchtliche Vermögen der Familie verspekuliert. Der jüngste Bruder ist ein etwas trotteliger Bauer, der weder in Deutschland noch in Afrika auf einen grünen Zweig gekommen, dafür aber immer guter Dinge ist und schon zwei Kinder gezeugt hat.“

(Über Lulus Schwester Else): „Else ist eine Perle, ruhig, praktisch, klug; sie hat einen zartbesaiteten, künstlerisch veranlagten Dermatologen geheiratet.“

(Über Lulus Vater): „Der Vater soll ein sehr scheuer, ernster, kluger, stiller und selbstloser Mensch gewesen sein. Er hatte das Ostasiengeschäft aufgebaut, das der älteste Sohn beinahe pleite gemacht hatte.“

[Anmerkung: Der Vater Lulus, ein reicher Hamburger Großkaufmann, hatte in Hamburg mit Frachtschiffen eine Reederei gegründet und einen Ostasienhandel betrieben.  Der ältere Bruder Lulus hatte die Firma übernommen, aber durch spekulative Geschäfte verloren und damit einen sozialen Absturz der Familie Kleinwort verursacht. Die Familie verlor einen Großteil ihres Vermögens. Nähere Umstände sind mir nicht bekannt.]

(Über die Hochzeit mit Lulu): „ Die Trauung war zivil mit Schleier – eine seltsame Kombination. Ich war sehr froh, als alles vorüber war. Nur die Mütter und Lulus Geschwister anwesend. Nachher waren wir 2 Wochen in der Wohnung meiner Mutter in Düsseldorf, während Mama Lilli [Elisabeth, Georg Schaltenbrands Schwester] half, ein Kind zu kriegen. Die letzten Tage vor der Abreise waren durch den Naturforscherkongress, Besuch vieler Freunde und Packen angefüllt. Erst im Zug kamen wir zur Ruhe.“

[Anmerkung: Kurz nach seiner Hochzeit (09.08.1928) begab sich das jungvermählte Ehepaar auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn auf die Reise nach China, wo Georges Schaltenbrand in Peking am „Peking Union Medical College“ (PUMC) eine von der Rockefeller-Stiftung finanzierte Stelle als Arzt angenommen hatte. Sie verbrachten in Peking zwei Jahre. 1930 kehrten sie, nach einem Zwischenaufenthalt in Japan, nach Hamburg zurück.]

(14.IV.1933): „Mit meiner phlegmatischen, etwas selbstbestrafenden und in der Hauptsache auf den Beruf eingestellten Art hat Lu schwer zu knacken. Zwar habe ich mich (…) schon in vielem geändert, bin geselliger, etwas eleganter geworden, rauche wieder, entreiße mich den Klauen des Nelsonismus, aber es fällt mir immer noch schwer, die so geliebten kleinen Überraschungen mitzubringen, den Braten rechtzeitig zu loben und vergnügten Unsinn zu treiben. Ihre farbige, fahrige, sprunghafte, aber oft sehr instinktsichere Art zu denken und meine nüchterne, sarkastische und unproblematische Schweigsamkeit sind ein seltsames Gespann. 24 Tage im Monat geht es sehr gut, die übrigen schlecht, dass wir beide Angst haben, nach Hause zu kommen.“

[Anmerkung: Georges Schaltenbrand zählte sich in den 1920er Jahren zum Kreis um den politisch und pädagogisch engagierten Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882-1927). Nelson, ein Neosokratiker, verfolgte das Konzept eines ethisch begründeten Sozialismus. Der von ihm 1917 gegründete „Internationale Studentenbund“ geriet in Konflikt mit der SPD-Führung, die 1925 gegen den ISB einen Unvereinbarkeitsbeschluss fasste. Nach dem Ausschluss gründete Nelson den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), der seit 1933 im Widerstand gegen den Nationalsozialismus wirkte. Nelson vertrat die ethische Idee einer enthaltsamen, vorbildhaften Lebensführung, propagierte eine vegetarische Lebensweise und forderte Tierrechte. In seiner Tagebuchnotiz spielt Schaltenbrand auf seinen rigorosen „Nelsonimus“ an]

(14.VIII.1935, über die Geburt des ersten Kindes): „Gott sei Dank wurde sie prompt wieder schwanger und nach langen Ängsten und Nöten hat sie ein Kind zur Welt gebracht. Dadurch ist sie ein ganz anderer Mensch geworden, harmonischer, glücklicher, auch gesunder. Der Kleine [Peter Schaltenbrand, geb. 07.09.1934) ist blond und blauäugig, hat anscheinend ein gutes, nicht zu lebhaftes Temperament, ist mechanisch begabt. Die Haare sind spiralig gezwirnt.“

Teil II: Meine Erinnerungen an Lulu

„Jeder Freund Inge Lus wurde mit Fragen gelöchert und gründlich ausgequetscht, die Lyrik des 20. Jahrhunderts unter stilistischen und individualpsychologischen Gesichtspunkten hin- und hergewendet und bildungsbürgerlich beflissen über die Abgründe in den literarischen Texten gehüpft – dabei ein Schluck Tee aus einer Arzberg-Tasse. Im Sommer gab es ein Stück Kirschkuchen dazu.

Der chronologischen Reihe nach wurden ausgequetscht:

–  Klaus Mauter, >Bürschi< genannt, ein virtuoser Klavierspieler und vielversprechende Gymnasiast,

– Winfried Zink, aus Gerbrunn bei Würzburg, der gern ein großer Romancier geworden wäre,

– Alf Mintzel, der im Alter von 18 Jahren nicht die geringsten genialen Anzeichen aufwies, um zu den >Auserwählten< der Schaltenbrandschen >Geistesaristokratie< gehören zu dürfen.

Möglichweise, nein höchstwahrscheinlich, waren die >Prüfungsaufgaben< Lulus Ablenkungsmanöver, um die Tochter vor dem Verlangen der bösen, unwürdigen Buben zu schützen. Eine Devise war es doch gewesen, die Tochter unbescholten einem Geistesaristokraten zuzuführen, der allerding nur unterhalb von Vater Georges einen Platz einzunehmen würdig war.

Lulu blieb bis ins hohe Alter eine vielinteressierte Frau und stellte unablässig bohrende Fragen und große Anforderungen. Noch vor zwei Jahren, im Alter von 99 Jahren, fragte sie mich: >Was schreibst Du im Augenblick für ein Buch? < Ich antwortete: >Über Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika<. Sie: >Was sind multikulturellen Gesellschaften? Kannst Du mir das schnell erklären? < Meine Antwort: >Mein Buch hat 740 Seiten<.

Zur fränkischen Seite von Lulus und meiner familiären Herkunft: Die „Militzer-Connection“

Ich verkörpere die fränkische Seite in Lulus Biografie und Familiengeschichte. Damit war von Anfang an eine kreative Spannung angelegt, die meiner Leidensbereitschaft das Äußerste abverlangte. Ich sprach – wie ihre Mutter – einen fränkischen Dialekt und wurde schon deshalb auf die Stufe der Dienstboten platziert. Ich war ein Nichts und erhielt von 1954 bis 1956 ein strenges Hausverbot [siehe hierzu Blog-Kap.10 und 19].

Lulus Mutter, eine geborene Militzer aus dem alten Hofer Militzer-Clan ordnete mich dagegen anders ein [siehe hierzu Blog-Kapitel 19xy). Jeder Hofer kannte die Firma Mintzel-Druck. Für die Großmutter war ich folglich kein Nichts, sondern Spross einer ihr gut bekannten Drucker- und Verlegerfamilie.

Historische Nachforschungen ergaben zu meiner Überraschung noch mehr: Es gab im 19. Jahrhundert in Hof eine >Militzer-Mintzel-Connection<, und zwar dergestalt, dass die Militzer dort in der Ersten Gasse, in der heutigen Ludwigstraße, das Mintzelsche Wohnhaus kauften, in dem die Mintzels von 1642 bis 1736 gewohnt hatten. Das Haus steht noch heute. Wahrscheinlich haben die Vorfahren der Oma Kleinwort-Militzer im gleichen Schlafzimmer geschlafen wie zuvor die Mintzels [siehe hierzu Blog-Kap.19 xy]. Leider machten mich alle diese Erkenntnisse bei Lulu noch lange nicht hoffähig. Also blieben die kreativen Spannungen bestehen, bis ich mich durch strenge Zucht allmählich zu einer Mini-Ausgabe des Geistesaristokraten Georges Schaltenbrand modellierte.(…)“

(Würzburg, am 23. 12. 1996) „Bei Lulu im Altersheim. Sie hatte gerade eine Weihnachtsfeier hinter sich. Auf Fragen, wie die Feier gewesen sei, erinnerte sie sich plötzlich daran, dass Kinder falsch gesungen hatten. Auf die Frage, ob ein Geistlicher anwesend gewesen sei, denn die Feier hatte in der Hauskapelle stattgefunden, sagte sie, sie habe keinen gesehen. Zu einer ungläubigen Christin käme keiner.

Inge Lu sagte zu ihr, es sei vielleicht ganz gut, mit Gott ein Verhältnis zu haben. Lulu antwortete, das habe sie. Sie sei zu Gott gegangen und habe ihm ins Ohr geflüstert, etwas über Liebe. Gott sei entsetzt gewesen ob ihres weltlichen Geflüsters. Daraufhin habe sie ihm nochmal etwas ins Ohr geflüstert, etwas, das ihm gefallen habe – dann habe sie (!) sich von ihm abgewandt.“

Teil III: Enkelkinder fragen

(Würzburg, am 29. 12. 1996 bei Oma Schaltenbrand im Altersheim): „Ich frage Lulu, wie sie sich heute die Zeit vertrieben hätte. Sie machte eine Handbewegung auf sich zu und sagte: >Dass ich noch nicht fertig bin<.

Theresa (geb. 1971) fragt Oma, ob sie religiös sei. Lulu denkt nach, zögerte mit einer Antwort. Sie bejaht die Frage. Theresa fragt weiter: >Bist du Buddhistin oder Hinduistin?< Lulu versteht nichts, fragt zurück: >Was hast du gefragt?<

>Bist du Buddhistin?<

>Ich verstehe nicht.<

Ich schreie: >Buddha! Bist du Buddhistin?<

>Butter? <

>Nein, Buddha!< Ich versuche den Buddha-Sitz zu imitieren. Plötzlich versteht sie die Frage: >Nein, ich bin keine Buddhistin<, antwortet sie entschieden.

Theresa fragt weiter nach: >Bist du Christin, christlich?<

Jetzt antwortet sie sofort und entschieden mit >Nein<.

Ich erzählte Lulu, dass wir das Mainfränkische Museum auf der Marienburg besucht haben. Sie fragte zurück, was wir gesehen hätten. Theresa sagte, eine Maria hier, eine Maria dort, eine Maria oben, eine Maria unten. Sie legte die Hand über den Kopf und imitierte Gesten der Marienskulpturen.

Ich fügte hinzu, dass die Marien immer einen nackten Bengel auf dem Arm trügen, so einen Christus-Bengel ohne Windeln. Lulu antwortete schlagfertig und witzig: >Ich habe für solche Fälle immer ein Schwanzdeckchen mitgenommen.<

Theresa und Caroline (geb. 1975) amüsierten sich köstlich über Omas Frivolitäten.“

Abschied von Lulu mit einem Gedicht von Hans Arp

 

Kaum spüre ich noch die Erde,

Der Boden wird blauer und blauer.

Mein Schritt wird leichter und leichter.

Bald schwebe ich.

Singende Sterne wandern mit mir.

 (Hans Arp: Singendes Blau, 1946-1948)

41. T 4-Aktion und Prof. Schaltenbrands Multiple Sklerose-Forschung

Der Schock. ARD-Dokumentation „Ärzte ohne Gewissen“, 1996

Es geschah am Abend des 21. Oktober 1996. Meine Frau und ich saßen vor unserem Fernseher und verfolgten entsetzt und voll Abscheu eine Dokumentation über die Ärzte der NS-Zeit mit dem Titel „Ärzte ohne Gewissen“. Die authentischen Bildfolgen zeigten Dokumente extremer menschlicher Brutalität und ließen uns „Kinder der Nazi-Zeit“ die Nachwirkungen des Krieges und die seitdem schwelenden Ängste geradezu körperlich spüren. Doch noch ahnten wir nicht, welch familiärer Schlag an diesem Abend auf uns zukommen würde. Der Film war als Bericht über Menschenversuche in Konzentrationslagern, Kliniken, Heilanstalten, Forschungsinstituten der Wirtschaft (Pharma-Industrie; I.G. Farben) und in Forschungslabors der Wehrmacht angekündigt worden. Verantwortlicher Experte und Berichterstatter war Ernst Klee.

Sein Film zeigte zahlreiche Beispiele dafür, wie die NS-Machthaber Medizinern und Forschern etwas unerhört Verlockendes, in der Welt bis dahin nie Dagewesenes angeboten hatten: Menschen massenhaft anstelle von Meerschweinchen, Laborratten und Versuchskaninchen zu Versuchszwecken zu benutzen.

Die ARD-Dokumentation wechselt zum Thema „Euthanasie“ über, zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ und „nutzloser Kostgänger“ der Gesellschaft.

Wir trauen unseren Augen nicht. Ist er es wirklich? Ist das möglich?

Auf dem Bildschirm erscheint ein altes Schwarz-Weiß-Foto: Das Foto zeigt Inge Lus Vater in SA-Uniform. Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand wird in die Reihe der NS-Mediziner gestellt, die dem Unrechtssystem willfährig gedient und Menschenversuche durchgeführt haben. Über ihn wird berichtet, er habe wehrlose Patienten zu Menschenversuchen benutzt. Eine von Schaltenbrand publizierte Liste seiner Menschenversuchsopfer wird gezeigt.

Wir sind fassungslos, ratlos, zutiefst aufgewühlt. Das kann nicht sein! Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Wir hatten dieses Foto zuvor nie gesehen, geschweige denn etwas über eine Mitgliedschaft in der SA oder gar über diese angeblichen Menschenversuche gehört.

Inge Lus Vater ist 1979 im Alter von fast 82 Jahren in Würzburg gestorben. Wir können ihn nicht mehr fragen. Im Jahre 1996 holen die tiefen Schatten der NS-Zeit seine Kinder ein.

Was wir im Fernsehen gesehen haben, passt nicht zu unserem Bild von Prof. Schaltenbrand. Inge Lus Vaterbild ist ein ganz anderes, eigentlich ein makelloses und vorbildliches: Vater Schaltenbrand hat sich stets als ein Gegner des NS-Regimes ausgegeben, als einer, der es in der NS-Zeit sogar gewagt habe, Maßnahmen des Regimes öffentlich zu kritisieren. Wegen seiner losen Zunge habe er berufliche Schwierigkeiten riskiert. Er habe aus seiner Gegnerschaft zu den Nazis nie einen Hehl gemacht, zumindest nicht im engeren Familienkreis. Er habe im Keller „Feindsender“ gehört, was strikt verboten war. Er habe Hitler für paranoid und gefährlich gehalten. Kurzum, er sei ein erklärter Gegner der Nazis gewesen. Um die NSDAP-Mitgliedschaft sei er als Facharzt, Universitätsprofessor und Abteilungsleiter in der Universitätsklinik Würzburg nicht herumgekommen. Staatsbeamte in diesen Positionen hätten auch gegen ihren Willen in die Partei eintreten müssen. In der Klinik habe er sich immer vorbildlich um seine Patienten gekümmert, jeder Sterbefall sei für ihn ein medizinisches Unglück gewesen. Er sei in seiner Klinik und in Fachkreisen international hochgeachtet gewesen und mit Ehrenpreisen der Medizin ausgezeichnet worden. Seine Kinder sehen in ihrem Vater einen integren, fürsorglichen, unbescholtenen, hochintelligenten Mann und Patriarchen, der sich untadelig, geradlinig und energisch für das Wohl seiner Familie und der ihm anvertrauten Patienten eingesetzt hat. Den Mann in SA-Uniform, der für Versuche an Menschen verantwortlich sein soll, kennen wir nicht. Niemals zuvor ist in einem Gespräch davon die Rede gewesen.

Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand, Facharzt für Neurologie, 1930er Jahre; Photo: Alice Oswald, Hamburg

An diesem Abend bricht eine heile Familienwelt zusammen. Welches der beiden Bilder entspricht der Wahrheit? Wir stehen an diesem Abend genau an dem Punkt, an dem viele der nachgeborenen Generation sich fragen müssen, ob ihre Eltern nicht doch in irgendeiner Weise an Verbrechen gegen Menschen beteiligt gewesen sind. Ein zweites Mal bin ich persönlich und direkt mit der dunklen Seite unserer Elterngeneration konfrontiert, das erste Mal, als mein Vater Verteidiger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen (1947–1949) gewesen war (siehe Kap. 7), und nun mit der Rolle meines Schwiegervaters als Neurologe in der NS-Zeit.

Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand in seinem Kliniklabor beim Mikroskopieren, 1930er Jahre

Die Ausstrahlung der Dokumentation löst in der Öffentlichkeit eine Flut vielfältiger Reaktionen aus. Printmedien nehmen das Thema auf. Am Morgen des 28. Oktober 1996 berichtet die Berliner taz („die tageszeitung“ S. 3) ausführlich über den Ärztekongress „Medizin und Gewissen“, der an den 50. Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse erinnern soll. Auf einem beigefügten Foto wird Schaltenbrand bei der Forschungsarbeit gezeigt. Legende zum Bild: „Der Neurologe Georg Schaltenbrand infizierte Psychiatrieinsassen durch Injektionen in den Hinterkopf mit Multipler Sklerose.“

Eine Wiederholung der Klee-Dokumentation im Januar 1997 ruft in den Medien wieder eine Welle von Reportagen, Interviews und Leserbriefen hervor, das Thema wird auf die Tagesordnung öffentlicher Veranstaltungen gesetzt. Wiederholt werden Fotos von Prof. Dr. Georges Schaltenbrand als NS-Arzt gezeigt. Von allen Seiten werden uns Kopien zugesandt, wir werden auf Rundfunksendungen hingewiesen. In seinem 1997 erschienenen Buch über „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“ greift Klee (ebenda, S. 70–77) erneut die Multiple Sklerose-Forschung Schaltenbrands scharf an und rückt sie in die Nähe der in Konzentrationslagern durchgeführten Menschenversuche. Selbst die „Passauer Neue Presse“ druckt am 18. März 1998 ein „Interview mit Ernst Klee über die Medizinverbrechen im Dritten Reich“ unter dem Titel ab: „Die Psychiatrien wurden leergemordet“ (PNP Nr. 64, 18.03.1998, S.38). Auf die PNP-Frage, „Gibt es heute noch nach Tätern benannte Institute?“, antwortet Klee: „In Würzburg hat man gerade – nach meinem Buch – die Büste von Professor Schaltenbrand entfernt – das war der berühmteste Neurologe der Nachkriegszeit. Der hat in der Psychiatrie von Werneck (…) versucht, Patienten mit Multiple Sklerose anzustecken.“

Klee wiederholt in den nächsten Jahren in Vorträgen und verschiedenen Publikationen seine Vorwürfe. Er reagiert nicht auf schriftliche Einwände und Gegenargumente. Ernst Klees Buch „Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945“ kommt 2003 auf den Markt, danach dessen „Personallexikon zum Dritten Reich.“ In jedem Buch wird mein Schwiegervater als NS-Mediziner genannt, der 1940/41 berufsethisch verwerfliche Versuche an behinderten Menschen durchgeführt habe und nach 1945 in seinem Beruf als Neurologe dennoch mit höchsten medizinischen Ehren ausgezeichnet worden sei. Jede neue Verlagsankündigung zur Thematik Medizin in der NS-Zeit versetzt uns in Alarmstimmung. Wir sind zutiefst verunsichert. Inge Lu fühlt sich elend, persönlich angegriffen. Schamgefühle stellen sich ein. Sie glaubt in Passau einem Spießrutenlauf ausgesetzt zu sein, als ob ihr Mädchenname allen bekannt sei, hält sich nicht mehr gern in der Öffentlichkeit auf und befürchtet sozial geschnitten zu werden.

Wie sollen wir, wie können wir mit dieser Situation umgehen? Als Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker schlug ich vor, den Wahrheitsgehalt der ungeheuerlichen Vorwürfe zu prüfen und diese bedrückende Aufgabe zu übernehmen. Zwölf Jahre lang, von 1996 bis 2008, versuchen wir die Sachverhalte aufzuarbeiten und aufzuklären.

In einem Blog-Kapitel lässt sich der komplexe Sachverhalt kaum aufzeigen, ja nicht einmal in einer knappen Bilanz zusammenfassen. Auf die inzwischen angewachsene einschlägige Literatur zur Problematik „Medizin im NS-Staat“ und speziell zur „Euthanasie“ kann ich nur punktuell eingehen. Ich muss es bei Literaturhinweisen am Ende dieses Kapitels belassen. Was ich hier leisten kann, ist über bisherige biografische Beiträge und einschlägige medizingeschichtliche Darstellungen hinaus aus der familiengeschichtlichen, psychologisch–familiensystemischen und politisch-historischen Perspektive einiges zu ergänzen, zu akzentuieren und in Kenntnis der Persönlichkeit meines Schwiegervaters zu erläutern. Ich will vor allem aufzeigen, wie sich die Biografien der Elterngeneration und die ihrer Kinder dramatisch verschränkten und das familieninterne Bild vom großen, unfehlbaren Vater beschädigt wurde.

Familieninterne Reaktionen und Dynamik

Nach dem Ende der NS-Zeit wurde um die tatsächlichen oder vermuteten Verstrickungen und politischen Fehltritte der älteren Generation(en) häufig eine Hülle des (Ver-)Schweigens gelegt. Das 20. Jahrhundert wurde zu einer Epoche der Politisierung der Familiengeschichten und -geheimnisse. In vielen Familien wurden, wenn nach zweifelhaften Geschehnissen und möglichen Verstrickungen gefragt wurde, verschleiernde Legenden gesponnen, oft auch plumpe Lügen aufgetischt. Familiengeschichten sind immer auch eine innerfamiliäre Spiegelung der allgemeinen geschichtlichen Vorgänge. Sie enthalten die hautnahen Erfahrungen und verschlüsselten Botschaften, die eine Generation der anderen mitteilt – oder auch nicht. Diese Botschaften erfuhren nach 1945, wie die umfangreiche familiengeschichtliche Literatur zur Genüge zeigt, eine hohe Politisierung. Fragen, was da draußen irgendwo auf dem Balkan, in der Ukraine, in Polen oder wenige Kilometer entfernt in Konzentrationslagern geschehen war, riefen Abwehr hervor. Hatte sich ein Vater, ein Bruder oder Onkel an Massakern beteilig? Erst in späteren Jahren bohrten die Nachgeborenen nach. Es waren meistens sogenannte 1968er, die unbequeme Fragen stellten.

Wir fragten Inge Lus Mutter Luise Schaltenbrand (1898–1999), Lulu genannt. Sie war inzwischen 98 Jahre alt geworden und noch erstaunlich klar im Kopf. Wir wollten wissen, was es mit den ungeheuerlichen Vorwürfen auf sich hatte. Sie schaute etwas gequält in sich hinein, ihr Blick verlor sich in der Vergangenheit. Dann antwortete sie mit leiser, aber noch ungebrochener Stimme: „Am besten nicht daran rühren!“ Danach schwieg sie dazu bis zu ihrem Tod. Ihr Schweigen gab den Vorwürfen mehr Gewicht, als sie es ohnehin schon hatten. Zu einer Aussage ließ Lulu sich nicht mehr bewegen, sie nahm ihr Wissen mit ins Grab. Dass sie sich weigerte, sich mit den neuerlich erhobenen Vorwürfen zu befassen, war verständlich, sie wollte jedoch nicht einmal etwas über das Untersuchungsverfahren sagen, das 1947 in diesem medizinischen Streitfall vor dem Landgericht Würzburg eingeleitet worden war, und über Vorwürfe in der internationalen Fachwelt in den Nachkriegsjahren, die sie als Kongressbegleiterin ihres Mannes mitbekommen haben musste. Aufgrund des Würzburger Untersuchungsverfahrens, in dem Belastungsaussagen und Entlastungsaussagen geprüft und gegeneinander abgewogen worden waren, war kein Gerichtsverfahren gegen Schaltenbrand eröffnet worden.

Die drei verbliebenen Kinder Schaltenbrand reagierten auf die erhobenen Vorwürfe, abgesehen von ihrem Erschrecken, unterschiedlich. Tochter Else-Li (geb. 1941), erfolgreiche Fachärztin für Onkologie und Hämatologie, weigerte sich aus Angst vor der Wahrheit, an einer gemeinsamen Aufklärung mitzuwirken. Sie schämte sich so sehr der Vorwürfe, dass sie froh war, nicht mehr ihren Mädchennamen zu tragen. Sie wäre als Medizinerin am ehesten geeignet gewesen, sich in die fachmedizinischen Fragen einzuarbeiten. Doch sie vermied jegliche Gespräche darüber und blockierte die Initiativen ihrer Schwester. Sohn Jürgen (1935–2012), promovierter Psychologe und Familienberater für Suchtfälle, half bei den Recherchen mit, wertete vor allem aus dem Nachlass seines Vaters dessen Korrespondenzen, schwer leserlichen Tagebücher und beruflichen Dokumente aus und transkribierte handschriftliche Briefe.

Die Hauptlast der Recherchen und die Koordination der Initiativen, die sich über Jahre hinzogen, trug tatsächlich Tochter Inge Lu (geb. 1937), meine Frau. Sie verfolgte zudem im Internet Diskussionen und Stellungnahmen und schaltete sich gelegentlich in soziale Netzwerke ein. Bei Anfragen aus der medizinischen Fachwelt versorgte sie Interessenten mit harten, belastbaren Daten oder weiterführenden Hinweisen. Inge Lu hatte den Vorteil, einen Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer an ihrer Seite zu haben, der ihr einschlägige Literatur und amtliche Dokumente rasch aus der Universitätsbibliothek und aus öffentlichen Archiven beschaffen konnte. Inge Lus energischen und umsichtigen Bemühungen war es letzten Endes zu verdanken, dass vorschnelle Verurteilungen ihres Vaters zumindest in einigen Punkten allmählich korrigiert wurden. Ihre Geschwister machten ihr die ohnehin schwierige Arbeit noch schwerer und warfen ihr vor, ohne Auftrag der Familie eine Rehabilitierung des Vaters erwirken zu wollen. Sie hatten unter dem allmächtigen, allwissenden und in den Köpfen stets allgegenwärtigen Patriarchen (siehe Blog, Kap. 13) nur schwer ein selbstverantwortliches Eigenleben verwirklichen können. Georges Schaltenbrand hatte in nationalen und internationalen Fachkreisen als Koryphäe der Neurologie und als polyglotter Kosmopolit gegolten, auf gesellschaftlichem Parkett als Grandseigneur.

Ich hatte meinem Schwiegervater im Oktober 1979 an seinem Totenbett versprochen, in seinem unbestechlichen und hochanspruchsvollen Sinne meine wissenschaftlichen Forschungen fortzusetzen und auch auf internationalen wissenschaftlichen Plattformen weiter zu wirken. Wir waren in den 25 Jahren, die wir uns kannten, zu Gesprächspartnern geworden, die sich weit über den Alltagshorizont hinaus über Wissenschaft, Kultur, Politik, Kunst und Philosophie unterhielten und in vielen Punkten ähnliche Ansichten vertraten. Auch ich kannte ihn nur als einen eher linksliberal orientierten Demokraten, der sich nicht von der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda hatte einfangen lassen. Er verachtete „die alten Nazis“ und beteuerte in Gesprächen, stets in Distanz zum NS-Regime gestanden zu haben. Umso entsetzter war auch ich über die schweren Vorwürfe, die 1996 und in den Jahren danach bekannt wurden. Von Angriffen auf seine medizinischen Versuche, die erstmals in den Nachkriegsjahren stattgefunden hatten, war nie die Rede gewesen. Selbst über die beiden Entnazifizierungsverfahren gegen Schaltenbrand (1947/48) war, wenn überhaupt, bestenfalls einmal am Rande gesprochen worden. In erster Instanz war er als „Mitläufer“, in zweiter sogar als „Entlasteter“ eingestuft worden. Durch dieses Schweigen, das erst 1996 durch die Vorwürfe als solches erkennbar wurde, fühlte ich mich aus moralischen und wissenschaftlichen Gründen verpflichtet, zusammen mit Inge Lu nach der Wahrheit zu suchen.

Georges Schaltenbrand, Bronzebüste; Bild: Festschrift Georges Schaltenbrand zum 80. Geburtstag am 28. November 1977, S. 9;
„1967 hatten Sie mehr als 30 Jahre die Geschicke der Neurologie in Würzburg in fester Hand, nicht wie ein Diktator, auch nicht wie ein moderner Manager, sondern patriarchalisch, kraft natürlicher Autorität geleitet, als Ihr Schüler- und internationaler Mitarbeiter- und Freundeskreis sich entschloss, Ihnen diese Büste zu schenken. Sie ist das Werk von Wesendonk, eines bedeutenden Künstlers […]. Die Büste soll nach dem Wunsch der Stifter ihren Platz in der neuen Klinik finden als ein Kristallisationskern späterer Neurologenfamilien, die treu in der von Ihnen gegründeten Würzburger Schule vom gleichen Forschergeist beseelt sein mögen.“
Prof. Dr. Hans Georg Mertens, Festschrift Georges Schaltenbrand zum 80. Geburtstag am 28. November 1977, S. 7;

Die Suche nach der Wahrheit

Für uns stellten sich nach den Fernsehsendungen, Presseberichten und Buchveröffentlichungen eine Reihe von Fragen, auf die wir Antworten finden mussten: War Inge Lus Vater in das NS-Euthanasie-Programm der T4-Aktion verstrickt gewesen? Hatte er medizinische Versuche an Menschen vorgenommen oder war er in irgendeiner Form indirekt an Menschenversuchen beteiligt gewesen? Sollte dies der Fall gewesen sein, an welchen, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht? War er wirklich, wie das Foto nahelegte, Mitglied der SA gewesen und dies als überzeugter Nationalsozialist? Falls es eine belastende individuelle Verstrickung mit dem NS-System gegeben haben sollte, hatten die Eltern ihren Kindern gegenüber wissentlich und absichtlich einen gravierenden Verstoß ihres Vaters gegen die ärztliche Berufsethik und Menschenrechte verschwiegen? Unser Informationsstand war gleich Null.

Inge Lu und ich waren fest entschlossen, Antworten zu finden. Wir forderten in den nächsten Jahren Schritt für Schritt Dokumente an und prüften ihre Inhalte. Die letzten vier Jahre meines Berufslebens als Hochschullehrer waren mit diesen Recherchen belastet. So gut wie unbemerkt von meinem wissenschaftsberuflichen Umfeld half ich bei der aufwändigen Aufklärung mit. Inge Lu schrieb an Redaktionen und stellte infrage, was Klee mit seinen Formulierungen an Zusammenhängen suggerierte, die womöglich gar nicht zutrafen. Was war wahr? Was war wirklich geschehen? Wir führten Hunderte von Gesprächen, schrieben viele Dutzende Briefe. Die Materialien und Korrespondenz füllten schließlich mehr als ein halbes Dutzend Leitzordner. Soweit es die Fakten ermöglichten, gelang es uns mit großer Mühe, unseren Vater in einigen wesentlichen Punkten zu entlasten. Dabei halfen uns auch neuere und neueste medizingeschichtliche und fachmedizinische Forschungen und Veröffentlichungen, die zu einer differenzierten und vergleichsweise ausgewogenen Bewertung der Multiplen Sklerose-Forschung Schaltenbrands beitrugen. Die jüngste, gewissenhaft recherchierte und in ihrer Beurteilung umsichtig abgewogene biografische Studie über Schaltenbrand stammt aus der Feder von Prof. Dr. med. Hartmut Collmann (2008). Collmann untersuchte „die damaligen Vorgänge im historischen Kontext und vor dem Hintergrund von Schaltenbrands persönlicher und wissenschaftlicher Biographie.“

Noch im Jahr 1977, zum 80. Geburtstag Schaltenbrands, hatten seine ehemaligen Schüler und Mitarbeiter im Rahmen eines fachwissenschaftlichen Symposions dem Jubilar eine Bronzebüste geschenkt, die im Foyer der Würzburger Neurologischen Klinik zu Ehren Schaltenbrands auf einem hohen Podest aufgestellt wurde. Das etwa lebensgroße Bronzeporträt des Gründers der Klinik war von dem renommierten rheinischen Bildhauer Otto Wesendonck geschaffen worden.

Fachinterne Aufdeckung des „Schaltenbrand-Experiments“, 1994

Die erste, späte und ausführliche Aufdeckung des umstrittenen „Schaltenbrand-Experiments“ geschah wissenschafts- und fachintern und blieb es bis in die Jahre 1996/97. Zwei nordamerikanische Neurologen, Michael I. Shevell und Bradley K. Evans, publizierten im Fachorgan Neurology (1994:44:350-356) im Februar 1994 einen fachhistorischen Artikel unter dem Titel „The >Schaltenbrand experiment<, Würzburg, 1940: Scientific, historical, and ethical perspectives.“ Mit ihrem Artikel eröffneten die Verfasser eine generelle und heikle fachinterne Diskussion über medizinische Versuche am Menschen am Beispiel des von ihnen sogenannten „Schaltenbrand-Experiments“. Sie erörterten an diesem Beispiel die Grenzen wissenschaftlichen Forschens allgemein und insbesondere die Rolle der Medizin im totalitären NS-Staat. Es vergingen zwei Jahre, bis dieser Artikel an der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universität Würzburg in seiner Brisanz erkannt wurde und besonderes Aufsehen erregte. Denn bei Schaltenbrand handelte es sich um den Gründer der Würzburger Neurologischen Klinik.

Shevell und Evans grenzten das „Schaltenbrand-Experiment“ ausdrücklich von den in Konzentrationslagern an Menschen ausgeübten medizinischen Versuchen und verbrecherischen Praktiken ab und charakterisierten es als ein Beispiel unethischen Experimentierens im Elfenbeinturm der akademischen Medizin. Die bisherige Fokussierung der politisch-historischen und medizingeschichtlichen Forschung auf die verbrecherischen Praktiken in Konzentrationslagern habe, so begründeten sie die Absicht ihres Artikels, allerdings von den medizinischen „mainstream elements“ abgelenkt, die sich in einer akademischen Forschungssituation („occurring in an academic setting“) bei der Behandlung von Patienten unethisches Verhalten zuschulden kommen ließen. Dennoch zogen sie in ihrer scharfen Kritik einen Bogen zu den medizinischen Gräueltaten in Konzentrationslagern. Schaltenbrands Experiment habe den Versuchen an Menschen generell den Schein wissenschaftlicher Integrität verliehen und ohne Zweifel die kurz danach in Konzentrationslagern vorgenommenen Versuche erleichtert und ermutigt. Sein Experiment markiere die Anfänge eines professionellen Abrutschens in eine schlüpfrige Selektionspraxis, die kurze Zeit danach bei Ärzten an den Rampen von Auschwitz zu beobachten gewesen sei. („It also marked the beginnings of a professional slippery slope that would later see physicians making selections on the ramps of Auschwitz”, S.355). Immerhin gestanden Shevell und Evans Schaltenbrand zu, nicht unbedingt NS-ideologisch gesinnt und motiviert gewesen zu sein, sondern als leidenschaftlicher und hochkompetenter Wissenschaftler gehandelt zu haben, der glaubte, auf methodisch richtigem Weg die virale Entstehung der Multiplen Sklerose nachgewiesen und ihre erfolgreiche Behandlung herausgefunden zu haben. Beide Autoren wiesen im Rahmen ihrer scharfen Kritik an den damaligen Verstößen gegen die Berufsethik auch darauf hin, dass noch heute, und dies leider auch in liberalen Demokratien, zahlreiche ethisch unzulässige Experimente an Menschen durchgeführt würden (S. 355). Dies gebe auch heute noch Anlass zur Beunruhigung. Der Fall Schaltenbrand sei insofern unter medizinisch-berufsethischen Fragen nach wie vor brandaktuell und von allgemeiner Bedeutung.

Der Ankläger Ernst Klee über die „Schaltenbrand-Experimente“

Anscheinend völlig unabhängig davon und ohne Kenntnis des Artikels von Shevell und Evans war Ernst Klee (1942-2013), ein Theologe und Sozialpädagoge, bei seinen Recherchen zum NS-Euthanasie-Programm und zur Rolle der Medizin im NS-Staat auf das „Schaltenbrand-Experiment“ aufmerksam geworden. Er übernahm bei allen seinen Ermittlungen und Veröffentlichungen entschieden die Rolle des Anklägers (siehe hierzu Elisabeth Bauschmid: Unnachsichtig auf Seiten der Opfer, in: SZ am Wochenende Nr. 263, 15./16.11.1997) und setzte dabei auch entsprechende manipulative und suggestive Techniken ein. Die schwerwiegenden Vorwürfe, die Klee in seinem Buch über „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“ (1997, S.70-77) gegen Schaltenbrand erhob und in weiteren Publikationen wiederholte, machen es notwendig, seine Vorwürfe zunächst in Auszügen wörtlich wiederzugeben.

Klee schrieb 1997:

„MS-Forschung (Georg Schaltenbrand)
Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft [DFG] gefördert wird auch Prof. Georg Otto Schaltenbrand. Er bekommt eine eigene Neurologische Abteilung an der Medizinischen und Nervenklinik Würzburg, 1937 wird ihn ein Lehrstuhl für Neurologie geschaffen. Der Stellvertreter des Führers erhebt gegen die Ernennung keine Einwendungen. Schaltenbrand, deutschblütig, konfessionslos, Mitglied der NSDAP (1937), des NS-Ärztebundes, Sturmarzt beim NS-Fliegerkorps, gehört ab 1939 dem Beirat der „Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater“ an. Nach 1945 werden seine Mitarbeiter beteuern, dass er ›alles andere als ein Nationalsozialist‹ gewesen sei und ›niemals etwas mit dem Nationalsozialismus gemein‹ gehabt habe […].

Schaltenbrand forscht über die Multiple Sklerose. Er glaubt, einen Virus als Erreger entdeckt zu haben. Zuwendungen für seine MS-Experimente erhält er von der DFG ab 1936. 1937 beantragt er Mittel für den ›Neubau seiner Affenfarm‹. Zuerst impft er Affen mit dem Liquor, d.h. der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, von akut MS-Kranken. Die erste Patientin heißt Lieschen, ein 16jähriges Mädchen, das an schwerer MS leidet. Die 16jährige wird am 18. Oktober 1936 aufgenommen und stirbt nur elf Tage später an ›Atemlähmung‹. Wenige Tage vor ihrem Tode bekommt sie Liquor entzogen. Das Nervenwasser wird in den Liquorraum einer Meerkatze gespritzt. Die Affen reagieren auf die ›Übertragungsversuche‹ unterschiedlich. (…) Schaltenbrand:
›Unsere Versuche haben uns gelehrt, dass es möglich ist, durch zisternale Verimpfung von Multiple Sklerose-Liquor eine Erkrankung bei Affen zu erzeugen, die in ihrem klinischen Verlauf Ähnlichkeit mit der Multiplen Sklerose des Menschen hat‹.
Schaltenbrand versucht nun, Psychiatriepatienten mit Multipler Sklerose anzustecken. Die MS-Versuche finden in der Psychiatrie in Werneck statt (…). Nach der Einwilligung von Direktor Dr. Pius Papst und einem Vortrag vor den Oberärzten beginnt Schaltenbrand 1940. Er hofft einerseits, ›die Infektion vom Tier auf den Menschen zurück zu übertragen‹, behauptet aber andererseits:
›Die Befürchtung, dass tatsächlich eine Multiple Sklerose durch einen solchen Versuch ausgelöst wird, scheint mir nicht größer zu sein als die übliche Mortalität, also 1:1000. Trotzdem kann man natürlich nicht einem gesunden Menschen oder auch einen Kranken einen derartigen Versuch zumuten. Ich glaube aber doch, die Verantwortung tragen zu können, derartige Versuche an Menschen zu machen, die an einer unheilbaren vollkommenen Verblödung leiden‹.
Schaltenbrand verimpft Rückenmarksflüssigkeit von Affen, die nach der Impfung mit menschlichen ›Multiple-Sklerose-Liquor‹ erkrankt sind. Die ›Impfung von Verblödeten mit Affenliquor‹ geschieht in die Zisterne, d. h. in den Liquorraum am Hinterkopf. Bei den Werneck-Patienten tritt teilweise eine Pleozyste auf, eine Zellvermehrung des Liquors. Der MS-Forscher folgert, dass es ›gelungen ist, den übertragbaren Markscheidenschwund bzw. die Multiple Sklerose in einer abortiven [nicht voll zur Entwicklung kommenden, A.M.] Form, nämlich als eine chronische Pleozystose zu übertragen‹.


1943 publiziert Schaltenbrand eine Liste seiner menschlichen Versuchskaninchen. In dieser Aufstellung fehlen zwei sterbenskranke Patienten seiner eigenen Abteilung: Es handelt sich zum einen um eine 57jährige Frau mit Großhirntumor. Sie bekommt frisch entnommenen Liquor des Affen Jakob verimpft. Kurz vor ihrem Tode am 24. Mai 1940 wird sie zur Kontrolle noch einmal lumbalpunktiert. Im zweiten Fall handelt es sich um ›einen sehr elenden, 62jährigen Mann‹ mit Zungenkrebs. Der Todkranke bekommt Liquor eines Patienten mit akuter MS gespritzt. Zwei Wochen später stellen sich Veränderungen an den Wurzeln des Rückenmarkes ein: ›Auch diese Beobachtung spricht also in dem Sinne, dass die Übertragung der Multiplen Sklerose vom Menschen auf den Menschen möglich ist‹.
Schaltenbrands Experimente enden vorzeitig, da die Psychiatriepatienten im Rahmen der Nazi-Euthanasie abtransportiert und vergast werden. Vom 3. bis 6. Oktober 1940 wird die Heil- und Pflegeanstalt Werneck nahezu vollständig geräumt.

Dank der Hilfe der Archivarin Mokry vom Bundesarchiv gelang es, einige der Schaltenbrand-Opfer ausfindig zu machen. Es sind zeittypische Krankenakten mit den üblichen diskriminierenden Beschreibungen: ›Verblödet, ordinär, unsauber‹. Eine Akte verrät das Ende des Patienten: Ein Mann (›zu nichts zu gebrauchen‹) wird im Oktober 1940 von Werneck in die sächsische Anstalt Großschweidnitz verbracht, von dort am 22. November 1940 ›im Sammeltransport verlegt‹, d. h. in der Mordanstalt Sonnenstein in Pirna vergast. In keiner der Werneck-Akten findet sich ein Hinweis auf die MS-Versuche. Obgleich Schaltenbrands Versuchskaninchen längst vergast sind, bewilligt ihm die DFG im Mai 1941 letztmalig 4.200 RM.

1947 wird Schaltenbrand angezeigt und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der mit einem Gutachten beauftragte Erlanger Psychiatrieprofessor Werner Leibbrand: ›Schaltenbrand hat also vorsätzlich zu Versuchszwecken hilflose Kranke ohne deren Wissen und Einwilligung durch experimentelle Beifügung zusätzlicher schwerer Krankheiten körperlich geschädigt. Er ist in solchem Sinne zu bestrafen. Seine Handlungsweise ist ethisch betrachtet ein Verbrechen gegen die Menschheit‹. Der mit einem gerichtsärztlichen Gutachten beauftragte Landgerichtsarzt Dr. Trotter sieht das anders: ›Bei keinem der durchgeführten Menschenversuche ist es zu einer durch das Experiment bedingten nachfolgenden Erkrankung gekommen‹. Wie auch: Schaltenbrands Versuchskaninchen waren noch während der Versuchsreihe abtransportiert und vergast worden.

Schaltenbrand verteidigt sich, die Menschenversuche hätten zu Heilzwecken der Geisteskranken stattgefunden, er habe angenommen, ›dass eine erfolgreiche Übertragung des von mir angenommenen abortiven Verlaufes der M.S. sich günstig auf die Geisteskrankheit auswirken werde‹. Dr. med. Josef Schorn, 1948 Leiter der Neurologischen Abteilung der Psychiatrie in Regensburg: ›Wenn Schaltenbrand Versuche an lebenden Menschen durchführte, dann tat er das zu Heilzwecken unter Berücksichtigung modernster wissenschaftlicher Methoden‹.

Das Obergutachten wird Viktor von Weizsäcker anvertraut. Auch er befindet, dass bei den (vergasten!) Versuchspersonen keine Erkrankung als Folge des Experimentes eingetreten sei. Zisternenpunktionen seien unschädlich, und der äußerst seltene Schaden gehöre zu jenen winzigen Risiken, ›die wegen des überwiegenden Nutzens der Maßnahme sowohl von Patienten wie von Ärzten widerspruchslos hingenommen werden. Das ist so wie bei jeder Eisenbahnfahrt.‹ Schaltenbrand habe die Experimente durchgeführt, weil die MS eine der übelsten Nervenkrankheiten sei und eine bessere, die Krankheitsursache betreffende, Erkenntnis auch eine Bekämpfung verspreche; ›Nur wollte er diese Versuchspersonen nicht von multipler Sklerose heilen, denn sie hatten keine; sondern andere Menschen sollten von dem Vorteil haben, was diesen nicht schadete. Wenn diese Voraussetzungen zutrafen – Nutzen für andere, kein Schaden für diese – dann sind die Versuche weder strafbar noch sittlich anfechtbar‹.

Georg Schaltenbrand wird nach dem Krieg Vorsitzender, später Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Er gilt als ›MS-Papst‹. 1953 übernimmt er den Vorsitz des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft. […].“

Soweit die „Anklageschrift“ von Ernst Klee.

Fragwürdige Verknüpfungen und Unterstellungen

War Schaltenbrand 1996 in dem ARD-Dokumentationsfilm „Ärzte ohne Gewissen“ in die Nähe der KZ-Ärzte gerückt worden, so beließ es Klee 1997 in seiner Dokumentation nicht bei dem Vorwurf, Versuche an Menschen unternommen zu haben. Klee legte mit seinen deutungsoffenen Formulierungen darüber hinaus nahe, dass mein Schwiegervater sogar, direkt oder indirekt, für den Abtransport der von den Versuchen betroffenen Patienten und damit für ihre Ermordung mitverantwortlich gewesen sein könnte. Er vermutete jedenfalls, Schaltenbrand könnte zumindest Mitwisser der Deportation und der bevorstehenden Vergasung gewesen sein. Klee hielt an dieser Verknüpfung auch noch 2003 in seinem „Personallexikon zum Dritten Reich“ (Schaltenbrand, S. 526) fest. Darin formulierte er: „Versuche […] beendet durch Abtransport der Patienten in Vergasungsanstalten.“ Er rief zudem den Eindruck hervor, der SA-Mann und das NSDAP-Mitglied Schaltenbrand sei ein überzeugter NS-Täter gewesen, der Menschenversuche im Sinne und im Dienst der nationalsozialistischen Ausmerze-Politik durchführte. Das im Dokumentarfilm benutzte Ausweisfoto, auf dem Schaltenbrand in SA-Uniform gezeigt wird, sollte dessen Nähe oder politisch-ideologische Verbundenheit mit dem NS-Regime beweisen. Aussagen von Entlastungszeugen, die genau diese ideologische Nähe bestritten hatten (Viktor von Weizsäcker, Dr. med. Trotter, Prof. Percival Bailey u.a.) hielt er für nicht unbedingt glaubhaft. Bei der Lektüre der Schriften Klees gewinnt man den Eindruck, er werte Dokumente und Quellen sehr selektiv aus und lasse entlastende oder schuldmindernde Momente absichtlich unter den Tisch fallen. Seine tendenziösen Darstellungen werden auch von Fachmedizinern und Historikern kritisiert (Prof. Dr. med. Klaus Toyka, Prof. Dr. Hubert Markl, Jan Philipp Reemtsma in SZ Nr. 193,23./24.08.1997, S. V., u. a.)

Ein typisches Beispiel sind Klees Auswertung und inhaltliche Wiedergabe der Dokumente in der Akte Schaltenbrand, die im Bundesarchiv lagern. Richtig ist, dass Schaltenbrand Mitglied des Stahlhelms, der SA, der Reichsschaft Hochschullehrer (seit 01.10.1933), der NSDAP (seit 01.05.1937, Parteimitglied Nr. 4.850.745), des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK, als Obersturmführer), des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund e.V. (seit 1938, Mitglied Nr. 24542) und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) war. Allerdings waren eben diese Mitgliedschaften zum Teil institutionell verordnet, mehr oder weniger zwangsweise und politisch-situativ begründet. Mit den Netzwerken der NS-Massenorganisationen und NS-Berufsorganisationen sollten die Bürger gleichgeschaltet werden. Wie viel pragmatischer Opportunismus war der eigentliche Beweggrund, „sich in die Gemeinschaft einzufügen“ und „den neuen Staat zu bejahen“, wie es die NS-Organisationsleitungen in ihren Gesinnungsgutachten Schaltenbrand attestierten?

NSDAP-Dozentenbund-Jahresbeitrag, Prof. Dr. Gg. Schaltenbrand, Mitgl. #7575, 22.12.1942

Schaltenbrand war 1933 nicht auf eigenes Bestreben hin in die SA eingetreten, sondern durch einen Automatismus bei der kollektiven Überführung des Stahlhelms in die SA Mitglied geworden. Schaltenbrand nutzte den sogenannten Röhm-Putsch, um 1936 aus der SA förmlich auszutreten. So fiel der Austritt nicht negativ auf. Er begründete seinen Schritt, wie aus dem Dokument hervorgeht, mit Arbeitsüberlastung. In den meisten parteioffiziellen Gesinnungsgutachten wurde außerdem seine generöse Spendenbereitschaft hervorgehoben. „Seine Opferwilligkeit (sei) weitgehend“ (1937), er „zeige sich stets opferwillig“ (1943). Dennoch waren seine Experimente nicht NS-politisch motiviert. Im Gegenteil, er war kein überzeugter und schon gar kein fanatischer Nazi gewesen, wie in verschiedenen Artikeln und Buchbeiträgen aufgrund seiner formalen Mitgliedschaften in NS-Organisationen suggeriert wurde. Er hatte in der Tat, wie sich aus seinem Nachlass gut belegen lässt, ein distanziertes, wenn nicht gar ein gegnerisches Verhältnis zum Nationalsozialismus, insbesondere zu dessen Rassenlehre und rassistischen Eugenik. Im „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“, das Schaltenbrand, wie seine Buchbesprechung von 1934 zeigt, genauestens bekannt war, waren im Einzelnen „angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressives Irrsein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung und schwerer Alkoholismus“ genannt worden. Schaltenbrand glaubte erkannt zu haben, dass „Die Multiple Sklerose des Menschen“, so der Titel seines Werkes von 1943, eben keine Erbkrankheit, sondern eine viral verursachte, möglicherweise heilbare Krankheit sei (S. 65: „… dass die Multiple Sklerose ein Erbleiden sei? Diese Annahme möchte ich ablehnen“). Und er war überzeugt, sich auf dem richtigen Weg zu einer erfolgreichen Behandlung dieser Krankheit zu befinden. Seine humane Zielsetzung war die der Heilung, nicht die Tötung von Menschen. Er war sich allerdings voll bewusst, sich mit seinen Experimenten an einer berufsethischen Grenzlinie zu bewegen. Schaltenbrand glaubte jedoch, seine „Übertragungsversuche vom Affen auf den Menschen“ (S. 180 ff) und vom Menschen auf den Menschen (S. 192 ff) nach bestem medizinischen Wissen und ethischem Gewissen verantworten zu können. Seine Skrupel drückte er mit einem Aphorismus des Hippokrates aus, das er seinem Buch über „Die Multiple Sklerose des Menschen“ (S. 1) voranstellte: „Das Leben ist kurz, die Kunst lang. Der rechte Augenblick ist bald enteilt. Der Versuch ist trügerisch, das Urteil schwierig.“ Schaltenbrands Versuche in einem Atemzug mit den grausamen medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern zu nennen, bei denen der qualvolle Tod oder das Siechtum der Opfer von vornherein in Kauf genommen und geplant worden war, ist sicher ungerechtfertigt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit führten seine Versuche am Menschen bei keiner Versuchsperson zum Tod. „Auch Grausamkeit kann man Schaltenbrand zumindest nach damaligen Maßstäben nicht unterstellen“ (Collmann 208, S. 79). Nach neusten Kenntnissen darf angenommen werden, dass Schaltenbrand im konkreten Fall über die bevorstehenden Mordaktionen des von Berlin aus gesteuerten Vernichtungsprogramms der T4-Organisation nicht informiert war. Die Deportation zahlreicher Patienten von der Heil- und Pflegeanstalt in Werneck in die Anstalt Sonnenstein bei Pirma in Sachsen wurden organisatorisch verschleiert (vgl. Dr. med. Thomas Schmelter, Main-Post Nr. 127 vom 03.06.2017)

Im Vorwort zu seiner Monografie vermerkte Schaltenbrand im September 1942 nur lapidar, „die Untersuchungen der letzten Jahre mussten abgebrochen werden“. Aus der Logik der Schaltenbrandschen Forschungssituation und Forschungsabsicht lässt sich jedenfalls schließen, dass der Abtransport seiner Testpersonen in Vernichtungsanstalten nicht in seinem echten Forschungsinteresse und in seiner Berufsauffassung gelegen haben konnte. Die Fachwelt verneint inzwischen einen Zusammenhang (Prof. Dr. med. Helmuth Steinmetz, 2015; Prof. Dr. med. Hartmut Collmann, 2008, S. 77).

Das zeitliche Zusammenfallen der Multiple Sklerose-Forschung Schaltenbrands mit der von Heyde maßgeblich gesteuerten T4-Aktion machte wohl zu einem Teil die Wissenschaftlertragödie des Neurologen Schaltenbrand aus. Prof. Dr. med. Werner Heyde, bis 1945 Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Würzburg, war Leiter und Organisator der T4-Aktionen und stand mit Schaltenbrand in einem wohl auch ideologisch gefärbten Dauerclinch (nähere Ausführungen dazu Collmann, 2008, S. 84). Heyde war ein radikaler Verfechter und Organisator des T4-Vernichtungsprogramms. Er entzog sich 1947 der Justiz, tauchte unter und führte unter dem Decknamen Sawade bis zu seiner Entlarvung 1959 ein Doppelleben, makabrer Weise gedeckt von Hintermännern, als Gutachter am Sozialgericht Schleswig. Der Fall Heyde/Sawade entwickelte sich nicht nur zu einer Kriminalgeschichte der Medizin, sondern auch zu einer der deutschen Nachkriegsjustiz und der Gesundheitsverwaltung. Schaltenbrand war nicht im Geringsten in den Fall verwickelt. Schaltenbrand war kein „NS-Verbrecher im weißen Kittel“, wie das Würzburger „Volksblatt“ (Nr. 266, 18.11.1998, S. 23) pauschal urteilte. Dem „Ankläger“ Ernst Klee und anderen hätte in einem virtuellen „fair trial und due process“ ein Verteidiger entgegengestellt werden müssen.

Der damalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Dr. Hubert Markl, kritisierte 2000 in einem Artikel in der ZEIT (Nr. 7, 10.02.2000, S.42) das eilfertige Steinewerfen von schuldlos Spätgeborenen und meinte damit auch und gerade den Ankläger Klee, der zuvor in der ZEIT (Nr. 5, 2000) von der Max-Planck-Gesellschaft in einem erschütternden Beitrag gefordert hatte, die verbrecherischen medizinischen Versuchen an Menschen rasch und rückhaltlos aufzudecken und sich für die Untaten zu entschuldigen. Markl mahnte in seiner Antwort auf Klee an, so begründet und gewichtig die sachlichen und moralischen Appelle auch seien, bei der Aufklärung und Offenlegung der Wahrheit die Zuverlässigkeitsstandards historischer Wissenschaft walten zu lassen. […] Denn Ziel muss sein, die ganze Wahrheit für immer ans Licht zu bringen, nicht möglichst schnell einen Teil davon.“

Erst 2015 wurden im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden rund 600 Meldebogen aus Werneck gefunden sowie Korrespondenzen, die mit Angehörigen der ermordeten Patienten geführt worden waren. (vgl. Main-Post Nr. 127 vom 03.06.2017). Die Forschungsarbeit geht also weiter.

Die symbolische Enthauptung

US-amerikanische Besucher der Würzburger Neurologischen Universitätsklinik hatten den Leiter der Klinik, Prof. Dr. med. Klaus Toyka, damals auch Dekan der Medizinischen Fakultät, auf den Artikel von Micheal I. Shevell und Evans K. Bradley von 1994 aufmerksam gemacht und ihr Befremden geäußert, dass die Ehrenbüste noch immer im Foyer der Klinik stehe (Collmann, 2008, S. 8). Daraufhin hatte Toyka die Büste des Gründers nach Rücksprache und im Einvernehmen mit seinen medizinischen Mitarbeitern sowie der Medizinischen Fakultät aus dem Foyer der Neurologischen Universitätsklinik entfernen lassen. Inge Lu hatte von dem Vorgang aus der Lokalpresse erfahren und die Entfernung des bronzenen Porträts als eine tiefe Demütigung und postume symbolische Bestrafung ihres Vaters empfunden (Würzburger Volksblatt 03.12.1997). Toyka verteidigte in einem Schreiben an Inge Lu die diskrete Entfernung der Büste. „Wir haben uns bewusst jeglicher Bekanntmachung über die Grenzen der Neurologischen Klinik enthalten und stattdessen die Archivierung im Nachlass vorgezogen.“ Er bot der Familie Schaltenbrand an, die Büste in persönliche Verwahrung zu nehmen, was 1999 geschah.

Toyka distanzierte sich allerdings zugleich von der Art und Weise, in der Klee den Fall Schaltenbrand behandelte. Er schrieb hierzu an Inge Lu: „Der Autor Klee hat sich in seinem jüngsten Buch (Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 1997) in überkritischer und tendenzieller Weise mit der Forschung von Prof. Schaltenbrand auseinandergesetzt. Ich habe Herrn Klee schriftlich meine Kritik an dieser völlig überzeichneten Darstellung mitgeteilt und dies auch vor der Medizinischen Fakultät, gegenüber der Redaktion des Volksblattes sowie vor dem Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft dargelegt […]. Ich persönlich als sein zweiter Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Neurologie wie auch meine ärztlichen Mitarbeiter und die Medizinische Fakultät sind bestürzt, dass diese Verstöße vorgekommen sind, und bedauern ausdrücklich die unschuldig betroffenen Patienten.“

Schaltenbrand blieb dennoch über seine Lebzeiten hinaus ein international hoch angesehener und mit vielen medizinischen Ehrenpreisen ausgezeichneter Forscher und Gelehrter. Die schweren Vorwürfe und Angriffe der 1990er Jahre hat er nicht mehr erlebt. Inge Lu distanzierte sich öffentlich von den Experimenten ihres Vaters und bedauerte das Unrecht, das den Opfern geschehen war. Das, was wirklich geschehen ist, wird uns ebenso verfolgen wie die Vorstellung, dass ein Teil der Wahrheit nie geklärt werden wird. Eine umfassende Biografie über den großen Neurologen steht noch aus, welche die historischen Wissenschaftsstandards voll erfüllt, den umfangreichen Nachlass einbezieht und den politisch-historischen Zeithorizont auf vier Herrschaftssysteme ausweitet (Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und Bundesrepublik Deutschland).

Innerfamiliäre Spannungen und Spiegelungen nach mehr als 70 Jahren

Beinahe wäre die Publikation dieses Blog-Kapitels an den innerfamiliären Spannungen gescheitert, die nach mehr als 70 Jahren bei der Betrachtung und Abhandlung der Geschehnisse von damals auftraten. Familiengeschichten sind, wie ich schon eingangs festgestellt habe, immer auch eine innerfamiliäre Spiegelung der allgemeinen geschichtlichen Vorgänge und konfliktreicher biografischer Konstellationen zwischen den Generationen. Darüber zu berichten und zu publizieren trifft auf eine schmerzliche Art und Weise mit unserem heutigen Leben und Wissen zusammen. Noch einmal alles aufwühlen? Noch einmal publik machen, was einem so schwer zu schaffen gemacht hatte? Die entsetzlichen Vorwürfe wortwörtlich und in ganzer Länge zitieren? Die Neigung, zu verdrängen und zu verschweigen, was einen fassungslos gemacht und gequält hat, besteht fort. Es muss jedoch nach 70 Jahren möglich sein, sich offen und ohne falsche Rücksicht mit diesen bedrückenden und beklemmenden Geschehnissen zu befassen. Ich hätte es als ein intellektuelles und schriftstellerisches Desaster erlebt, als Kapitulation vor einer Herausforderung, hätte ich dieses – im doppelten Sinne – dunkle Kapitel nicht in meinen Blog aufnehmen dürfen.

Zu Rate gezogene, ausgewählte Literatur

Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, 1988: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main; Michael I. Shevell und Bradley K. Evans, 1994: The „Schaltenbrand experiment“, Würzburg, 1940: Scientific, historical, and ethical perspectives, in: Neurology 44, February 1994, pp. 350–355; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), 2008: Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Böhlau Verlag Köln Weimar Wien; Hartmut Collmann: Georges Schaltenbrand (26.11.1897–24.10.1979), in: Würzburger medizinische Mitteilungen, Band 27 (2008), S. 64–92 (darin weiterführende Literatur); K. Bonhoeffer (Hrsg.), 1934: Die psychiatrischen Aufgaben bei der Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit einem Anhang Die Technik der Unfruchtbarkeitsmachung. Verlag von S. Karger Berlin; Georges Schaltenbrand: Buchbesprechung. K. Bonhoeffer: Die psychiatrischen Aufgaben bei der Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit einem Anhang: Die Technik der Unfruchtbarmachung. Berlin: S. Karger, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. J. Springer, Berlin. Art.: Schaltenbrand; Georg Schaltenbrand, 1943: Die Multiple Sklerose des Menschen. Georg Thieme Verlag, Leipzig; Götz Aly, 2013: Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. S. Fischer, Frankfurt/M.; Ernst Klee, 1995: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer Frankfurt/M; Ernst Klee, 1997: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt/M.; Andreas J. Reuland, 2004: Menschenversuche in der Weimarer Republik. Norderstedt; Thomas Schmelter, Christine Meesmann, Gisela Walther, Herwig Praxl, 1999: Heil- und Pflegeanstalt Werneck, in: Michale von Cranach: Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1944. Oldenbourg, München.

Nachhall 2006

Menschenversuche in Würzburg; Main-Post Nr. 20, 25. Januar 2006, WÜS-Seite 30

40. Schockierende Erlebnisse: Das Totenbuch von Mauthausen – Warnung und Appell

„Die Generation(en) der Davongekommenen“

Die Kriegs- und Nachkriegsjahre von 1943 bis 1948 haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt: die Nächte im Luftschutzkeller, der Donnerschall explodierender Bomben, die verängstigten Hausbewohner, die im fahlen Schein der Notbeleuchtung auf ihren Stühlen hocken, das Flackern der elektrischen Birnen, wenn in der Nähe Bomben einschlagen, die Rückkehr in die verwüstete Wohnung nach dem Angriff. Diese Ereignisse und Bilder sind, auch wenn sie allmählich an Schrecken verloren haben, nie ganz aus meinem Gedächtnis gewichen. Ich bin ein Kriegskind geblieben. Der 2. Januar 1945 und die Tage danach, der Gang mit meinem Großvater durch das fast völlig zerstörte Nürnberg, gehören zu den unauslöschlichen Erinnerungen an meine Kindheit. Ich sehe mich noch immer an seiner Seite schweigend auf durch Schutt verengte Straßen gehen. Brandgeruch steigt auf. Aus der Trümmerlandschaft ragen Hausskelette, Fassadenteile, Mauerreste, verbogene Rohrleitungen, Treppen ins Nichts.

Menschen schieben Karren vor sich her, beladen mit dem wenigen, das sie gerettet haben. Über allem liegt eine bleierne Stimmung. Fast zweitausend Menschen sind am Abend des 2. Januar 1945 umgekommen, nach manchen wird in den Trümmern noch gegraben. Nach dem Krieg überkommt mich noch lange Zeit ein Schauer, wenn Sirenen aufheulen. Mit jedem Alarmton kehrt der Krieg zurück. Noch Mitte der 1950er Jahre sind nicht alle Trümmerberge abgeräumt. Der Wiederaufbau zieht sich über meine ganze Jugendzeit hin. Mein künftiges Leben wird davon bestimmt. Als ich 1955 in Hannover an der Werkkunstschule Malerei und Grafik zu studieren beginne, schaue ich von meinem Fenster aus noch auf Ruinen. Ich bin Jahrgang 1935, werde als so genannter Weißer Jahrgang nicht zur Bundeswehr eingezogen, die eben aufgebaut wird. Mir bleibt der Wehrdienst erspart. Alles Militärische ist mir suspekt, doch die Frage der Wehrdienstverweigerung stellt sich nicht für mich.

Als in viel späteren Jahren im Fernsehen über kriegszerstörte Städte berichtet wird, über Grosny, Gaza Stadt, Aleppo, Damaskus oder Mossul, kehren die Ruinenbilder der Kriegs- und Nachkriegszeit zurück. Die Fernsehbilder wecken Erinnerungen an die Schrecken des Krieges. Ich zucke innerlich zusammen. Und mit diesen Bildern drängen sich mir erneut alte Fragen auf, Fragen nach dem Sinn all dieser Scheußlichkeiten und der Grausamkeiten, die sich Menschen seit alters antun. Warum lässt der angeblich allmächtige, allwissende, allgütige, allgegenwärtige, absolut weise und liebende Gott zu, was, wie so oft in seinem Namen, geschieht? Mich ärgern die bekannten Floskeln, mit denen das angebliche Wirken Gottes beschönigt wird. Zorn überkommt mich, wenn ich über theologische Spitzfindigkeiten nachdenke, mit denen christliche Priester ihren Gott exkulpieren wollen. Ihre stereotypen Denkfiguren und Deutungsschemata sind abgegriffen und angesichts der Ereignisse und Verhältnisse geradezu zynische Beschwichtigungen, so scheint es mir. Den Glauben an einen Gott habe ich längst verloren. Aber die Suche des Wissenschaftlers nach rationalen Antworten ist geblieben.

Ich sehe mich als einen, der davongekommen ist, der das Glück hatte, am Leben zu bleiben. Mehr noch, ich hatte die Chance, als ein vergleichsweise autonomes Subjekt mein Leben gestalten zu können. Mein gleichaltriger Kollege Oskar Negt, ein prominenter Sozialwissenschaftler, wählte für seine „autobiografische Spurensuche“ den Titel „Überlebensglück“ (Steidl Verlag, Göttingen 2016) und reihte sich damit in die „Generation der Davongekommenen“ ein. Ein treffender Titel für uns traumatisierte Kriegskinder mit ihren schmerzhaften Erfahrungen und schrecklichen Erlebnissen. Sein Lebenslauf wurde wie der meine von gemeinsamen Erfahrungen geprägt. Sie drängen uns offenbar gleichermaßen, darüber zu berichten. Oskar Negt sieht sein Überlebensglück und sein gelungenes Leben nicht als schicksalhaftes, von oben beschiedenes Überleben an, schon gar nicht als eine göttliche Fügung, sondern als etwas existenziell Gegebenes, das er aktiv bearbeitet hat.

Ich bezeichne es als einen Zufall, dass es mich noch gibt, ja überhaupt gegeben hat. Schon mein Spiel mit dem geladenen Trommelrevolver meines Großvaters hätte tödlich ausgehen können. Hätte die Luftmine, die ein britisches Kampfflugzeug bei einem Luftangriff auf Nürnberg über unserem Wohnviertel abgeworfen hat, nicht unser Wohnhaus treffen und bis auf die Grundmauern zerstören können? Die Bombe schlug zwei Häuserzeilen entfernt ein, zerstörte einen ganzen Straßenzug und tötete Menschen, die wie wir in den Luftschutzkellern gesessen hatten. Leben oder Tod hingen von Zeit und Ort des Ausklinkens einer Bombe ab. Hätte ich nicht in das Fadenkreuz eines feindlichen Tieffliegers geraten können, der am Ende des Krieges unsere Wege unsicher machte? Hätte mich nach dem Kriege nicht einer der Blindgänger zerreißen können, die überall im Boden staken? Überall lauerten tödliche Gefahren. Dass wir Kinder und Jugendlichen davonkamen, verdankten wir nicht allein elterlichem Schutz und Fürsorge, sondern wohl weit häufiger dem blinden Zufall.

Dieser Zufall, davongekommen zu sein und (noch) zu leben, ließe sich sogar noch viel weiter in die Vergangenheit verfolgen: Schon im Dreißigjährigen Krieg hätte die Existenz der Buchdruckerfamilie Mintzel bei den Belagerungen Leipzigs oder bei ihrem äußerst gefährlichen Umzug nach Hof an der Saale im Jahr 1642 enden können. Der einzige überlebende Sohn des Gründers der Mintzelschen Buchdruckerei wurde in Hof bei einem Raubüberfall kaiserlicher Söldnergruppen so heftig an die Wand geschleudert, dass er zeitlebens hinken musste. Der Säugling hatte Überlebensglück. Dass er mit dem Leben davonkam und eine Familie gründen konnte, diesem Zufall verdanke ich in der Kette vieler Zufälle mein Leben. Ich habe diese Chance genutzt, obschon daraus keine Triumphgeschichte geworden ist. Ich habe als ein Davongekommener die Berufsposition eines Hochschullehrers stets als ein Privileg und zugleich als Herausforderung und als die Verpflichtung betrachtet, einen Beitrag zur Befriedung Europas zu leisten.

Beteiligung am deutsch-amerikanischen OMGUS-Projekt in Washington D.C., 1978

Meine Tätigkeit als Hochschullehrer war es auch, die mich im Herbst 1978 in die USA und dort in die Kriegs- und Nachkriegszeit zurückführte. Ich nahm in den USA am deutsch-amerikanischen OMGUS-Projekt teil, in dessen Rahmen eine Riesenmenge an Aktenmaterial aus der US-Besatzungszone gesichtet, ausgewertet und, soweit als historisch relevant eingestuft, verzeichnet und verfilmt wurde. Dazu gehörten auch die OMGUS-Akten des US-Sektors in Berlin. OMGUS war die Abkürzung für “Office of Military Government United States”. Das kostspielige und aufwändige Projekt wurde in Zusammenarbeit des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung an der Freien Universität Berlin, des Koblenzer Bundesarchivs und der Staatsarchive der westdeutschen Bundesländer durchgeführt. Diese Institutionen sandten im Wechsel jeweils Mitarbeiter nach Washington D.C. Ich war im Auftrag des Landesarchivs Berlin und des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung beteiligt. Zu meinen Aufgaben zählte auch die Auswertung des Aktenmaterials zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Berlins und zur Wiederbelebung der Berliner Wirtschaft nach der Berliner Blockade durch die UdSSR. Eine gewisse Kompetenz hatte ich dafür, weil ich von 1962 bis 1966 an dem Forschungsprojekt „Berlin – Hauptstadtanspruch und Westintegration“ beteiligt gewesen war und zu den Mitautoren des Buches zählte. Der Riesenberg an Archivmaterial war nach der Besatzungszeit in die USA verschifft, dort zunächst nach Kansas gebracht und schließlich nach Suitland/Maryland in eine Dependance der National Archives überführt worden. Wir pendelten werktäglich mit einem Shuttle von Washington D.C. zu unserem Arbeitsplatz in Suitland. Ich wohnte im Hotel „The Coronet“ 200 C Street SE ganz nahe am Capital Hill. Es war eine ereignisreiche und erlebnisintensive Zeit, in der lebenslange Freundschaften begründet wurden. Einer der amerikanischen Projektmitarbeiter, Bryan van Sweringen, wurde in den 1980er Jahren mein Doktorand.

Von Washington D.C. aus unternahmen wir Ausflüge in die benachbarten Bundesstaaten und genossen den Indian Summer. Ich besuchte in Paris/Kentucky zum ersten Mal eine amerikanische Brieffreundin, mit der ich, abgesehen von zeitweiligen Unterbrechungen, seit 1950 korrespondiert hatte. Ellen Ch. Boyd stammte aus Tracy City Tennessee. Sie war mit einem Großunternehmer verheiratet, mit William Stamler, der große Maschinen herstellte und nach Jugoslawien verkaufe.

Der äußerst lehrreiche Aufenthalt führte uns auch die Schattenseiten der USA vor Augen, wir wurden mit den Folgen des Vietnamkrieges konfrontiert, der in der US-Gesellschaft tiefe Wunden hinterlassen hatte, und erlebten buchstäblich hautnah den weit verbreiteten Rassismus. Unsere afroamerikanischen Mitarbeiterinnen verhielten sich scheu und zurückhaltend, sie nahmen an unseren Geselligkeiten nicht teil. Was mir besonders auffiel, war der offene Drogenkonsum weißer Akademikerkreise. Marihuana zu rauchen schien auf abendlichen und nächtlichen Zusammenkünften selbstverständlich zu sein. Ich nahm in einer feucht-fröhlichen Akademikerrunde zum ersten und – ich sage es gleich – zum letzten Mal in meinem Leben an einer Marihuana-Party teil, die mir nicht gut bekam. Obwohl in diesen Jahren auch in Westberlin Drogenkonsum in der antiautoritären Szene üblich gewesen war, hatte ich mich davon stets ferngehalten.

Auf meinen neugierigen Fußwanderungen durch schwarze Wohngebiete und Slums geriet ich während dieses Aufenthaltes in den USA trotz so mancher Mahnung nie in eine heikle oder gar gefährliche Situation. Ein wirklich tief aufwühlender, nachhaltiger Erlebnisschock riss mich psychisch, mental und intellektuell bei einer ganz anderen Begebenheit um, die mich in das Nazi-Deutschland zurückversetzte.

Das Grauen der Vernichtungslager – Das Totenbuch von Mauthausen

John Mendelsohn, ein leitender Angestellter der National Archives in Washington D.C., zuständig für den Records Service und die General Service Administration, lud die Mitarbeiter am OMGUS-Projekt zu einer besonderen Führung und Informationsrunde ins Hauptgebäude der National Archives ein. Mendelsohns Einladung folgten unter anderen Dr. Josef Henke vom Bundesarchiv Koblenz, Reinhard Heydenreuter von der Zentralverwaltung der bayerischen Staatsarchive, Vertreter von Landesarchiven und unsere amerikanischen Mitarbeiter Bruster Chamberlin und Bryan van Sweringen. Mendelsohn hatte wohl mit Bedacht für uns Deutsche „hochkarätige“ originale Dokumente aus der NS-Zeit Deutschlands ausgesucht, die damals schwer oder gar nicht zugänglich waren. Unter den Dokumenten waren die Geheimreden Heinrich Himmlers vor der SS und dessen Randnotizen dazu, ein von Eva Braun, der Lebensgefährtin Adolf Hitlers, geführtes Fotoalbum, das zahlreiche Bilder aus ihrem Privatleben enthielt, das Totenbuch vom Konzentrationslager Mauthausen und zu meiner besonderen Überraschung Akten meines Vaters aus den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Ich hatte Mendelsohn erzählt, dass mein Vater von 1947 bis 1949 als Verteidiger im Wilhelmstraßen-Prozess mitgewirkt und ich in dieser Zeit den Geheimdienstchef Hitlers, SS-Brigadegeneral Walter Schellenberg, persönlich kennengelernt hatte (siehe Blog Kap.7). Mendelsohn schenkte mir bei dieser Gelegenheit den von ihm gerade (1978) zusammengestellten Bericht über den Fall IX „United States of America v. Otto Ohlendorf et al.“ (Nuernberg War Crimes Trials Records of Case 9).

John Mendelsohn, Nuernberg War Crimes Trials, Records of Case 9, United States of America v. Otto Ohlendorf et al., Washington 1978

Was mich jedoch tief erschütterte und geradezu umriss, war das Totenbuch von Mauthausen. Es löste in mir einen psychischen Ausnahmezustand aus. Die Konfrontation mit diesem Zeugnis des Grauens und des Bösen war unerträglich. Das vom KZ-Personal akribisch-bürokratisch geführte Totenbuch war die bestialische Perversion einer Todesmaschinerie. Mit gestochen schöner Handschrift hatte das KZ-Personal chronologisch die ethnische oder staatliche Zugehörigkeit, die Häftlingsnummer, Namen und Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, angebliche Todesursache und Uhrzeit des Todes eines jeden Ermordeten registriert. Abertausende Eintragungen. In Schönschrift folgt eine Zeile auf die nächste, eine jede ein vernichtetes Menschenleben. Dieses Dokument der NS-Verbrechen in den Händen zu halten und darin zu lesen, wühlte mich innerlich auf und brannte sich in mein Gedächtnis ein. Ich wurde diese entsetzlichen Eindrücke nie wieder los. Damals war es ein außerordentliches Ereignis, weil nur wenigen Personen der Zugang zu den Originaldokumenten gestattet war. Heute ist das längst digitalisierte Totenbuch von Mauthausen für jeden Internetznutzer zu jeder Zeit frei zugänglich. (World War II. War Crimes Records/National Archives, The Mauthausen Concentration Camp Complex/ Mauthausen Death Book; https:www.archives.gov/research…/war-crime-trials.html).

Auch später verlor ich noch in Gesprächen, wenn ich auf dieses Ereignis zu sprechen kam, fast meine Fassung. Mir versagte die Stimme, wenn ich darüber berichtete. Sprache wurde zum hilflosen Gestammel, wollte ich ausdrücken, welches Schockerlebnis diese Horrorstunde in den National Archives in mir ausgelöst hatte. Entsetzen, Schaudern, Erschrecken, Trauer. Mein Vater war als Verteidiger am Fall IX, am sogenannten „Einsatzgruppen-Prozess“ (15.09.1947-10.04.1948) gegen Otto Ohlendorf beteiligt gewesen. Ohlendorf hatte als Leiter der Sicherheits-Organisation im Reichssicherheitshauptamt und der Einsatzgruppe in Südrussland (1941/42) die Ermordung von 90.000 Zivilisten auf dem Gewissen. Er war 1951 hingerichtet worden (siehe Blog Kap. 7). Wie hatte mein Vater seelisch und intellektuell diese Prozesse verkraftet, an denen er als Verteidiger mitgewirkt hatte? Ich hatte ihm in früheren Jahren vorgeworfen, darüber geschwiegen zu haben. Das Totenbuch von Mauthausen, dieses Schockerlebnis in den National Archives, stimmte mich gegenüber der Weigerung meines Vaters, seine Zeitzeugenschaft autobiografisch zu dokumentieren, etwas milder. Wir kamen uns in seinen letzten Lebensjahren in diesen Fragen etwas näher. Er hatte seine nationalsozialistische Vergangenheit weitgehend abgestreift.

So sehr mich die Konfrontation mit den Verbrechen der NS-Diktatur und die Auseinandersetzung mit den Untaten der Vätergeneration bedrückte, lehnte ich es dennoch entschieden ab, eine kollektive Mitschuld und historische Mitverantwortung an diesen Verbrechen zu tragen. Ich sah meine Verantwortung als Hochschullehrer und politischer Zeitgenosse vielmehr darin, vor einer Wiederkehr rechtsradikaler, fremdenfeindlicher und neonazistischer Kräfte zu warnen, mich öffentlich gegen derartige Umtriebe zu stellen und die freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie der Bundesrepublik Deutschland sichern zu helfen.

Zu Neonazismus und Fremdenhass, 08.11.1992 – Warnung und Appell

Als ich von Passauer Politikern und Gewerkschaftlern gebeten wurde, zum Gedenken an die November-Pogrome 1938 einen öffentlichen Vortrag zu halten und dabei zu den neonazistischen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen, Brandanschlägen und Schändungen von Gedenkstätten der Jahre 1991/92 Stellung zu nehmen, fühlte ich mich als Hochschullehrer im Sinne der eigenen historisch-politischen Erfahrungen verpflichtet und herausgefordert, diese Ausschreitungen und  ausländerfeindlichen Aktionen, die in neuen und alten Bundesländern stattgefunden hatten, anzuprangern und die Bevölkerung aufzurufen, diesen Umtrieben entschieden entgegenzutreten (PNP Nr. 260, 10.11.1992, S. 28).

In Hünxe (1991), Hoyerswerda (1991), Eberswalde (1991) und Sachsenhausen (1991) Rostock-Lichtenhagen (1992) und Mölln(1992) hatten Brandanschläge auf Asylantenheime, Wohnungen und jüdische Gedenkstätten sowie gewalttätige Ausschreitungen wieder Bilde des hässlichen Deutschland hervorgerufen. Aggressiver Fremdenhass war von Zuschauern beklatscht und von Sympathisanten unterstützt worden. Herumstehende Bürger hatten lebensgefährlicher Brandstiftung lauthals zugestimmt: „Gut, dass endlich was geschieht!“ Ich sagte in meiner zornigen Rede: „Der Wissenschaftsbetrieb darf nicht in vornehmer Reserviertheit wegsehen und tatenlos beiseite stehen. Ich gehöre einer politischen Generation an, die zu den rechtsextremistischen Ausschreitungen nicht schweigen kann und darf. Auch wir Wissenschaftler sind herausgefordert, gegen alle Formen barbarischer Verwilderung unseres sozialen und politischen Lebens klar und entschieden Stellung zu nehmen.“

Es hatte an politischer Sensibilität gemangelt. Am Abend des 9.November 1992 waren auf Einladung des Passauer Oberbürgermeisters, des niederbayerischen Regierungspräsidenten und der Universitätsleitung 6.000 Studentinnen und Studenten zur fröhlichen Leberkäs-Speisung und Biertränke in die Nibelungenhalle gekommen. An der stadtoffiziellen Kundgebung gegen den Ungeist von rechts, die am 4. Dezember stattfand, nahmen hingegen nicht einmal zwei Dutzend Studierende teil. Die Eröffnung des Wintersemesters mit der traditionellen Leberkäs-Speisung, die 30.000 Deutsche Mark kostete, war der Universitätsleitung und der angehenden Akademikerschaft wichtiger als eine gemeinsame Demonstration gegen rechtsradikale Gewalttäter, Fremdenhass und Antisemitismus. Diese Gleichgültigkeit machte und macht mich bis heute zornig.

(Auszüge meiner Rede in: INSIDE. Monatsmagazin für Passau und Umgebung. Ausgabe 5, 2, Jg., Jan. 93, S. 6f)

39. Sankt Johannisloge ›Zum Morgenstern‹ – verbotener Zutritt zum Freimaurertempel

Johann Heinrich Mintzel (1763–1840) – ein Freimaurer

Mein Ururgroßvater, der Hofer Buchdrucker und Zeitungsverleger Johann Heinrich Mintzel (1763–1840), war ein überzeugter und bis an sein Lebensende engagierter Freimaurer. Er war im Jahre 1800 von Bayreuth nach Hof übergesiedelt und hatte um die Jahreswende 1800/1801 die Mintzelsche Buchdruckerei vom Alten Gymnasium zurückgekauft und das Verlagsrecht des ›Höfer Intelligenz-Blattes‹ erworben. Dabei war ihm sein Freimaurerbruder Johann Theodor Benjamin Helfrecht, der Rektor des Alten Gymnasiums, behilflich gewesen. In Bayreuth hatte Mintzel der Loge ›Eleusis zur Verschwiegenheit‹ angehört. In Hof war er zunächst in die Loge ›Zur Goldenen Waage‹ und nach deren Auflösung 1815 in die Loge ›Zum Morgenstern‹ aufgenommen worden. Er durchlief, in der Sprache der Logen ausgedrückt, die drei Grade der ›Johannismeisterei‹, den Initiationsweg vom Lehrling über den Grad des Gesellen zum Meister. Nachdem er 1819 den Grad eines Meisters erreicht hatte, konnte Mintzel ›Logenbeamter‹ werden. Er versah in den Jahren von 1822 bis 1826 das Amt des Ersten Aufsehers, von 1827 bis 1834 das Amt des Repräsentanten der ›Großen Provinzialloge Zur Sonne‹, die sich seit 1829 kurz ›Großloge‹ nannte, und wurde 1835 in der Loge ›Zum Morgenstern‹ zugeordneter Meister. In dieser Funktion hatte er den Meister vom Stuhl bei der ›Führung des Hammers‹ zu unterstützen und zu vertreten. Mintzel bekleidete somit freimaurerische Spitzenämter. Er gehörte dem inneren Zirkel an. In seinen Logenämtern trug Mintzel ein blaues Band mit besonderen für das jeweilige Amt typischen Abzeichen. Jedes Werkzeug hat dabei seine eigene Bedeutung: Der Winkel steht für Moral, Rechtschaffenheit und fairen Handel, der Zirkel symbolisiert Aufrichtigkeit und Treue. Das Lot und die Wasserwaage sind Symbole des Gesellengrades.


Georg Riess, Geschichte der gerechten und vollkommenen Sankt Johannisloge ›Zum Morgenstern‹ im Orient Hof 1924–1949, Titelseite, Hof 1949


Georg Riess, Geschichte der gerechten und vollkommenen Sankt Johannisloge ›Zum Morgenstern‹ im Orient Hof 1924–1949, Seite IV, Hof 1949

Was mag den Buchdruckerherren und Zeitungsverleger bewogen haben, in der Loge ›Zum Morgenstern‹ über die drei Stufen der ›Versittlichung‹ zum Meister aufzusteigen und sich als Logenbeamter zu engagieren? Was hatte ihn angetrieben, als Hofer Repräsentant in der Großloge ›Zur Sonne‹ in Bayreuth zu wirken? Unsere Kenntnis der menschlichen Psyche spricht dagegen, dass es nur rein ideelle Gründe waren. Wer könnte von sich schon behaupten, immer nur lupenreinen Beweggründen zu folgen? Sicher, er war ein ›Suchender‹ und ein ›Gottsucher‹ gewesen, einer, der an die Unsterblichkeit geglaubt hatte. Er hatte sich zeitlebens fortgebildet, sich im besten Sinne zu einem ›gebildeten Handwerker‹ entwickelt und in der Loge gleichgesinnte Bürger gefunden, die sich der sittlichen Selbstveredelung und der Veredelung des Menschentums verschrieben hatten.

Seine Zeit war, wie die unsere heute, eine Umbruchzeit, eine Wendezeit, eine ›Axialzeit‹ (Karl Jaspers). In der Metternich-Ära bäumte sich das überkommene Feudalsystem noch einmal auf und zeigte seine polizeistaatlichen Klauen und Krallen. Das aufstrebende Bürgertum war sich seiner eigenen Entwicklung noch nicht gewiss. Der Freimaurer Mintzel dachte vermutlich, dass gerade in Zeiten des Umbruchs Alternativen aufgezeigt werden müssten, weil erst das Denken in Alternativen ein freies Denken und damit die Entwicklung eines freiheitlich-humanen Bürgerbewusstseins ermögliche. Der Mensch steht immer vor der Alternative, entweder zuzuschauen, wie Mächtige in den Weltlauf eingreifen und ihre Herrschaft den Untertanen aufdrücken, oder selbst einzugreifen. Mein Ururgroßvater wollte etwas tun, am Weltenlauf nach seinen Kräften mitarbeiten, etwas bewegen. Aber wo anpacken? Welchen Weg einschlagen? Die Freimaurerei schien ihm eine Alternative zu überkommenen Denk- und Handlungsmustern zu bieten. Sie schien es ihm zu ermöglichen, zumindest für Stunden und Tage aus dem kleibürgerlichen Untertanenmuff ins Licht einer geistigen Welt zu gelangen und die Verhältnisse zu überschreiten, an denen er litt. Die Freimaurerei versprach beides: Bei sich selbst zu beginnen und sich in Stufen zu einem gesitteten Menschen emporzuarbeiten und zugleich am ›Bau der Menschheit‹, an der Kultivierung des Menschentums mitzuwirken. Die Stadt Hof und ihre Umgebung blieben allerdings ein karger Boden für die empfindlichen Pflanzen des Geistes und einer freimaurischen Humanität.

Im 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19 Jahrhundert hatte die Freimaurerei als eine Vereinigung ehrwürdiger, edel gesinnter Bürger besonderen Respekt genossen. Sie hatte zu ihren Mitgliedern viele Prominente aus Kultur, Staatsverwaltung, Politik und Gewerbe gezählt. Die weltbürgerliche und philanthropische Orientierung hatte den Patriotismus der Freimaurer vor chauvinistischen und martialischen Auswüchsen bewahrt. Freimaurerei und Aufklärung hatten weitgehend identische Ziele. Freimaurer waren sich im Wesentlichen darin einig, dass Nation, Konfession und Geburt der wahren Humanität als höchstem Wert untergeordnet sein sollten. Zu den Zielen der Logen hatte die Überwindung ständischer und zunfteigener Schranken gehört. Freimaurerlogen hatten deshalb als Vorreiter demokratischer Prinzipien gegolten.

Profane und Eingeweihte

Der Weg von Mintzels Wohn- und Druckhaus am Maxplatz – es war in Hof an der Saale das zweite Stammhaus der Druckerdynastie Mintzel – zum Logengebäude war nicht weit. Er überquerte den Maxplatz, bog an der Michaeliskirche nach rechts in den Kirchplatz ein und ging über den oberen Teil der Ludwigstraße, der früheren Ersten Gasse, zum Gasthaus vor dem Oberen Tor. Vielleicht blieb er ab und zu am ehemaligen ersten Wohn- und Stammhaus der Drucker Mintzel stehen, am Haus Ludwigstraße 85, wie ich es später auf meinen Reisen nach Hof ebenso tat.

In der Loge ›Zum Morgenstern‹ galten, wie in der Freimaurerei allgemein, von Anfang an strenge Schweigeregeln, die vor Einmischungen und Kritik von außen schützen und dem inneren Zusammenhalt dienen sollten. Die Verschwiegenheitspflicht galt für die ›Tempelarbeit‹, also für die geheimen rituellen Lehren und Praktiken, für die Rituale und Symbole bei der Aufnahme von ›Suchenden‹ und für den Initiationsweg zur tieferen Selbsterkenntnis (Lehrling, Geselle und Meister).Der Übergang von einem Grad zum nächsten hat seine jeweils besonderen Rituale.

Initiation eines Suchenden in der Freimaurerei, Kupferstich von 1805, Frankreich; aus: Sonntagsblatt Nr. 45, 08.11.205, S. 5

In ihrer Tempelarbeit bildeten die Brüder eine hermetisch geschlossene Gemeinschaft, zu der Nichteingeweihte, sogenannte Profane, keinen Zutritt hatten. Jede Loge hatte in ihrem Gebäude oder in ihren Räumlichkeiten einen besonderen Sakralsaal. Was darin geschah und gesprochen wurde, war mit einem absoluten Tabu belegt. Diese unabdingbare Verschwiegenheitspflicht gilt bis zum heutigen Tag. Sie ist im Selbstverständnis der Logen der empfindlichste Punkt im Verhaltenskodex. Der entsprechende Paragraph des Logen-Gesetzes lautet: »Der Bund fordert gegen Nichtmaurer die strengste Verschwiegenheit; es bedarf daher mit keinem Uneingeweihten über die im Logenleben begründeten Kenntnisse und Gebräuche, weder im Allgemeinen noch Einzeln, gesprochen und viel weniger etwas davon mitgeteilt werden. Ein Gleiches ist in den wesentlichen Punkten von Seiten der Gesellen und Meister gegen Brüder, Lehrlinge und Gesellen zu beobachten.« (Quelle: Loge ›Zum Morgenstern‹).

Mein Besuch eines Tempels – Ein verbotener Zutritt

Auf einer Reise nach Hof/Saale – es muss gegen Ende der 1980er Jahren gewesen sein – darf ich dort in den Tempel der gerechten und vollkommenen Sankt Johannisloge ›Zum Morgenstern‹ eintreten und das verborgene Innere der Loge kennenlernen. Der Meister vom Stuhl führt mich in den Raum, der Nichteingeweihten streng verschlossen bleibt.

Es ist nicht der gleiche Raum, in dem mein Ururgroßvater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Meister gewirkt hat, doch gleicht der Mitte des 19. Jahrhunderts neu bezogene Raum in seiner inneren Ordnung und Symbolik den damaligen Verhältnissen. Die heilige Zahl Drei bestimmt die Raumeinteilung und den Standort der Dinge. Der Meister vom Stuhl sitzt ›im Osten‹, wo das Licht herkommt, an einem hohen Pult, vor ihm liegt auf der Tischfläche der Hammer, den er während der Sitzung führt. Zum Pult, das altarähnlich auf einer erhöhten Plattform steht, führen – wie in Kirchen – drei Stufen hoch. Über dem Meister vom Stuhl ist an der symbolischen Ostwand ein dreieckiger Leuchtkasten angebracht, auf dessen Glasscheibe das Auge Gottes erstrahlt. In Gott sehen die Logenbrüder, die Maurer, den höchsten und größten Baumeister, der die Welt erschaffen hat. Die Logenbrüder arbeiten am Tempelbau der Menschheit, ein jeder nach seinen individuellen Kräften. In der Ordnung der Logenbrüder herrscht eine strenge Platzordnung und Hierarchie. Zur Linken des Meisters vom Stuhl sitzt sein Erster Sekretär, zur Rechten der Zweite. Beide werden als Logenbeamte bezeichnet.

Gegenüber vom Meister vom Stuhl, ›im Westen‹ des Raumes, sitzt an den zwei Reihenende der Erste Aufseher auf der Seite der Meister und Gesellen, der Zweite auf der Seite der Lehrlinge. Die Aufseher haben über die genaue Einhaltung der Rituale zu wachen. Im langen Mittelfeld des Tempelraumes stehen drei Säulen, welche die drei Enden des Zirkels symbolisieren. Hammer und Zirkel stehen für die Werkzeuge der Maurer. Der Tempel wird nach mittelalterlichem Vorbild auch ›Bauhütte‹ genannt.

Im Raum waltet eine strenge Ordnung, alles hat seine Bedeutung, alles dient den Ritualen. Auf jeder der drei Säulen und auf jedem Tisch der Sekretäre und Aufseher steht eine Kerze. Wände, Stuhlpolster und Bemalungen sind in Preußischblau gehalten. Der Ablauf der Handlungen, der Reden und Gegenreden, folgt strengen Regeln. Für bestimmte Rituale sind besondere Licht- und Beleuchtungseffekte vorgesehen, sie reichen vom hell durchstrahlten Raum bis zum Verlöschen der Lichtquellen. So hat es mein Ururgroßvater erlebt, so ähnlich wird es auch heute noch praktiziert. Ich verdanke es wohl meinem Ururgroßvater, in einen Tempel geführt und mit dessen innerer Ordnung vertraut gemacht zu werden, wodurch der amtierende Meister vom Stuhl seine Verschwiegenheitspflicht verletzt. Mögen seine Freimaurerbrüder ihm dies verzeihen! In meinem Forscherleben hatte ich immer wieder das Glück, auf Akteure zu treffen, die mir Türen öffneten und Einblicke gewährten – wie 1967 mein Lehrer und Chef Prof. Dr. Otto Stammer den Eintritt in die Sozialwissenschaft, wie 1968 Franz Josef Strauß in die Arkana der CSU, wie mein Kollege Prof. Dr. Heinrich Oberreuter 1980/81 an der Universität Passau, wie der Meister vom Stuhl der Hofer Loge ›Zum Morgenstern‹. Wir brauchen im Leben kompetente Türöffner, um weiterzukommen.

»Stirb und werde!« – Die Erhebung zum Meister

So mag es sich 1819 zugetragen haben: Die Logenbrüder, die bereits den Meistergrad erreicht haben, versammeln sich in dunklen Anzügen im Tempel, um am Ritual der Erhebung Mintzels zum Meister teilzunehmen. Sie tragen ihre Zylinder und Schürzen. Der Schurz gehört zur symbolischen Kleidung der Maurer bei ihrer Tempelarbeit. Der Zeremonienmeister »sorgt für die ritualgemäße Gestaltung der Logenarbeit und Feierlichkeiten.« Heute wird einer der Gesellen, der Buchdrucker und Zeitungsverleger Johann Heinrich Mintzel, zum Meister erhoben.

Zur symbolischen Kleidung gehören auch die weißen Handschuhe, die alle Grade als Zeichen ihrer Ehrfurcht tragen, wenn sie in ihren Arbeiten im Tempel eine höhere Welt suchen. Vorn sitzt an seinem Pult der amtierende Meister vom Stuhl. Am Westende des Tempels steht Mintzel. Die Sekretäre des Stuhlmeisters und die Aufseher haben Platz genommen. Der Stuhlmeister eröffnet mit drei Hammerschlägen das Ritual der Meistererhebung, das auf der so genannten Hiramslegende beruht. Der Legende nach war Hiram Abif König Salomons Meisterarchitekt gewesen, der den unvollendeten Tempel errichtet hatte (2. Chronik, 2,3ff). Hiram Abif war von drei Gesellen ermordet worden, weil er ihnen nicht die geheimen Erkennungsworte der Meisterschaft verraten hatte.


Erhebung eines Freimaurer-Gesellen zum Meister, Kupferstich, Ende 18. Jahrhundert;
aus: Sonntagsblatt Nr. 45, 8.11.2015, S. 6

Der Raum ist vom Schein der Kerzen matt erhellt. Schatten flackern über die Wände, Reden und Gegenreden raunen aus den Reihen von Platz zu Platz. Im Mittelteil des Raums steht auf einem sogenannten Arbeitsteppich eine mit einem schwarzen Tuch bedeckte Bahre, an deren Kopfende liegt ein schwarzes Kissen. Kandidat Mintzel senkt seinen Blick auf den Teppich und erkennt die dort abgebildeten Symbole des Todes. Er betrachtet den menschlichen Schädel und die gekreuzten Knochen. Im rituellen Drama werden die symbolischen Werkzeuge der Meistererhebung verwendet: Der Schlägel (Hammer) mit dem Hiram Abif erschlagen, der Spaten, mit dem sein Grab geschaufelt, der Sarg, in der seine Überreste gelegt, und der Akazienzweig, der auf seinem Grab geblüht haben soll. Der Meister vom Stuhl heißt den ›Todeskandidaten‹, sich zum Sterben auf die Bahre niederzulegen. Zwei Logenbrüder unterstützen ihn dabei. Feierliche Stille. Mintzel liegt regungslos da, lässt in sich den Gesellen absterben. Die zwei Logenbrüder decken ein großes schwarzes Tuch über seinen Kopf und Oberkörper. Sie treten gemessenen Schrittes zurück. Geselle Mintzel erlebt symbolisch den Tod Hirams. Die Maurer murmeln leise und getragen ihre Sinnsprüche der Verwandlung. Der Meister vom Stuhl tritt von seinem Sitz herab und schreitet auf die Bahre zu. Er erweckt den Toten und erhebt ihn im wörtlichen Sinne in den Meistergrad. Mintzel erfährt, wie sich seine Seele über seine inneren Feinde – Ignoranz, Begierde, Leidenschaft und Sünde – erheben kann. Er richtet sich mit Hilfe des Meisters vom Stuhl auf. Das schwarze Tuch wird dem Erhobenen feierlich vom Kopf gezogen. Mit seiner Geburt im Grade eines Meisters hat Mintzel eine neue Stufe der Versittlichung erreicht. Er wird wie der legendäre Hiram Abif das geheime Erkennungszeichen, durch das sich ein Meister identifiziert, niemals verraten und über seine rituelle Erhebung im Beisein profaner Personen niemals sprechen, auch nicht im engsten Familienkreis. Er wird das Mysterium im Herzen bewahren.

Aus seiner Sicht habe ich etwas Ungeheuerliches gewagt, nämlich aufgrund meines Tempelbesuches, von Berichten, die doch nach außen gedrungen sind, und mit etwas Fantasie seinen rituellen Tod und seine Erhebung zum Meister so zu erzählen, wie er sie damals erlebt haben könnte. (A. Mintzel 2011: Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie, Band II, S. 89–133).

Die Passauer Freimaurerloge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹

Auf einem anderen Weg habe ich in der Dreiflüsse-Stadt Passau die dortige Freimaurerei kennengelernt. In Passau gibt es nebeneinander und scharf getrennt voneinander zwei Logen: Die Freimaurerloge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹ e.V. i. Or. [im Orient – A.M.] Passau und den Freimaurer-Orden. Erstere versteht sich als humanistischer Männerbund ohne religiös-konfessionelle Bindung. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Loge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹ den Grundideen der Humanität, Toleranz, Freiheit und Gleichheit verpflichtet. Sie tritt unter ihrem Meister vom Stuhl öffentlich mit eigenen Veranstaltungen auf. Der Orden ist dagegen strikt religiös-konfessionell ausgerichtet und meidet jede Art und Form des öffentlichen Auftritts. Er verhält sich wie ein Geheimbund. Während sich die Frage der Öffentlichkeitsarbeit beim Orden erst gar nicht stellt, ist sie bei der Loge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹ zu einem Brennpunkt ihres Selbstverständnisses geworden. Was darf aus dem geselligen Innenleben und über das brüderliche Wirken der Loge an die Öffentlichkeit gelangen und auf welchem Weg? Und was unterliegt der absoluten Verschwiegenheitspflicht? Wo liegt die Grenzlinie? Die vier Grundregeln, die ›vier alten Pflichten‹, sind streng vorgegeben: die Verschwiegenheitspflicht, die politische und religiös-konfessionelle Neutralitätspflicht (Überparteilichkeit und Überkonfessionalität), die Treuepflicht gegenüber Staat und Obrigkeit (die Pflicht, ein guter Staatsbürger zu sein) und die Pflicht, Nachsicht mit den Fehlern der Brüder zu üben. Die brüderliche Handlungsmaxime der Nachsicht korrespondiert mit dem Gebot: »Verachte deinen Bruder nicht wegen seiner Schwächen, sondern suche ihn zu verbessern.« Zu den Verschwiegenheitspflichten gehörte bisher auch die unabdingbare Pflicht, seine Logenzugehörigkeit und die seiner Freimaurerbrüder in der profanen Welt nicht zu offenbaren, die Mitgliedschaft also geheim zu halten.

Die Passauer Loge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹ ist dabei, ihr Erscheinungsbild an die Erfordernisse der Medien- und Kommunikationsgesellschaft anzupassen (PNP Nr. 198, 27.08.2016, S. 20). Sie lockert die Verschwiegenheitspflicht dadurch auf, dass sie die Grenzen zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit auf den rituellen Bereich der Tempelarbeit zurücksteckt und die profanen Teile ihrer Veranstaltungen öffentlich ankündigt und für Interesssenten zugänglich macht. Sie bietet Diskussionsforen, beteiligt sich an öffentlichen Aktionen und ermöglicht es ihrem Meister vom Stuhl, Interviews zugeben. Mit seinen von den Logenbrüdern zugelassenen Auftritten geht der Meister vom Stuhl »aus seiner Deckung«. Auch anderen Logenbrüdern wird gestattet, in begrenzter Weise aus der Deckung der Loge zu treten und sich als Freimaurer zu erkennen zu geben. In ihrer Gratwanderung zwischen Verschwiegenheitspflicht und Öffentlichkeit gilt allerdings umso nachdrücklicher das Prinzip der Diskretion. Kein Freimaurer ist befugt, die Identität eines Bruders preiszugeben. Der Meister vom Stuhl, Franz Josef Gotzler, hat in einem Interview mit der Passauer Neuen Presse die grundsätzliche Handhabung der Deckung so erläutert: »Doch selbst wenn ich als Vorsitzender die Öffentlichkeitsarbeit forciere, gewähre ich dennoch jedem Bruder die Möglichkeit der Deckung. Die Brüder können nach außen gehen, wie ich es tue, müssen aber nicht. Viele haben noch immer Angst vor Restriktionen, wenn ihre Mitgliedschaft publik wird. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, zumindest was die nichtreligiöse Entourage betrifft.« (PNP Nr. 198, 27.08.2016, S. 20). Mit anderen Worten im Umkehrschluss: die religiösen – sprich katholischen – Mitglieder der Loge haben in Passau nach wie vor mit kirchlichen und gesellschaftlichen Restriktionen zu rechnen. Wird eine Mitgliedschaft entdeckt und angezeigt, können Missgunst und Diskriminierung sogar bis zur Existenzgefährdung führen. Unter vorgehaltener Hand wird in der Loge von einem aktuellen Fall berichtet, der die Ängste katholischer Freimaurer vor Entdeckung verstärkt hat. Die meisten katholischen Freimaurer ziehen es deshalb vor, in der Deckung ihrer Loge zu bleiben. »Protestanten haben dagegen relativ wenige Probleme mit der Freimaurerei«, so Gotzler.

Auf der Seite der evangelischen Kirche hat es im Gegensatz zur römisch-katholischen keine Unvereinbarkeitserklärungen und keine scharf abwehrende Frontstellung gegen die Freimaurerei gegeben. In ihrer Tutzinger Erklärung vom Oktober 1973 hielten beide Seiten fest, dass das freimaurische Gottesverständnis und ethische Wollen trotz offener Fragen keine Unvereinbarkeit mit der evangelischen Glaubenslehre begründe: »Die Entscheidung über die Mitgliedshaft in der Freimaurerei muss dem freien Ermessen des Einzelnen überlassen werden.«

Lokal-Gesetze für die […] St. Johannis-Loge zum Morgenstern im Or. Hof, Titelblatt


Lokal-Gesetze für die […] St. Johannis-Loge zum Morgenstern im Or. Hof, Maur. Grundsätze

»diese widerliche Plage … vernichten« (Papst Leo XIII., 1884)

Sehr früh hatte hingegen die Freimaurerei den Zorn und die Abwehr der römisch-katholischen Kirche hervorgerufen. Von 1738 bis 1918 hatten zwölf päpstliche Stellungnahmen die Freimaurerei verurteilt, weil sie antiklerikale Ziele verfolge und eine humanitär-deistische Weltanschauung vertrete. Papst Leo XIII. verteufelte sie 1884 in seiner Enzyklika Humanum Genus, ›Über Wesen und Gefahr der Freimaurerei‹, als ein Werk des Satans. Die Freimaurerei schmiede ein Komplott gegen die Kirche, sie sei eine »verhängnisvolle Pest«, die ausgemerzt gehöre. In ihren wahnwitzigen und finsteren Bestrebungen offenbare sich »Satans unaustilgbarer Hass und Rachedurst gegen Jesus Christus«. Spätere Bemühungen, die alte kirchliche Gegnerschaft zu entschärfen, blieben ohne Erfolg. Die sogenannte Lichtenauer Erklärung von 1970, in der sich beide Seiten nähergekommen schienen, erhielt keinen verbindlichen Rechtscharakter. Als Präfekt der Glaubenskongregation stellte Joseph Kardinal Ratzinger noch 1983 fest, dass ein Katholik, der Freimaurer geworden sei, weiterhin im Stande der schweren Sünde lebe und automatisch von der heiligen Kommunion (Eucharistie) ausgeschlossen sei. Daran habe auch der 1983 novellierte Codex Iuris Canonici, das kanonische Kirchenrecht, nichts verändert. Noch heute verbreiten die katholische Kirche und ihre Meinungsführer aberwitzige und abstruse Gerüchte über das, was Freimaurer ihrer Meinung nach treiben und anstreben. Nach wie vor gilt das Verdikt von 1884: »Die Sekte ist eben ihrem ganzen Wesen und ihrer innersten Natur nach Sünde und Schande, darum ist es nicht erlaubt, ihr beizutreten und in irgendeiner Weise behilflich zu sein.« Die katholische Kirche sieht bis zum heutigen Tag in der Freimaurerei eine gegen sie und ihre Lehre gerichtete Sekte: wehe dem katholischen Freimaurer, der sich aus der Deckung seiner Loge wagt! Er muss mit erheblichen Unannehmlichkeiten rechnen.

Freimaurerische Umtriebe an der Universität Passau?

Die katholische Frontstellung gegen die Freimaurerei hatte sich auch beim Streit um das Passauer Universitätsemblem, im Madonnen-Streit, gezeigt. Die Universität hatte bei ihrer Neugründung 1978 die gegenreformatorische Kampf-Ikone der ›Maria vom Siege‹ zu ihrem Emblem erkoren. Der universitätsinterne Antrag, diese zweifelhafte Übernahme zurückzunehmen und ein konfessionsneutrales Emblem einzuführen, war 1990/91 von fundamentalistischen katholischen Kreisen Passaus aufs Heftigste kritisiert worden. In der katholischen Diffamierungskampagne war sofort der Verdacht ausgestreut worden, in der Universität seien Freimaurer am Werk. Die Antragsteller waren in der Passauer Neuen Presse verdächtigt worden, freimaurerisches Gedankengut in die Universität hineinzutragen: »Nun erregt auch das Bildnis der Heiligen Jungfrau im Siegel der Universität Passau Anstoß. Für sie, die weise Jungfrau, Mittlerin aller Gnaden, der Siegerin in allen Schlachten Gottes, ist in einer modernen Universität, in der Liberalismus und freimaurischer Humanismus regieren soll, natürlich kein Platz mehr.« (PNP Nr. 257, 07.11.1990, S. 22) Die Freimaurerei blieb für viele Katholiken eine Schreckgestalt des Bösen.

Der Meister vom Stuhl der Passauer Loge ›Zu den vereinigten drei Flüssen‹ verriet über die Sozialstruktur der Loge: »Vom Handwerker bis zum Professor ist alles dabei« (PNP Nr. 198, 27.08.2016, S. 20). Wehe die Mitgliedschaft eines Professors wäre im Madonnen-Streit der Universität Passau ruchbar geworden! Schon eine Verdächtigung hätte genügt, um den Zorn der Glaubenseiferer zum Wallen zu bringen und den ›Sünder‹ öffentlich zu brandmarken und zu verdammen.

An der Universität Passau hat die ›Siegerin in allen Schlachten Gottes‹ allerdings ihre Schlacht gegen eine angeblich falschverstandene Wissenschaft verloren (siehe Kap. 29 und 30). In der Frage des römisch-katholischen Glaubens- und Kultsymbols konnten die gegensätzlichen weltanschaulichen, religiös-konfessionellen und wissenschaftstheoretischen Anschauungen nicht versöhnt, geschweige denn eine gemeinsame inhaltliche Lösung gefunden werden. Es blieb nur die pragmatische Entscheidungsalternative: Konsens durch Verfahren. Und dies hieß: Abschied von der ›Maria vom Siege‹, Einführung eines konfessionsneutralen Logos.

 


					

38. Ein Mega-Ereignis – 375 Jahre Mintzel-Druck, 2000

Ein regionales Ereignis – ein Weltereignis

Am 13. Mai 2000 feierten die Firma „Mintzel-Druck“ ihr 375. und der „Hofer Anzeiger“, das Traditionsblatt der Verleger Mintzel und Hoermann, sein 200jähriges Jubiläum. Das Hofer Doppeljubiläum fiel mit einem anderen Ereignis zusammen: Im Jahre 2000 jährte sich zum 350. Mal das Erscheinen der ersten Tageszeitung der Welt. Nach 350 Jahren begegneten sich der Gründer der Mintzelschen Buchdruckerei, Johann Albrecht Mintzel, und der Herausgeber der ersten Tageszeitung, Timotheus Ritzsch, im imaginären Raum historischer Feiern. Die Mintzelsche Buchdruckerei war 1625 in Leipzig gegründet worden, die erste Tageszeitung ebendort im Jahr 1650. Die Buchdrucker Mintzel und Ritzsch waren in Leipzig Konkurrenten gewesen. Ritzsch hatte sich 1641/42 wie Mintzel auf die Hofer markgräflich privilegierte Druckereistelle beworben. Mintzel hatte Erfolg mit seiner Bewerbung, Ritzsch Pech. Mintzel hatte 1642 seine Buchdruckerei nach Hof an der Saale überführt, Ritzsch hatte sich in Leipzig mit Erfolg im Zeitungsgeschäft versucht. Mintzels Gründung blieb ein lokales und regionales Ereignis, die des anderen, die erste Tageszeitung, wurde hingegen zu einem Weltereignis. Mintzel wurde im Jahr 1999 in Hof mit einem Straßennamen geehrt, Ritzsch mit einer Briefmarke der Deutschen Post und einem großen Artikel in der ZEIT. Beide blieben im kulturellen Gedächtnis, jedoch auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlicher Reichweite. Was meine Person betrifft, ging ein magischer Auftrag in Erfüllung.

Das Doppeljubiläum 375 Jahre „Mintzel-Druck“/200 Jahre „Hofer Anzeiger“ war, um es mit heutigen Sprachgewohnheiten der Übertreibung auszudrücken, eines der Superlative. Es war ein Hofer Mega-Ereignis. Am 12. Mai 2000 herrschte „Kaiserwetter“, ein Sonnentag, wie er strahlender nicht sein konnte, ein lichtblauer Himmel über Stadt und Land. Über fünfhundert Personen waren zum Festakt eingeladen worden, sie strömten schon am Vormittag zum Sektempfang, der im Foyer des Hofer Stadttheaters stattfand. Dort wurden auch ein opulentes Festessen und ein kulturelles Begleitprogramm geboten. Das Percussions-Ensemble der Musikschule der Hofer Symphoniker trommelte, ein Schauspieler des Stadttheaters rezitierte im Kostüm eines Bürgers aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges Gedichte von Paul Gerhardt, Andreas Gryphius und Martin Opitz und erinnerte damit an die Lyrik des Barocks, die bei Johann Albrecht Mintzel in Leipzig gedruckt worden war. In einer Sonderausstellung wurden viele Bilder und Dokumente aus der Geschichte des Unternehmens gezeigt, alte Druckwerke, Zeitungsausgaben, Ansichten der Druckereigebäude, ausgediente Druckmaschinen, Porträts der früheren Inhaber und vieles mehr. Es sollte frisch und fröhlich gefeiert werden und keine steife Honoratioren-Veranstaltung daraus werden. Grußadressen sollten nicht die Geduld strapazieren, die Festreden möglichst kurzweilig sein. Mit diesem Festakt der Superlative, dessen Kosten horrend hoch waren, sollte erneut die gewerbsgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des altehrwürdigen Familienunternehmens einer breiten Öffentlichkeit in Erinnerung gebracht werden. „Schaut auf uns! Wir sind ein unauslöschlicher Bestandteil der Hofer Stadtgeschichte!“ war das Motto. „Wir haben erfolgreich 375 Jahre durchschritten, wir werden auch die Krisen der 21. Jahrhunderts bewältigen!“ Das Festprogramm schien ungebrochenen Firmenstolz auszustrahlen. Es war ein Festrausch, der alles in hellen Farben erscheinen ließ, als gäbe es keine Schatten, keine Mächte, die den Glanz einer langen Tradition über Nacht zunichtemachen könnten. Womöglich war es ein Aufbäumen gerade gegen unkalkulierbare Wirkkräfte, eine rituelle Abwehrmaßnahme, eine Beschwichtigung dunkler Ahnungen oder gar unternehmerischer Verzweiflung. Was gefühlt, gedacht, geahnt und befürchtet wurde, darüber wurde nicht gesprochen.

Als direkter Nachkomme und Repräsentant von 375 Jahren sollte ich ans Rednerpult treten und in etwa zwanzig Minuten rund 560 Festgäste auf unterhaltsame Weise durch vier Jahrhunderte Firmengeschichte führen. Ich nahm die Rolle an, weil ich sie mir in Jahrzehnten buchstäblich selbst zugeschrieben hatte. Ich entschloss mich aus der Stofffülle und Ereignismasse kleine Geschichten zum Besten zu geben, für jedes Jahrhundert eine.

Jubiläen haben eine seltsam narkotisierende Wirkung. Prominente aus der Stadt, Region, aus Bayern und der ganzen Bundesrepublik gratulierten — wie es schon bei den Jubiläen von 1892, 1902 und 1976 geschehen war — in wohl gesetzten Worten und priesen Tradition und Leistung, den unternehmerischen Geist und das Geschick der Drucker- und Verlegerdynastie Mintzel/Hoermann. Bundeskanzler Gerhard Schröder, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu, der Regierungspräsident von Oberfranken, Hans Angerer, der Hofer Oberbürgermeister Dieter Döhla, der Landrat des Landkreises Hof, Bernd Hering, der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Wilhelm Sandmann, und ein Dutzend anderer prominenter Gratulanten sandten wort- und lobreiche Grußbotschaften und wünschten den Jubilaren weiterhin Erfolg. Die Jubiläumsausgabe umfasste 36 reich bebilderte Seiten. Ich selbst hatte „Eine Firmengeschichte“ verfasst. Ich war wochenlang mit in die Vorbereitung eingespannt gewesen und hatte als Chronist der Firma historische Daten und Texte beigetragen. Schon in meinen Jugendjahren hatte ich den Plan gehegt, Firmengeschichte und Familiensaga niederzuschreiben. In meiner Kindheit, in den Kriegsjahren von 1943 bis 1945, hatte ich in Speinshart tief in der Opferpfalz aus dem Brunnen Wasser getrunken, an dem sich Anfang des 17. Jahrhunderts der Gründer der Mintzelschen Buchdruckerei im gleichen Alter erfrischt hatte. War da eine besondere Lebenskraft übergesprungen? Ein Bogen spannte sich von damals zum Festakt des Jahres 2000. Es war mir, als erfüllte ich ein Vermächtnis.

Reisen durch Jahrhunderte – Reisen in meine innere Erlebniswelt

Ahnenpässe und Stammbäume sind Eintrittskarten in das Reich der Vergessenheit, Geburts- und Todesdaten sind nur nackte Registriernummern, die nicht mehr preisgeben als Lebensspannen von Schemen. Diese Art der Ahnenforschung fand ich immer langweilig. Namen über Namen auf Dutzenden Schildchen, die an den Ästen eines Stammbaumes hängen. Wer waren sie? Ich wollte mehr erfahren über das Leben meiner Vorfahren, ich wollte wissen, wo und wie sie gelebt haben, wie ihr Alltag ausgesehen hatte, welchen Lebensbedingungen sie ausgesetzt waren, was sie erlitten hatten. Seit 1967 verfolgte ich ihre Spuren in Archiven, in Bibliotheken, auf Wanderungen und in alten Gebäuden. Die Zeit, die ich hierfür aufwandte, war insgesamt mehr als ein „Nebenher“, sie machte einen nicht geringen Teil meines Gelehrtenlebens aus. Auch diese Forschungen und Reisen in die Vergangenheit gehören zu meiner Biografie, ohne sie wäre mein Leben anders verlaufen.

Ich will über meine imaginären Reisen durch die Jahrhunderte und meine tatsächlichen und imaginierten Besuche bei der Druckerdynastie Mintzel berichten. Es waren zugleich Reisen in meine innere Erlebniswelt. In jahrzehntelangen Erkundungen gewannen die Lebensbilder an Farbe und Wirklichkeitsnähe.

Ankunft und Einzug in Hof, Trinitatis 1642

Am Dreifaltigkeitstag 1642 traf die Buchdruckerfamilie Mintzel aus Leipzig mit Hab und Gut in Hof ein und bezog das Haus Nr. 78 (heute Ludwigstraße 85) in der Ersten Gasse. Im Gewölbe des Erdgeschosses wurde die rund dreißig Zentner schwere Druckerei eingerichtet. Im ersten Stockwerk lagen die Wohnräume, unter dem Dach die Schlafkammern. Es dauerte Tage, bis alles von den Karren abgeladen, ins Haus getragen und auf die Räume verteilt war. Alle waren froh, den mühsamen und gefährlichen Umzug überstanden zu haben. Der Dreißigjährige Krieg war mit seinen Grausamkeiten noch voll im Gange, der Umzug der Familie hätte schon das Ende der Familie herbeiführen können. Sie hatten Glück, unversehrt in Hof angekommen zu sein.

Die Erste Gasse, in der das Wohn- und Druckhaus stand, war die Hauptstraße, die Hof vom Oberen zum Unteren Tor mit einer leichten Kurve durchzog. Zuletzt bog sie stadtauswärts in einer leichten Kurve zum Oberen Tor ein. Kurz vor dem Tor mündete eine zweite Straße, die Hintere Gasse, in die Erste Gasse ein, um Bürger und Reisende durch den Engpass des Tordurchgangs zu führen. Das obere Stadttor war eine mächtige Verschlussarchitektur am oberen Ende des ovalen Mauerrings. Ihm war ein Mauerring vorgelagert, der sich schützend um die stadteinwärts gelegene Seite des Tores legte. Jeder musste erst dieses Vorwerk passieren, bevor er in die Vorstadt gelangte.

[Abbildung: Hof aus der Vogelschau von Osten, 1614/1641]

Das Haus Nr. 78 lag fünf Häuser weit vom Oberen Tor stadteinwärts auf der rechten Seite.

Es gehörte dem „Hofer Typus“ an, der den städtebaulichen Gegebenheiten und Zwecken der Hofer Ackerbürger und Handwerker entsprach. Durch die geschlossene Bauweise innerhalb der Ringmauern der Stadt und die gedrängte durchlaufende Reihung der Häuser, eines dicht neben dem anderen, erhielten die Grundstücke eine schmale, handtuchartige, tiefe Form. So war ein typischer Grundriss entstanden: Das langgestreckte Wohnhaus lag zur Straße oder Gasse zugewandt, hatte im mittleren Teil des Grundstückes einen Innenhof, an den sich straßenabgewandt ein Hinterhaus anschloss. Das Hinterhaus war mit dem Vorderhaus in der Regel über einen schmalen Gebäudeteil längs des Hofes verbunden. Es diente der Lagerhaltung oder als Werkstatt, als Stall oder als Depot für landwirtschaftliche Geräte. Die meisten Handwerker und Kaufleute betrieben nebenher noch etwas Ackerbau, um den Nahrungsmittelbedarf der Familie zu decken. Die Offizin der Buchdruckerfamilie Mintzel bildete das handwerklich-geschäftliche Zentrum des Hauses. Es muss ein relativ großer Raum gewesen sein, weil die Pressen, Setzkästen, Schubladenschränke für Farben und allerlei anderes Gerät viel Platz erforderten. An der Holzdecke war das Gestänge angebracht, auf dem die noch druckfeuchten Bogen aufgehängt wurden. In der Werkstatt fanden sich die Kunden ein, hier wurde verhandelt, gestapelt, gedruckt, verkauft und sich unterhalten. An den verputzten Wänden waren Kerzenhalter angebracht. Die Druckerfamilie Mintzel trat durch einen Torbogen aus ihrem Wohnhaus direkt auf die Erste Gasse, die mit Flusskieseln aus der Saale gepflastert war. Am Haus vorbei zogen stadteinwärts und -auswärts die Fuhrwagen und Karren. Bürger gingen geschäftig hinaus zu ihren Gärten, die rechter Hand vor dem Oberen Tore lagen (heute zwischen Poststraße und Kreuzsternstraße). Buntes und lautes Kommen und Gehen prägten das Straßenbild vor dem Wohn- und Druckhaus. Pferdeäpfel und Kuhfladen lagen auf den Gassensteinen, herabgefallenes Stroh klebte in den Fugen. Fuhrwerke ratterten über den Kieselbelag und wetzten und schliffen die Steine glatt. Der Aufschlag der Pferdehufe hallte von den Hauswänden wider, Peitschenknallen begleitete die Karren auf dem Weg zum Oberen Tor. Es war gefährlich, Kleinkinder aus dem Haus auf die Straße gehen zu lassen. Die Familie hatte daher immer ein wachsames Auge auf die Tür und die Kinder wurden streng angehalten, sich im hinteren, zur Stadtmauer gelegenen Teil des Hauses und Grundstückes aufzuhalten. Hinter dem Haus lag ein kleiner Innenhof, Freiraum für Kinderspiel und Federvieh. Dort war auch das überdachte Plumpsklo, das sogenannte heimliche Gemach, darunter die Sickergrube. Die Küche lag im Vorderhaus gleich hinter der zur Straße gelegenen kleinen Stube. Sie war das andere Zentrum des täglichen praktischen Lebensvollzuges. Hier arbeiteten die Hausfrau, die Töchter und die Magd. Die „obere Stube“ und die Kammern im ersten und zweiten Stockwerk bildeten den Wohnbereich für Familie und Gesinde. Die Fenster der Wohnstube gingen auf die Straße hinaus.

[Abbildung: Rembrandt van Rijn: Frau, aus einem Fenster blickende, um 1655/56]

Ein Fachwerkhaus lehnte am anderen, die Zacken der Dachfirste bildeten eine lange Reihe. Die Dächer waren mit Schindeln bedeckt. An der Haustüre hing eine Glocke, mit der sich Besucher anmeldeten. Die klassizistisch-biedermeierliche Architektur, die heute Hof ein typisches, einmaliges Gepräge gibt, entstand erst mit dem Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Brand vom 23. September 1823. Auch die Dächer richten sich seither nicht mehr mit dem Giebel, sondern mit ihrer Traufseite zur Straße.

Ein Haus voll praller Lebensgeschichten

Das schmale Haus hatte vier Generationen Mintzel als Wohnstätte und Werkstatt gedient. Jeder Raum, jeder Winkel des Gebäudes hatte seine Geschichte, seinen besonderen Geruch und seine Episoden. Die Stube, die Schlafräume, die Kammern für die Lehrlinge und Gesellen, die Küche, die Vorratsräume, die knarrenden Holzstufen und die Treppen zum Dachstuhl, alle Zimmer, Winkel und Stiegen hatten aus den 120 Jahren vieles über Lieben, Lachen, Leid und Sterben zu erzählen, über Heimliches und Gemeinschaftliches, über sehr Privates und ganz Öffentliches, über Arbeit und Feste. Viele Kinder waren in dem Haus geboren, viele Särge hinausgetragen worden. Die Druckergesellen Mintzel waren von dort auf Wanderschaft gegangen und eines Tages wieder in ihr Stammhaus heimgekehrt. Im kleinen zur Stadtmauer hin gelegenen Innenhof hatten sie in ihrer Kinderzeit gespielt. In der großen Wohnstube und im Kreuzgewölbe hatten die Regale gestanden, auf denen vier Generationen dicke und dünne, große und kleine, gebundene und broschierte Bücher aufgereiht hatten, darunter Traditionsstücke der Druckerei wie die Jubiläumsschrift der Leipziger Druckerinnung zur 200-Jahrfeier der Erfindung Gutenbergs aus dem Jahre 1640.

[Abbildung: Seite aus der Jubiläumsschrift von 1640]

Das Haus war zu einem Organismus der Dynastie geworden. Mit jeder Geburt hatte es von neuem zu atmen begonnen, mit jedem Todesfall war etwas in ihm abgestorben. Die Türen hatten Generationen in das Haus kommen und wieder hinausgehen sehen, die Planken der Böden die schlurfenden Schritte der Alten, den festen Tritt der Jugend und das Krabbeln und die ersten Gehversuche der Kleinsten gekannt. Jede Gangart hatte sich in das Gedächtnis der Dielen eingeprägt. Die Türklinken hatten sich jeden ihrer Benutzer gemerkt, die schweren kräftigen Hände der Drucker, die zarten Mädchenhände der Töchter, die knochigen der Matronen. Die Wände hatten die Rußspuren der Kerzen, Kienspäne und Öllampen getragen, die Risse im Gemäuer die Erschütterungen mitgemacht, welche die Generationen heimgesucht hatten. Die Steine waren gealtert und mancher Stein durch Gewalt zersprungen. Von den Wänden klang ein Nachhall der Stimmen. Es war, als lägen die Toten unter den Dielen und lauschten den Lebendigen und als lauschten die Lebendigen den Toten. In dunklen Nächten waren sie zu hören, als sprächen sie miteinander über die menschliche Zerbrechlichkeit. Aus den Kammern drang das Wimmern und Weinen kranker Kinder und das Lachen und Lärmen der gesunden. Gebärende waren zu hören, die stöhnten und hechelten, und die Schreie der vielen einstmals im Hause Neugeborenen. Das ersterbende Seufzen der Generationen schwang im Hintergrund mit. Das Haus war zu einem Resonanzkörper geworden, in dem alle Töne, die es einst eingefangen hatte, nachklangen. Die Gründergeneration war noch immer gegenwärtig in den Spuren ihrer Erben. Aus dem Kreuzgewölbe im Erdgeschoss kam noch immer der Duft der Speisen, aus dem Hinterhaus drang wie ehedem der Arbeitsrhythmus an den Handpressen. Im Innenhof plätscherte in die Tonne das Regenwasser.

Seit mehr als einem Jahrhundert waren es die gleichen Wege gewesen, bei Leichenbegängnissen der Weg vom Haus zum Sankt Lorenzkirchhof, bei Hochzeiten und Taufen der Weg vom Geburtshaus zur Sankt Michaeliskirche. Der tägliche Weg zum oberen Röhrenkasten, um Wasser zu schöpfen, und der wöchentliche zum Markt vor dem Rathaus blieben unverändert. Jede Ecke, jeder rundgeschliffene Gassenstein, jedes ausgebrochene Stück Pflaster war ein Wegzeichen nach Hause. Noch jeder hatte ins Stammhaus zurückgefunden, auch in der dunkelsten Nacht. Die vierte Generation der Dynastie hatte noch im Stammhaus gelebt und gearbeitet, die fünfte ging dort nicht mehr ein und aus.

Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763), den Friedrich II. 1756 vom Zaun brach und mit großer Brutalität gegen die österreichische Kaiserin Maria Theresia und die mit ihr verbündeten Mächte führte, trat eine bedrohliche Lage ein. Die Hofer litten schwer an den Kriegsereignissen. Die Einquartierung preußischer Truppen 1757/58 und die Kämpfe bei und um Hof im Jahr 1759 beeinträchtigten Gewerbe und Handel. Es kam zu einem akuten Mangel an Druckaufträgen, und die Druckerei kam zeitweise zum Stillstand. Über Wochen und Monate gab es keine Arbeit und somit keine Einnahmen. Die Geldreserven schmolzen dahin, die Schuldenlast wuchs, die Haussteuer konnte nicht mehr erbracht werden. Die Druckerfamilien Hetschel und Mönnich, die seit den dreißiger Jahren das alte Mintzelsche Stammhaus gemeinsam bewohnt hatten, verloren die Hoffnung, die Kriegszeit noch länger überstehen zu können. Anfang der 1760er Jahre verschlechterten sich die Lebensverhältnisse dermaßen, dass der Verkauf unumgänglich schien. Johann Adam Mönnich und seine Frau Anna Maria, eine geborene Mintzel, die das Haus 1746 durch Kauf im Familienbesitz hatten halten können, trennten sich schweren Herzens von ihrem Eigentum und brachten in familiärer Solidarität das große Opfer. Sie veräußerten das alte Haus, das von 1642 bis 1761/62 im Eigentum der Druckerfamilie Mintzel und ihrer eingeheirateten Mitglieder gewesen war, an einen Hofer Zinngießer.

Für die fünfte und letzte Druckergeneration Mintzel war das Haus der Vorfahren schon Geschichte. Seit 1761/62 lebten die Druckerfamilien in gemieteten Räumen, Mietverhältnisse waren damals durchaus üblich. Die Brüder Johann Christian, Johann Georg und Johann Heinrich Mintzel, die später, in den sechziger und siebziger Jahren, alle drei bei ihrem Stiefgroßvater Hetschel das Druckerhandwerk erlernten, arbeiteten schon am neuen Standort der Druckerei, im Hofer Gymnasium. Der Verkauf des Stammhauses in der Ersten Gasse symbolisierte des Ende der vierten Generation und einer Druckerära, die schon damals 120 Jahre lang gewährt hatte.

Der Verkauf des Stammhauses und der Auszug aus der Ersten Gasse Nr. 78 hatten hohen symbolischen Charakter. Jetzt hatte die Buchdruckerfamilie bei fürstlichen Durchzügen keinen Fensterplatz mehr, jetzt saß sie nicht mehr ganz vorn, in der ersten Reihe sozusagen, nahe am Geschehen, nahe am Puls der Stadt. Jetzt erlebte sie drastisch eine gewisse Deklassierung, Gefühle des Niedergangs stellten sich ein. Der Nimbus der Buchdruckerkunst nahm ab, obschon die Buchdruckerei auch jetzt noch nicht zu den „rohen Handwerken“ zählte, sondern noch immer zu den „gebildeten“ gerechnet wurde. Ein Buchdruckergeselle und erst recht ein Buchdruckerherr hatte in der Regel in den Grundklassen eines Gymnasiums die Sprachen der Wissenschaften, Gelehrten und Theologen gelernt, Latein und Griechisch.

Das vormalige Stammhaus Mintzel mit seinem spitzen, einstmals zur Straße gelegenen Giebel und seiner Fachwerkfassade, brannte beim großen Brand am 23. September 1823 aus. Im Flammeninferno zerbarst das Gemäuer, nur das Gewölbe des Erdgeschosses überstand Hitze und Trümmerlast. Was an alten geschmiedeten Nägeln und Gitterstäben noch in den Wänden und Balken gesteckt hatte, war verglüht und verbogen und wurde mit dem Schutt weggetragen. Die Zeit des feuergefährdeten Schindeldaches war endgültig vorbei. Über dem alten Gewölbe wurde das neue Haus im klassischen Architekturstil errichtet und ein Schieferdach daraufgesetzt. Doch der Grundriss blieb und die alten Maße wurden beibehalten. So zeigt es uns heute sein neues Gesicht. Nicht einmal ein kleines Schild erinnert mehr daran, dass dieses Haus das Stammhaus der ältesten noch im Familienbesitz befindlichen Druckerei Deutschlands gewesen war.

Auf jeder meiner vielen Reisen nach Hof ging ich durch die Ludwigsstraße am vormaligen Druckhaus Mintzel vorbei, hinauf zum Oberen Torplatz, viele Male am Tag, viele Male in den Abendstunden, manchmal in tiefer Nacht. Immer blieb ich für eine Weile stehen, hielt inne und schaute von der Gegenseite der Straße hinüber auf das heutige Haus Nr. 85. Mir war, als sähe ich sie auf die Erste Gasse heraustreten, eine Generation nach der anderen. Manchmal fiel im einstmaligen Stammhaus nachts die Haustüre schwer ins Schloss, dann waren sie wieder verschwunden.

[Abbildung: Blick in den oberen Teil der Ludwigstraße auf die Häuser der vormaligen Ersten Gasse]

Erinnerungsorte und Echoräume

Am 12. Mai 2000 ziehe ich mich, um mich tief innerlich auf meinen Festvortrag vorzubereiten, in meine Erinnerungen zurück. Ich suche in Gedanken noch einmal die alten Plätze auf, gehe durch Straßen und Gassen, werfe einen Blick auf die Gebäude, gehe die Wege entlang, auf denen sie, deren Schaffen und Schicksale ich beschrieben habe, gegangen sind.

Ich gehe die Erste Gasse hinauf zum Oberen Torplatz, vorbei am ersten Hofer Stammhaus, ich schreite durch das imaginäre Stadttor. Mein Weg führt mich über das Vorwerk hinaus in die sogenannte Altstadt. Ich schlendere an den geduckten Fachwerkhäusern vorbei. Der Regen tropft von den Schindeldächern. Der Weg fällt sanft zum Lorenzsteig ab. Die Lorenzkirche steht gravitätisch auf der Erdplattform, die seit geologischen Vorzeiten in die Landschaft ragt. Auf dem aufgelassenen Friedhof, der heute als Parkanlage dient, sehe ich die Gräber liegen. Jedes ist mit einem schmiedeeisernen Grabkreuz bestückt, das mit barocker Ornamentik verziert ist. Ich lese den Namen „Johann Albrecht Mintzel, gewesener bestalter Hochfürstlich Buchdrucker alhier, gestorben am 15. Maij ANNO 1.6.5.3.“ Im Rauschen des Regens erklingt ein uraltes, fernes Lied, die Erde saugt die Myriaden von Tropfen ein, saugt sich voll und gibt sie an Rinnsale weiter, die das Rauschen mit ihrem Gluckern begleiten. Ich bin allein. Diejenigen, an die ich mich erinnere, werden zu lebenden Schatten. Aus den Gräbern kommen die Toten zu unserer Verabredung. Ich möchte noch viele Fragen an sie richten, sie haben mir noch viel zu sagen. In meiner Seele spüre ich ihr Dasein, ein Zeichen schicksalhafter Verkettung.

Ich öffne die schwere Holztür des Hauptportals der Lorenzkirche, gehe durch den Vorraum und betrete die Kirchenhalle. Nahe der Apsis, vorn an der linken Wand, nehme ich Platz – – -Stille. – – – Allein. – Keine menschliche Stimme im hohen Raum. – – – Stille. – Rückfluss der Zeit. Jetzt ist 1653, 1653 ist jetzt. – – -Stille. – – – Ich lausche. Bis Ende des 19. Jahrhunderts sind alle Drucker und Setzer, alle Prinzipale, Gehilfen und Lehrlinge durch dieses Hauptportal getreten, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Helle Vogelstimmen dringen herein, als kämen sie aus weiter Ferne – wie damals. Meisen turnen draußen im Geäst der Bäume, unverändert der Klang ihrer Rufe, als sei die Zeit stehen geblieben. So haben sie damals die Vögel gehört, so wie jetzt ihr Gezwitscher an mein Ohr dringt, jetzt 2000, jetzt 1650, jetzt 1733, oder jetzt, 1840.

Der Mittelgang läuft direkt auf den Altar zu, drei breite Stufen führen zu ihm hoch. Drei Stufen, die heilige Zahl Drei, die Trinität, die Dreiheit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Zwischen der untersten Stufe und den vordersten Sitzbänken stand immer der Sarg auf einer mit schwarzem Tuch verhangenen Totenbahre. Ich sehe sie in den vorderen Reihen sitzen, hingeduckt auf ihren Bänken, in dunkle Gewänder gehüllt, die Frauen und Mädchen mit Kopfputz, die Männer mit schulterlangen Haaren. Ich lausche in die Stille der Hallenkirche hinein und höre ihre Stimmen. Es gibt sie nicht mehr, sie werden nie wieder hier eintreten, nie wieder auf diesen Bänken sitzen. Ihre Stimmen sind für immer verklungen. Dennoch fühle ich ihre Gegenwart, Schatten werden zu Schemen, Schemen zu Personen. In der Stille des Raumes höre ich ihre Stimmen.

Das Tageslicht flutet durch die sechs hohen Seitenfenster in die Kirchenhalle. An der rechten Seitenwand des Kirchenschiffs, unten, zwischen dem zweiten und dritten und dem dritten und vierten Fenster betrachte ich zwei große Tafelbilder. Das eine stammt aus dem 17., das andere aus dem 18. Jahrhundert, das ältere wurde 1642 von einem alten Bekannten der Mintzelschen Buchdruckerei, von dem Hofer Maler, Holzschneider und Kupferstecher Tobias Wolfart gemalt. Das jüngere Gemälde, datiert auf das Jahr 1719, zeigt die alte Kirche in einem Bauzustand, der ihrer heutigen Gestalt ähnlich ist. Alle Drucker und Setzer der Hofer Mintzelschen Buchdruckerei sind an diesen Gedächtnistafeln vorbeigegangen und davor stehen geblieben, so wie ich heute. Ich kann nur erahnen, was dabei in ihren Köpfen vorgegangen sein mag.

Auf meinem Weg zum Hauptportal entdecke ich an der Wand einen kleinen, schmiedeeisernen Almosen-Kasten, der an einem massiven Brett befestigt ist. Der Kasten trägt Spuren früherer Aufbrüche. Die Ecken des Deckels sind leicht aufgeschlitzt. Auf dem moosgrünen Untergrund steht in roter und schwarzer Frakturschrift gemalt: „Hastu viel gieb reichlich, hastu / Wenig so gieb doch das wenige mitt / trewen hertzen denn du wirst sam /eln einen rechten lohn in der / noth“(Anno 1647). Diese Botschaft und ihr Appell haben bis heute nichts an Klarheit und Eindeutigkeit verloren. Sie alle haben, wenn sie ein Kind, einen Vater oder eine Mutter zu Grabe getragen haben, ihr Scherflein in den Almosen-Kasten eingeworfen: Johann Albrecht und Maria, Gottfried und Susanne, Christoph und Regina, und auch noch der letzte Drucker Mintzel, mein Ururgroßvater Johann Heinrich. Sie alle haben in dieser Kirche Platz genommen, sie alle sind hier aufgebahrt worden.

Ich habe sie hereingerufen in die Gegenwart, ich habe sie für einen kurzen Moment aus dem Dunkel der Vergangenheit und der Vergessenheit heraustreten lassen. Stets habe ich mich selbst als Glied einer genealogischen Kette gefühlt und begriffen. Wie steht es um Menschen, die keine Erinnerungsorte mehr besuchen können? Sie haben wahrscheinlich neue, sehr junge Plätze des Erinnerns. Erinnerungsorte bedeuten Vertrautheit, Heimat. Von jeher haben sich Menschen Erinnerungsorte geschaffen und an solchen Orten versammelt. Ich habe es immer als ein großes Geschenk empfunden, auf tatsächlichen und imaginären Reisen familiäre Erinnerungsorte besuchen zu können.

Der Untergang der Firma Mintzel-Druck und des Hofer Anzeigers

Kaum war die Großfeier des 375-Jahre-Jubiläums ausgeklungen, brach mit dem beginnenden 21. Jahrhundert eine allgemeine Medienkrise herein, die überregionale Zeitungen ebenso mit voller Wucht traf wie regionale Blätter. Das Zeitungssterben und der Untergang traditionsreicher Lokalblätter machten auch nicht vor der Stadt Hof Halt. Die „Frankenpost“ und ihre Kooperationspartner, darunter der „Hofer Anzeiger“, verloren an Abonnenten und Käufern und gerieten in eine prekäre Marktlage. Zugleich brachte eine allgemeine Krise in der Druckindustrie Druckereibetriebe in wirtschaftliche Bedrängnis. Die neuen Möglichkeiten der digitalen Informations- und Kommunikationstechnik machten traditionelle Produkte der Druckereibranche überflüssig. Die Firma „Mintzel-Druck“ geriet trotz großer Anstrengungen, mit den neuen Drucktechniken Schritt zu halten, in eine geschäftliche Lage, die das Überleben der Firma akut gefährdete. In dieser schwierigen Situation traf der letzte Inhaber aus der Linie Hoermann betriebswirtschaftliche Fehlentscheidungen, die letztendlich den Untergang der Firma herbeiführten (ausführlich A. Mintzel, 2011: Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie, Berlin, Band II, S. 660-680).

Tradition und Kontinuität, Gedeihen und Blütezeiten, hatten nicht nur im Ermessen und Wollen der Firmeninhaber und Familienmitglieder gelegen. Sie hatten sich nicht allein durch Fleiß, Tüchtigkeit und mit Durchhaltekraft erzwingen lassen. Günstige Umstände und glückliche Zufälle hatten wiederholt eine entscheidende Rolle gespielt. Die Vorstellung, wir hätten alles im Griff, wenn wir uns nur richtig entscheiden, erweist sich oft als trügerisch. Mehrmals hatte es in der Geschichte des Unternehmens Ereignisse und Zäsuren gegeben, die seine Existenz gefährdeten. Mit dem Zukauf der Selber Druckerei Münch hatte die Firma „Mintzel-Druck“ 2004 eine Überkapazität geschaffen, die sich wegen des anhaltenden Auftragsschwundes verhängnisvoll auswirkte. Mit dem Kauf der Selber Firma war zugleich eine überalterte Druckereibelegschaft übernommen worden. Das Medienhaus Mintzel-Münch konnte nicht mehr kostendeckend produzieren. Um aus den Engpässen zu gelangen und die wirtschaftliche Krise in der Druckindustrie zu überstehen, hätten maschinelle Druckkapazität abgebaut, Personal freigestellt und Kurzarbeit eingeführt werden müssen. Und nicht einmal solche drastischen Maßnahmen hätten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der Druckindustrie den Fortbestand garantiert. Die negativen Effekte der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise, die externen Faktoren also, und die der internen betriebswirtschaftlichen Fehlentscheidungen verstärkten sich wechselseitig. Auch mit einer Umstrukturierung zu einer Kommanditgesellschaft konnte die Firma nicht mehr gerettet werden. Der Letzte in der Reihe der Hofer Drucker und Verleger, die seit 1840 das dreiteilige Unternehmen (Druckerei, Zeitungsverlag und Hoermann-Verlag) geführt hatten, musste für das Medienhaus 2009 ein Insolvenzverfahren beantragen. Die Ära Hoermann ging am 1. Mai 2009 mit der Übergabe der Druckerei an einen Investor endgültig zu Ende. Doch auch der neue Inhaber der Firma konnte den Untergang der Druckerei, die er unter dem alten Firmennamen „Mintzel-Druck“ weiterführte, nicht mehr abwenden. Die Firma wurde ein zweites Mal insolvent und im Jahre 2013 aus den Hofer Gewerberegistern gestrichen.

Sinnfragen des Lebens und Forschens

Als ich nach meiner Pensionierung in den Jahren 2000 bis 2011 meine große zweibändige Firmengeschichte „Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie“ niederschrieb, hatte ich bis zum Abschluss noch gehofft, die Firma werde die Krisen der Printmedien und Druckereien überstehen. Am Ende wurde das Werk jedoch zu einer gewerbegeschichtlichen und kulturellen Gedenkschrift, in welcher ich detailliert die Geschichte der Firma und ihrer Persönlichkeiten von Beginn 1625 bis zum Untergang im Jahre 2013 beschrieb und die Ergebnisse meiner jahrzehntelangen Forschungen zusammenfasste. Allein schon diese veröffentlichten Forschungsergebnisse zum oberfränkischen Druckerei- und Verlagswesen und Pressegeschichte machten ein halbes Gelehrtenleben aus, ohne dass sie die Aufmerksamkeit fanden, die meine Schriften über Bayern und die CSU hervorgerufen hatten. Es war eine stille und in ihrer Reichweite im Wesentlichen auf Oberfranken beschränkte Forschung, abseits von Kernbereichen des Universitätsfaches Soziologie. Hatte ich eine rationale Entscheidung getroffen, als ich mich auch noch diesen Themen und Forschungsfeldern zuwandte?  Warum setzte ich die vielen Tausenden Arbeitsstunden nicht für andere, menschheitsgeschichtlich viel bedeutendere Fragestellungen ein? Für Fragen nach der Evolution in Natur und Kultur?

Ich habe mich tief in das kulturelle Gedächtnis der Stadt Hof eingeschrieben. Meine Eltern hatten mir die Vornamen des Firmengründers gegeben. Im Krieg hatte ich aus demselben Brunnen getrunken wie er Jahrhunderte zuvor. Mir war, als hätte mich sein Geist berührt und mir einen Auftrag erteilt. Ich glaube, diesen habe ich erfüllt.

[Abbildung: Ansicht von Speinshart, Kupferstich]

Zum Weiterlesen: A.Mintzel, 2011: Von der Schwarzen Kunst zur Druckindustrie: Die Buchdruckerei Mintzel und ihr Zeitungsverlag, 2 Bde.; A. Mintzel, 1984: Studien zur frühen Presse- und Verlagsgeschichte der Städe Hof und Bayreuth, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken, 64. Band, S. 197-286; A. Mintzel,1986: Bayreuther und Hofer Kleiverleger und ihre Verlagswerke, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken, 66, S. 77-189; A. Mintzel, 2000: Hofer Einblattdrucke und Flugschriften des 16. Und 17. Jahrhunderts. Eine Dokumentation von 29 Exemplaren. 43. Bericht, Hof. Nordoberfränkischer Verein für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e.V.; A. Mintzel: Die „Höfer literarische Zeitung“ von 1811/12 – Dokumentation zweier Funde, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken, Bd. 81. Historischer Verein für Oberfranken, S. 355-369.

37. Khao Lak. Ein Requiem in Bildern, 2005

Im Dienste des Erinnerns und der Lebenshilfe

Trotz der im Bildteil angestrebten Ikonografie der kollektiven Katastrophe sollte der Zyklus das persönliche Schicksal der vier Familienmitglieder festhalten. Ich wollte ein Dokument schaffen, das für immer an sie erinnert und zu einem Bestandteil familiengeschichtlicher Überlieferung wird. Ich wollte »dem Tod, der aus dem Meer kam« ein lebendiges Gedenken an die Vier abtrotzen. Im Herbst 2005 veröffentlichte ich meine Bilder zusammen mit einem dokumentarischen Text in meinem Katalog „Khao Lak. Ein Requiem in Bildern. Collagen, Handzeichnungen, Lithografien“ (ISBN 3-88267-074-6). Die Gesamtherstellung hatte in den Händen des Medienhauses Mintzel-Münch in Hof/Saale gelegen, der Hoermann-Verlag hatte den Druck finanziert. Noch im selben Jahr fanden zwei Ausstellungen statt, eine in der Universität Passau, eine in der Galerie an der Wolfach in Ortenburg/Niederbayern.
Die Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung am 5. Oktober 2005 im Foyer der Zentralbibliothek der Universität Passau hielt der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Kunsterziehung an der Universität Passau, Prof. Oswald Miedl. Seine Rede, die ich hier in Auszügen wiedergebe, ist zugleich ein Bericht über die künstlerische Seite meines Lebens.

Passauer Neue Presse, Nr. 231, 7. Oktober 2005, S. 24

Passauer Neue Presse, Nr. 228, 4. Oktober 2005, S. 31

Laudatio zu »Khao Lak: Ein Requiem in Bildern«
Von Prof. Oswald Miedl, Linz

»Der schreckliche Anlass für die Bilder dieser Ausstellung ist uns noch in Erinnerung oder wird jetzt wieder vehement ins Bewusstsein gerufen: Aufgrund eines gewaltigen Erdstoßes auf dem Meeresgrund vor Sumatra am 26. Dezember 2004 wurde eine verheerende Flutwelle ausgelöst, die binnen weniger Sekunden und Minuten zwischen zweihundert- und dreihunderttausend Menschen in den Tod riss. Wenngleich Alf Mintzel den ganz unmittelbaren, persönlichen Grund seiner Betroffenheit nur äußerst zurückhaltend deklariert (…), will ich ihn doch wenigstens kurz nennen (…). Unter den Tausenden von Urlaubern, die sich zu diesem Zeitpunkt in Südostasien aufhielten, befand sich auch eine vierköpfige Familie aus der engeren Mintzel-Verwandtschaft. Alle vier, die Eltern und beide Töchter im Alter von drei und fünf Jahren, wurden Opfer der Katastrophe. Nach ersten Meldungen und Lageberichten auch aus dem Ort Khao Lak in Thailand, wo sich die Familie aufgehalten hatte, folgten für die Verwandtschaft und Großfamilie Tage und Wochen bangen Wartens, der schrecklichen Ungewissheit und der zermürbenden Sorge, die sich schließlich zur Trostlosigkeit und tiefen Trauer ob der zunehmenden Gewissheit des Todes steigerte.
Dies wurde – vor allem beim Ehepaar Inge Lu und Alf Mintzel – von vielfältigen beklemmenden und nicht abzuschüttelnden Vorstellungen von den möglichen Umständen und Örtlichkeiten des Zu-Tode-Kommens begleitet. Selbstverständlich waren es auch die Fragen der eventuellen Verhinderung oder wenigstens Verminderung von Folgen bei einer derart brachialgewaltigen, elementaren Naturkatastrophe, die viele damals wie heute bewegten, im Besonderen natürlich die nahen Betroffenen. Es sind zum einen die Gedanken über leichtfertiges menschliches Agieren gegen die Natur – etwa des allzu dichten Bauens in unmittelbarer Küstennähe, das vielleicht auch wider alle bessere Einsicht und langjähriger Erfahrung erfolgte. Zum anderen aber das Versäumnis der Einrichtung eines Seebeben-Frühwarnsystems. Das eigentliche Skandalon ist es, dass dies technisch möglich gewesen wäre, ja ist, den armen Ländern in den gefährdeten Regionen aber das Geld mangelt, um ein solches Warnsystem zu installieren, während die reichen Staaten gigantische Summen in ehrgeizige technische Prestige-Projekte oder auch in den Krieg investieren. Das ist immerhin die nicht geringe menschliche Seite bei diesem Naturereignis.
Alf Mintzel begann sich bald gedanklich damit zu befassen, wie er sich mit den ihn bewegenden und nicht loslassenden Schrecknissen bildhaft gestalterisch beschäftigen könne. Es fiel ihm im Museum Moderner Kunst Passau eine Postkarte des japanischen Künstlers Hokusai auf – natürlich inhaltlich sensibilisiert –, auf der eine Darstellung von Booten im Wellental einer riesigen Woge war. Daraufhin begann eine intensive, sich über Monate hin erstreckende Suche und Beschäftigung mit der Ikonographie des Katastrophischen, eine Befragung der Kunst nach den Darstellungsformen des Schrecklichen: Bilder der Sintflut, dieser Katastrophe im mythisch-biblischer Vorzeit fielen ein, ohne dass jedoch deren theologisch-moralische Interpretationen als Strafgericht Gottes gedanklich anwendbar, akzeptabel und nachvollziehbar erschien. Aber auch Bilder des Schrecklichen, wie es die Menschen einander antun in Gewalthandlungen, Krieg und Massenvernichtung. Das ›Homo-homini-lupus‹-Thema bei Goya, Dix, Beckmann, Picasso (Guernica) geriet in das Gedanken- und Blickfeld. Auch Bilder der christlichen Ikonographie: der Gekreuzigte, der ins Grab gelegte Christus tauchten auf.
Gleichzeitig und ganz unmittelbar vorhanden waren aber vor allem auch die massenmedialen Bilder von den grauenhaften Ereignissen, die bedrängten und verstörten, aufwühlten und immer wieder blankes Entsetzen hervorriefen. Mintzel griff – wahrscheinlich intuitiv – zu den Bildquellen der Printmedien, um seinem schon bald nach der Katastrophe erwachten inneren Anliegen nach deren Umsetzung in Bildern nachzukommen und seinem inneren Drängen zu folgen. Mintzel hat im Katalog, der zu dieser Ausstellung erschienen ist, die Entwicklung des Geschehens, die Gefühle und Empfindungen, die ihn und seine Frau bewegten aber auch die vor- und begleitenden Überlegungen des Arbeitsprozesse, die Gespräche und den gepflegten Gedankenaustausch sehr genau berichtet, analysiert und reflektiert. Aber über die Begründung der Wahl seiner vorrangig verwendeten Arbeitstechnik schreibt er seltsamerweise – oder charakteristischerweise? – nichts. Ich glaube, dass die wichtigsten gestalterischen Entscheidungen intuitiv erfolgten, bei aller sonst hoch vorhandenen Reflexivität des geschulten Wissenschaftlers
Und – so meine ich – die massenmedialen Bilder, ihr Bedrängendes, ihre Gewalt, musste einfach bewältigt werden, ihre inhaltliche Gewalt in den Griff genommen werden. Da Vernichtung Auslöschung, eventuelle Übermalung (Arnulf Rainer) keine akzeptable und konstruktive Bewältigung verhieß, mussten sie bearbeitet, verändert, verwandelt werden. Ich sehe diesen Prozess des Sich-Abarbeitens an den Bildern der Zerstörung und des Grauens als einen notwendigen kathartischen Vorgang. Am 15. Januar 2005 hatte es einen Gedenkgottesdienst für die Familie gegeben. Alf Mintzel schreibt, dass dieser ›rituelle Abschied (…) einen Moment lang sogar so etwas wie eine innere Entlastung von dem Ungeheuerlichen brachte‹. Eine ähnliche Bedeutung und Funktion dürfte meiner Einschätzung nach auch der gestalterischen Tätigkeit zugekommen sein, deren Ergebnis Mintzel als Blätter ›im Dienste des Erinnerns‹ bezeichnet.
Das Ausgangsmaterial wurde in mehrfacherweise verändert und verwandelt, wobei in zunehmendem Maße auch die vorhin genannten Assoziationen zur Kunst Raum gewannen. Dem Bildmaterial aus den Printmedien wurde die Farbe abstrahiert – ›abgezogen‹. Sie erschien unangemessen für das Thema. Alle Bilder sind also auf das Schwarz-Weiß reduziert. Es wurden auch Vergrößerungen und Verkleinerungen vorgenommen, die für den Bildschnitt, die Komposition und Kombination ganz wesentlich sind. Aber stets ist bei den collagierten Bildteilen bewusst die Herkunft erkennbar belassen. Trotz der meist starken Verfremdungsprozesse war Mintzel somit ganz offensichtlich das Überzeugungspotenzial, über das fotografische Bilder aufgrund ihres Authentizitätspotenzial verfügen, sehr wichtig. Fotografische Bilder erheben den Anspruch und behaupten, die Wahrheit unverfälscht zu berichten. Und wir glauben ihnen das selbst heute im Zeitalter der digital unendlich veränderbaren und manipulierbaren Fotografie naiver Weise immer noch. Und das ist selbst hier, nach diesen vehementen Eingriffen noch wirksam und daher benutzbar für die Eindringlichkeit der Bildaussagen.
Die Collagen wurden aber auch mit zusätzlichen freien graphisch-zeichnerischen Elementen weitergeführt, in sehr unterschiedlichem Ausmaße zwar, aber alle gezeigten Bilder weisen prinzipiell handgezeichnete freie Ergänzungen auf, die zum Teil auch völlig dominieren können und die Collage nur mehr als kleinen Teil des Bildganzen in Erscheinung treten lassen, wie etwa beim Blatt ›Todeswelle‹. (Es sind übrigens verschiedene graphische Materialien, mit denen – teils auch kombinierte – die fotografischen Collage-Elemente überzeichnet oder/und weitergezeichnet wurden, wie Bleistift Ölkreide Pastell, Kohle). Bei einem bzw. zwei Bildern hat sich Mintzel nicht mehr massenmedial übermittelter Bildvorlagen, sondern eines anderen Ausgangsmaterials bedient. Es sind die Bilder mit den Titeln ›Verwandlung‹ und ›Ins Dunkel der Tiefe sinkend‹. (…) Ähnliches gilt auch für das letzte Bild der Serie mit dem Titel ›Verwandlung‹. Es ist – so wie die beiden Nachbarblätter – eine Lithographie. Alf Mintzel vertraut der Ausdruckskraft der (abgedruckten) Handzeichnung vom Stein. Mir scheint, dass, je mehr die menschliche Hand also die Handzeichnung dominiert, die Aussagen desto versöhnlicher sind. Wahrscheinlich weil da das Dargestellte durchs ›Innere‹ des Menschen gegangen ist, verinnerlicht wurde, was ja auch mit dem hier so zentralen Anliegen der Erinnerung zusammengeht.
Ein wenig ist schon angeklungen, dass die Blätter zwar nicht der zeitlichen Entstehung nach, aber doch so angeordnet sind – auch im Katalog, dass sie eine Aart Bildergeschichte darstellen. Da scheint sich die Denkweise des Wissenschaftlers Albrecht Mintzel wieder durchzusetzen, der sowohl historisch als auch sprachlich – und daher auch bildsprachlich – in Folgerungen und sequenziellen Ordnungen denkt und formuliert. Ich habe angesichts des ungeheuren Ernstes des Themas der Ausstellung lange überlegt und gezögert, ob ich überhaupt etwas zum Formalen, zur Bildgestaltung sagen solle. Es erschien mir nicht angemessen, mich auf Formalia angesichts der Gravitas des Inhalts einzulassen oder gar zurückzuziehen. Da aber Alf Mintzel – wie den Gesprächen mit ihm und den schriftlichen Aussagen im Katalog über die Arbeiten zu entnehme – immer wieder selbst um die Frage gerungen hat, wie man denn – wenn überhaupt – dieses Schreckliche und Grauenvolle darstellen könne, also die bildhafte Organisation betreffend, -möchte ich doch zum Schluss noch eine Beobachtung kurz ansprechen.
Schreckliches, Desaströses, Chaotisches nicht oder kaum zu Bewältigendes lässt sich nach Regeln der Wahrnehmungs- und Gestaltungslehre eher durch Verzicht auf formale Gesetzmäßigkeit und Ordnung, also durch unerträgliche Unüberschaubarkeit von Sinneseindrücken, durch deren riesige Komplexität, Heterogenität, Widersprüchlichkeit und Unentwirrbarkeit ausdrücken und veranschaulichen. Aber kaum etwas von diesen Strukturen des Chaotisch-Komplexen ist in den Blättern dieser Ausstellung. Vielmehr herrscht – vor allem bei den Collagen – das formale Prinzip der Wiederholung, der Sequenz. Besonders eindringlich ist dies in den Blättern ›Totenreigen‹, oder ›Partitur des Todes‹, das auch den Titel ›Todesfuge‹ trägt. Die Wiederholung ist auch durch die relativ strenge Auswahl des letztlich verwendeten Bildmaterials gegeben, mit einigen ›Katastrophen-Ikonen‹ (Alf Mintzel), die als besonders prägnant und eindrucksvoll immer wieder auftauchen. Normalerweise führt das formale Prinzip der Wiederholung, der Wiederkehr durch die sich dadurch ergebenden Redundanz zu Sicherheit, Beruhigung. Hier jedoch, bei diesen Blättern, entsteht, sowohl bei vielen Einzelblättern wie beim ganzen Zyklus, der Charakter und Ausdruck des Unausweichlichen, Unentrinnbaren, des geradezu pochend und unaufhörlich hämmernden Schicksalshaften. Und sie enthalten trotz der Unfasslichkeit des Geschehens. dennoch den Ausdruck des Fasslichen durch Zeit und Erinnerung. Durch diese erzielte gestalterische Intensität erhalten sie letztlich die Gültigkeit, Dauerhaftigkeit und Überzeugungskraft der Bewältigung des schrecklichen Inhalts.«

Zur medialen Rezeption des Khao–Lak-Zyklus

Der Zyklus fand hohe mediale Aufmerksamkeit, Bilder daraus wurden in mehreren Tageszeitungen (zum Beispiel in der Passauer Neue Presse und in der Main-Post) sowie in anderen Publikationsorganen abgedruckt. Persönlich von der Katastrophe Betroffene und Helfer würdigten meinen Katalog und die darin enthaltene Dokumentation unter kunsttherapeutischen Gesichtspunkten. Sie sahen darin ein gelungenes Beispiel, wie eine von Naturgewalten herbeigeführte Familienkatstrophe und überhaupt großes Leid bewältigt werden kann und baten darum, Bilder kunsttherapeutisch nutzen zu dürfen. Ich bekam wohlgemeinte Briefe von überall her, in denen mir seelischer und geistiger Beistand angeboten wurde. Ich hatte in Presseinterviews mit beabsichtigter Spitze bekannt, dass mir angesichts der unzähligen unschuldigen Opfer der Glaube an Gott abhandengekommen sei (was schon Jahrzehnte früher der Fall war). Etliche Briefschreiber, darunter auch Theologen, versuchten mich zu trösten und zum Glauben zurückzuführen. Und unter dem Aspekt theologischer Lebenshilfe fanden mein Khao Lak-Zyklus und meine Tagebuch-Notizen Eingang in das Lehrbuch ›Religion vernetzt 10. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Gymnasien‹ (Kösel Schulbuch, ISBN 978306065-4543), das in vierter Auflage vorliegt. Darin wird auf die Wiedergabe des Kataloges auf meiner Homepage hingewiesen und die Frage gestellt: »Der Künstler Alf Mintzel hat in seinem Khao-Lak-Zyklus versucht, den Verlust mehrerer Angehörigen durch den Tsunami von 2004 zu verarbeiten. Warum hat er diese Form gewählt?«
Am zehnten Jahrestag der Tsunami-Katstrophe wiederholten sich die mediale Aufmerksamkeit und die hohe Anteilnahme der Bevölkerung an dem Gedenken an die Opfer. Abermals wurde von der Presse darüber berichtet, wie die junge Familie Mintzel, Christian, Nicola, Lina und Jule, umkamen und wie ich mit meinem Khao Lak-Zyklus der Familie, anderen Hinterbliebenen und nicht zuletzt mir selbst half, diese Katastrophe zu verkraften. Im Lehrbuch für die katholische Religionslehre an Gymnasien werden unter dem Motto „Trauer in Solidarität bewältigen“ den Schülern Behauptungen nahe gelegt (S. 43), die der Bewältigung von Leid dienen sollen:

– »Das Leid bleibt auch für einen gläubigen Menschen unbegreiflich und ohne Sinn.«
– »Gott ist aber ein Gegenüber, dem man auch Unverständnis und Klagen entgegenbringen kann.«

Theologisches Gestammel, das beliebig ausgelegt werden kann, und die Vorstellung eines personalen Gottes, der sich geduldig und verständnisvoll menschliche Klagen und Zweifel anhört, wobei ungewiss bleibt, ob er sich der leidenden Kreatur erbarmt. Für manche mag solches religiöse Geraune einen hilfreichen Placebo-Effekt haben. Auch die positive Illusion eines Placebo-Effekts, Religion, gibt Kraft, das Leben zu meistern und Krisen zu überstehen. Ich brauche sie nicht.

Was bedrückende und niederschmetternde Ereignisse und Lebenskrisen zu überstehen und zu bewältigen hilft, sind Rituale, gleich welchen religiösen Gehalts und  welcher Ausformung.  Sie geben Halt. Ich verkenne  trotz meiner eigenen religiösen Abstinenz nicht die möglichen positiven Funktionen von Religion. Religionen sind ein evolutionäres Phänomen zur Stärkung kollektiven Überlebens, worin auch ihr zerstörerisches Gewaltpotenzial liegt, Andersgläubige und Ungläubige zu bekämpfen.

Aus dem Khao Lak – Zyklus

Alf Mintzel, Verwandlung, 14. 3. 2005, Lithographie, Collage, 37,5 cm x 57,5 cm

Alf Mintzel, Verwandlung, 17. 3. 2005, Lithographie, schwarze Kreide, 31,5 cm x 41,4 cm

Alf Mintzel, Zu spät erkannte Gefahr, 29. 2./3. 7. 2005, Collage überzeichnet mit Bleistift, Kohle, Graphit, 39,5 cm x 59 cm

Alf Mintzel beim Lithographieren, Druckwerkstatt Kulturmodell Passau, März 2005
Photo: Frank Weichelt, Passau

36. Der Tod, der aus dem Meer kam – Die Monsterwelle 2004

   

In memoriam

Johann Christian Mintzel
20.09.1966 – 26.12.2004

Nicola Barbara Mintzel, geb. Friedrich
27.01.1969 – 26.12.2004

Lina Marie Johanna Mintzel
30.01.1999 – 26.12.2004

Jule Lou Johanna Mintzel
14.12.2001 – 26.12.2004

 

Tsunami, 26.12.2004

Der Schock traf uns tief ins Gemüt. Gefühle überwältigten uns und ließen uns erstarren. Als wir die BILD-Zeitung vom 31.12.2004 aufschlugen, fanden wir die vier Porträtfotos der vermissten „Familie M“ abgedruckt. Entsetzlich! Sie waren es: Lina, Jule, Nicola und Christian. Neben jedem Bild ein paar Lebensdaten und ein kurzer Bericht über ihre letzten Tage in Thailand. Daneben ein schauderhaftes Foto mit Begleittext: „Der Blick ins Grauen! Die Deutschen Carsten S. und Hans S. suchen in Särgen nach ihren Freunden aus Deutschland – nach dem Ehepaar M. und ihren Töchtern“. Aus den offenen Särgen ragen Arme Getöteter, hochgestreckt, als riefen sie noch im Tod nach Hilfe, mit klaffenden Wunden, von der Verwesung dunkel angelaufen. Die beiden Freunde tragen Gesichtsmasken. Am Morgen des 26. Dezember 2004 riss ein Tsunami 230.000 Menschen in den Tod. Die genaue Zahl wird sich nie ermitteln lassen, wahrscheinlich verloren noch viel mehr ihr Leben. Unter den Toten waren mein Neffe Christian Mintzel, seine Frau Nicola und deren kleine Töchter Lina und Jule, Kinder und Kindeskinder meines Bruders Kurt. Lina wäre vier Wochen später sechs, Jule war gerade drei Jahre alt geworden.

Der geophysikalische Bericht

„Sunda-Graben, 3,316 Grad Nord, 95,854 Grad Ost, 7:58:53 Ortszeit: Jahrzehnte lang haben sich in der Erdkruste, tief unter dem Indischen Ozean vor der Westküste Sumatras, ungeheure tektonische Spannungen aufgebaut, die sich um 1.58.53 Uhr mitteleuropäischer Zeit in einem der gewaltigsten Erdbeben aller Zeiten entladen.
Das Beben hat die Stärke 9,0 auf der Richter-Skala und ist damit das viertstärkste jemals gemessene und das stärkste der letzten 40 Jahre. Die dabei in wenigen Sekunden freigesetzte Energie entspricht der Sprengkraft von mehr als 32.000 Hiroshima-Bomben.
Vor der Westküste Thailands, um 10:00 Uhr Ortszeit, 2 Stunden und 2 Minuten nach dem Beben: Manche Touristen schlafen noch in ihren Bungalows am Meer, die am Strand einiger Luxusressorts sogar auf Stelzen im Wasser errichtet sind. Andere sitzen beim Frühstück. Viele aber sind schon aufgestanden und vergnügen sich im Meer. Manche sehen da bereits den Tsunami: eine blauschwarze Wand am Horizont. Doch es dauert mehrere Sekunden, bis die Ersten begreifen, dass dort eine Wasserwand auf sie zukommt. Und dass sie rasend schnell ist. Da ist es für viele schon zu spät. Die Naturgewalten folgen einer eigenen Logik. Das Wasser türmt sich zu einem Hügel auf, saust mit ungeheurer Wucht auf den Strand zu und reißt dort alles mit sich. Schon die erste von zwei Wellen, die je nach Küstenabschnitt 6,5 bis zehn Meter hoch sind, wirft die meisten der Fliehenden um und spült sie tief ins Land hinein. Die wirbelnden Wasser treffen die Menschen gänzlich unvorbereitet. Die Riesenwelle schwappte vom Berg zurück und überrollt die überraschten Opfer unausweichlich ein zweites Mal, sie nimmt Menschen und Trümmer mit. Für tausende Touristen und Einheimische ist die Frage von Leben oder Tod in diesen Minuten eine des Glücks.“
Knapper und packender als es GEO EPOCHE und die Süddeutsche Zeitung berichtet haben, kann ich nicht zusammenfassen, was am Morgen des 26. Dezember 2004 dort geschah.
(GEO EPOCHE Nr. 16, Februar 2005: Tsunami. Der Tod aus dem Meer, S. 48ff)

„Die tiefen Spuren der großen Welle sind unübersehbar. Je flacher das Gelände, desto tiefer drangen die Flutwellen bis auf einen Kilometer ins Landesinnere ein. Die Gewalt der Wasserströme muss so heftig gewesen sein, dass sich das Meer im Landesinneren geradezu eigene Flussläufe gebahnt, Brücken abgerissen, Straßen zerstört und künstliche Salzwasserseen hinterlassen hat. Dort aber, wo sich nicht weit vom Meer entfernt die Berge auftürmen, hatten die exklusiven Ressorts gestanden, die es bekanntlich am härtesten traf. Der gewaltige Tsunami-Effekt wirkte dort doppelt, weil die Hotels ganz nahe ans Wasser gebaut waren, was natürlich eine verheerende Wirkung zeigt. Die Chance, diesen Naturgewalten zu entrinnen, war gering. Der Strand von Khao Lak war eine geologische Falle.“
Süddeutsche Zeitung Nr. 152 vom 05.07.2005, S. 38).

Notizen & Skizzen aus meinem Tagebuch des Grauens

28. Dezember 2004
Wir sind in größter Sorge. Seit dem Ereignis ist der Kontakt zu Christian und seiner Familie abgebrochen. Wir haben seit drei Tagen keine Nachricht. Wir verfolgen die Katastrophenmeldungen im Fernsehen und am Rundfunk und warten höchst besorgt auf eine Nachricht. Christian ist ein Computerfreak, der sich bestens mit der neuesten Kommunikationstechnik auskennt. Wir wundern uns, dass er noch keine Gelegenheit nutzen konnte, ein Lebenszeichen nach Hause zu senden. Wahrscheinlich, so nehmen wir an, sind seine und andere Kommunikationsmittel von Tsunami weggespült worden. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Die Massenmedien melden zur Stunde, dass mit weit mehr als 40.000 Toten gerechnet werden müsse, darunter seien auch viele Touristen. Die Ungewissheit brachte uns in der letzten Nacht um den Schlaf.

29. Dezember 2004
Das Fernsehen übertrug von 14:00-14:15 Uhr eine Stellungnahme des Bundeskanzlers zur Katastrophe. Gerhard Schröder sprach von rund 1.000 „vermissten“ Deutschen und fügte hinzu, dass wohl die meisten davon nicht mehr am Leben seien. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe hat er bundesweite Trauerbeflaggung angeordnet. Wir müssen angesichts der Meldungen davon ausgehen, dass Christian, Nicola, Lina und Jule umgekommen sind. Wir diskutieren allerdings auch andere Möglichkeiten: Vielleicht hat ein Elternteil überlebt, vielleicht hat durch einen glücklichen Zufall eines der beiden Kinder überlebt. Schwer verletzt liegen sie in Krankenhäusern und können sich vielleicht noch nicht melden. Ein Kind hat überlebt und kann nicht sagen, woher es stammt. Vielleicht ist ein lebend angeschwemmtes Kind von irgendwelchen Leuten aufgenommen worden. Wir durchleben eine entsetzliche Zeit der Ungewissheit, wir sind bedrückt und trauern um die Vier.

29. Dezember 2004
3,5 Tage danach. Kein Lebenszeichen. Allerletzte Hoffnung: Eltern oder ein Elternteil, Kinder oder auch nur ein Kind könnten durch irgendwelche glücklichen Umstände und Fügungen überlebt haben und verhindert sein, Kontakt aufzunehmen.

30. Dezember 2004
Neue Schreckensbilder und schlimme Berichte aus den Katastrophengebieten. Von Christian und seiner Familie kein Lebenszeichen. Die Zahl der erfassten Toten steigt stündlich, insgesamt sollen über 100.000 Menschen ums Leben gekommen sein. In Khao Lak sollen allein schon 1.300 Skandinavier umgekommen sein. Die Zahl der vermissten Deutschen liegt über der 1.000er Grenze. Noch immer werden Leichen ans Land gespült, viele wird das Meer für immer verschlungen haben. Zwar werden die Vermissten- und Totenlisten nun präziser geführt und veröffentlicht, aber noch immer sind nicht alle erfasst. Die Identifizierung der Leichen wird immer schwieriger, die Rückführung nach Deutschland immer unwahrscheinlicher. Es fehlen Kühlhäuser. Wir sind tief schockiert und haben alle Hoffnungen aufgegeben, Christian, Nicola, Lina und Jule wiederzusehen. Was hat sich in den letzten Minuten ihres Lebens abgespielt? Unter welchen dramatischen Umständen sind die beiden kleinen Mädchen umgekommen? Die Wohnanlage, die sie gemietet hatten, ist komplett weggespült, dort ist nichts mehr zu finden. Ein schreckliches Jahresende. Eine Familienkatastrophe. Eine unerträgliche Situation.


Ende Dezember 2004, Khao Lak: Der Blick ins Grauen. Die Deutschen Carsten S. und Hans S. suchen in Särgen nach ihren Freunden aus Deutschland – nach dem Ehepaar M. und seinen Töchtern.
BILD, Bundesausgabe, 31. Dezember 2004, S. 2

Das Ehepaar Johann Christian und Nicola Barbara Mintzel mit seinen Töchtern Lina Marie Johanna und Jule Lou Johanna
BILD, Bundesausgabe, 31. Dezember 2004, S. 2 (umgestellt)

31. Dezember 2004
Zwei Freunde der Familie flogen am Jahresende 2004 nach Phuket und suchten in Khao Lak sämtliche Krankenhäuser und Sammelstellen ab. Auf dem großen Sammelplatz für geborgene Leichen glaubten sie den Leichnam von Jule gefunden zu haben. Aber dazu muss erst eine DNA–Analyse abgewartet werden. Für uns alle ist die Ortlosigkeit des Todes und die völlige Ungewissheit, ob ihre Leichen je gefunden und identifiziert werden, schwer zu ertragen. Die beiden Freunde, die dorthin [nach Phuket] geflogen waren, haben ihre Suchaktion abgebrochen, weil jedes weitere Suchen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Ergebnis geblieben wäre. Die gesammelten Leichen sind inzwischen in einen Zustand übergegangen, der kaum mehr eine [direkte] Identifizierung ermöglicht. Die Freunde werden morgen in Deutschland eintreffen.
Sich am Silvesterabend „Alles Gute“ zu wünschen, wird angesichts dieses Leides und dieser Trauer zu einer abgedroschenen, entsetzlich unsensiblen Floskel. Eine stille Anteilnahme ist wohl das Beste, was wir vermitteln können. Der Schock sitzt tief, wir alle sind in ein Verhängnis hineingerissen worden. Ich fühle mich elend und gelähmt. Ich habe Mühe, die Fassung zu bewahren. Psychologen und Therapeuten empfehlen auch den traumatisierten Angehörigen, die zu Hause diese Berichte am Bildschirm verfolgen, sich nicht dem Schrecken der Berichterstattung auszusetzen, sondern das Fernsehgerät zwei, drei Tage abzuschalten. Auch die furchtbaren Erlebnisse am Bildschirm können psychisch krankmachen.
Heute Morgen ging durch das Fernsehen, dass die Identifizierung der Toten noch sechs Monate dauern kann. Damit ist eine weitere Leidenszeit gegeben, ein ritueller Abschied von den Toten ist erst nach ihrer Identifizierung möglich. Uns stehen schwere Wochen bevor.

BILD, Bundesausgabe, 3. Januar 2005, S.3

1. Januar 2005
Genau eine Woche ist es nun her, dass die Katastrophe hereinbrach. Vorgestern war in der Ausgabe der BILD-Zeitung vom 31. Dezember unsere Familie, Christian, Nicola, Lina und Jule mit Porträtfotos aus ihrer allerletzten Lebenszeit abgebildet. Diese Aufnahmen haben uns erschüttert, vor allem die hübschen Gesichter der kleinen Mädchen. Durch diese sehr schönen Bilder waren sie plötzlich ganz nahe, als stünden sie vor uns und würden reden. Ihre Gesichter sind so schön geformt, so hell im Blick, so zart im Ausdruck, so zugewandt und neugierig. Diese Bilder länger zu betrachten war uns unmöglich, wir mussten die Zeitung wieder weglegen. Es wäre wohl besser, wir würden die Sender abschalten und die Zeitungslektüre beenden, um eine Stille zu schaffen. Ich will ihr Schicksal erzählen und die Toten damit in Erinnerung halten.

5. Januar 2005
An meinen Bruder Kurt und seine Frau: Uns helfen im Augenblick keine tröstenden Worte, kein Trost kann die tiefe Trauer und den Verlust hinwegreden. Wir haben schlaflose Nächte. Schreckensbilder stehen vor den Augen. Was uns alle tief bedrückt und bewegt, ist die grauenhafte „Ortlosigkeit“ des Todes. Es gibt keinen Ort an dem ein Ritual des Abschieds stattfinden könnte. Wir müssen uns erst einen Erinnerungsort schaffen, um diese Leere etwas füllen zu können und eine innere Begegnung zu ermöglichen. Gerade spielen Carlotta und Mia [unsere Enkelkinder, sechs und vier Jahre alt] „Flut und Überschwemmung“, die Krankenschwester ist umgekommen. Auch sie müssen die Berichte und Bilder verarbeiten. Wir sehen zu und schweigen.

6. Januar 2005
17:55 Uhr. Die letzte Meldung vom Tag: Noch 751 Deutsche werden vermisst, doch wird immer noch von einer Zahl über 1.000 ausgegangen. Der Tsunami hat Christian, Nicola, Lina und Jule verschlungen, zerschmettert, ins Meer hinausgespült oder irgendwo auf dem Land ums Leben gebracht. Sind sie gefunden worden? Aus Thailand wird gemeldet, etwa 600 Flutopfer, darunter 300 europäische Touristen, seien nördlich von Khao Lak in einem Massengrab bestattet worden. Den Toten aus der Region Khao Lak seien nach der Entnahme von genetischem Material im Yan-Yao-Tempel Micro-Chips eingesetzt worden, um sie später exhumieren und identifizieren zu können. Es wird noch viele Monate dauern, bis wir Gewissheit haben, ob Christian, Nicola, Lina und Jule identifiziert werden konnten.

12. Januar 2005
Der von der Familie gemietete Bungalow im Green Beach Village Resort stand ganz nahe am Meer und wurde von der Monsterwelle platt gemacht. Ich hatte mit vorgenommen, mir über die Situation vor Ort von den Freunden berichten zu lassen. H. erzählte von der Lage und Beschaffenheit des gemieteten Bungalows und schilderte dessen Leichtbau: Ein Holzboden, ein paar tragende große Holzbalken, Dachbalken, Blechdach-Abdeckung. Das Haus war nur lose mit dem Untergrund verbunden, nur mit ein paar Balken auf dem Grund befestigt. Die zwölf Meter hohe Welle erfasste den Bungalow, riss ihn wie eine Streichholzschachtel vom Boden weg, kippte ihn um, drückte ihn zusammen und zerquetschte die Familie. Dort war nichts mehr zu finden. Am 26. Dezember um kurz nach zehn Uhr morgens wurde Khao Lak ausgelöscht.

14. Januar 2005
Die Cassini-Huygens-Mission scheint geglückt zu sein. Huygens, die Landesonde, ist pünktlich auf dem Saturnmond Titan gelandet und sendet. Menschlicher Technik gelingt es heute, nach einer siebenjährigen Weltraumreise eine Sonde auf dem Saturnmond Titan abzusetzen. Der Mensch hat es aber versäumt, im Indischen Ozean ein Seebeben-Frühwarnsystem zu installieren. Dieses Versäumnis ist das eigentlich Skandalöse der Naturkatastrophe im Golf von Bengalen. Ein Frühwarnsystem kann zwar nicht in jedem Fall Menschenleben retten, aber es hätte am 26. Dezember 2004 die Zahl der Toten sehr viel niedriger halten können, Vielleicht wären Christian, Nicola, Lina und Jule noch am Leben.

15. Januar 2005
Gedenkgottesdienst für Nicola, Christian, Lina und Jule in Mönchengladbach.
Eine Freundin der Vier liest ein Kindertotenlied von Friedrich Rückert vor:

Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen,
bald werden sie wieder nach Haus gelangen.
Der Tag ist schön, o sei nicht bang,
sie machen nur einen weitren Gang.
Ja wohl, sie sind nur ausgegangen,
und werden jetzt nach Haus gelangen.
O sei nicht bang, der Tag ist schön,
sie machen den Gang zu jenen Höh´n.

Sie sind uns nur vorausgegangen
und werden nicht hier nach Haus verlangen.
Wir holen sie ein auf jenen Höh´n
im Sonnenschein, der Tag ist schön.

Pastorin Beuschel:
„Wir haben nicht nur Erinnerungen an die lieben Mintzels, sondern sie haben uns auch etwas zurückgelassen: Nicola liebte es Muscheln zu sammeln. Diese Muscheln haben sie 2001 in Thailand gesammelt und den weiten Weg mit nach Hause gebracht. Auch Lina hat sich die Freude gemacht Muscheln zu sammeln. (…) Wir möchten diese Muscheln jetzt als Erinnerung weitergeben.“

16. Januar 2005
Eine Naturkatastrophe ereignet sich, bricht über den Menschen herein, unvermutet, plötzlich, unberechenbar, furchtbar in ihren Folgen. Ein Seebeben und der ihm folgende Tsunami sind geophysikalische Ereignisse, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Schuld und Sühne, jenseits von Liebe und Hass. Sie sind etwas Naturgewaltiges, das Menschen überwältigt und in den Tod reißt. Es dreht sich um keine Tragödien, es gibt keinen Helden, es spielen sich aber dramatische Vorgänge ab. In den Medien wird die Flutwelle, der Tsunami, dämonisiert: „Monsterwelle“, „Killerwelle“, „Todeswelle“. Fragen nach der Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und insbesondere nach der Allmächtigkeit Gottes werden aufgeworfen. Gott träfe keine Schuld. Der Allmächtige habe sich selbst seiner Allmächtigkeit begeben, indem er die Krönung seiner Schöpfung, den Menschen, in die Selbstverantwortung und Freiheit entlassen habe. Gegen Naturkatstrophen müsse der Mensch den ihm verliehenen Verstand einsetzen, also zum Beispiel ein Frühwarnsystem installieren. Gott wird exkulpiert, Gott habe die von ihm erschaffenen Welt zu ihrer Entwicklung (Evolution) freigegeben. Alles mehr als unbefriedigende Antworten der Theologie.

17. Januar 2005
Das Unfassbare muss erst in seiner Absolutheit akzeptiert werden, bevor sich die Gedankenwelt wieder aufhellen kann. Noch immer sehe ich die Wasserwand, die zwölf Meter hohe „Monsterwelle“ auf Christian und Nicola und auf Lina und Jule herunterbrechen, noch immer sehe ich sie im Wasser treiben. Es müssen schreckliche letzte Minuten gewesen sein. Ich sehe Christian mit bärenhafter Kraft nach den Kindern greifen – sie hatten keine Chance, sie wurden zerschmettert und hinweggespült.

21. Januar 2005
Wir stehen nach wie vor tief niedergeschlagen unter dem Eindruck des Verhängnisses und können nicht einfach ins gewohnte Leben zurückkehren. Die schrecklichen Bilder gehen uns Tag und Nacht im Kopf herum, sie verfolgen uns und lassen uns nicht los. Sie lösen immer wieder Bestürzung aus. Der rituelle Abschied am 15. Januar war wichtig und wirklich ergreifend, er brachte einen Moment lang sogar so etwas wie eine innere Entlastung von dem Ungeheuerlichen. Aber dann kehrten die finsteren Fragen doch wieder zurück. Wie könnten sich die dramatischen Minuten abgespielt haben? Die grauenhaften Ereignisse werden uns noch lange verfolgen. Wir müssen aber unsere Sprache wiedergewinnen, wir müssen darüber sprechen. Ich erlebe angesichts der gewaltigen Wucht der Familienkatastrophe, wie schwierig es ist, den Schock, den sie ausgelöst hat, die Gefühle und Gedanken, in einer adäquaten Sprache auszudrücken. Das Grauen hat einen neuen Namen: Khao Lak.

Lina Mintzel, Farbstiftzeichnung, 2004
Mama, Papa, Lina und Juli als Fische im Meereswasser – als ob sie die kommende Katastrophe geahnt hätte.

30. Januar 2005
Ein sehr trauriger Tag. Lina Mintzel hätte heute ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Sie wäre in diesem Jahr in die Schule gekommen. Mir ging das Schicksal der Kleinen nicht aus dem Kopf. Wohin mag die Große Welle sie hinweggerissen haben? Wurde ihr Leichnam gefunden und inzwischen identifiziert? Die arme kleine Lina!

Inge Lu und ich besuchten gestern das Museum Moderner Kunst Stiftung Wörlen. Im Kassen- und Verkaufsraum fiel mir die Postkarte auf, die Hokusais „Wellental bei Flut [an der Küste] vor Kanagawa“ (ca. 1823-1825) zeigt. Die bildliche Konstruktion Hokusais hat mich doppelt beschäftigt: Einmal trifft sie auf das Verhängnis in Khao Lak (und an anderen Orten im Golf von Bengalen) zu, zum anderen gibt er ein Beispiel der bildnerisch—ästhetischen Darstellung eines gewaltigen Naturgeschehens. Ich habe mich in den letzten Wochen immer wieder mit dem Gedanken getragen, diese Katastrophe des 26. Dezember 2004 in Bilder umsetzen. Wie kann ich die zerstörerische, tödliche Wucht einer haushohen Welle mit grafischen Mitteln darstellen? Im Gegenprogramm zu Hokusai will ich das Schreckliche nicht ästhetisch bannen, sondern durch Bildmittel zum Ausdruck kommen lassen – eine schwierige Aufgabe.

13. Februar 2005
An meinen Freund Jürgen Krengel, Maler und Grafiker in Hannover. Nun habe ich damit begonnen, mich mit Hokusais Wellen-Darstellungen zu befassen und selbst „Schreckensbilder“ zu skizzieren, um den Schock und das Grauen zu bannen. Hokusais Wellental bei Flut [an der Küste] vor Kanagawa zeigt so eine Todeswelle. In den tiefen Wellentälern zweier sich überschlagender Wogen versuchen die in die Boote geduckten Ruderer die hohen Wellen frontal zu schneiden, um nicht zu kentern und verschlungen zu werden. Der Kamm der höchsten Welle zerstiebt in Schaumkrallen und Spritzern und stürzt auf die Boote herab. Im Hintergrund steht vor dem dunkelgrauen Horizont der Fuji, der unterhalb der Horizontlinie im Verhältnis zur haushohen Welle klein erscheint. Hokusai hat sein Bild kühn und dramatisch aufgebaut. Die große Welle ist seitlich gesehen, so dass eine Fernsicht auf den Fuji entsteht. Es bleibt ungewiss, ob die drei Boote die enorme Wucht der Welle überstehen.
Hokusai hat sich mit der verhängnisvollen, tödlichen „Großen Welle“ mehrmals ikonografisch-ästhetisch befasst und das gewaltige Naturschauspiel ins Bild gesetzt. Mir scheint, dass er durch seine kühne Konstruktion des Bildaufbaus, durch die konstruierende Ästhetik des Bildes den Schrecken und das Grauen „zum Stehen bringt“ und bannt. Die tonnenschweren Wassermassen halten plötzlich und stürzen eben nicht zerschmetternd nieder. Die in ihre Boote geduckten Ruderer scheinen eine Überlebenschance zu haben. Die Ästhetik des Bildes nimmt der Naturgewalt die zerstörerische, Menschen vernichtende Kraft.
Mir schweben andere Bilder vor, wirkliche Schreckensbilder, die nicht die ungeheure Wucht der Naturgewalt ästhetisch „bannen“, sondern das Schreckliche und Grauenhafte zum Ausdruck bringen. Aber wie? Mit welchen Bildkonzepten und mit welchen Stilmitteln? Wie lassen sich Zerstörung, Sterben, Schrecken, Entsetzen und Grauen „ins Bild setzen“? Es müssen Bilder sein, die den Betrachter in das Verhängnis hineinziehen, ihn fast erdrücken.

11. April 2005
Antwort Jürgen Krengels. „Hokusai tut als Künstler das Angemessene und Richtige. Ich bin da mit ihm völlig einig. Er wählt einen Moment der Stille und großer Ruhe vor der möglichen Katastrophe, einen Augenblick, der für seinen ästhetischen Anspruch zwingend ist. Natürlich kann man sich fragen, ob es den Fischern gelingen wird, zu überleben, aber das ist nicht entscheidend. Auch sie tun das einzig Richtige. Das Bild zeigt zwei Gegenbewegungen: Die diagonal auf ihrem Höhepunkt sich aufbäumende Welle, dagegen steht die Bewegung der Boote. Ganz klein, fast im Mittelpunkt der Konzeption steht das Symbol des Bleibenden, der heilige Berg. Es ist ein Blatt von großer Schönheit, mehr kann die Kunst nicht geben. Im 19. Jahrhundert hätte man wahrscheinlich den dramatischen Höhepunkt der Katastrophe dargestellt wie im „Floß der Medusa“. Die Heutigen würden wohl eine ausführliche Dokumentation liefern und diese auch noch nach allen Richtungen dokumentieren. Was hat das mit Kunst zu tun? Der Alte aus Japan war eben ein weiser Mann.“

4. März 2005
Vom 21. Februar bis gestern, bis zum 3. März, arbeitete ich am Khao Lak-Thema. Ich entwarf in Collagen einen „Khao Lak-Zyklus“. Es entstanden in elf Tagen 22 Bilder (70 x 50 cm) und dazu zwei Titelbogen (…) Ich will zum Andenken an Christian, Nicola, Lina und Jule einen Zyklus schaffen.

10. März 2005
Am 10. März waren Inge Lu und ich mit etwa dreißig Collagen und Zeichnungen bei Karl Schleinkofer, um mit ihm die Ergebnisse zu besprechen und eine Auswahl zu treffen. Wir diskutierten lange über Machart, Bildstrukturen, Aussagekraft und Fragen der „Medienrealität“. Ich brauchte und suchte Kontrolle und Kritik, um sentimentalen Fallen der Betroffenheit zu entgehen. Ein gutes Dutzend Collagen und die Zeichnungen kamen durch die Kontrolle. Auch Oswald Miedl schärfte durch seine professionelle Außensicht meinen Blick für die Auswahl. Er bot sich an, für eine Ausstellung des Zyklus im Foyer der Universitätsbibliothek die Bibliotheksleitung zu gewinnen.
In Gesprächen mit den befreundeten Künstlern Waltraud Danzig, Oswald Miedl, Karl Schleinkofer und Christian Zeitler setzte ich mich mit der Problematik der ikonografisch-ästhetischen Darstellung von Grauen, Schrecken, furchtbaren Ereignissen und massenhaftem Sterben, auseinander. Alle waren der Ansicht, dass die Darstellung grauenhafter Ereignisse eine schwierige Aufgabe sei. Kollege und Freund Miedl verwies auf das Thema Auschwitz.
Die existenziellen Ängste, das völlige Ausgeliefertsein an eine unmenschliche Praxis, Entkräftung bis zum Zusammenbruch, das alles lässt sich wahrscheinlich nicht wirklich darstellen. Von solchen Bildern selbst müsste ein Grauen ausgehen, solche Bilder müssten zutiefst schockieren, den Betrachter in Angst und Schrecken versetzen. Mir fallen dazu Zyklen von Goya, Max Beckmann und Otto Dix eine: die Kriegszyklen.

11. März 2005
Aus meinem Geburtstagsbrief an meinen Bruder Kurt, den Vater Christians und Großvater Linas und Jules. In den letzten drei Wochen habe ich, von den Schreckensbildern in meinem Kopf getrieben, einen „Khao Lak-Zyklus“ geschaffen, eine auf dreißig Blatt (Kartonformat 50 x 70 cm) angewachsene Reihe von Bildern (Bleistift, Grafit, Kohle, Collage), die ich noch in diesem Jahr drucken lassen und veröffentlichen will. Die Blätter sind dem Andenken an Christian, Nicola, Lina und Jule gewidmet.

21. März 2005
Heute via Bundeskriminalamt (BKA) und über die örtliche Polizei die Nachricht erhalten, Christian sei gefunden und identifiziert worden. Ungewissheit herrscht weiterhin, ob Nicola, Lina und Jule gefunden wurden. Die schreckliche Wartezeit ist noch nicht zu Ende, doch lässt die Nachricht hoffen, dass auch die drei noch identifiziert werden.
Ich hatte die Chance, die Werkstatt des Kulturmodelles Passau zu mieten und zu lithografieren. Ich arbeitete fünf Tage in der Werkstatt fast bis zur Erschöpfung und produzierte insgesamt 51 Lithografien auf großem Büttenpapier (50,5 x 65 cm). Es entstanden vier Bilder, drei davon bilden eine Mappe, es ist die Sequenz „Ferien in Khao Lak“, „Verhängnis“ und „Verwandlung“. Ich bin mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden, wenngleich meine Bildvorstellungen im Kopf mit den Bildern differieren, die am Schluss herauskommen.
Vom 21. Februar bis zum 21. März hatte ich fast täglich und ausschließlich an dem „Khao Lak-Zyklus“ gearbeitet. Ich fühlte mich danach „befreit“, “entlastet“ und hatte ein „gutes Gefühl“. Ich hatte mich von den Schreckensbildern befreien müssen. Schock und Trauer sitzen noch immer tief im Gemüt. Ich musste etwas zur Erinnerung an die Vier machen, ich musste ihnen ein kleines Denkmal setzen.

10. März 2005
In den fünf Werkstatt-Tagen kamen Besucher herein und betrachteten neugierig, was ich aufs Papier bringe. Die Besucher waren stark beeindruckt, hielten die ästhetisch-bildnerische Umsetzung der Katastrophe für besonders schwierig, stellten handwerklich-technische Fragen, scheuten sich aber – verständlicherweise – Kritik zu üben.

10. Mai 2005
Aus meinem Brief an Oswald Miedl vom 10.05.2005. Ich danke Dir sehr herzlich für Deine freundliche Initiative, das Foyer der UB Passau für den Monat Oktober reservieren zu lassen, um dort eine Ausstellung meiner letzten Arbeiten zu ermöglichen. Mein „Khao Lak-Zyklus“ befasst sich mit einem schwierigen Thema, die Blätter sind ein Wagnis, das es Betrachtern schwer macht mitzugehen. Deine Bereitschaft, etwas zur Eröffnung zu sagen, begrüße ich in doppelter Hinsicht: Du kannst aus Deinem reichen Wissen über die ästhetisch-künstlerische Problematik solcher Themata wirklich etwas Substantielles sagen und mich zudem in diesem besonderen Fall auf der emotionalen Ebene entlasten. Entsetzen und Trauer wirken nach und drücken noch mächtig auf mein Gemüt. Es fiele mir wahrscheinlich schwer, über den traurigen Anlass und über meine Trauerarbeit etwas zu sagen. Inzwischen habe ich mich nochmals ans Werk gemacht und von verwitterten, über hundert Jahre alten Tessiner Stallbrettern Handabzüge (Materialbilder) gemacht, die ich teilweise mit Pinselzeichnungen überarbeitet habe (Akryl).

30. Mai 2005
Erst am 21. März erhielten wir die offizielle Nachricht, dass mein Neffe gefunden und identifiziert wurde. Am 27. April erfuhren wir Gleiches von Nicola. Beide wurden inzwischen in Khao Lak/Thailand eingeäschert. Die zwei kleinen Töchter bleiben vielleicht für immer verschollen. Die Urne der Mutter soll dort bleiben, bis auch die Kinder gefunden und identifiziert sind, um dann zusammen mit dem Vater in Nürnberg auf dem alten St. Johannisfriedhof im Familiengrab Mintzel, das nahe bei den Gräbern von Albrecht Dürer und Hans Sachs liegt, beigesetzt zu .

Darstellung des Grauens in der Kunst

Mit welchen Bildkonzepten, Stilmitteln und Techniken lassen sich in der Kunst Zerstörung, Sterben, Schrecken, Entsetzen und Grauen ins Bild setzen? Wie können Menschenschicksale unter der Wirkung von Naturgewalten oder verbrecherischer Menschengewalt dargestellt werden? Selbstverständlich müssen wir Naturereignisse und von Menschen hervorgerufene Katastrophen unterscheiden. Ich denke dabei an Glaubenskriege, Genozide, Massaker, Deportationen, Hungersnöte, Massensterben durch atomare Strahlenverseuchung, Stichwort Tschernobyl. Als ich nach dem 26. Dezember 2004 hierzu nach Antworten suchte, fielen mir die Kriegszyklen (Radierungen/ Lithografien) von Francisco de Goya („Desastres de la Guerra“), von Max Beckmnn („Die Hölle“), von Otto Dix („Krieg“) und Picassos „Guernica“ ein. Ich erinnerte mich an Bilder von Otto Pankok und Käthe Kollwitz und an visionäre Lithografien A. Paul Webers, die vor der nationalsozialistischen Machtergreifung entstanden waren. Die Genannten wählten hauptsächlich grafische Techniken, das Schwarz-Weiß und düstere Grautöne. Sie schufen eindrucksvolle, beklemmende, scheußliche Bilder, die nicht fürs Wohnzimmer bestimmt sind, nicht der Erbauung und dem Frohsinn dienen, sondern Brutalitäten und Leiden unserer Spezies thematisieren. Der „Untergang der Titanik“ (Max Beckmann) wurde als umfassende Parabel, als Gleichnis des 20. Jahrhunderts aufgefasst. Ich fand die Darstellungen elementarer Gewalt bei Hokusai ikonografisch-ästhetisch kühn, großartig und faszinierend, jedoch hatte ich mich gefragt, ob wir heute Naturgewalt noch so ungebrochen als grandioses Naturschauspiel darstellen können und sollen. Auf einer anderen Ebene des Seins ist die Natur gegenüber dem Schicksal der Menschen und der Menschheit völlig indifferent. Seebeben und Tsunamis ereignen sich jenseits menschlichen Seins und Erlebens. Insofern könnte es tatsächlich gleichgültig sein, ob die in die drei Boote geduckten Ruderer überleben werden. Doch gibt es in einem anderen Bild Hokusais den Meeresgott, der in einer „Großen Welle“ furchterregend auftaucht und zu einem Samurai in Beziehung tritt („Der Meeresgott erscheint dem Ritter in der Woge“). Hokusai beseelt die Natur und bringt sie und den Menschen ins Zwiegespräch. Das Schicksal der Ruderer oder des Samurais ist ihm (und der Natur) nicht gleichgültig. Er lässt aber offen, ein ästhetisches Mittel japanischer Kunst, was passieren wird. Meine Frau, die Sinologie und Japanologie studiert hat, macht mich wiederholt auf diese Aspekte aufmerksam.
Lässt die Moderne mit ihren neuen Weltbildern die Sichtweise Hokusais noch zu? In seinem Bild erschrickt der Samurai beim Anblick des Meeresgottes. Er wirft die Arme hoch, verschränkt bittend seine Hände und verdeckt – in Demut – sein Angesicht. Die Gewalt des Meeresgottes ist furchtbarer als die Tapferkeit des Samurais. Was lehren uns Naturereignisse wie Seebeben und Tsunamis heute? Nicht wir beherrschen, wie oft anmaßend gesagt wird, die Natur, sondern die Natur beherrscht immer noch uns. Der (Meeres-) Gott ist aus unseren Naturbildern verschwunden und mit ihm die Demut.
Meine Reise nach Venedig, die ich im April 2005 mit Inge Lu unternahm, war gerade unter solchen Fragestellungen informativ und lehrreich. Die venezianischen Museen und Paläste boten zahlreiche Beispiele für „Katastrophen-Malerei“, angefangen bei der biblischen Sintflut. Auf den Schlachtengemälden sieht man die grausamsten Massaker, überall ein Metzeln und Morden. Auf anderen Gemälden gehen Schiffe mit Mann und Maus in Stürmen unter. Der ganze Gebäudekomplex des Dogenpalastes und der ihn umgebenden Bauwerke ist eine überwältigende, grandiose Demonstration der Macht und des Reichtums, der Einschüchterung durch Prunk und Protz. Jede Säule, jedes Tor, jeder Raum ist eine Ästhetisierung von Macht, Herrschaft und Gewalt. Hier begegnen wir auch der anderen, dunklen, gewaltsamen und grausamen Seite der Macht, den Unterbau der Kerker und Verließe, die durch dicke Mauern und mehrfach verschlossene Türen vom Überbau getrennt sind, damit kein Schrei die schöne Seite stört. Die Bilder Tintorettos, Veroneses, Basanos und anderer „Malerfürsten“ waren ikonografische Ausstattungen des Machtzentrums. Die Maler standen im Dienste der weltlichen und geistlichen Macht und des Reichtums. Man wird von der Wucht der großformatigen Bilder förmlich erschlagen. Viel Kriegslärm und grauenhafte Szenen. Die Bilder verherrlichen die venezianischen Siege, sie sind Hymnen auf die Seemacht und ihre Kriege. Dann plötzlich, einen Saal weiter, eine ganz andere Welt – in der Sala del Magistrato dei Conservatori alle Leggi des Dogenpalastes vier Tafelbilder von Hieronymus Bosch aus den Jahren 1504/05. Welch ein Kontrast zu den Monumentalbildern der venezianischen Malerei! Die Infernoszene und das Triptychon der Eremiten zeigen Katastrophen und Weltuntergangsszenarien ganz anderen geistigen Inhalts. Den Darstellungen von Bosch fehlt jegliches auftrumpfende Imponiergehabe und jede Selbstverherrlichung, die auffallendsten Charakteristika vieler venezianischer Riesengemälde.
Beim Gang durch die Paläste und Säle hatte ich ständig meine Leitfragen im Kopf. Trotz der überwältigenden Eindrücke blieb in meinen Gedanken das Schicksal meiner vier Familienmitglieder immer gegenwärtig. Ich suchte die Bilder nach Motiven des Grauens und Entsetzens ab. Auf Tintorettos Gemälde „Kain und Abel“ (entstanden 1550/53) fesselte mich die Drehbewegung der beiden nackten Körper, die im Handgemenge um eine gedachte Achse kreisen, wobei die Körper selbst noch eine dramatische Drehbewegung vollziehen. Die Aktfiguren in Vorder- und Rückenansicht sind harmonisch in die sie umgebende Landschaft eingefügt. Auf Tintorettos Gemälde Gemälde „San Marco salva un Saracene“ („Der Heilige Markus errettet einen Sarazenen aus Seenot“, entstanden 1562) faszinierte mich, wie der Körper des Sarazenen aus einem sinkenden Schiff hochgezogen wird. Der Körper vollzieht dabei eine Drehbewegung nach rechts. Tintoretto stellt im Hintergrund des dramatischen Rettungsvorganges eine große Welle dar, die ich für meine Arbeiten skizzierte.
Ich blieb ganz im grafischen Schwarz-Weiß mit düsteren Grautönen. Meine Schreckensbilder, mein Grauen und Entsetzen konnte ich so am besten ausdrücken.

Notizen & Skizzen aus meinem Tagebuch des Grauens Teil II

15. Juni 2005
Christian wurde am 21. März, Nicola am 27. April und Lina Ende Mai identifiziert. Jule wurde, wenn sie überhaupt gefunden worden ist, noch nicht identifiziert. Mit der Beisetzung der Urnen warten wir  noch bis in den Juli hinein, in der Hoffnung, dass auch noch die Überreste der kleinen Jule zurückkommen werden. Christian war ein geborener und überaus erfolgreicher Unternehmer und Kaufmann in der Informationstechnik-Branche. Mit 38 Jahren hinterließ er ein beträchtliches Vermögen. Er wusste, wie man ein Unternehmen hochbringt.

22. Juni 2005
An Hannelore und Kurt Mintzel, Rimpar.- Es ist sicher ein Wagnis, solche Bilder öffentlich zu zeigen. Ich muss gestehen, dass es mir bei dem Gedanken an die Ausstellung etwas mulmig zumute ist. – Eben ging durch den Deutschland-Funk, dass nur noch 43 Deutsche vermisst werden (oder noch nicht identifiziert sind?)

25. Juni 2005
„Das Bundeskriminalamt gibt die Zahl der deutschen Opfer mit 557 an. 516 Personen seien identifiziert worden, 41 würden noch vermisst. Es sei jedoch wahrscheinlich, dass auch die Vermissten im Laufe des Jahres noch identifiziert werden können.“ (Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 145 vom 25. 06. 2005, S. 9)

26. Juni 2005
Bei der abermaligen Sichtung und Einordnung der Bilder in den „Khao Lak-Zyklus“ sehe ich noch schärfer als bisher das eigentliche Problem der Verarbeitung massenmedialer Bildreportagen. Solche Bildvorgaben wirken sich auf die ikonografisch-ästhetische Auswertung und Umsetzung des Materials aus, sie weisen dem Versuch der Umsetzung in eine eigene Bildsprache die Richtung und wollen sich herrisch behaupten. Bei einer nachträglichen Analyse der benutzten Vorgaben zeigt sich, dass diese ihrerseits schon hoch selektive Prozesse durchlaufen haben. Die Häufigkeit der Auswahl bestimmter Fotos in den Printmedien und die Wiederverwendung gleicher Bildausschnitte in späteren Berichten haben selektierte Horrorbilder zu Ikonen der Katastrophe werden lassen. Ähnliche Vorgänge der Entstehung von Katastrophen-Ikonen waren nach dem 11. September 2001 zu beobachten. Die Passagierflugzeuge rasen noch immer in die Twin Towers des World Trade Centers, die Flammen schlagen noch immer aus den getroffenen Etagen der Wolkenkratzer. Diese Ikonografie der Katastrophe hat sich eingeprägt, diese Bilder sind zu kollektiven Ikonen des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden. Von den fast 3000 Menschen, die in den Twin Towers umgekommen und von den in sich zusammenstürzenden Hochhäusern zermalmt worden sind, gibt es keine Ikonen.
Im Nachhinein nehme ich wahr, dass meine individuelle Auswahl von Bildmaterial von Anfang an „unwissentlich“ mit kollektiven Selektionsprozessen korrespondiert hat. Ich habe anscheinend das Bildmaterial ausgewählt, das tatsächlich mit am stärksten erschüttert hat. Ist die Umsetzung in eine eigene Bildsprache hierdurch gescheitert? Die Antwort darauf ist wohl über die Frage zu finden, inwieweit ich mich durch die spezielle individuelle Be- und Verarbeitung von fotografischen Vorgaben entfernt und sie in eigene Bildideen übersetzt habe. Durch die Einfügung in eine Handzeichnung oder durch die Komposition und grafische Bearbeitung in einer Folge wie beim „Totenreigen“ wird die ausgeschnittene und mit Bleistift, Kohle und Grafit bearbeitete Bildvorgabe in eine eigene Bildidee überführt. Die Technik der Collage wird hierdurch zu einem legitimen bildnerischen Mittel.
Auch in meiner Lithografie „Verhängnis“, die ich noch in den Zyklus aufgenommen habe, scheint ein kultureller Topos auf, eine kulturelle „Vorgabe“: der „Gekreuzigte“ unter Wasser im Todeskampf mit der Welle, neben und unter ihm im Wasser treibende Menschen, eine ertrinkende Frau, ein Kind und andere Personen. Foto-Vorgabe und die Vorgabe eines kulturellen Topos dienen einer aktuellen Bildidee, Schrecken und Grauen der Flutkatastrophe ins Bild zu setzen. In dieser Auseinandersetzung mit dem bildnerischen Prozess erkenne ich in mir immer wieder auch den Wissenschaftler, den Analytiker, der seinen eigenen Arbeitsprozess beobachtet.

27. Juni 2005
Inge Lu in ihrem Brief von heute an Hannelore und Kurt Mintzel: Das Thema lässt uns nicht los, und wir können das Thema nicht loslassen. Wir hoffen auf den Zeitfaktor, aber einordnen lässt sich das einfach nicht. Jede neue Nachricht schwappt über unser angekratztes System, wir schütteln uns, nichts lässt sich abschütteln. So laufen wir wie begossene Pudel herum, kläffend, weil gereizt, und irgendwie nicht im Lot. Festhalten kann man sich eigentlich nur an dem Satz, dass die Familie näher zusammenrückt, das ist nun wirklich so, und nicht wegzureden. Beim Baden im Passauer „Erlebnisbad“ mit Mia und Carlotta am Sonntag vor acht Tagen rief der Bademeister: „Meine Damen und Herren, in fünf Minuten kommt die große Welle“. Im großen Schwimmbecken passiert das etwa alle Stunde.
Alle Leute rasten ins Wasser, und Mia fragte: „Sterben die jetzt?“ Anne [unsere Tochter] hatte auch ein sehr mulmiges Gefühl, schmiss sich aber dann mit beiden Kindern ins Tiefe, weiß der Teufel, was in ihr vorging. Sie kam sehr nachdenklich heraus. Immer wieder wagt sich die Vorstellung ein Stück weiter, aber es bringt einfach keinen inneren Frieden. Am besten geht es noch, wenn man sich viel vornimmt. Das ist ja bei Euch gegeben, und die Großfamilie fordert einen ständig. Also „reiß mer uns zamm!“ wie der Franke sagt. Die Elefantenherde ist stark …

Juli 2005
Ich hatte geglaubt, den „Khao Lak-Zyklus“ abgeschlossen und aus der Vielzahl der Collagen die ausgewählt zu haben, mit denen es am eindringlichsten gelungen zu sein schien, massenmedial aus den Katastrophengebieten übermittelte Fotografien in eine eigene Bildsprache zu übersetzen. Mit jeder neuerlichen Betrachtung meiner Bilder kommen mir indes Zweifel, ob ich mit der Collagetechnik die ungeheure Katastrophe wirklich so „ins Bild gesetzt“ habe, dass ein Betrachter sich nicht mit bloßer Medienrealität konfrontiert sieht. In jeder meiner Collagen bleibt der Verweis auf eine fotografische Vorgabe aus der Presse bestehen. Ich vertusche und verleugne nicht die massenmediale Vorgabe, ich nutze die schrecklichen Informationen einer Fotografie und die Gefühle, die sie auslöst. Es schaudert uns, wenn wir Horrorbilder aus den Katastrophengebieten betrachten. Die Frage bleibt, ob ich mit der Collagetechnik die übermittelten Vorgaben nur verstärke oder in eine eigene Bildqualität transformiere. Es gibt ausdrucksstarke und erschütternde Fotografien, die grauanhafte Vorgänge und Ereignisse festhalten. Zwei Männer stehen an einer scheinbar nicht gefährdeten Stelle unweit des Strandes und sehen die Welle heranrollen. Sie befinden sich auf einer Veranda eines Bungalows oder Hotels. Ihre Silhouetten lassen die beiden zu anonymen Schatten werden. Der bullige Mann stützt seine Hände gelassen auf die Hüfte, schaut hinaus auf die heranschwappende Riesenwelle und scheint nicht zu begreifen, was auf ihn zukommt. Der andere Mann steht neben ihm, sei Profil lässt vermuten, dass sich beide über das Naturschauspiel unterhalten. Die Fotografie zeigt eine Situation unbekannter Gefahr. Ich habe dieses Bildmotiv in meinem „Khao Lak-Zyklus“ mehrmals verarbeitet, den bulligen Mann vervielfacht und die Ausschnitte in eine Sequenz gesetzt. Die schwarzen Silhouetten wirken wie eine starke Barriere vor der Großen Welle, als könnte der Tsunami sie nicht wegreißen. Die sequentielle Darstellung soll zugleich die Massenhaftigkeit dieses Schicksals ausdrücken.

5. Juli 2005
„Khao Lak, immer wieder Khao Lak, das mehr als die Hälfte der 5.300 Opfer in Thailand zu beklagen hatte. Praktisch alle Anlagen haben den Betrieb längst wieder aufgenommen. Die große Ausnahme sind die Phi-Phi-Inseln und Khao Lak, wo der Wiederaufbau ein bis zwei Jahre dauern dürfte. Doch sämtliche Strände im Südwesten Thailands sind menschenleer. Die scheinbare Willkür der Verheerungen überfordert den menschlichen Verstand im allgemeinen und die geographischen Kenntnisse im Besonderen.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 152 vom 05.07.2005, S. 38)

9. Juli 2005
Der Mensch hat seit Urzeiten sintflutartige Naturkatastrophen erlebt. In Jahrtausenden sind unzählige Menschen Opfer dieser „Wasser-Monster“ geworden, die sich plötzlich aus dem Meer erheben und alles verschlingen, was ihnen im Weg steht. Zu allen Zeiten haben gewaltige Wassermassen Länder und Menschen überspült. In der Menschheitsgeschichte sind die Urkatastrophen als Mythen im kollektiven Gedächtnis geblieben. Geophysikalische Verschiebungen und klimatische Veränderungen werden noch viele Sintfluten hervorrufen. Die Monster kehren wieder! Naturgewalten nehmen nicht am Schicksal des Menschen teil. Die sie in den Tod reißen, haben einfach Pech gehabt. Wasser spendet Leben, Wasser vernichtet Leben. Christian, Nicola, Lina und Jule waren wie viele Opfer zur falschen Zeit am falschen Ort.
In den Hochreligionen sind Sintfluten und Monsterwellen, gleich wodurch ausgelöst, Drohungen und Strafen Gottes für sündhaftes Denken und Tun oder Prüfungen der Glaubensfestigkeit (Hiob). Der Imam predigt, der Tsunami sei ein Zeichen Gottes. Allah habe die Menschen bestraft, weil sie nicht nach dem Koran gelebt hätten. In aufgeklärten modernen Gesellschaften funktioniert diese Drohtheologie nur noch in fundamentalistischen Glaubenskreisen. Die Frage, wo war Gott, wird ansonsten hämisch gestellt: „Wo war Euer Gott?“, der angeblich Allmächtige, Allwissende, Allgegenwärtige und Allgütige, der so väterlich um den Menschen besorgt sein soll? Buddhisten fügen sich klaglos in ihr Los. Nichts ist ihrem Glauben zufolge Zufall, sondern alles die Folge eigener Taten in diesem oder in einem früheren Leben. Sentimentale Anteilnahme ist fehl am Platz. Ob Strafgericht oder Karma, es sind unterschiedliche Weisen, diesem sinnlosen Sterben einen Sinn zu unterlegen und das ungeheuerliche fassbar und ertragbar zu machen. Mein Zyklus  kann und will keinen Trost spenden. Er ist lediglich ein Stück menschlicher Erinnerungskultur und eine Form der Anteilnahme an dem Unglück und an der Trauer. Inge Lu hat sie in Haikus ausgedrückt. Zwei davon:

Das Maul der Welle
Speit noch Unverdautes aus:
Eltern und Kinder.

Wer kann begreifen,
dass von unsren Lieben nur
eine Muschel blieb?

25. Juli 2005
Der Tsunami vom 26. Dezember riss laut Passauer Neue Presse vom heutigen Tag in elf asiatischen Ländern mindestens 178 953 Menschen in den Tod. Bis heute werden noch 49 616 Menschen vermisst. Die ungeheuerlich hohe Zahl der noch Vermissten tröstet nicht darüber hinweg, dass auch Jule zu den Vermissten gehört. Ein endloser Totenreigen!

26. Juli 2005
Sieben Monate nach der Tsunami-Katastrophe wissen wir immer noch nicht, ob Jule gefunden und identifiziert worden ist. Mit diesem traurigen Nachruf schließe ich heute den Katalog zum „Khao Lak-Zyklus“ endgültig ab.

„Wo war Gott?“

Unter der Bild-Reportage stand in großen Lettern die Titelfrage: „Wo war Gott?“ BILD riss die Frage provokativ an, spielte damit auf die Gott zugeschriebenen Eigenschaften an, auf seine Allgegenwärtigkeit, seine Allmächtigkeit und Allgütige. Aber es blieb, wie nicht anders zu erwarten, bei dem Aufmacher, bei der Anspielung. Warum hat Gottvater, der angeblich seine Menschenkinder allgütig liebt und beschützt, nicht vor der hereinbrechenden Gefahr, vor der „Killerwelle“, gewarnt? Warum hat er, der Allwissende und Allmächtige, Abertausende im Stich gelassen? Wo war er, der der Allgegenwärtige genannt wird, als die „Monsterwelle“ Hunderttausende verschlungen hat: Säuglinge, Kleinkinder, junge Leute, Eltern, Großeltern, Freunde, verliebte Paare? „Wo war der barmherzige und gerechte Gott?“ Warum hat er vor Ort nicht geholfen, die „Todeswelle“ aufzuhalten? Solche Fragen wurden zwar gestellt, aber im selben Atemzug wurde Gott freigesprochen von jeder Verantwortung. Gott träfe keine Schuld, der „Allmächtige „habe die Krönung seiner Schöpfung, den Menschen, in die Selbstverantwortung und Freiheit entlassen. Gegen Naturkatastrophen müsse der Mensch den ihm verliehenen Verstand einsetzen, zum Beispiel ein technisches Frühwarnsystem einrichten. Die Verteidiger des „lieben Gottes“ meinen, man müsse zwischen Naturgewalten und verbrecherischen Menschengewalt unterscheiden. Gott wird exkulpiert. Gott habe die von ihm erschaffene Welt ihrer Entwicklung, Evolution, freigegeben. Gott habe sich von seinem missratenen „Ebenbild“ abgewandt und in den Himmel zurückgezogen. Alles mehr als unbefriedigende Antworten der Theologie und theologisierender Laien. Gerettete Gottesgläubige mögen sich auf Psalm 18 berufen und glauben, Er habe seine Hand ausgestreckt und sie aus den großen Wassern gezogen: „(5) Es umfingen mich die Todes Bande, / und die Fluten des Verderbens erschreckten mich. (8) Die Erde bebte und wankte, / und die Grundfesten der Berge bewegten sich und bebten, da er zornig war. (16) Da sah man die Tiefen der Wasser und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt / vor deinem Schelten, HERR, / vor dem Odem und / Schnauben deines Zornes. (17) Er streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich / und zog mich aus großen Wassern. (20) Er führte mich hinaus ins Weite, / er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir. (31) Gottes Wege sind vollkommen, / die Worte des HERRN sind durchläutert. / Er ist ein Schild allen, die ihm vertrauen.“
Wir haben fast ein ganzes Jahr gewartet und gehofft. Jule Mintzel wurde nicht mehr gefunden. Die Beisetzung der drei Urnen der gefundenen Eltern und ihrer Tochter Lina fand ein volles Jahr nach der Katastrophe statt. Am 15. Dezember 2005 nahmen wir noch einmal am Familiengrab Mintzel auf dem St. Johannisfriedhof in Nürnberg Abschied. Für die auf ewig verschollene Jule wurde eine rote Rose auf das Grab gelegt. Seit dem Jahre 2004 konnten wir kein Weihnachtsfest mehr feiern, ohne am 26. Dezember der Vier zu gedenken. Mein Bruder Kurt litt schwer am Verlust seiner Kinder und Kindeskinder. Er erholte sich nicht mehr von diesem Unglück. Seelisch und physisch gebrochen starb er am 8. Juli 2016 im Alter von 75 Jahren.

Bilder aus dem Khao Lak-Zyklus

Alf Mintzel, Flucht vor der Todeswelle, 6. März 2005, Zeichnung, Bleistift Kohle, Graphit, Collage mit Bleistift überzeichnet, 38,5 cm x 56,5 cm

Alf Mintzel, Danach: Treibgut Mensch, 6. März 2005, Zeichnung und Collage, Bleistift Kohle, Graphit, 35,9 cm x 60,9 cm

Alf Mintzel, Todesreigen, 3. März 2005, Collage mit Bleistift, Kohle, Graphit überzeichnet, 38,5 cm x 56,5 cm